Ludwig Tieck
Wunderlichkeiten
Ludwig Tieck

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Es waren nach diesen Vorfällen ungefähr zwei Jahre verflossen. Um diese Zeit erhielt Frau Mühlen folgenden Brief von ihrem Sohn Martin:

»Geliebte Mutter!

Wie ich Sie damals, bald nach der betrübenden Katastrophe verließ, wie sehr wir Alle in Trauer waren, alles 329 dies mag ich Ihnen kaum wiederholen, um Sie nicht von neuem zu betrüben. Ja, wir Alle waren damals recht zerschlagen und enttäuscht. Daß mein so groß scheinender Beschützer ein gemeiner Abentheurer, Lügner und falscher Spieler, ja sogar ein Dieb und Räuber war, das Alles war zu trübselig; daß ich mit angeklagt war, in den Verdacht, wenn auch nur auf kurze Zeit, eines theilnehmenden Schelmes gerieth, war für mein ehrliebendes Gemüth noch die allerschmerzlichste Wunde. Und nun wurde zugleich der Glaube an Ihre Gallerie so grausam zerstört, in welcher wir ein Palladium, ein sicheres Rettungsmittel für alle Zufälle und gegen die drohende Armuth zu besitzen glaubten. Was wäre aus uns ohne die beispiellose Großmuth des edeln Fürsten Xaver geworden? Daß er mir nicht nur jenen Ring und auch die kostbare Tuchnadel, Theile jenes abscheulichen Raubes, ließ, sondern mir noch obenein beide Stücke nach der höchsten Taxe abkaufte, dadurch erhielten Sie, Geliebte, ein recht ansehnliches Capital zur Disposition, denn die Sachen hatten einen weit höhern Werth, als wir es jemals in unsrer Unwissenheit glauben konnten. Ich fand dadurch Mittel, eine neue Laufbahn zu beginnen und in die redliche Bahn des Lebens wieder einzuschreiten. So habe ich denn auf immer meinen unnützen Hochmuth überwunden, als Diplomat glänzen zu wollen, und Sie haben auch zu Ihrem Glück die Krankheit überstanden, aus allen Ecken und Orten Bilder zu einer Gallerie zusammenzukaufen. Und so ist es denn Allen gut ergangen, außer jenem fatalen Eduard Winter, auf den meine Schwester Friederike immer noch zu viel hält, und der, wie Sie mir in dem einzigen Briefe melden, den ich von Ihnen in Lissabon erhalten habe, in eine Strafanstalt zu seiner Züchtigung gethan ist. Denn die Frechheit 330 war ohne Zweifel zu groß, den Professor Reishelm als Seehund und den Prinzen Xaver als Windspiel in Kupfer stechen zu lassen, und noch dazu die Namen und Stand und Würde darunter zu schreiben. Wie liebevoll vom Himmel, daß sich nun der Fürst Xaver und seine edle Gemahlin endlich eines Erben erfreuen. Dieser theure Sohn ist ihnen gewiß ein reichlicher Ersatz für jenen Schmuck, der ihnen auf immer entrissen ist.

Sie erinnern sich, liebste Mutter, wie traurig wir schieden, als ich nach Lissabon die weite Reise antrat. Ich sollte nun doch nach diesem Lande kommen, das war einmal meine Bestimmung; aber unter wie andern Bedingnissen geschah es nun. Ich hatte mich mit diesen südlichen Sprachen sehr gequält, um sie einzulernen, der Menschen, die sie reden und handhaben können, sind in unsern Ländern nicht so gar viele. Der kranke Baron also, der seiner Gesundheit wegen mit seiner noch kränkeren Gemahlin des warmen Klimas halber nach Portugal geschickt wurde, und welche ihre zwei Kinder auch mitnahmen, sahen mich als einen glücklichen Erwerb an, um sie zu begleiten, da außerdem der gute Prinz Xaver mich ihnen empfohlen und mir das beste Zeugniß gegeben hatte.

Ich habe Ihnen damals nur in einem kurzen Briefe meine glückliche Ankunft in der wunderbaren Stadt gemeldet. Es fand sich nachher keine Gelegenheit, Ihnen zu schreiben, denn wir waren auf dem Lande, und als wir wieder in die Stadt kamen, hatte es die Aussicht, als ob ich mit jedem abgehenden Schiffe wieder zurücksegeln könne, denn die gute Baronin wurde immer kränker und der Gemahl verwünschte den Gedanken, daß er sein Vaterland verlassen hatte.

Wie ich erst in Portugal selbst war, sah ich wohl ein, 331 wie Weniges ich noch von der Sprache selber wußte. Indessen, wenn man nur im Lande ist, hilft Lust und Noth schon nach, und ich konnte den Eltern, die kein Wort verstanden, doch immer nützlich seyn. Die Kinder, die meiner Aufsicht ganz und gar übergeben waren, ließen sich auch sehr gut an, und so war mein Leben ein ganz leidliches.

Als wir wieder in der großen Stadt lebten, begegnete mir etwas recht Wunderbares. Ein ganz verhülltes Frauenzimmer (wie es Sitte ist, daß sie sich hier so tragen) redete mich auf dem Platze an und beschwor mich, ihr zu folgen. Man darf dergleichen Aufforderungen nicht trauen, und ich weigerte mich lange Zeit. Sie weinte und flehte, und ich ließ mich endlich bewegen, mit ihr zu gehen. Sie führte mich in das gemeine Stadtgefängniß, wo die Menschen, wegen Schulden oder niedriger Diebereien und dergleichen Verbrechen, eingesperrt werden. Hier war es nun, wo ich einen Mann finden solle, der mich durchaus sprechen müsse.

Ich trete in das Gefängniß zwischen viele Missethäter und arme Verschuldete hinein, – und wer ist es, der abseits auf einer Bank liegt, – vermagert, bleich, in elenden, schmutzigen und zerrissenen Kleidern? – Wer anders, als mein ehemaliger Gesandter? – Sie können sich mein Entsetzen denken, das mich bei diesem Anblick ergriff. Das war denn freilich ein ganz anderer Mann als jener, der mir zuerst in Brüssel auf dem Vorsaal des Gasthofes begegnete. Ich kann nicht beschreiben, wie gewaltig mich ein Erbarmen ergriff und tief durchschütterte. War er auch ein Räuber und Verbrecher, so war er doch jetzt leidend, und gegen mich wenigstens hatte er sich immer sehr gutthätig erwiesen. Ich gab ihm sogleich Alles, was ich irgend entbehren konnte, und durch Hülfe und Vorsprache unsers Gesandten, so wie durch 332 die Beihülfe meines gutmüthigen Barons wurden seine Schulden bezahlt und er aus dem Gefängniß befreit.

Seine Marie war nicht mehr schön und reizend. O Himmel, wie kurz ist doch der Sommer so mancher Menschen, die Aussehen in der Welt machen! Der Schmuck, so gestanden sie mir selbst, war bald bis auf den letzten Stein durchgebracht gewesen. Da an jedem ein Grauen hing und eine furchtbare Erinnerung, so ließ er um so lieber jedes Angedenken aus seinen Händen fliegen. Er war auch unter Spieler gerathen, die diese Künste noch besser verstanden als er selber, und diese hatten ihn geplündert. Dann hatte er den Fecht- und Sprachmeister gemacht und im Französischen Unterricht gegeben; er fand auf diesem Wege seinen reichlichen Unterhalt, wenn ihn nicht das Spiel und die thörichte Wuth, das Verlorene wiederzugewinnen, von Neuem dem Elend überliefert hätte. Nun war er aber befreit und er kehrte zu seiner vorigen Beschäftigung zurück, natürlich unter einem ganz andern Namen. Ich habe es auch hier Niemand offenbart, daß ich ihn schon früher kannte, sondern mich seiner nur, wie man glaubte, als eines Landsmannes angenommen. Wie wohl ist es Einem doch eigentlich, im Mittelstande zu leben, wo weder großes Glück noch ungeheures Unglück den Menschen trifft! –

Die Baronin wurde immer kränker, und es war augenscheinlich, daß im hiesigen heißen Klima keine Heilkraft für sie sei. Der Mann, der seine Frau zärtlich liebte, mußte sie zu seinem Jammer so hinsterben sehen. Als sie begraben war, hatte er keine Ruhe mehr und so schifften wir uns ein.

Da er sein liebstes Gut nicht mehr mit zurückbrachte, so kam es ihm nicht darauf an, schnell in sein Vaterland zurückzukehren, es war ihm im Gegentheil ein Umweg, der 333 ihn zerstreuen konnte, lieber. So reisten wir denn nach Neapel und kehrten durch Italien in das Vaterland zurück. Er hat auf diesen Reisen seine Gesundheit völlig wiederbekommen, die Kinder sind blühend, und ich habe, so wenig ich es noch hoffen durfte, auch meine Lust gebüßt, fremde Länder zu sehen.

Zurückgekommen, schien es mir nun Zeit, auf irgend eine Stelle und Versorgung zu denken. Mein guter Baron hatte einen General hier als vertrauten Freund; sie fanden sich auch unvermuthet wieder. Dieser General, ein etwas rauher Mann, hat mich bei seinem Regiment als Feldprediger angestellt. Er meint, es müsse sich nach einiger Zeit in der Stadt oder auf dem Lande wohl eine passende Pfarre für mich finden, und so verrichte ich in dieser Hoffnung mein ziemlich beschwerliches Amt, weil die jungen Herren Offiziere es nicht an Neckereien fehlen lassen. Der gute Baron hat mich vor seiner Abreise nach seinen Gütern dem General noch einmal dringend empfohlen, und da dieser angesehene Mann bei Hofe und bei dem Ministerium Freunde von Macht und Einfluß hat, so ist meine Hoffnung, wohl bald befördert zu werden, nicht auf Sand gebaut; wenigstens kein solcher lustiger Traum als damals, wo ich mich schon mit Stern und Ordensband herumlaufen sah. –

Liebste Mutter! – Der Brief war liegen geblieben, und es ist mir um so lieber, weil ich Ihnen nun etwas Bestimmteres von meinem künftigen Leben und Schicksal melden kann. Auch der Geringste der Menschen wird von der Hand der Vorsehung wunderbar geführt. In unsern Gegenden war viel Gerede von einer Begebenheit, und da eben in der großen Welt seit lange nichts Neues vorgefallen war, so machte eine in der nächsten Festung vorgefallene Sache um 334 so mehr Aufsehen. Es hatte nehmlich ein Lieutenant seinen Hauptmann erstochen, der Mörder war verhört, gerichtet und verurtheilt worden und sollte nun binnen Kurzem enthauptet werden. Manche Militairs, selbst mein General, nahmen die Partie des Mörders, oder entschuldigten wenigstens seine That auf gewisse Weise. Der Lieutenant war ein Fremder und durch Protection im Regiment eingeschoben. Das verdroß schon einige Fähnrichs und jüngere Unterlieutenants; da indessen der fremde Mann viele Conduite zeigte und schon im reiferen Mannesalter stand, so fanden sich die jungen Menschen bald darein, daß dieser ihnen vorgezogen wurde. Die Hauptleute aber waren noch mehr aufgebracht, weil sie fürchteten, dieser Mann, der sich der Protection von angesehenen Männern erfreute, der viele Kenntnisse besaß und sich durch ein vornehmes und edles Betragen auszeichnete, würde auch ihnen bei erster Gelegenheit vorgezogen und in einen Posten eingeschoben werden. Ein roher Mensch unter diesen Hauptleuten, den eigentlich Alle gern los gewesen wären, machte sich nun ein Geschäft daraus, dem fremden Mann alles Mögliche in den Weg zu legen und ihn recht eigentlich zu chikaniren, so oft er mit ihm in Dienstverhältnissen stand.

Das ging eine Weile so hin. Einmal in Gesellschaft aber war der Hauptmann so ausfallend, suchte so geflissentlich Händel, daß der Lieutenant ihn forderte. Der Capitain aber behauptete, er, als Vorgesetzter, brauche sich nicht zu stellen und deshalb werde er sich nicht mit ihm schlagen; Jener habe kein Recht, ein Duell zu verlangen, denn es sei noch gar nicht einmal ausgemacht, ob der Herausforderer von ächtem Adel sei.

Hier ist nun der Punkt, wo die Herren Offiziere selbst 335 verschiedener Meinung sind. Viele, unter andern mein General, behaupten, der Lieutenant dürfe Jenen allerdings fordern, und der Hauptmann müsse sich stellen, wenn er nicht für einen Feigen und Ehrlosen gehalten seyn wolle, besonders da er jenen Mann gekränkt und beleidigt und seine Ehre verletzt habe. Manche der jüngeren Herren gaben aber dem unverschämten Hauptmann Recht und der Streit wurde so heftig, daß nur wenig fehlte, so hätte die Sache auch bei unserm Regiment Duelle herbeigeführt. Kurz, es kommt so weit, da der Hauptmann seine Beleidigungen nicht unterläßt, sich aber hartnäckig weigert, dem Andern Genugthuung zu geben, daß in einem heftigen Gezänk der Lieutenant sich vom Zorn so sehr übermannen läßt, daß er seinen Gegner an der Wirthstafel niedersticht.

Nach dem Gesetz war der Thäter des Todes schuldig. Unser alter General ist aber darüber böse, daß die andern Offiziere in der Festung den Krakeler nicht dazu gezwungen haben, sich dem Lieutenant im Duell zu stellen, oder, wenn er sich durchaus geweigert, daß sie nicht erklärten, nicht mehr mit ihm dienen zu wollen.

Als der Lieutenant verurtheilt war, binnen wenigen Tagen enthauptet zu werden, begehrte er in seinem Gefängniß den Trost eines protestantischen Geistlichen. Der Feldprediger dort war selber krank und die Stadt katholisch, so erging an meinen General und mich das Ersuchen, daß ich hinüberkommen möchte. Ich unterzog mich gern diesem Geschäft, weil ich wußte, daß ich einem verirrten Bruder in seinen letzten Stunden tröstlich und hülfreich seyn würde. Die Geistlichen dort waren böse, weil der Gefangene ihre Besuche zurückgewiesen hatte. –

Man führte mich in das Gefängniß ein. Ein 336 anständiges Zimmer war es, die Fenster vergittert und Schildwachen vor der Thür. Liebste Mutter, ich konnte mich nicht zurückhalten, laut weinend fiel ich dem Verurtheilten um den Hals, denn es war wieder Niemand anders als jener unächte Gras Liançon. Er war auch verwundert, mich in dieser Gestalt wiederzusehen, freute sich aber dann über die Wendung seines Geschicks, daß ich es grade seyn mußte, der ihm seine letzten Stunden erheitern sollte.

Der Mann war außerordentlich gefaßt. Er sah sich selbst nicht mehr ähnlich, denn er hatte ganz den vornehmen Leichtsinn, der ihn früher so angenehm charakterisirte, abgelegt. Er war ernst und seine Haltung ganz edel, so daß man Achtung vor ihm haben mußte. – Meine Marie ist auf der See gestorben, so erzählte er mir: – ist es nicht wunderbar, daß jenes einzige Wort, jene Unbesonnenheit unser scheinbares Glück auf immerdar vernichtete? Denn ich sah ein, als ich diese Nachricht von ihr empfing, daß ich nun meine Stellung, die ich mir durch List, Klugheit, Betragen, Bestechung und Verschwendung mühsam errungen hatte, nicht mehr halten konnte. Dies Wort, das wie eine Pulverentzündung das vieljährige Vertrauen des Prinzen in einem Nu zerschmettert hatte, war mein Urtheilspruch, zurückzutreten und künftig in unbedeutender Dunkelheit unter anderem Namen zu leben. Ich hielt es für Gewinn genug, die arme, von mir verführte Marie retten zu können. Das Vermögen, das ich noch besaß, ward von mir gehaßt, es war wie ein Fluch, der am Golde und den Juwelen haftete. Ich verlor Alles, und nun lernte ich erst kennen, was ein redlicher Erwerb zu bedeuten habe.

Mit meiner Beschäftigung, da ich endlich das wilde Treiben abgeschüttelt hatte, gelang es mir, edle und 337 einflußreiche Männer für mich zu interessiren. Als ich hier angekommen war, meinen Namen wieder hatte ändern und mir mit Kunst Zeugnisse meiner Familie schaffen müssen, fühlte ich recht innig, wie glückselig der Redliche sei, selbst in ganz beschränkten Kreisen, in enger, dürftiger Lage, der geradeaus wandeln und jedem sein Antlitz gerade aufrecht entgegenhalten könne. Marie, die Aermste, war nicht mehr; sie war auf der See der Krankheit und dem Grame unterlegen, die längst an ihrem Wesen genagt hatten. Nichts tödtet so schnell als die Selbstverachtung. Hier angestellt, schien mir das Glück wieder lächeln zu wollen; die höchsten Personen begnadigten mich mit ihrem Schutze, und ich erhielt die ernstesten Versicherungen, bald in einer höhern Sphäre angestellt zu werden. So geschieht es nun auch. Und glauben Sie nicht, daß ich so verblendet bin, mir einzubilden, dieser einfältige, rohe Capitain sei es, welcher mich gestürzt habe. Nein, eine höhere Hand hat ihn nur gebraucht, damit jenes verhüllte, jetzt wohl vergessene Verbrechen in dieser Gestalt an mir gestraft werde; die Vergeltung ist meinen Schritten nachgegangen und nimmt dies zum Vorwand, jenes schwerere an mir zu ahnden. Darum beuge ich mich, auch ohne nur zu murren, dem Gesetz, und mein Busen empfand nach langer Zeit den Durst, mich an den Tröstungen der Religion, die ich sonst immer gering geschätzt habe, zu erlaben und zu kühlen.

Ich, liebe Mutter, war von Allem so erschüttert, daß es fast das Ansehen gewann, als wenn er mir Trost zuspreche, damit ich nur meine Fassung wiederfände.

Ich kann wohl behaupten, ich bin selten in einer frommen und herzlichen Predigt so erbaut worden als in diesen Gesprächen mit den verurtheilten Verbrecher. Ich betete mit ihm und las ihm Vieles vor aus der heiligen Schrift, was 338 er Alles mit Rührung und frommer Ergebenheit in sein ganz geläutertes Herz aufnahm. Ich konnte die Erinnerung nicht abweisen, wie ich ihm vormals tief in der Nacht aus jenem von ihm hochbelobten Gil Blas vorlas und er lachend diese Schelmereien pries und sich an ihnen ergötzte, ja mir sogar anmuthete, meine jugendliche Unerfahrenheit an dem leichtfertigen Buche zu bilden und Lebensweisheit aus ihm zu schöpfen.

Der veredelte Mensch ist als ein wahrer und frommer Christ gestorben. Ich habe ihn nicht verlassen und sein letzter Blick, bevor ihm die Augen verbunden wurden, traf dankbar in mein thränendes Auge.

Er hatte mir es gesagt (und Menschen, die so sterben, sind oft den Propheten zu vergleichen), die Segnung des Himmels würde mir bei meinem einfachen und redlichen Streben, bei meiner schlichten Menschenliebe nicht fehlen, und so hat es sich nun auch schon erwiesen.

Es waren zu dieser Hinrichtung Menschen aus allen Gegenden herbeigeströmt, weil dergleichen, was so viel Aufsehen gemacht hatte, lange nicht vorgefallen war. Als ich erschüttert in meinen Gasthof zurückgekommen war und mich anschickte, zu meinem Regimente zurückzureisen, sagte man mir, daß ein alter Herr sehr eifrig nach mir gefragt habe, der mich durchaus sprechen müsse. Als ich ihn erwartete, sah ich nach einiger Zeit den guten Baron Flinter eintreten, von dem ich Ihnen auch schon erzählt habe, jenen Schachspieler, der mich durchaus als Pfarrer auf seinen Gütern haben wollte. – Soll ich noch weitläufiger seyn? Ich bin mit ihm gereiset, ich habe meine Probe- und Antrittspredigt mit allgemeinem Beifall gehalten, ich wohne in meiner schönen Amtswohnung, bin reichlich versorgt und mit der 339 Nichte des alten Predigers (der sich immer noch so durch die Jahre hingekrüppelt hat), mit dem lieben Annchen, die seither noch schöner geworden ist, verlobt.

Nun fehlt also nichts, als daß Sie zu mir ziehen, verehrte Mutter, um mein Leben ganz als ein Glücklicher führen und beschließen zu können.


Diese Erfüllung traf nun auch nach wenigen Wochen ein. Baron Flinter hatte im Schachspiel etwas zugelernt, und Martin, der auf seinen weiten Reisen keine Gelegenheit gehabt hatte, sich zu üben, hatte einige Feinheiten vergessen, so daß jetzt der Gutsherr in der Regel siegte, ohne daß sein Prediger sein Spiel zu maskiren brauchte. Als die Mutter einzog, brachte sie noch einige ihrer liebsten Bilder aus der ehemaligen Gallerie mit, die übrigen überließ sie dem Auctionator; doch, sagt man, habe sie keinen sonderlichen Gewinn aus der Versteigerung gezogen.

Nach einiger Zeit, als Eduard seine Strafzeit überstanden hatte, kehrte er milder und als ein gebesserter Mensch zur Gesellschaft zurück. Martin vermochte über seinen Patron, den Baron Flinter so viel, daß der jetzt moralisch gewordene Eduard die Stelle eines Schulmeisters im Dorfe erhielt. Er verheirathete sich mit Friederike und führte ein sehr anständiges häusliches Leben und man konnte bemerken, daß die Dorfjugend alles Das von ihm einsammelte, was er selbst erst im Lehren lernte.

Lucie, die sich mit einem Krämer in der Stadt versprochen hatte, heirathete diesen bald nachher und besuchte nun zuweilen Mutter und Bruder.

Der Director und Professor Reishelm hatte jene kleine 340 Henriette so anmuthig gefunden, daß er sich, ungeachtet Oheim Simon und Großvater Emmrich keine anmuthigen Zugaben waren, mit dem lieblichen Kinde in der Ehe verband. Fast vier und einen halben Tag, oder ungefähr hundert Stunden, war in der Residenz viel von dieser Mesalliance die Rede. Prinz Xaver und seine Gemahlin Adelheid nahmen aber die Frau des Mannes, den sie hochachteten, gern in ihren einsamen vertrauten Cirkel auf, wenn grade Graf Liançon oder andere ihm Aehnliche nicht zugegen waren.

Martin blieb auf gewisse Weise noch in entfernter Verbindung mit dem Hause des Fürsten. Er las jetzt, statt des Gil Blas, mit Frau und Mutter, zu seiner Erbauung, Goldsmiths Dorfprediger von Wakefield.

 


 


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