Ludwig Tieck
Leben und Tod der heiligen Genoveva
Ludwig Tieck

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Einleitung des Herausgebers.

Schon im »Peter Leberecht« (1795) heißt es:»Schriften«, Bd. 15, S. 21. »Die gewöhnlichen Leser sollten ja nicht über jene Volksromane spotten, die von alten Weibern auf der Straße für einen und zwei Groschen verkauft werden; denn ›Der gehörnte Siegfried‹, ›Die Heymonskinder‹, ›Herzog Ernst‹ und die ›GenovevaÜber Entstehung, Überlieferung, Fortbildung und Verbreitung der Legend hat gründlich gehandelt B. Seuffert: »Die Legende von der Pfalzgräfin Genoveva« (1877). haben mehr wahre Erfindung und sind ungleich reiner und besser geschrieben als jene beliebten Modebücher [die Ritterromane des 18. Jahrhunderts]. Will der Leser mir nicht auf mein Wort glauben, so mag er jene schlecht gedruckten und verachteten Geschichten selber nachlesen, und wenn sein Geschmack noch nicht ganz und gar zu Grunde gegangen ist, so wird er diesen vor jenen den Vorzug geben.« Im Anfang des »Sternbald« (1798) läßt Tieck ferner eine Person unter anderm die Geschichte von der heiligen Genoveva vortragen, zur Andacht und Rührung der Zuhörer, und gegen den Schluß desselben Buches»Schriften«, Bd. 9, S.370. soll der Held in einem Kloster ein Gemälde auffrischen, das Genoveva darstellt, »wie sie mit ihrem Sohne unter einsamen Felsen in der Wildnis sitzt und von freundlichen, liebkosenden Tieren umgeben ist«. Es ist hier nicht der Ort, darauf näher einzugehen, wie Tiecks schöner Eifer für die ältere Volkslitteratur bei seinen Zeitgenossen befruchtend gewirkt hat; wir haben in unsrer allgemeinen Einleitung nachgewiesen, wie die Bekanntschaft mit jenen alten Historien und Legenden ihn selbst zu poetischer Thätigkeit anregte. Von allen hier in Betracht kommenden Dichtungen Tiecks hat keine stärker auf des Dichters Mitwelt gewirkt als die »Genoveva«, in der er – wie sein Sternbald jenes Bild – die alte Legende »mit den buntesten Farben und mit aller erdenkbaren Kraft und Kunst seiner Poesie« (Haym) zum Drama auffrischte. In dem Vorbericht, den Tieck der »ersten Lieferung« seiner »Schriften« (1828) vorausschickte, hat er selbst Rechenschaft abgelegt über die Entstehung dieses Dramas.Vgl. Röpfe, »Ludwig Tieck«, Bd. 1, S. 233 ff., und Haym, »Romantische Schule«, S. 470 ff. Während eines Aufenthalts in Hamburg 1797 lernte er den Maler Christian Friedrich Heinrich Waagen (1750-1825), seinen nachmaligen Schwager, kennen. »Dieser hatte in frühern Zeiten in Rom studiert und schon vor manchem Jahre von dort ein Manuskript des Malers MüllerFriedrich Müller (1780–1825), bekanntlich eins der »Kraftgenies« der Sturm- und Drangperiode., mit dem er befreundet gewesen, nach Deutschland gebracht.« Es war eine Tragödie: »Golo und Genoveva«. Unter mannigfachen Zerstreuungen, in Stunden der Abspannung studierte Tieck das fast unleserliche Manuskript. Es blieb kein klarer Eindruck zurück, nur der Umstand, »daß Golo ein Lied singen hört, dessen Melodie bei seinem Tode in der Ferne wieder gespielt wird«, prägte sich ihm lebhaft ein. Da sich vor allem an dieses Lied der Vorwurf knüpfte, Tieck habe an Müllers Drama ein Plagiat begangen, sei es hier mitgeteilt:

»Mein Grab sei unter Weiden
Am stillen, dunkeln Bach!
Wenn Leib und Seele scheiden,
läßt Herz (Schmerz?) und Kummer nach.
Vollend' bald meine Leiden,
Mein Grab sei unter Weiden
Am stillen, dunkeln Bach.«

Man vergleiche damit das Lied bei Tieck, S. 185, und man wird sehen, es enthält eine dunkle Reminiszenz an das Müllersche, weiter nichts. Im übrigen kann es kaum zwei verschiedenartigere Werke geben als die wilde, leidenschaftliche dramatische Rhapsodie des Kraftpoeten und die weiche, lyrisch verschwimmende Dichtung des Romantikers. Übrigens reinigte sich Tieck selbst glänzend von jenem Vorwurf, indem er Müllers Drama mit dessen andern Werken 1811 herausgab. Damals indessen lieferte er die Handschrift dem Besitzer zurück, da er – selbst wenig geschäftskundig – sich nicht getraute, dem seltsamen Buche einen Verleger zu finden. Erst ein Jahr später, nachdem er diese dramatische Gestaltung der Legende gelesen hatte, fiel ihm, wie er selbst erzählt,»Schriften«, Bd. 1, S. 27. Die frühere Erwähnung der Legende in »Peter Leberecht« beweist nichts dagegen. »das Volksbüchelchen von der Pfalzgräfin Genoveva in die Hand. Ich las es ohne Absicht in einer müßigen Stunde, und meine Imagination ward vorzüglich von der Schilderung der Einsamkeit, den Leiden der Frau in dieser und dem wundersamen Zusammentreffen mit dem Gemahl in Bewegung gesetzt; der lieblich fromme und schlichte Ton des Büchelchens rührte mich ebenfalls, und allgemach verknüpften sich Erinnerungen, Vorsätze und poetische Stimmungen mit diesem Märchen. Der schöne Gedanke des wiederholten Liedes in Müllers ›Genoveva‹ fiel mir wieder bei; aber so sehr ich auch mein Gedächtnis quälte, so konnte ich mich durchaus nicht erinnern, ob er jenes Gemälde der Einsamkeit, das mich in der Legende vorzüglich angezogen, angebracht, oder wie er das Wiederfinden des Grafen, das Verhältnis zum Golo behandelt hatte.« Diese Stimmungen gewannen feste Gestalt, als er, gerade mit der Übersetzung des »Don Quixote« beschäftigt, durch diese Arbeit auch auf andre Dichtungen der Spanier, besonders auf die Dramen Lopes und Calderons,Lope de Vega (1562–1635) und Pedro Calderon de la Barca (1600–1681), die beiden größten Dramatiker Spaniens; Calderons Drama »Die Andacht zum Kreuz« teilte Tieck W. Schlegel mit, der aber anfangs an dem bigotten Geist des Spaniers wenig Gefallen fand. gefühlt ward. »Diese mir neue Art, künstliche Versmaße, lyrische Ergüsse in das Drama einzuführen, schien mir für gewisse Gegenstände trefflich. Ich glaubte, man könne noch auf eine andre Art wie die Alten die Erzählung und Lyrik in den Dialog einführen, und wohl auch seltsamerweise Fels und Wald, die einsame Natur, die Gefühle der Andacht, die Wunder der Legende im Gegensatz mit der bewegten Leidenschaft und das Unglaubliche in Verbindung mit der nächsten und überzeugendsten Gegenwart vortragen.« So lebte Wackenroders religiöse Empfindung, durch die Poesie vermittelt, wieder in eigentümlicher Gestalt in ihm auf. Dazu kamen Schleiermachers »Reden über die Religion«, die ihn »grausam begeisterten«Friedrich Schlegel an Schleiermacher. und neben diesen Ergüssen des abgeklärtesten Mystizismus erschloß sich ihm auch eben damals die wundersame Ideenwelt des berühmten Görlitzer Schusters und »deutschen Theosophen« Jakob Böhme (1575-1624), in dessen Schrift »Aurora oder Morgenröte im Aufgang, das ist: die Wurzel oder Mutter der Philosophie, Astrologie und Theologie aus rechtem Grunde, oder Beschreibung der Natur«, dieses »Chaos von Tiefsinn, Frömmigkeit und Einbildsamkeit«, er sich mit tiefer Ergriffenheit versenkte.« Erfüllt mit solchen mystisch-religiösen Ideen lernte er nun auch im Sommer 1799 den innig frommen, gleichfalls tief mystischen Novalis kennen, »Die religiöse Richtung und Umstimmung seiner leicht hingerissenen, beweglichen Phantasie war damit vollendet. Ganz erfüllt von frommer Gläubigkeit oder doch von Stimmung dafür, machte er die Genoveva-Legende zum Rahmen, um all diese Empfindungen poetisch zu fesseln und zu umspannen.« (Haym.) Im Sommer 1799 schrieb er in Giebichenstein bei Halle, wo er bei seinem Schwager Reichardt zu Besuch weilte, den Prolog des heiligen Bonifacius und die ersten Szenen, und noch im November ward das Ganze in Jena vollendet. Es erschien als zweiter Teil der »Romantischen Dichtungen von Ludwig Tieck«.Jena, bei Fr. Frommann, 1800. Eine »neue verbesserte Auflage« (Berlin, Reimer, 1820), die im 2. Teil der »Schriften« (1828) wieder abgedruckt ist, enthält manche Änderungen Unsrer Ausgabe ist der Druck in den »Schriften« zu Grunde gelegt; mit Hilfe der ersten Ausgabe wurden einige Druckfehler verbessert. So leicht war alles aus der Feder geflossen, daß der Dichter später sagen konnte, dieses Werk habe sich gleichsam selbst geschrieben.

Tiecks Freunde waren voll Bewunderung. »Es ist nicht nur«, schrieb Friedrich Schlegel an Schleiermacher (November 1799), »die größte Fülle von Poesie und eine ganz neue Variation seiner Manier, sondern auch mehr Nachdruck und Ernst darin, als noch in irgend einem seiner Werke. Er ist in der schönsten Zeit und hat in der That ein ungeheures Talent.« Er beklagt noch 1803, daß »dieses Hauptwerk immer noch gar nicht hinreichend verstanden« werde, und er wie sein Bruder Wilhelm feierten die »Genoveva« in begeisterten Sonetten.

Selbst Goethe sagte dem Dichter »überaus viel Gutes«, als dieser ihm an zwei Abenden (wahrscheinlich den 3. und 4. oder den 4. und 6. Dezember 1799) sein Drama auf dem Schlosse zu Jena vorlesen durfteVgl. Dorothea Schlegel an Schleiermacher, den 9. Dezember 1799 Der Meister schrieb in seine »Tages- und Jahreshefte«: »Tieck las mir seine ›Genoveva‹ vor, deren wahrhaft poetische Behandlung mir sehr viel Freude machte und den freundlichsten Beifall abgewann«,Vgl. auch Goethes Äußerung gegenüber Holtei (1828. – »Vierzig Jahre«, Bd. 5, S. 61). und noch im Jahre 1829 schrieb er an Tieck: »Gar wohl erinnere ich mich, teuerster Mann, der guten Abendstunden, in welchen Sie mir die neu entstandene ›Genoveva‹ vorlasen, die mich so sehr hinriß, daß ich die nahe ertönende Turmglocke überhörte und Mitternacht unvermutet herbeikam.« Wenn also Goethe zu seinem neunjährigen Sohne August, der am zweiten Abend mit zuhörte, sagte: »Nun, mein Söhnchen, was meinst du denn zu allen den Farben, Blumen, Spiegeln und Zauberkünsten, von denen unser Freund uns vorgelesen hat? Ist das nicht recht wunderbar?« so glaubte er sicherlich damit keinen Tadel auszusprechen. Nicht auffällig ist es, wenn der Vollblutdramatiker Schiller an der als Drama unstreitig schwachen Dichtung weniger Gefallen fand. Schillers Freund Körner äußerte sich folgendermaßen: »Ich habe viel echtes poetisches Talent darin gefunden. An Phantasie und Innigkeit des Gefühls fehlt es Tieck gewiß nicht. Auch hat er schon ziemliche Gewandtheit in Sprache und Versifikation. Seinen Geschmack halte ich noch nicht für ausgebildet, aber unter den jetzt angehenden Dichtern weiß ich keinen, der sich mit ihm messen könnte.« Darauf schrieb Schiller zurück:5. Januar 1801. »Dein Urteil über Tiecks ›Genoveva‹ ist auch ganz das meinige: er ist eine sehr graziöse, phantasiereiche und zarte Natur; nur fehlt es ihm an Kraft und an Tiefe und wird ihm stets daran fehlen. Leider hat die Schlegelsche Schule schon viel an ihm verdorben; er wird es nie ganz verwinden. Sein Geschmack ist noch unreif, er erhält sich nicht gleich in seinen Werten, und es ist sogar viel Leeres darin.« Und noch strenger lautet ein zweites Urteil:An Körner, 27. April 1801. »›Genoveva‹ ist als das Werk eines sich bildenden Genies schätzbar, aber nur als Stufe; denn es ist nichts Gebildetes und voll Geschwätzes, wie alle seine Produkte. Es ist schade um dieses Talent, das noch so viel an sich zu thun hätte und schon so viel gethan glaubt. Ich erwarte nichts Vollendetes mehr von ihm. Denn mir deucht, der Weg zum Vortrefflichen geht nie durch die Leerheit und das Hohle.« Die enthusiastische Rezension Bernhardts im »Archiv der Zeit«1800, I, S. 457 ff. kann ebensowenig als Kritik gelten wie die plumpe Art, mit der Nicolai in der »Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek«Band 58 (1801), S. 352 ff. das Ganze als »Ammenmärchen und Gewäsch«, als ein »heilloses Drama« voll »Albernheiten« und »tausend Ungereimtheiten« abfertigt, oder Garlieb Merkels hämischer Angriff in seinen »Briefen an ein Frauenzimmer über die neuesten Produkte der schönen Literatur in Deutschland«. Ein beachtenswertes Zeugnis für die Begeisterung, die das Drama bei jugendlichen Lesern hervorrief, ist der Brief, den der Theaterdirektor Heinrich Schmidt (1779–1857) am 27. August 1830 von Brünn aus an den Dichter richtete.»Briefe an Tieck«, Bd. 3. S. 361 f. Darin heißt es u. a.: »Besonders merkwürdig ist mir ›Genoveva‹. An sie knüpfen sich die lebendigsten und tiefsten Erinnerungen aus meiner Jugend, als ich noch in Jena studierte. Wie wir da, einige zwanzig Bursche, . . . dieses treffliche Gedicht, das wohl damals gerade erschienen war, in den Mitternachtsstunden zusammen andächtig lasen, welche Freude, welcher Jubel! An die Rolle des Golo mit seinen wiederkehrenden Erinnerungen an das stille, dann ernste Thal schloß ich mich innig an: ich betrachtete sie als die schönste Aufgabe für den jugendlichen Schauspieler. Wieviel Ehrfurcht hegten wir für die nicht unempfindliche und doch heilige Genoveva!« etc.

Seitdem haben sich die Urteile über das jedenfalls merkwürdige Stück allmählich geklärt. Mit Recht glaubte schon Solger, der »Ästhetiker der Romantik« und ein warmer Bewunderer Tieckscher Poesie, zu viel Absichtliches und Willkürliches in Charakteristik und Kostüm darin wahrzunehmen; er fand, daß die Frömmigkeit, die in den Reden der Personen mehr als in ihren Handlungen zu Tage tritt, nicht ganz der damaligen Sinnesart des Dichters zu entsprechen scheine, sondern vielmehr einer tiefen Sehnsucht nach jener entsprungen sei. »Hier haben Sie uns«, schreibt er am 23. November 1816 an den Dichter, »mit Absicht in die Einfalt und Liebe alter Zeiten versetzen wollen, und gewiß, Sie würden uns die Zustände derselben nicht so deutlich vorgestellt und ausgesprochen haben, wäre dies nicht durch einen Gegensatz gegen etwas andres geschehen, wodurch das Bewußtsein in sich uneins gemacht und zur Reflexion veranlaßt wird.« Sehr bemerkenswert ist es, wie vorurteilslos der Dichter Solgers Einwendungen anhörte und wie unbefangen er selbst über sein Stück urteilte. Aus einem Briefe an Solger vom 30. Januar 1817 heben wir folgendes hervor: »Mir erscheint jetzt das Gedicht wie unharmonisch. Die Töne, die Anklänge, Rührungen, Ahndung, Wald, Luft u. s. w. gehen in Harmonie und Musik auf – dies Klima (wie ich es nennen möchte), dieser Duft des Sommerabends, der Waldgeruch und spätere Herbstnebel ist mir noch ganz recht, aber was eigentliche Zeichnung, Färbung, Stil betrifft, da bin ich unzufrieden und finde die Disharmonie. Mir ist vieles in ›Genoveva‹ . . . wie zu emsig, fleißig und altdeutsch ausgemalt; Otho, Karl Martell, Aquitanien, die Sarazenen sind vielleicht gut gedacht als Gegensatz, aber ihre Großartigkeit ist manieriert. . . . Die Religion nun, die Wüste, die Erscheinungen sind mir der Ton des Gemäldes, der alles zusammenhält, und diesen möchte ich nur verteidigen und ihn nicht gern unwahr, manieriert, einen, der die Lokalfarben stört und auslöscht, nennen lassen. . . . Es gehört zu meinen Eigenheiten, daß ich lange Jahre den ›Perikles‹ von ShakespeareEin Jugendwerk Shakespeares, das Tieck auch übersetzt hat (»Alt-Englisches Theater oder Supplement zum Shakespeare, übersetzt und herausgegeben von Ludwig Tieck«, 1. Bd. Berlin 1811, S. 223 ff.) Hier tritt der alte Dichter Howe nicht nur als Prolog und Epilog auf, sondern füllt auch durch Erzählung die Lücken der dramatischen Handlung nicht weniger als sechsmal aus; ihm verdankt der heilige Bonifacius in der »Genoveva« sein Dasein. vielleicht übertrieben verehrt habe; ohne diesen wäre ›Zerbino‹ nicht, noch weniger ›Genoveva‹ oder ›Octavian‹ entstanden. Ich hatte mich in diese Form wie vergafft, die so wunderbar Epik und Drama verschmelzt; es schien mir möglich, selbst Lyrik hineinzuwerfen, und ich denke mit wahrem Entzücken an jene Stunden zurück, in denen ›Genoveva‹ und später ›Octavian‹ in meinem Gemüt aufgingen; dies Entzücken wollte ich wohl zu körperlich, buchstäblich hineinbringen, und so entstand das Manierierte.« »Perikles« ist übrigens nicht das einzige Shakespearesche Drama, das auf »Genoveva« eingewirkt hat; auch an »Macbeth«, »Romeo und Julia«, »Richard II.«, den »Kaufmann von Venedig« klingt manches an, und nicht minder deutlich zeigt sich der Einfluß von Goethes »Faust« und »Götz« und – was besonders interessant ist – von Schillers eben erschienenem »Wallenstein«. Man vergleiche z. B. die Gestalt der Gertrud mit der Amme in »Romeo und Julia«, die Szene im Garten (S. 232 ff.) mit der sogenannten Balkonszene ebendaselbst, die Szene »Wohnung der Zauberin« mit den Hexenszenen in »Macbeth« und »Faust«, die Sterbeszene des alten Wolf mit der des alten Gaunt in »Richard II.« (Akt. 2, Szene 2), die Betrachtung Golos »Du hast recht, wir müssen hindurch« etc. (S. 308) mit der Macbeths (Akt 5, Szene 5): »Ein Morgen und ein Morgen und ein Morgen« etc.; Winfredas und Golos astrologische Anschauungen (S. 311, 361 und öfter) mit Wallensteins Sternenglauben (namentlich »Piccolomini«, Akt 2, Szene 6). Fast wörtlich stimmt die Bemerkung des »Unbekannten« S. 229: »Denn Sterne können niemals Lüge sprechen« mit der Wallensteins in »Wallensteins Tod«, Akt 3, Szene 9: »Die Sterne lügen nicht«, die Worte Genoveuas, S. 233, »dann fühlt' ich Himmelskräfte niedersteigen« mit denen Fausts im ersten Monolog: »Wie Himmelskräfte auf- und niedersteigen« etc., und solcher Parallelstellen, welche die Empfänglichkeit des jugendlichen Dichters beweisen, ließen sich leicht noch mehrere anführen.

Die »Genoveva« ist niemals über die Bühne gegangen. Obwohl Tieck bei der Ausführung des Werkes nicht geglaubt hat, ein eigentliches Bühnenstück zu schreiben, obwohl er »auf keine andre Wahrheit als die poetische, durch die Phantasie gerechtfertigte« Anspruch machen wollte, entsprach er doch dem gegen die Frau des Verlegers Unger geäußerten Wunsche Ifflands, das Stück zu sehen, »ob es der Bühne vielleicht brauchbar wäre«, und richtete an den mächtigen Berliner Schauspieldirektor am 16. Dezember 1799 einen Brief, der in mehr als einer Beziehung Interesse beansprucht. Darin heißt es:Vgl. Teichmanns »Litterarischen Nachlaß«, herausgegeben von Dingelstedt, Stuttgart 1863, S. 281 ff. Die Antwort Ifflands auch bei Holtei (»Briefe an L. Tieck«), der aber irrtümlich von einem »Operntext« spricht. »Ich kann es hier nicht abschreiben lassen; wenn ich aber wüßte, daß Sie es wirklich geben wollten, so würde ich es selber für die Bühne umarbeiten und Ihnen dann sehr bald die Abschrift dieser Umarbeitung zusenden können. Sie können sich ohngefähr eine Vorstellung machen, wenn Ihnen die alte Legende bekannt ist, an die ich mich im ganzen sehr angeschlossen habe, weil sie so schön und echt poetisch ist; dadurch ist nun in das Stück viel katholisches Gemüt und Wesen gekommen, welches unsern Zuschauern vielleicht etwas fremd sein dürfte; oft gehen die Vorstellungen ganz ins Kindliche, weil sie nur dadurch rühren und meinem Zwecke dienen konnten . . . Ich habe in diesem Schauspiel den Versuch gemacht, die Shakespearesche Form mit der spanischen zu verbinden, wozu sich der Stoff auch sehr gut eignet. . . . . So wie das Stück jetzt ist, ist es viel zu lang und muß fast um die Hälfte gekürzt und vieles geändert werden; der Druck des Originals erscheint erst auf Ostern. Wenn es Ihnen also nach diesem möglich ist, mir zu bestimmen, ob Sie mein Produkt brauchen können, so lege ich auf einige Zeit meine übrigen Arbeiten beiseite, um Ihnen die Umarbeitung sobald als möglich zu senden . . .« Iffland bittet hierauf am 21. Dezember um Zusendung der Arbeit; er wolle »mit Gradheit« sein Urteil sagen. »Ich hoffe alles für uns davon.« Darauf schickte Tieck die ersten fünf Druckbogen; das Manuskript könne niemand lesen, selbst der Setzer nicht. Das übrige folgte den 14. März 1800. Ifflands uns nicht erhaltene Antwort fiel ablehnend aus, und Tieck, der überhaupt Iffland nicht leiden konnte,Vgl. die Einleitung zum »Gestiefelten Kater«. grollte diesem seitdem, was namentlich aus Anlaß der Aufführung des Beckschen Lustspiels »Das Chamäleon« im November 1800 zu Tage trat.Vgl. die allgemeine Einleitung. Dagegen schien von einer andern Seite her, von der Tieck am wenigsten etwas Freundliches erwarten konnte, allen Ernstes die theatralische Aufführung des Dramas ins Auge gefaßt zu sein. »Von allen Seiten«, erzählt Tieck,»Schriften«, Bd. 1, S. 30 ff »vernahm ich Aufmunterndes, und manchen Freund und vieles Wohlwollen hat mir dieses Gedicht erworben. Selbst Übelwollende schien es bewegt zu haben; denn Kotzebue,Es läßt sich übrigens nicht leugnen, daß die schwächliche Rührung und Nachsicht, die dem verächtlichen Golo wiederholt gezollt wird, einigermaßen an Kotzebue erinnert. der damals auch in Jena lebte, ließ durch einen Bekannten fragen, ob ich nichts dagegen habe, wenn er die Legende auf die Bühne brächte; er verspreche, nicht ein eignes Wort hinzuzufügen, sondern er wolle nur abkürzen und durch Auslassung das Stück dem Publikum passend zubereiten. So allgemein beliebt er damals war, wäre es unter seinem Schutze wohl ein Volksschauspiel geworden; und indem ich es nun darauf betrachtete, und mancher Freund es auch für die Bühne eingerichtet wünschte, schien es mir selbst durch Weglassung des Prologs und Milderung manchen poetischen Ergusses, und wenn die Leidenschaft mehr in den Vordergrund gezogen würde, zu einem Bühnenstück geeignet. Ich ließ dem berühmten Dichter, dessen Wohlwollen mir verdächtig schien, sagen, das Schauspiel sei gedruckt, und mithin könne jeder damit thun, was ihm gut dünke.« Später fand er selbst sein Benehmen unpolitisch oder selbst ungerecht, damals aber meinte er, das Gedicht müsse, »wenn auch populärer, so doch durch diese Umwendung verdorben werden«. Er selbst hat niemals einen Schritt zu einer Aufführung des Stückes gethan, auch in Dresden nicht, wo es ihm ein Leichtes gewesen wäre, sie durchzusetzen, ein Beweis nicht nur dafür, wie deutlich er in späterer Zeit das Undramatische seiner Dichtung fühlte, sondern auch dafür, daß persönlicher, auf äußere Erfolge gerichteter Ehrgeiz seiner vornehmen Natur gänzlich fehlte. So ist denn »Genoveva« niemals in Szene gesetzt worden; nur die zweifelhafte Ehre ward ihr zu teil, zu einem Operntext verarbeitet und mit einer, wie Kenner versichern, kraftlosen Musik aufgeputzt über die Bühne zu gehen, um sogleich wieder dahinter zu verschwinden.»Golo und Genoveva«, romantische Oper in 3 Akten mit Tanz, nach L. Tiecks »Genoveva« für die Bühne bearbeitet von Görner; Musik von Huth. Aufgeführt in Berlin den 25. und 30. Juni 1855. Schumann machte sich seinen Text »nach Tieck und Hebbel« zurecht. Eine Travestie im jungdeutschen Sinne aus der Feder Franz Dingelstedts ward 1845 im Haustheater des Kronprinzen von Württemberg aufgeführt.Vgl. Rodenberg in der »Deutschen Rundschau«, 1889/90, II, 473 ff. Der dort abgedruckte Prolog macht nach keinen weitern Proben dieses »lustigen Mummenschanzes«, der »den tiefern Sinn einer Litteraturkomödie« haben soll, begierig.

Blieb mithin der Dichtung die unmittelbarste Wirkung eines Dramas versagt, so hat sie doch in andrer Beziehung einen gewaltigen Erfolg errungen, nämlich indem sie andre Poeten anregte, mit der jedenfalls neuen und eigentümlichen Erscheinung zu wetteifern. Auch hervorragende Künstler fühlten sich zu bildlichen Darstellungen durch Tiecks Drama begeistert. Schon 1806 zeichneten die Gebrüder Franz und Johannes Riepenhausen einen Genoveva-Cyklus, denen sich später Joseph von Führich, Bosch, Steinbrück, Schwind u. a. anreihten. Auf die unleugbaren Anklänge in Schillers »Maria Stuart« (Mortimer) und »Jungfrau von Orleans« (artistische Verwertung des mittelalterlichen Christentums, Wechsel der Versmaße u. a.) legen wir kein Gewicht, da Schiller eine viel zu starke Dichternatur war, um durch andre, die nicht über ihm standen, mehr als wie äußerlich angeregt zu werden, und da er sich, zum Dramatiker geboren, Tieck hier in jeder Beziehung überlegen zeigt. Aber wie stark das Gedicht (und mit ihm der »Octavianus«) auf ähnlich gestimmte Geister wirkte, ersieht man – um von Kotzebues »Gisela«, die eben nur die Mode mitmachte, zu schweigen – aus der dramatischen Poesie der Werner, Brentano, Arnim, Eichendorff, Öhlenschläger, Hertz, Atterbom, Andersen, Immermann u. a., von denen es freilich nur dem Erstgenannten gelang, auf der Bühne festen Fuß zu fassen. Insbesondere ist Werners »Kreuz an der Ostsee« (der erste Teil der »Söhne des Thals« und vielleicht sein genialstes Stück) nicht ohne Tiecks Vorbild denkbar und lehnt sich in Inhalt und Form eng an »Genoveva« an. Ebenso zeigt seine »Kunigunde die Heilige« merkwürdige Anklänge an Tiecks Drama.Vgl. Minor, »Die Schicksalstragödie in ihren Hauptvertretern«, S. 10 und 21 ff. Einen ganz andern, modern skeptischen Geist dagegen atmet Hebbels erschütternde, aber »in ihren Grundmotiven gequälte« Tragödie »Genoveva«.

Wir haben lange geschwankt, ob wir Tiecks Dichtung unsern Lesern darbieten sollten oder nicht; denn wie gänzlich anders geartet sind – von Sophokles, Shakespeare, Lessing, Schiller zu schweigen – die dramatischen Produkte, die heutzutage die lebhafteste Teilnahme erregen. Wir haben uns schließlich aber doch sagen müssen: ein Werk, von dem der Verfasser selbst bekannte, es sei »eine Epoche in seinem Leben gewesen, es sei ganz aus seinem Gemüte gekommen«, dürfe in einer Auswahl Tieckscher Schriften nicht fehlen und müsse deshalb, wenn es auch hinter dem ältern »Blaubart« an dramatischem Leben, hinter dem spätern »Kaiser Octavianus« an poetischem Reichtum entschieden zurücksteht, diesen vorgezogen werden.


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