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Ein schöner, heiterer Herbsttag war aufgegangen, die Sonne schien in dieser späten Jahreszeit noch so warm wie im Sommer, und dies bestimmte den Laien, mit seiner Tochter in das naheliegende Bergthal Tieck denkt wohl an den Plauenschen Grund bei Dresden. zu fahren. Auf einem kleinen Mietpferde sahen sie in der Entfernung den Enthusiasten auch mit nachflatterndem Kleide auf dieselbe Gegend zusprengen. »Der Himmel verhüte nur«, bemerkte der Laie zu seiner Tochter, »daß der Schwätzer nicht ebenfalls in jenem Thale verweilt, weil er uns sonst mit seinen heftigen Reden und Schilderungen den Tag verderben würde.«

»Wir müssen uns schon darauf gefaßt machen«, erwiderte die Tochter, »denn er sagte mir neulich, daß er diese Gegend vorzüglich liebe und sie oft besuche.«

»Wie sind diese Menschen doch so lästig«, fuhr der Laie fort, »die eben, weil sie gar nichts empfinden, über alles in Hitze geraten können. Aber mehr noch als bei Kunstwerken stören sie mich in der Natur, die am meisten ein stilles Sinnen, ein liebliches Träumen erregt, in der ein vorüberschwebender Enthusiasmus und Behaglichkeit sich ablösen und sie unsern Geist fast immer in eine beschauliche Ruhe versenken, in welcher Passivität und schaffende Thätigkeit eines und dasselbe werden; dazu der Anhauch einer großartigen Wehmut in der Freude, so daß ich in der schönen Landschaft gegen diese beschreibenden Schwätzer oft schon recht intolerant gewesen bin.«

»Sie stören fast ebensosehr wie die unerträgliche Musik«, antwortete das Mädchen, »da man so oft in der Nähe der Gebäude Tänze oder kreischende Arien vernehmen muß.«

Als sie angekommen waren, sprang ihnen der berührige Enthusiast schon aus dem Hause entgegen. »O wie schön«, rief er aus, »daß Sie diesen herrlichen Tag auch benutzen, der wahrscheinlich der letzte helle dieses Jahres ist. Lassen Sie uns nur gleich an den murmelnden Bach gehn und dann von der Höhe des Berges das Thal überschauen. Es ist eine Wonne, die Schwingungen der Hügel, den kleinen Fluß, das herrliche Grün und dann die Beleuchtung zu sehn und zu fühlen. Gibt es wohl ein Entzücken, das diesem gleich oder nur nahe kommen kann?«

»Ich will mit Ihnen gehen«, erwiderte der Laie, »aber nur unter der Bedingung, daß Sie mich mit allen Schilderungen und begeisterten Redensarten verschonen. Wie können Sie überhaupt nur immer so vielen Enthusiasmus verbrauchen? Es ist nicht möglich, wie Sie auch neulich gestanden haben, daß Sie so viel empfinden.«

»Bei der Kunst«, sagte der Enthusiast, »setzt man freilich wohl hie und da, dem Künstler zu gefallen, etwas zu, aber in der himmlischen Natur   nein! da kann doch keine Zunge Worte genug finden, um nur einigermaßen das wiederzugeben, was im Herzen aufgeht. Ich habe es aber schon seit lange bemerkt, daß Sie kein großer Freund der Natur sind, denn wie konnten Sie nur sonst, wie ich schon so oft gesehen habe, daß Sie thun, beim schönsten Frühlingswetter in das dumpfe Theater kriechen, um eine Oper zu hören oder sogar ein mittelmäßiges Schauspiel zu sehen, über welches Sie nachher selber Klage führen?«

»Weil es mir an solchem Tage«, antwortete jener, »darum zu thun ist, ein Schauspiel zu sehen, und ich dies mit dem Genusse der Natur dann nicht vereinigen kann und mag. Auch gestehe ich Ihnen, daß ich oft in der schönsten Natur bin, ohne sie mit den geschärften Jägeraugen in mein Bewußtsein aufzunehmen, wenn mich ein heiteres Gespräch beschäftigt, oder ich auf einsamem Spaziergang etwas sinne, oder ein Buch meine Aufmerksamkeit fesselt. Glauben Sie nur, unbewußt, und oft um so erfreulicher, spielt und schimmert die romantische Umgebung doch in die Seele hinein. Wenn wir uns überhaupt immer so sehr von allem Rechenschaft geben sollen, so verwandelt sich unser Leben in ein trübseliges Abzählen, und die feinsten und geistigsten Genüsse entschwinden.«

»Hm! Sie mögen nicht ganz unrecht haben«, sagte der Enthusiast nachsinnend, »wenn ich nur nicht einmal den Charakter der Heftigkeit angenommen hätte und bei allen meinen Bekannten als ein Eiferer gölte, so wollte ich mir das Wesen wieder abzugewöhnen suchen. Es ist aber denn doch auch fatal, wenn man, so wie Sie, für einen Phlegmatiker gilt. Da Sie also nichts von Naturbegeisterung hören wollen, so will ich Ihnen lieber erzählen, daß ich schon vorhin, ehe Sie kamen, eine sonderbare Erscheinung hier bemerkt habe. Ein junges, wunderschönes Mädchen stand dort oben auf dem Hügel, sah immerdar auf den Weg hin, der zur Stadt führt, und weinte dann heftig. Sie erregte mein lebhaftestes Mitgefühl, ich ging zu ihr, aber so sehr ich auch in sie drang, so konnte ich sie doch nicht bewegen, mir eine vernünftige Antwort zu geben oder mir zu erzählen, was sie hier mache, wie sie hergekommen sei und wen sie hier erwarte. Und ich war doch so ganz außerordentlich neugierig, vorzüglich, weil ich dies junge, außerordentlich reizende Frauenzimmer neulich schon bei unserm Baron in der Gesellschaft gesehen habe, wo sich der verwirrte, melancholische Graf viel mit ihr zu schaffen machte.   Sehn Sie, sie steigt schon wieder den Hügel hinan, um ihre Beobachtungen anzustellen.«

Mit Zierlichkeit und Grazie schwebte die Gestalt die grüne Anhöhe hinauf, und ihre vollen, braunen Locken, ihr leuchtendes Auge, das einfache Gewand und die Gebärde wirkten mit unbeschreiblichem Zauber in der anmutigen Landschaft. Die Tochter fühlte sich bewegt, als sie das schöne Wesen wieder weinen sah, die Thränen stiegen ihr selbst in die Augen, als die Unbekannte jetzt im Ausdruck des höchsten Schmerzes die Hände rang und sich jammernd auf den Rasen niedersetzte. »Lassen Sie uns hinaufsteigen«, sagte der Laie, »das arme Wesen bedarf unsers Trostes und Beistandes, meine Tochter soll sie anreden, wir aber, Herr Kellermann, wollen uns fürs erste schweigend Verhalten und die Betrübte am wenigsten mit zudringlichen Fragen ängstigen.« Die Tochter ging zu ihr, und die Fremde bekannte, daß sie ihren alten Vater aus der Stadt erwarte und nicht begreife, wie er so lange zögern könne, da er ihr diesen Ort angewiesen habe, wo sie zusammentreffen wollten, um weiter zu reisen.

»Sie wollen also unsre Gegend verlassen«, fragte der Laie, »da Sie doch, soviel ich weiß, nur kürzlich angekommen sind?«

»Ach! mein Herr«, antwortete die schöne Fremde klagend, mein lieber Vater leidet schon seit lange an einer schweren Melancholie, an Menschenfeindschaft und tiefem Lebensüberdruß; so zieht er seit einigen Jahren von Ort zu Ort, verarmt immer mehr, wird immer kränker, versagt sich selbst alle Hülfe und will auch mir das Glück nicht gönnen, ihm beizustehn, da ohne diesen starren Willen meine Talente sein Leben wohl unterstützen könnten. Denn mein Gesang und die Musik überhaupt machen das Unglück meines Lebens.«

»Sie singen also doch?« fragte der Laie sehr lebhaft.

»Meine Trauer, mein tiefer Schmerz«, erwiderte die schöne Klagende, »sind schuld, daß ich mein Gelübde gebrochen habe. Ich habe meinem Vater geloben müssen, niemals zu gestehen, daß ich singe, auch niemals, außer wenn er zugegen ist und es mir erlaubt, einen Ton anzuschlagen. Wir wohnten deshalb von der Stadt entfernt, wir vermieden allen Umgang, nur neulich war ich zufällig im Hause des Baron Fernow, wo ein Fremder, ein feiner, anständiger Mann mich über die Gebühr mit Fragen und Aufforderungen zum Singen ängstigte. In der letzten Nacht, als ich, wie ich glaube, in der höchsten Einsamkeit einen Psalm Marcellos einübe, entsteht vor dem Hause ein Getümmel, wir halten die Leute für Räuber oder Trunkene, der Graf nennt sich endlich und will eingelassen sein, noch einige andere toben ebenso laut, und mein Vater kann sie endlich nur beruhigen, indem er ihnen verspricht, am Morgen ihren Besuch anzunehmen. Kaum sind sie fort, so muß alles in der größten Eile eingepackt werden, noch in der Nacht werden Fuhrleute gemietet, unsre wenigen Sachen hieher zu fahren, am Morgen muß ich nachreisen, und er verspricht, in wenigen Stunden ebenfalls hier zu sein, weil er in der Stadt noch unsere Reisepässe besorgen müsse. Hier erwarte ich ihn nun schon manche Stunde, gewiß ist er krank, ein Unglück ist ihm zugestoßen, und ich weiß in meiner Angst nicht Rat noch Hülfe; wo soll ich ihn wiederfinden?«

Der Laie suchte sie zu beruhigen. Er schlug vor, im Gasthause bis nach Tische den Alten zu erwarten, dann solle sie mit ihm und seiner Tochter zurückfahren; da nur ein Weg zur Stadt führe, so müßten sie dem Vater begegnen, wäre dies nicht der Fall, so solle die Fremde in seinem Hause absteigen, indessen er selbst Erkundigungen einzöge. Auf sein eindringliches Zureden und der Tochter schmeichelnde Liebkosungen wurde sie ruhiger und ging mit ihnen in den Gasthof, Bei Tische wurde man sogar guter Laune, nur verweigerte die Fremde auf die unbescheidene Bitte des Enthusiasten, zu singen, weil dies gegen ihr heiliges Versprechen laufe. Man sprach dann viel über die neulichen Musikstücke, die der Kapellmeister im Hause des Barons habe probieren lassen, sie lobte die Komposition als großartig, tadelte aber die Manier der Sänger. »Es kann sein«, beschloß sie ihre Kritik, »daß ich hierüber völlig im Irrtum bin, aber nach den Grundsätzen meines Vaters und nach der Gesangsweise, die ich nach seinem Unterricht ausüben muß, ist jene Manier ebenso klein als willkürlich. Ja, dürfte ich einmal (aber dazu ist mein Vater auf keine Weise zu bewegen) eine Opernrolle, wie diese des Kapellmeisters, singen, so schmeichle ich mir, daß ich eine große Wirkung hervorbringen würde, und vielleicht um so größer, weil diese Art jetzt ganz vergessen ist und die Neuheit um so mehr erschüttern mochte.«

»Wenn Sie diejenige sind«, erwiderte der Laie, »für welche ich Sie jetzt halten muß, so können Sie einen gewissen enthusiastischen Mann, wenn es übrigens Ihre Gesinnung erlaubte, unbeschreiblich glücklich machen.«

Die Schöne wurde rot, und der Enthusiast Kellermann, sowie er das Wort enthusiastisch nennen hörte, sprang eilig herbei und rief: »ja gewiß, Verehrte! Wie könnte mein Herz wohl so vielfach vereinigtem Zauber widerstehn?«

»Gebt Euch keine unnütze Mühe«, rief der Laie laut lachend, »ich meine jenen sonderbaren Grafen, den wir alle kennen. Ich hoffe einen beglückenden Ausgang weissagen zu dürfen.«

Die Schöne wollte sich auf keine nähern Erörterungen einlassen, lobte aber nachher im Verlauf des Gespräches den jungen Grafen als einen schönen und verständigen Mann, der sie auch in der Gesellschaft am meisten interessiert habe.

Auf der Rückfahrt unterhielt man sich mit heitern Gesprächen. Der Enthusiast sprengte wieder auf seinem kleinen Pferde voran und war bemüht, seine Geschicklichkeit im Reiten zu zeigen. Als sie in die Stadt hineingefahren waren, sahen sie in der Hauptstraße einen großen Volksauflauf, Getümmel, Geschrei, ein Vor- und Zurückdrängen, der Wagen mußte halten, die Wache machte Platz, und der Laie erstaunte, als er den alten Italiener zwischen den Soldaten bemerkte, die ihn als Gefangenen fortführten. »Was gibt es?« fragte er einen Vorübergehenden.   »Je, der braune Schelm«, antwortete dieser, »hat einen alten Mann soeben totgeschlagen.«

Als sich die Menge verlaufen hatte und sie weiter fahren konnten, stürzte ihnen aus einem großen Hause der Graf entgegen, er rief, daß man anhalten solle, und mit einem Ausdrucke übermenschlichen Entzückens half er Julien aussteigen. Der Laie und die Tochter folgten, um zu sehen, wie sich die Szene entwickeln würde.

*

Im Saale fand Julie den alten Mann im Lehnstuhl sitzen, blaß und erschüttert, aber wohl und unverletzt. Man erfuhr, daß er den ganzen Tag durch Hin- und Herschicken, indem er seine Pässe berichtigen und auslösen mußte, von der Polizei war aufgehalten worden. Als er endlich fertig zu sein glaubte und eben einen Wagen suchte, um seiner Tochter nachzureisen, begegnete er dem thörichten Italiener, der ihn sogleich auf offener Straße angriff, um ihn zu mißhandeln. Als er aber um Hülfe rief, nahmen sich die Vorübergehenden des Greises an, und der Verwirrte wurde der Wache übergeben. Julie liebkosete den Alten und suchte ihn durch ihre Zärtlichkeit zu beruhigen. Der Enthusiast sowie der Kapellmeister waren ebenfalls Zeugen dieses Auftrittes.

»Vielen Dank«, sagte endlich der Alte, »bin ich Ihnen, mein Herr Graf, schuldig, daß Sie sich meiner so freundlich angenommen haben, jetzt aber lassen Sie uns abreisen, damit wir recht bald den Ort unsrer neuen Bestimmung erreichen.«

Er stand auf und wollte gehn, Julie blieb zaudernd und blickte verlegen auf die Gegenwärtigen, der Graf aber trat vor den Greis hin und sagte mit zitterndem Tone: »Können Sie mir das Glück meines Lebens entreißen wollen, dem ich so lange nacheilte, jetzt, nachdem ich es endlich so unverhofft und so wunderbar gefunden habe?«

»Was meinen Sie?« fragte der Alte.

»Selig würde ich sein«, antwortete der Graf, »wenn Ihre Tochter sich entschließen könnte, mir ihre Hand zu schenken. Ich bin reich, völlig unabhängig, lassen Sie uns in Liebe, Freundschaft und Musik verbunden ein Glück begründen und genießen, wie es nur immer auf Erden möglich ist.«

Der Alte taumelte wie erschrocken zurück, er mußte sich vor Zittern wieder niedersetzen. »Wie!« rief er im heftigen Weinen aus, »das könnte Ihr Ernst sein, mein Herr Graf?«

»Ich nehme«, rief dieser, »alle diese Freunde zu Zeugen; doch, Julie selbst?«

»Nun, meine Tochter«, sagte der Alte bewegt, »könntest du deinen greisen Vater so glücklich machen? Jetzt liegt es in deiner Hand, mir allen Gram meines Lebens zu vergüten und meine letzten Tage zu verherrlichen. Aber ist es denn kein Traum? Wie kommt dies alles? Kannst du dich entschließen, mein Kind?«

Die Tochter war heftig erschüttert. »O Himmel!« rief der Graf, »nein, Gewalt sollen Sie sich nicht anthun; lieber entsage ich allen meinen Hoffnungen.«

»Können Sie mich so mißverstehn?« antwortete Julie kaum hörbar, »hätten Sie wirklich nicht gefühlt, wie sehr ich mich zu Ihnen gezogen fühlte? Habe ich doch seitdem immer Ihr Bild vor Augen gehabt. Aber auch den allerfernsten Schimmer eines solchen Glücks wies ich als einen wahnsinnigen Traum zurück.«

Der Graf kniete vor ihr nieder, der Alte legte gerührt ihre Hände ineinander, dann sank sie an die Brust ihres Geliebten.

»Doch jetzt«, rief der Graf aufspringend, »nur einen Ton, einen Takt, ich weiß es zwar gewiß, daß du es bist, aber um mich völlig zu überzeugen.«

Sie sah fragend ihren Vater an, doch dieser sagte lächelnd: »Ich löse dich jetzt gänzlich von dem Gelübde, welches du mir gethan hast, jetzt darfst und mußt du alles thun, was dein Bräutigam von dir fordert.«

Da sang sie ohne alle Begleitung den Anfang des » Stabat mater Die berühmteste Komposition Palestrinas. von Palestrina, so stark und voll, so anschwellend die Töne, so gehalten und lieblich, daß alle, vorzüglich aber der Graf und der Kapellmeister, in ihrem Entzücken keine Worte finden konnten.

»Ja«, sagte der Vater, als man wieder ruhiger war, »es ist mein Stolz und mein Glück, diese Stimme gebildet zu haben, ich darf es ohne väterliche Verblendung behaupten, sie ist einzig in ihrer Art, und diesen Vortrag wird man jetzt nirgends hören.«

»Aber wie kamen Sie nur dazu«, fragte der Laie, »von Ihrer Tochter sich geloben zu lassen, niemals in Gesellschaft zu singen, ja sogar dieses himmlische Talent zu verleugnen?«

»O, mein Herr«, sagte der Alte, »wenn Sie meine Geschichte kennten, mein jahrelanges Elend, wie ich verkannt und gemißhandelt wurde, so würden Sie dies und noch weit mehr begreifen. Von frühster Jugend war mein Sinn und Streben auf Musik gerichtet, aber meine Eltern waren so arm, daß sie für meine Ausbildung nur wenig thun konnten. Mit Chorsingen fristete ich mich durch, späterhin mit Stundengeben. Ich mußte mir alles selber erringen und auf den mühseligsten Wegen. Als ich den Kontrapunkt gründlich studiert hatte und alles versucht und durchgearbeitet, was zu einem musikalischen Komponisten notwendig ist, als ich nun fertig zu sein glaubte und schon manche Kirchenmusik geschrieben, die mir gelungen schien, fand ich nirgends Unterstützung, kein Mensch wollte von mir etwas wissen, mein Äußeres war nicht empfehlend, ich besaß keine feine Lebensart, mir fehlten die einschmeichelnden Manieren. Nach Italien strebte mein Sinn, doch die matten Augen meiner hülflosen Eltern sahen mich so flehend an, daß ich recht im Herzen fühlte, wie es meine Pflicht sei, für sie zu sorgen. So mußte ich denn wieder für ein geringes Geld fast auf allen Instrumenten Unterricht geben, und diese Pein, mit einem ungeschickten gefühllosen Schüler die Geige zu kratzen, immer dieselben Mißtöne zu hören, ist über alle Beschreibung. Nur ein solcher Musiklehrer erfahrt, welche Dummköpfe es in der Welt gibt. So bot man mir einen an, der schon sechs Jahre Violine gespielt hatte. ›Ei!‹ dachte ich dazumal, ›das ist doch ein Trost, da kann ich einmal musikalisch zu Werke schreiten und vielleicht einen echten Scholaren erziehn.‹ Er hatte schon Sonaten, Quartetts, Symphonieen und die schwierigsten Sachen durchgearbeitet. Und, denken Sie, als ich ihn nun ins Examen nehme, ist dieser Virtuose nicht im stande, seine Geige zu stimmen, er kennt keine Tonart, schabt alles aus dem Gedächtnis daher, hat keinen Takt und verwundert sich in seiner blanken Unschuld, daß alles das Zusammenhang habe und Wissenschaft sei. Wie das Meerwunder, das schon fast ein erwachsener Jüngling war, seinen Pleyel Ignaz Joseph Pleyel (1757 1831); seine seichten Modekompositionen, besonders Klaviersachen, waren seiner Zeit sehr beliebt. zusammenrasselte, alle Töne falsch, ohne Bindung und Sinn, kreischend und quietschend, Gesichter schneidend und Pausbacken machend, davon haben Sie alle keine Vorstellung. Denken Sie, ich mußte mit ihm wieder einen Choral zu spielen anfangen, und nach sechs oder sieben Jahren, die er schon bei einem andern Lehrer verarbeitet hatte, konnte er das nicht einmal leisten.«

Die übrigen hatten den Laien schon während dieser Erzählung lächelnd angesehn, als dieser ausrief: »Ist es möglich, daß ich so unvermutet meinen verehrlichen Musiklehrer wiederfinden muß? Ja, alter Herr, damals haben wir uns beide das Leben rechtschaffen sauer gemacht.«

»Sie sind der junge Mensch von damals?« sagte der alte Mann in Verlegenheit; »bitte tausendmal um Verzeihung, aber es war mir doch so merkwürdig, daß ich diesen Umstand niemals wieder vergessen habe.   Auf diese Weise ging dann meine Jugend hin. Meine Eltern starben, ich war aber indes alt geworden. Nach und nach gab man in kleinen Orten von meinen Kompositionen. Hier und da versuchte auch ein Theater meine Opern darzustellen, aber sie machten kein Glück. Als ich meine Gattin, eine herrliche Sängerin, kennen lernte und sie ihr Schicksal mit dem meinigen vereinigte, schien mir nichts mehr zu wünschen übrig. Aber nach der Geburt meiner Tochter war ihre Stimme schwächer geworden. Ach, was ist es doch für ein unermeßlicher Verlust, wenn eine wahrhaft schöne Stimme verloren geht. Es ist ja noch weit mehr, als wenn uns ein geliebter Freund abstirbt. Und doch muß sich der Mensch auch darein finden. Meine Frau wollte es aber nicht, sie sang immer schwächer, immer stärker griff sie sich an und sang sich zu Tode. Nun war mein ganzer Himmel diese meine Tochter. Eine kleine Pension, die mir das Theater zukommen ließ, das ich eine Zeitlang dirigiert hatte, schützte mich vor der äußersten Dürftigkeit. Von jetzt vertiefte ich mich erst recht in die großen Kirchenmusiken der alten Meister. Immer armseliger erschien mir die Gegenwart. Alle die Manieren, die Liebhabereien, die überhandnahmen, waren mir verhaßt. Am abscheulichsten aber erschien mir die neue Singmethode, welche immer mehr einriß. Der rechte Ton muß wie die Sonne aufgehn, klar, majestätisch, hell und immer heller, man muß die Unendlichkeit in ihm fühlen, und der Sänger muß ja nicht verraten, daß er die letzte Kraft ausspielt. Eine Musik, recht vorgetragen, wiegt sich wie ein Stück des Himmels und sieht aus dem reinen Äther in unser Herz und zieht es hinauf. Und was ich einzig und allein im Ton hören will, ist die Begeisterung. Einen tragischen oder göttlichen Enthusiasmus gibt es, der herausklingend jeden Zuhörer von seiner menschlichen Beschränktheit erlöst. Ist die Sängerin dieser Vision fähig, so fühlt sie sich vom Sinn des Komponisten, aber auch zugleich vom Sinn der ganzen Kunst durchdrungen, daß sie Schöpferin, Dichterin wird, und wehe dem armen Kapellmeister, der dann noch Takt schlagen und das Tempo zu starr festhalten will, denn die Eingeweihte darf über die gewöhnlichen und notwendigen Schranken hinaussteigen und sich wie ein Engel schwebend aus dem Grabe des Zeitlichen erheben und triumphierend in lichter Glorie dem Unsterblichen zufliegen.«

»Das ist es«, sagte der Laie, »was ich neulich habe aussprechen wollen.«

»Die meisten Künstler«, fuhr der Alte fort, »sind nur höchstens von ihrer eigenen Virtuosität trunken, selten, selten, daß einer nur wagt, den Komponisten zu verstehn, geschweige über ihn hinauszuschreiten. So wie im letzten Fall der Komponist verherrlicht wird, so wird er im ersten fast immer vernichtet, doch ist diese Begeisterung nicht ganz zu verwerfen, weil alsdann, wenn auch auf eitle Weise, Seele in den Gesang kommt, insofern nämlich der Sänger ein wirklicher ist. Mein Kind erwuchs und ward ganz, wie ich es mir gewünscht. Sie faßte meinen Sinn, sie bekam eine Stimme, wie ich sie noch niemals gehört hatte. Ich glaubte, ein unschätzbares Kleinod in ihr zu besitzen. In dieser Überzeugung schrieb ich von ihr einem großen Hof, wo man sie zur Kammersängerin berief. Nun glaubte ich, in Ruhe und ohne Armut meine Tage beschließen zu können. Die vornehme Welt ist versammelt, und sie singt ein altes Musikstück so, daß mir die Thränen in den Augen stehn; ich selbst hatte sie nie so singen hören, denn sie hat Stolz, die Umgebung befeuerte sie. Und wie sie endigt, keine Hand, kein Wort, kein Blick. Der alte Kapellmeister kommt dann zu mir und flüstert, der Fürst und die Damen hätten geäußert, und er selber müsse die Meinung unterschreiben, meine Tochter möchte noch erst Unterricht von einem guten Sänger haben, um Schule zu bekommen.«

»Das ist es eben«, rief jetzt der Graf aus, »was sie wollen, Schule, Methode, wie sie es nennen, statt des Gesanges. Ja, das war jener Abend, als ich, Julie, in Wonne aufgelöst hinter deinem Rücken stand und dein Angesicht nicht sehen konnte. Methode! gerade als wenn ein Solimene oder Trevisano Francesco Solimena (1657-1747), Maler, talentvoll, aber flüchtig in der Zeichnung, manieriert, ohne rechte Zucht und Schule! Francesco Trevisani (1656-1746), Maler, fruchtbar, alle möglichen Stile nachahmend, gefällig, doch ohne Tiefe und Ernst; zahlreiche Bilder von beiden in der Dresdener Galerie. den Raffael bedauern wollte, daß er nicht mehr Schule in seinen Werken zeige.«

Julie sagte: »Glauben Sie mir, mein Vater, ich kann besser singen, als ich jenen Abend sang. Ja, vor Freunden, die uns verstehn, die unserm Sinn entgegenkommen, wird die Stimme noch einmal so mächtig und die Sicherheit unendlich. Aber man fühlt es auch vorher durch geistigen Instinkt, wenn wir vor Unverständigen uns hören lassen sollen. Wird bei jenen der Gesang wie Gold in Glut der Liebe geschmolzen, so versagt bei diesen Stimme und Mut, ja, der Ton wird oft, trotz aller Anstrengung, kümmerlich. An jenem mir fürchterlichen Abende sah ich mich geflissentlich nicht um, und doch steckten mir alle die Augen der gelangweilten Hofdamen und die verwunderten Blicke der neugierigen Kavaliere in der Kehle.«

»Das Unglück, dieser Unsinn«, nahm der Alte wieder das Wort, »verwirrten mir auch den Kopf. Ohne es nur anzuzeigen, reisete ich noch in derselben kalten Nacht mit meiner Tochter wieder ab. Sie mußte mir feierlich geloben, nie anders, als nur in meiner Gegenwart, und wenn ich es ihr erlaubte, zu singen. Kam sie unter Menschen, die jetzt fast alle gern kreischen und zwitschern, so mußte sie fest verleugnen, daß sie nur irgend was von Musik wisse. Wir lebten sehr einsam, kamen wenig oder gar nicht unter die Leute. Mein Gemüt verfinsterte sich immer mehr, und hätte mich nicht meine Tochter getröstet, so wäre ich wohl längst gestorben, oder Wahnsinn hätte mich ergriffen. Ist mir doch fast, als wäre ich in manchen Stunden diesem Elende nicht allzu fern gewesen. Öfter wechselte ich den Wohnsitz und kam nun hieher, um draußen, in der Nähe finsterer Tannen recht einsam zu leben und ungestört mit meinem Kinde Gesang und Musik zu üben. Da sah mich neulich der Herr (indem er auf den Kapellmeister wies) draußen, und gestern wollten sie beide in der Nacht mein Haus bestürmen, was ich freilich ganz anders auslegte, als es sich nun zu meinem unerwarteten Glücke ausgewiesen hat.«

Man setzte fest, daß noch heut abend die Verlobung sein sollte, zu welcher auch der Baron und seine Familie gebeten wurde.

»Aber halt!« rief der Kapellmeister, »Ihr Gelübde, Herr Graf, welches Sie in dieser Nacht gethan haben, daß Ihre schöne Braut noch vor der Vermählung die Hauptpartie in meiner Oper singen soll!«

»Es sei«, sagte der Graf, »wenn es meiner Julie nicht unangenehm ist.« Man sah es ihr aber auch ohne ihre Versicherung wohl an, daß es ihr Freude mache, auf eine so glänzende Art ihr großes Talent zu entwickeln.

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Ehe der Graf in das Schauspiel ging, nahm er noch einmal den alten Italiener einsam vor und sagte: »Ihr hättet neulich fast Unglück gestiftet, alter Thor, reiset nun, wozu ich Euch ausgestattet habe, in Eure Heimat zurück, lebt dort ruhig, und Ihr werdet richtig Eure Pension ausgezahlt erhalten, die Euer Alter froh und sorgenlos machen kann.«

»Eccellenza«, antwortete der Verwirrte, »sein die Großmut selbst, bitte auch auf Knieen um Pardon, daß den Schwiegervater habe prügeln wollen, den alten boshaften Hortensio, der alle Musik ruiniert. Ich hatte lange draußen gelauert und war im Wald vor Müdigkeit und Chagrin eingeschlafen, unterdessen er auf und davon. Untersuche alle Dörfer dort, komme müde und matt zurück, da rennt er über die Straße: Herr Graf, da zog es mich so gewaltig, ich mußte losprügeln und wenn's mein leiblicher Vater gewesen wäre.«

Als Julie sich in der schöngesetzten Partie zeigte und in vollen Tönen so sicher ausstrahlte, war das Entzücken des Publikums allgemein. Die Zeichen des Mißfallens, die einige Freunde der eigensinnigen Sängerin wollten hören lassen, mußten beschämt verstummen. Als die große Arie gesungen war, entstand ein so lautes Beifallrufen, ein solches Jauchzen und Geräusch, daß Musik und Stück innehielt. Als es ruhiger war, hörte man eine laut heisere Stimme, die vom Parterre heraufrief: »Taugt nix! Gar nix! Miserable Pfuscherei, kein Vortrag, ist nur Aberwitz und deutsche Seelenmanier des verrückten Herrn Hortensio!« Es war der alte Italiener, der sich noch einmal vernehmen ließ, aber genötigt wurde, das Theater zu verlassen.

Noch niemals hatte in dieser Stadt eine Oper so großes Glück gemacht, der Kapellmeister war beseligt, der Vater glücklich, der Graf entzückt, der Laie in frühere Jahre versetzt und der Enthusiast, was die übrigen freute, ohne Worte.

Bald darauf war die Vermählung der Glücklichen. Dann zog der Graf auf seine großen Güter; alte Musik, die Kompositionen Hortensios, Opern wurden in seinen Sälen gegeben, und die abwesenden Freunde hörten in Briefen nur von der ungetrübten Freude dieser auf so wunderliche Art Vereinigten.


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