Ludwig Tieck
Der Gelehrte
Ludwig Tieck

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Der Doktor, als Freund des Hauses, hatte sich klug benommen und dem Rate erst nur von fern die Möglichkeit gezeigt, seinen wohlhabenden Mietmann zum Schwiegersohne zu erhalten; er hatte diesen Vorschlag anfangs nur als einen Gedanken, den er, unwissend dem ProfessorOhne Wissen des Professors., für sich selbst hege, mitgeteilt, und als der Vater und Antoinette ebenfalls den Vorschlag nicht so unbedingt abwiesen, war er näher geschritten, und nach einigen Tagen des Ratschlagens, Überlegens und Hin- und Hersprechens ward beschlossen, daß das Geheimnis nicht mehr als solches behandelt, sondern eine öffentliche Sache werden sollte.

Der Professor ward nun von seinem nahen Glücke und veränderten Leben benachrichtigt, und in seiner Verwirrung wußte er nicht, ob er sich freuen oder betrüben solle, indessen war die Ängstlichkeit, so sehr ihm sein Freund auch Mut einsprechen mochte, die herrschende Stimmung seines Gemütes.

Er machte es nun seinen beiden Hausgenossen, Werner und Gertrud, bekannt, welche Veränderung binnen kurzem der Familie bevorstehe, und daß Antoinette binnen wenigen Wochen ihre Gebieterin sein würde. Die beiden, die sich ebenfalls seit so langer Zeit an die stillste Einsamkeit gewöhnt hatten, wollten anfangs ihren Ohren nicht trauen, sie sahen sich und den Professor lange verstummt an und zogen sich endlich, da sie merkten, wie verlegen ihr Herr war und immer mehr wurde, selbst höchst verlegen in ihr Hinterstübchen zurück.

»Fühlen Sie einmal, Gertrud«, sagte der verdrüßliche Werner, »ob Sie in meinem Pulse kein Fieber verspüren. Ei, so muß ein solches Unglück, ein solches Gewitter einschlagen und unser stilles Hauswesen in Grund und Boden donnern. Des Himmels Einfall, ja den Untergang der ganzen Stadt hätte ich mir eher als dies Unheil vermutet.«

»Man weiß nicht«, sagte Gertrud, »ob man weinen oder lachen soll, denn der Gedanke, die Begebenheit, alles hat so was Fürchterliches und doch dabei Albernes, daß man alle Fassung verliert.«

»Fluchen muß man«, rief Werner aus, »was ich in den siebzehn Jahren, die ich bei dem Herrn bin, nicht gethan und vielleicht ganz verlernt habe, Donnerwetter noch einmal! das ist ja eine erbärmliche und recht leutseligeArtige, nette. Geschichte. Himmel – Mord – nein, sehen Sie, Frau – ich kann's nicht mehr, denn die Stille, Sanftheit, Ruhe hier im Hause hat mir in der langen Zeit das Maul ordentlich eingetrocknet. Die älteste, wilde Tochter unten! Mit dem Flitter- und Flatterwesen! Nun, gewiß, da wird die Treppe hier, die wir sonst, wie die heilige in Rom, nach den Erzählungen, fast ohne Schuhe und nur auf den Knieen haben auf und nieder rutschen dürfen, bald abgenutzt werden. O, welch Spektakel und Kreuzlamento wird in unsere zugehangenen Zellen einkehren! Mit Trompeten und Paukengewirbel. O Jammer und Elend! Als ich in Dienst trat, durfte ich keine Flöte mehr blasen, ich habe mir das Pfeifen abgewöhnen müssen, worin ich auch ein Virtuose war, nun habe ich mich, bei meiner großen Passion für die Musik, mit einem BrummeisenAuch Maultrommel (crembalum) genannt; noch heute bei slawischen Völkern beliebtes kleines, an die Zähne gehaltenes Musikinstrument mit stählerner Zunge, die, mit dem Finger geschnellt, je nach der Mundöffnung verschiedene leise Töne von sich gibt. Unter den Virtuosen auf der Maultrommel ist z. B. der Dichter Justinus Kerner zu nennen so still hin begnügt, womit mir die Zähne vorn ganz verdorben sind.«

»Sie spielen aber das kleine Instrument schön und mit Ausdruck«, fiel ihm Gertrud in die Rede. »Nun also wird hier gekocht, gesiedet und gebraten werden; und ich habe nie einen Bratspieß, eine Pfanne anrühren dürfen; alle meine Geschicklichkeit als Köchin, mit der ich mich in meiner Jugend allenthalben zeigen konnte, ist vergessen und vernachlässigt. Habe ich uns beiden und dem Herrn auf dem eigenen Herde doch kaum den Kaffee kochen dürfen.«

»Ist der Mann«, fing Werner wieder an, »nicht vielleicht geradezu übergeschnappt? Wenn er sich nur nicht den kompletten Raptus aus seinen vielen Büchern herausgelesen. Und immer neue dazu kaufen! Schriften, von denen ich doch auch nicht ein einziges Wort verstehe.«

»Nein! nein!« sagte die Haushälterin in großem Eifer; »der aufgeklärte Herr Doktor ist es, der so alles zusammenkartet. Andere Kranke, wenn die Herren Ärzte nichts mehr wissen, werden in die Bäder geschickt, wo sie dann sterben mögen; so manche Gemütskranke kommen in die Irrenhäuser, aber dieser Freigeist jagt unsern Herrn in die Heirat hinein, mag er sich auch den Hals abstürzen.«

»Kuriose Kuren!« rief Werner aus; »sollte er aber einmal daran glauben müssen, wär keine andere Rettung, so wären Sie ja denn doch, liebste Gertrud, das nächste Hausmittelchen.«

»Ach, gehen Sie!« sagte Gertrud verschämt; »ich bin zu alt zum Heiraten. Nein, wenn er denn einmal aufs Eis wollte, so wär ja das liebe, stille Helenchen unten in der tollen Familie, die hätte denn doch wohl ganz anders für ihn gepaßt als der hoffärtige Ruschel. Die hätte ihn und alle seine Thorheit auch auf Händen getragen, denn sie hat eine Hochachtung, einen wahren Aberglauben vor seiner erschrecklichen Gelehrsamkeit, daß das arme verlassene Kindchen mit ihm gewiß recht glücklich gewesen wäre.«

»Es hat nicht sein sollen«, brummte Werner verdrüßlich, »das Vernünftige geschieht ja niemals in der Welt. Deswegen eben scheint es wohl die Vernunft zu sein, um apart für sich zu bestehen und von allen Leuten gerühmt zu werden, weil kein Mensch sich mit der Sache einläßt. Sie soll eben nicht alltäglich und abgetragen werden. Ach Himmel! vor Verzweiflung möcht' ich Ach und Weh schreien und die große Treppe auf und ab heulen! Werte Gertrud, Sie werden sehen, ich thue in der Desperation ein Ding, das – ja, Freundin, ich werde ein Exempel statuieren, daß der Herr die Augen sperrangelweit aufreißen und die ganze Stadt sich darüber verwundern soll, denn nun ist es mit meiner christlichen Geduld völlig zu Ende.«

»Um Gotteswillen«, sagte Gertrud und faßte ihn besorgt in ihre Arme; »Sie werden sich doch kein Leides anthun? Leben ist am Ende doch immer Leben; wir finden uns wohl noch in die Sache.«

»Nein!« schrie der Zornige außer sich; »und Sie müssen mir beistehen, Gertrud! Wir müssen unsere Revanche nehmen! Sind Sie denn nicht auch bitterböse? –«

»Das nun wohl gewissermaßen«, sagte sie –

»Also denn«, fuhr Werner fort, »thun wir dazu, beißen wir die Zähne zusammen, zeigen wir, daß wir auch handeln können! Eingeschlagen, Kind!«

»Nur uns nicht umbringen«, seufzte Gertrud; »alles andere vielleicht.«

»Umbringen?« rief der Empörte; »konträr das Gegenteil! Heiraten wir uns, liebe Freundin, damit wir Kinder in die Welt setzen, die ihm brav die Ohren voll schreien sollen.«

Die Haushälterin trat einen Schritt zurück, und eine Röte ging über ihr blasses, feines Gesicht. »Bester Herr Werner«, sagte sie dann beschämt, »wenn das des Himmels Wille mit uns wäre, so hätten wir wohl einige Jahre früher dazu thun können.«

»Gewiß«, erwiderte jener, »aber mir ist bis daher der Gedanke noch gar nicht eingefallen. Bin ich Ihnen zu alt? Zu häßlich? Widerwärtig? Unmoralisch?«

»Von allem, lieber Mann, das Gegenteil«, antwortete sie mit beschämter Freundlichkeit, »aber ich –«

»Still!« rief Werner; »ich habe Sie mit jedem Jahre liebenswürdiger gefunden; ich habe niemals die jungen unreifen oder wilden Dinger ausstehen können. Jugend ist nur allzu vergänglich, aber Sittsamkeit, Verstand, gutes Betragen, Sanftmut, Liebenswürdigkeit wächst mit den Jahren, und das eben habe ich an Ihnen so recht observieren können. Deshalb, dünkt mir, ist es gerade die rechte Zeit, daß wir uns gegenwärtig unsere Liebe erklären.«

»Ei! Sie freundlicher, lieber Werner«, erwiderte Gertrud; »wenn Sie nur auch immer so denken wollen, so bin ich ja herzlich gern die Ihrige und verspreche Ihnen Liebe und Treue mein lebelang und alles für Sie zu thun, was ich Ihnen nur an den Augen absehen kann.«

»Wissen Sie«, sagte schmunzelnd der Diener, »wie Sie mir vorkommen? Da draußen auf dem Hörsaale hängt ein Bildchen von einem recht hübschen holländischen Frauenzimmer. Das Bild ist in der See gewesen, verdorben und nachher wohl etwas zu scharf abgeputzt worden, so daß nun die Farben zum Teil herunter sind und der stille, blasse Grund etwas sehr hervorgetreten ist. Das Bild kann unmöglich so schön gewesen sein, als es jetzt ist, denn es sieht so zart und rührend aus, daß ich meine Freude daran habe. Oder wie in der roten Stube die kranke Frau im Lehnstuhle, wo der Doktor das Glas besieht? Wissen Sie? von einem gewissen Retscher.Kaspar Retscher (1639–84), Kleinleben- und Konversationsmaler. Das Original des hier gemeinten Bildes »Die kranke Dame und der Arzt« auf der Dresdener Galerie. Wenn Sie Seidenzeug anhaben, müssen Sie gerade so aussehen.«

»Schalk! Sie!« sagte Gertrud, »die blasse Frau scheint ja guter Hoffnung.«

»Wir sind es beide«, rief Werner, »eingeschlagen! Und nun den ersten und zugleich den Brautkuß! Und von jetzt an Du und Du!«

Sie umarmten sich zärtlich. Der Bund war geschlossen, und als sie die Sache ihrem Herrn vortrugen, gab dieser seinen redlichen und erprobten Dienstleuten gerne seine Einwilligung, und um so lieber, um nicht zu viele Fremde in sein Haus zu bekommen. So war alles im Hause in aufgeregter Stimmung, und der Professor sowie der Rat und seine Tochter, vorzüglich aber Antoinette und Helena, waren von den plötzlichen und so ganz unerwarteten Ereignissen tief erschüttert, indessen Werner und Gertrud mit großer Seelenruhe ihre Einrichtungen für die Zukunft trafen und der Doktor sich freute, daß sein Plan gelungen und das Glück seines Freundes für alle Zukunft, wie er glaubte, gesichert war.


In der Familie des Rates waren seit der Werbung alle Mitglieder in der größten Unruhe. Welche Plane für die Zukunft entwarf die lebhafte Antoinette! Es handelte sich um nichts Geringeres, als nach der Residenz zu ziehen, und zwar sobald als möglich, und dort an den glänzenden Gesellschaften und allen rauschenden Freuden teilzunehmen. Equipage, vielfache Bedienung, ein großes Haus fügten sich von selbst jenem Wunsche an. Jenny wollte die Schwester durchaus bereden, einen Rittersitz in einer romantischen Gegend zu kaufen, um dort als Edeldame zu glänzen. Der Vater neigte sich diesem Vorschlage zu, die Mutter mehr dem ersten Wunsche. An den Bräutigam selbst, dessen Amt und Beschäftigung, seine Bücher und Gewöhnungen wurde kaum gedacht, denn alle kamen darin überein, daß ein so simpler, ältlicher Herr, der die Welt nicht kenne und bisher fast wie eine Schnecke gelebt habe, leicht von einer jungen, lebhaften und weltklugen Frau zu regieren sei, und daß er sein Leben gänzlich aufgeben müsse, um das der Gattin möglich zu machen, die sich ihm aufgeopfert und allen ihren großen Ansprüchen und glänzenden Aussichten um seinetwillen entsagt habe.

In einem ganz andern Sinne hatte Helena die Nachricht der bevorstehenden Veränderung aufgenommen. Sie war tief gekränkt und machte sich doch Vorwürfe darüber, daß sie es war. Wollte der Professor mit einer Gattin das Glück des Lebens suchen, so schien es ihr, als sei sie die nächste, ja einzige, von der er es erwarten könne; erinnerte sie sich dann, daß sie ihm nicht bekannt sei, so entschuldigte sie ihn wieder. Das schmerzlichste war ihr, daß sie erst jetzt deutlich empfand, ihr sonderbares Gefühl für ihn sei Liebe; wie selig sie sein würde, wenn seine Wahl sie getroffen hätte, und wie die ältere Schwester eigentlich nichts opferte und verlöre, wenn ein Umtausch stattfinden könnte. In einsamen Stunden der schlaflosen Nächte weinte sie recht von Herzen und zürnte alsdann wohl dem weltklugen Doktor, der mit dem besten Willen seinen edlen Freund gewiß unglücklich machen würde. So oft in ihrer Familie über den Mann, welchen sie verehrte, gespottet wurde, oder wenn von jenen weit aussehenden Planen die Rede war, fühlte sie sich krank und wie vernichtet. Widersprechen, raten wollte und konnte sie nicht, sie zog sich daher noch bestimmter von ihrer Familie zurück, und es war nicht zu verkennen, wenn man sie näher beobachtet hätte, daß sie leidend und krank aussah.

»Aus diesen Gefühlen, die mich jetzt peinigen«, sagte sie in einer Nacht zu sich selbst, »erwächst wohl nach und nach jene Bitterkeit, jenes gehässige Wesen, der schneidende, abschreckende Ton, die Unfreundlichkeit gegen jedermann, den man so oft den ältern Unvermählten meines Geschlechts vorwirft. Sich verkannt, zurückgesetzt zu sehen, und immerdar, und zwar von solchen, die nicht höher stehen als wir, macht freilich scharfe Laune: das Auge mustert und erkennt die Schwäche jener und aller Menschen dann so viel genauer, und bei zu naher Prüfung geht das Gute der Menschen wohl mit in ihre Fehler auf, denn wenn der Blick zu nahe am Gegenstande ruht, sieht man ohne Perspektive eben gar nichts. Und wehe dem Herzen, das sich an Haß und Verachtung sättigen und genügen will! Die traurige Speise wird bald den Ekel gegen uns selbst erregen. Dann will der arme Gefangene wohl in Verschmähung und Hochmut seinen Triumph feiern –

    Erst ein Verachteter,
Nun ein Verächter,
Zehrt er auf seinen eigenen Wert
In ungenügender Selbstsucht.Aus dem Gedächtnis citiert. In Goethes »Harzreise im Winter« (1777) heißt es
    »Erst verachtet,
    Nun ein Verächter,
    Zehrt er heimlich auf
    Seinen eignen Wert
    In ung'nügender Selbstsucht.«

»O wie wahr! Aber so soll es mit mir nicht werden! Wenn die Menschen mich auch verstoßen, will ich sie dennoch lieben. Und krank muß ich nun einmal gar nicht werden, denn es ahndet mir, daß Antoinette und der Professor meine Hülfe noch oft brauchen werden. Ja, das soll meine thätige Liebe für ihn sein, daß ich ihm tröstend und ratend zur Seite stehe, daß ich alle Sorgen, soviel ich kann, von ihm entferne. Und braucht er denn auch zu wissen, was ich für ihn empfinde? Das gegenseitige Vertrauen edler Menschen ist ja auch etwas Schönes.«

So getröstet und völlig beruhigt, wie sie meinte, schlief sie gesund und fröhlich ein und stand frischer und mit neuer Kraft am Morgen des Tages auf, an welchem die Verlobung der Schwester mit dem Gelehrten vor sich gehen sollte.

Dieser war in der größten Unruhe und Angst, weil er sich den Moment, in welchem er in der ihm so unbekannten Familie als Freier stände und spräche, noch gar nicht als wirklich vorstellen konnte. Der Doktor hatte zwar schon alles in Richtigkeit gebracht, indessen war doch sein persönliches Hinzutreten, sein ausgesprochenes Wort immer noch das Wichtigste und Notwendigste. Er ließ den Goldschmied zu sich kommen, um die Trauringe und einen schönen Schmuck für die Braut zu kaufen. »Nun bist du endlich«, sagte der Arzt zu ihm, indem er ihn umarmte, »mit allen Vorbereitungen fertig, ich gehe jetzt, wie wir es verabredet haben, nach Hause und erscheine erst zum Mittagessen unten in der Familie wieder, damit meine Gegenwart dich nicht noch außer den übrigen ängstigt. Unten ist die Einrichtung seit Jahren, daß nach der Reihe eine der Mädchen wöchentlich die Küche besorgt, in dieser Woche ist die älteste, deine Antoinette, die Köchin, du kannst also bei Tische sogleich deine Bemerkung machen, inwiefern du mit der Speisemanier deiner künftigen Ernährerin zufrieden bist. Nur mutig und nicht das verständige Haupt so gesenkt!« Er verließ ihn, und der Professor blieb nachdenkend zurück.

Unten war alles geputzt, das Zimmer geschmückt, Blumen in den Fenstern und auf den Tischen, Vater, Mutter und Töchter in Unruhe und Bewegung. Nur Helena war still und in sich gekehrt, so sehr sie sich auch zu ermuntern strebte. »Da Antoinette sich heute, wie billig«, sagte die Mutter, »so geputzt und ihre besten Sachen angezogen hat, du aber, Lenchen, noch dein alltägliches Kleid trägst, so ist es wohl besser und natürlicher, du besorgst heute die Küche. Beim Nachtische kannst du ja etwas umgekleidet zur Gesellschaft kommen.«

Ohne ein Wort zu erwidern, entfernte sich Helena, froh darüber, daß sie wenigstens in dem Augenblicke der Anwerbung und des ersten Eintrittes des verehrten Mannes nicht zugegen zu sein brauchte. Indessen man nun mit Herzklopfen diesen großen Moment erwartete, stieg der Professor behutsam und leise, mit beklemmtem Atem und zitternd die große Treppe herunter, indem er sich wie erschöpft auf das Geländer stützte. So bewegt war selbst Helena nicht gewesen, als sie neulich dieselben Stiegen hinaufschritt, denn er fühlte es zu lebhaft und beängstigt, daß dieses die wichtigste Stunde seines Lebens sei. Als er vor der Thür des Zimmers stand und eben anklopfen wollte, zog er den Finger zurück, denn er fühlte sich einer Ohnmacht nahe; er hatte das Gefühl, als wenn jemand hinter ihm stehe, der seine Hand mit Heftigkeit zurückziehe. Er mußte noch vorher frische Luft schöpfen und sich von dem Schlage erholen, der ihm durch alle Glieder gefahren war. Er ging daher leise in den großen Hof, schaute in den reinen, blauen Himmel hinauf und lehnte sich, um sich zu sammeln, eine Minute an den alten Nußbaum. Der Duft der Blätter stärkte ihn, er lächelte über sich und seine Feigheit und kehrte ermutigt in das Haus zurück. Vor der Küchenthür empfand er den Duft der zubereiteten Speisen, er hörte drinnen den Bratenwender und das Geräusch der Kasserollen. Ihm fiel ein, daß seine unbekannte Braut heute die Küche regiere, und wie von einer Eingebung begeistert, fand er sich so mutig, die Thür dreist zu öffnen, um sie in ihrem Gebiete, ohne Eltern und störende Umgebung, zu sehen und zu sprechen. Helena erschrak, sprang vom Feuer zurück, und rotglühend ging sie eilig auf ihn zu. Der Professor faßte sie ins Auge und lächelte wohlgefällig, denn im einfachen Hauskleide, mit der Küchenschürze und dem reinlichen, freundlichen Wesen erschien sie ihm sehr liebenswürdig. »Sie sind doch die Tochter vom Hause?« fragte er bewegt, indem er ihr die Hand reichte. – »Jawohl«, sagte Helena und verbeugte sich anmutig. – »So empfangen Sie denn hier, Teure, diesen Ring, der uns auf zeitlich und ewig verbinden soll.« Ohne Antwort zu erwarten, fühlte Helena, wie der Ring schon ihrem Finger angeheftet war; sie konnte keine Worte finden, sondern ein Thränenstrom brach aus ihrem gerührten Herzen, sie mußte sich an den Geliebten festhalten, um nicht vor ihm auf die Knie zu sinken, aber niedergebeugt küßte sie seine Hand, auf welche eine ihrer heißen Thränen fiel. »Nicht also! nicht also!« sagte der Professor; »macht Sie mein Ring unglücklich?« – »Höchst glücklich, selig!« stammelte Helena und konnte immer noch keine Worte finden. – »Dann«, erwiderte der Geliebte, »nicht die Hand, sondern auf die Lippen den Bräutigamskuß.« Er umschloß sie und drückte seinen Mund herzlich auf den ihrigen. Magd und Bediente traten ein, er achtete aber nicht auf ihre verwunderten Gesichter, sondern ging fröhlich über den Flur in das Zimmer der Eltern, ohne vorher anzuklopfen.

Die Familie erstaunte, daß er so wenig verlegen schien, der Vater führte ihn zu Antoinetten und hoffte, daß nun der Antrag geschehen solle. Jenny war in gespannter Erwartung, die Mutter lauschte, und keiner konnte sich in das Wesen des Eidams finden, der fest und sicher dastand, bewegt schien, aber in allen seinen Gesprächen nicht auf den Gegenstand einlenkte, der allen jetzt der wichtigste sein mußte. Man setzte sich endlich, und der erstaunte Vater sagte mit einiger Verwirrung: »Nach demjenigen, was wir mit dem Herrn Doktor abgemacht hatten, mußte ich voraussetzen, verehrter Herr, den ich bald mit einem teurern Namen begrüßen werde, daß Sie uns eine Erklärung geben würden, die zur Verlobung mit meiner Tochter führte.«

»Wäre die Treffliche zugegen«, antwortete der Gelehrte, »so würde ich meinen Antrag wiederholen; die Verlobung selbst ist aber schon geschehen, und ich muß bitten, meine Braut aus der Küche herüberzurufen, um im Beisein der Eltern mein Wort noch einmal anzubringen.«

»Wie?« riefen alle zugleich im höchsten Erstaunen. Das Mißverständnis klärte sich nach einigen Fragen und Erörterungen auf. Antoinette machte eine einfältige Miene, die eigentlich spöttisch aussehen sollte. Die Mutter war außer sich; der Vater nur verlegen, aber nicht verstimmt. Als die Mutter vorschlug, den Mißverstand als nicht eingetreten anzusehen und den Ring von Helenens Finger an den der älteren Tochter zu fügen, sagte der Professor wie in einem erhabenen Zorneifer: »Nein, verehrteste Frau Rätin und Schwiegermutter, dieses um die ganze Welt nicht! Ein Wort, ein Mann! Und zwar ein solches heiliges Wort! Durch meine Anfrage und durch den Verlobungskuß, welchen ich meiner Braut gegeben habe, sind wir unauflöslich verbunden, und da es so gekommen ist, sehe ich in dieser Begebenheit auch keinen Irrtum oder eine Übereilung, sondern eine Fügung und den ausdrücklichen Willen des Himmels, der immerdar noch die wirklichen guten Ehen schließt und segnet. – Aber«, fuhr er milder fort, »leid thut es mir, daß dergleichen sich zugetragen hat, und meine schöne, geschmückte Schwägerin verweigere mir die kleine Freude nicht, ihr beikommenden Schmuck als ein Andenken einzuhändigen, der freilich auch eigentlich meiner Braut bestimmt war. Diese Juwelen geziemen aber weit mehr einer solchen ausbündigen Schönheit, die so herrlich und zierlich vor mir glänzt, als jenem einfachen, stillen Gesichtchen in der reinlichen Haustracht, einer Kleidung, die mir auch als Braut und Frau eines Professors weit ziemlicher erscheint.«

Nach einigem Weigern mußte Antoinette die kostbaren Ohrgehänge und Armspangen annehmen, sowie den Halsschmuck von großen, echten Perlen. Dieses Geschenk, welches die Kennerin Antoinette mit sicherem Blicke auf einige tausend Thaler geschätzt hatte, versetzte sie sogleich in den heitersten Humor, und die Eltern wurden ebenfalls munterer, da sie ihren Schwiegersohn, so sehr sie ihn geachtet, doch nicht für so reich gehalten hatten, als dieses Geschenk, auf welches er so wenigen Wert legte, vermuten ließ. Nun mußte auf dringendes Bitten des Bräutigams die Braut ganz so, wie sie war, aus der Küche zur Gesellschaft kommen. Ohne irgend verlegen zu sein, empfing die Ungeschmückte die Glückwünsche ihrer Familie, denn ihre Freude und Rührung war so groß, daß sie in dieser Stimmung weit über Kleinigkeiten sich erhaben fühlte und kaum Antoinettens kostbaren Schmuck betrachten, viel weniger aber auf die Entschuldigungen hören konnte, die ihr Bräutigam ihr darüber machen wollte, daß sie ihn entbehren müsse. So fand der Doktor die Gesellschaft, und nachdem er sich verwundert, dann herzlich gelacht hatte, mußte er seinen Freund mit dem größten Erstaunen betrachten, der gar nicht verlegen schien, sondern sich leicht und sicher benahm und sich besonders mit Helena so vertraut und herzlich zeigte, als wenn er sie schon seit vielen Jahren gekannt hätte.

Bei Tische saßen Braut und Bräutigam beisammen, und er gab es auch nach aufgehobener Tafel nicht zu, daß sie ihren Anzug wechselte, denn er versicherte, daß dieser Anblick, diese reinliche Kleidung, das häusliche Mützchen ihn in der Küche so entzückt hätten, daß er sich für heute diesen Genuß und die Erinnerung ihrer Verlegenheit und Rührung nicht wolle rauben lassen.

Nach Tische begab man sich in den Garten hinter dem Hause und suchte bei der Sommerwärme die Kühle. Der Doktor hatte die beiden Verlobten sowie die Familie des Rates aufmerksam beobachtet, und er war jetzt überzeugt, daß Zufall oder Schicksal seinen eigenwilligen und übereilten Plan sehr geschickt und mit Weisheit verbessert hatte, denn er sah, wie Helena nur von den Blicken ihres Bräutigams lebte, wie herzlich er ihr zugethan war und durch sein Gefühl ihren einfachen, edlen Charakter ganz verstand, wie Antoinette im Gegenteile über den Gewinn des Schmuckes so leicht den Verlust des Ehegatten verschmerzt hatte, ja, wie sie sogar fast höhnisch in das Geflüster Jennys beifällig eingestimmt, die, das leise Gehör des Doktors nicht kennend, ihr zugeraunt hatte, sie habe rein gewonnen, einen fatalen Mann los zu sein und Diamanten erbeutet zu haben.

In der Laube saß er bei den Liebenden, die man jetzt wirklich so nennen konnte, indessen die übrigen auf und nieder gingen und nachher in die Zimmer zurückkehrten. »Was die Poeten Liebe nennen wollen«, fing der Professor an, »besonders die neuen und neuesten Dichter, darauf, mein Lenchen, werde ich niemals Ansprüche machen, aber auf Wohlwollen, herzliche Freundschaft, verdiente Achtung und Nachsicht mit meinen Launen; du bist jung, schön, artig und anmutig, da ist es freilich ganz etwas anderes, und ich glaube, daß, wenn ich erst diese Tage der Erschütterung überstanden habe, ich mich in dich, in der Ehe gewiß, sterblich verlieben werde. Denn wie konnte ich nur den Gedanken fassen, noch in meinen ältlichen Jahren ein so herrliches Kind davonzutragen?«

Er drückte ihr herzlich die Hand, und Helena war unschlüssig, was sie sagen sollte; so, verlegen und ungewiß lüftete sie ihr Tuch, das ihr bei der Hitze lästig war, und ohne daß sie es bemerkte, fiel ein Blatt aus dem Busen vor ihre Füße nieder. »Ist es möglich?« rief der Professor, der es schnell aufhob; »Lenchen, wie kommst du zu meiner Notiz über Quintilian, die ich damals vermißte, als ich von meiner Reise zurückkehrte?«

Hochrot vor Freude und Scham mußte das glückliche Mädchen alles beichten, die Entdeckungsreise zu seinen Zimmern hinauf, ihr Mustern der Bücher, ihre Freude, in seinem Sessel, an seinem Arbeitstische zu sitzen, und wie sie es nicht habe lassen können, von den unnützen Papieren aus dem Korbe ein Blatt von seiner Hand zum Andenken mitzunehmen, das sie seitdem immer in ihrem Busen getragen habe. »Sie können nicht glauben«, schloß sie ihren Bericht, »wie lieb mir seitdem der Name Quintilian geworden ist, von dem ich freilich nur das Wenige weiß, was ich seitdem von ihm durch Nachschlagen in andern Büchern erfahren habe.«

»Hat der Grammatikus«, erwiderte der Professor lächelnd, »wohl eine so schöne Lagerstätte verdient? Lenchen«, rief er aus, indem er ihr zum ersten Male die Hand küßte, was sie nur ungern geschehen ließ, »wie bin ich Blinder denn meinem Glücke und meiner Wonne so nahe gewesen, ohne nur etwas davon zu ahnden? So sind blinde Heiden in Peru ehemals über Goldminen dahingewandelt, ohne von ihnen zu wissen, wie ich so lange über deinem Haupte. Was ist es nur, Kindchen, daß du mich hast lieben können, wie du nur jetzt gestanden, ohne daß ich dich jemals sah und kannte?«

Er wurde nachdenkend, dann gab er dem Freunde die Hand und sagte mit einer Thräne im Auge: »Der Himmel ist gütiger gegen mich, als ich es verdiene: das größte Geheimnis in aller Schöpfung ist die Liebe und vielleicht der Schlüssel zu allen Geheimnissen. O du treue, nicht griechische Helena, wie soll mein ganzes Leben und Sinnen dahin streben, dir in etwas diese Liebe zu vergelten! Der Himmel wird uns segnen. Amen.«


Der Hochzeittag war festgesetzt. Wenige Tage vorher saßen die Verlobten mit dem Doktor wieder in jener Laube, und der Arzt freute sich darüber, daß sein Freund so wohl und gesund aussah. »Jawohl«, rief dieser, »hast du recht, und ich fühle mich wie um zwanzig Jahre verjüngt. O Freund Doktor, wie vielen Dank bin ich dir dafür schuldig, daß du mich zur Heirat beredet hast. Heute ist mir aber vor allen Dingen durch einen sonderbaren Traum ein Wohlsein zubereitet worden, wie ich es noch nie empfunden habe.«

»Durch einen Traum?« fragte Helena; »o erzähle, mein Geliebter!«

»Ich weiß nicht«, antwortete der Gelehrte, »ob ich mich deutlich genug werde ausdrücken können. Von je an waren mir Kupfer und Gemälde unendlich zuwider, die irgend etwas aus der römischen oder griechischen Geschichte darstellen oder uns die Götter der Mythologie vergegenwärtigen wollten. Nur Weniges ist den Neuern in dieser Art geglückt, und doch nur alsdann, wenn sie etwas anderes, etwas Modernes daraus gemacht haben. Kann man eine antike Statue einmal anschauen, einen Gott oder eine Gewandfigur, so ist das Auge auf lange satt, und man begreift alsdann nicht, warum neuere Künstler mit ihren Fetzen und Lappen Formen haben erzeugen wollen, die sie niemals sahen, und mit denen ihre Phantasie deshalb auch gar nicht umzugehen weiß. Von dem Xerxes in der Fibel an bis zum Codrus, Curtius und Alexander hinauf haben mir diese gespreizten Helden eine wahre Jammer-Empfindung erregt, wie es bei meinem Hange zur Hypochondrie nur gar zu leicht geschehen kann. Nicht besser erging es mir mit Schriften und Gedichten, die von andern oft sehr bewundert wurden: es ist ein nachgemachtes, nachgespieltes Leben in allen, fast wie von Marionetten, und man kann es auch dem lieben Anacharsis»Reise des jungen Anacharsis in Griechenland«, ein 1788 erschienenes, anmutiges Werk des französischen Altertumsforschers Jean Jacques Barthélemy (1716–95), enthält in Form von Reiseberichten ein Gemälde des altgriechischen Landes und Lebens. nicht glauben, daß er damals gelebt und die griechischen Sachen selbst mit Augen gesehen hat. So war mir denn, die Klassiker ausgenommen, alles in der Art fatal und traurig, und doch war es eine innige Sehnsucht, die mich quälte, nur auf einen Tag, auf eine Stunde nur, in der Zeit des Perikles oder Miltiades zu leben, um das damalige Athen und marathonische Gefilde mit Augen zu erschauen. So schlief ich ein, indem mich gestern abend dieser alte Gedanke wieder besuchte. Seltsam genug war ich drüben in Griechenland und auch in jene frühe Zeit hinübergerückt. Ich wußte es ganz bestimmt, daß ich in einer Vorzeit lebte, Jahrtausende vor jetzt, und doch war mir die Erinnerung an mein Selbst und die Gegenwart nicht entschwunden. So wunderlich spielt der Traum mit uns und lehrt uns deutlich, was die Dichter mit uns anfangen könnten, wenn sie ihr Handwerk recht aus dem Grunde verständen.

»Ein Nebel lag auf der Landschaft, der sich aber hob und dem Lichte Platz machte. Da befiel mich die Angst, daß die Natur wieder so wie gewöhnlich auf mich wirken möchte, und daß ich also wesentlich nichts von dem Mirakel haben würde, das mich so unbegreiflich in Raum und Zeit hinübergeschafft hatte. So wie sich das Licht ausbreitete, wurde meine Brust auch weiter, der Nebel zog wie Schiffe über das Meer, und wirkliche Schiffe fuhren vorüber, und die weißen Segel schimmerten blendend im Sonnenglanze. Ich stand Salamis gegenüber. Die See spielte mit gekräuselten Wellen, und alle Farben tanzten in der Flut empor und tauchten unter- und ineinander: vorn ein dunkles Blau, dann Grün, das immer lichter wallte, dazwischen Rot und Violett, Gold und Azur und in der Ferne weit, weit hinab ein zerflossener Perlenschimmer, der wie ein Lächeln weißer Zähnchen vom letzten Horizonte herübergrüßte, von Phöbus' Strahlen geküßt. So frei, wohl und erläutert war mir, daß ich dachte: so muß den marathonischen Streitern zu Mute gewesen sein, als sich der Sieg für sie zu erklären anfing. Nun war ich in Wald und Berg, oben steile Felsenmassen und ein musizierender Wind in den Buchen- und Eichenwipfeln: unten der rote Oleander und weiße Blütendolden, die duftend über den Weg herüberhingen. Das war Arkadien, so sagte mir ein unsichtbarer Geist. Mein Sinn wurde immer trunkener und erfrischter, die Waldluft entzückte mich, und die Nachtigallen, die bei einem Wasserfalle sangen, waren mir ganz wie eine neue Bekanntschaft. Die Wogen sprangen so lustig, wie fröhliche Kinder, den Berg herunter, und eine schneeweiße Wolke zog oben über den Berggipfel hinweg und schaute so naseweis auf mich und das Wasser und die Blumen herab, als wenn es da oben noch gemütlicher sein könne.

»Ich suchte ordentlich nach meiner ehemaligen Angst in der Natur. So kam um die Felsenecke ein weibliches Wesen im anmutigen dorischen Gewande. Wir grüßten uns. Ich betrachtete die Kleidung, die mir unendlich wohlgefiel, und begriff nun, warum die Abzeichnungen immer das Gegenteil gewirkt hatten. Wir gingen miteinander und wurden bald vertraut. ›Wie kommt es nur‹, fragte ich sie endlich, ›daß mir früher, so viel ich auch studierte, so sehr ich mich quälte, dieser Sinn sich nie aufthat, durch welchen jetzt, da er eröffnet ist, mein Glück so reichlich einströmt? Ich wußte so vieles, ich verband so manches, aber das Buch blieb Buch, und das Papier wollte sich nicht beleben.‹ – ›Du bist eben‹, antwortete mir die holde Jungfrau, ›zu fleißig gewesen: dein Sinnen und Dichten hat nur wie mit Heeresmacht die Lieblichkeit der Natur und ihr sanftes Eindringen von dir abgekämpft. Das Verständnis naht, kommt, leuchtet auf, durchdringt das Herz, wie im April die Sonne, wechselnd mit Dunkel, bis tief in den Wald auf Augenblicke hinabscheint, läßt sich aber nicht erzwingen. Bist du ruhiger, kennst du, genießest du deine Zeit mehr, so wird dir auch die Vorzeit in ihrer eigensten Bildung näher treten. Der Geist in allen Dingen ist kindlich, nicht kindisch, ihr aber grabt und beschwört nur zu oft nach Gespenstern. Die Anmut nicht nur, auch der Ernst scherzt gern. Was dich entzücken und auch auf die Dauer dich beglücken soll, muß dir ganz heimisch, altbekannt, vertraut wie Vater und Mutter, Gattin und Kind werden: es muß den Reisehut und die Sandalen des wandernden Fremdlings ablegen. So ist Natur dein eigenes Haus und Zimmer, dein Buch, dein Auge, dein Geist und in Liebe dir verständlich und nahe. Die Kraft, zu lieben, die Gesundheit, sich, das Leben, Freundschaft und Geist zu genießen und zu erwidern, ist der Zauber, der alles bezwingt. Grübeln, Angst, Zweifel sind Kinder des Todes und Geschwister des Elendes.‹ – Sowie das Mägdlein so sprach, ward mein Herz immer größer, sie gab mir die schöne, feine Hand, ich schaute ihr in das klare Auge, und der Blick, mit dem sie mich ansah, ward immer inniger. Da fiel es mir auf das Herz, daß du, Helena, dieselbe Jungfrau warst, daß du meine Braut bist und Gattin werden sollst, ein Entzücken fuhr wie ein Geist im Schauer durch meine ganze Seele, und ich erwachte in Freude und rief: »Ja! ich bin auch in Arkadien gewesen!« – –


Es waren drei Jahre verflossen. Manches hatte sich im Hause wie in der Stadt seitdem verändert. Gertrud und Werner waren glücklich verheiratet, doch bis jetzt ohne Kinder. Die Mutter Helenas war indes gestorben; Jenny hatte einen Gatten gefunden, mit welchem sie weit entfernt, in einer großen Stadt lebte. Der Rat, der manchen Verlust erlitten, hatte sein Haus dem Professor verkauft. Jener junge Gelehrte, Adrian, hatte die Wohlthätigkeit des edlen Mannes mit Eifer und Glück benutzt und war jetzt als ein brauchbarer Lehrer an der Schule angestellt, von der sich der Professor ganz zurückgezogen hatte. Antoinette war ernster und bescheidener geworden und glaubte nicht ihrer Würde oder Schönheit etwas zu vergeben, nachdem sie schon den Wert des jungen Adrian eingesehen hatte, sich mit diesem zu verloben.

Es war ein heiterer Herbsttag, als das ganze Haus in die größte Thätigkeit gesetzt war. Diener und Mägde eilten einander vorüber, alles trug, holte, befahl, schickte und ward verschickt. Gertrud seufzte und half, soviel sie vermochte, Werner war tiefsinnig, indem er bedachte, wie ein solcher Tag, eine solche Verwirrung und Lebhaftigkeit, ein solches Rufen und Antworten, eine Versammlung so vieler fremder Menschen in diesem Hause vor drei Jahren zu den größten Unmöglichkeiten gehört hätte. Er rief sich mit seiner Frau die alte Stille der Wohnung in das Gedächtnis zurück, und beide mußten über die Veränderung lächeln, um so mehr, als jetzt die ganze Schuljugend jauchzend und lärmend hereinbrach, die von dem freundlichen Professor eingeladen war, am Feste teilzunehmen. Die Thür des Hauses stand, wegen des vielfachen Aus- und Eingehens, offen, und das Getümmel schien jetzt den höchsten Grad erreicht zu haben, als der Doktor erschien, dem eine große Bande von Bergmusikanten mit Saiten- und Blasinstrumenten folgte. Sogleich ertönte die Musik, und die Schuljugend sowohl wie die jüngere Dienerschaft benutzten den großen Flur des Hauses, um sich freundlich die Hände zu reichen und sich in mannigfaltigen Tanzverschlingungen zu versuchen. Die kleineren Schüler, die im eigentlichen Ballette keinen Platz mehr fanden, hüpften mutwillig jubelnd und in die Hände klatschend die breiten Stufen der Treppe auf und nieder. Vor der Thür des Hauses versammelten sich viele Menschen, um den Anblick dieses lustigen Schauspieles zu genießen. Ein Wagen rasselte herbei, das Posthorn schmetterte, und die Peitsche klatschte; die Menge sprang in verschiedenen Gruppen auseinander, denn der Wagen fuhr gerade vor das Haus des Professors und hielt hier still. Ein Diener half einem nicht alten Manne aussteigen, jenem Gelehrten aus der Residenz, den der Professor vor drei Jahren besucht hatte; er kam jetzt mit Frau und Kindern, um bei seinem Freunde zu wohnen, seine häusliche Einrichtung zu sehen, seine Gattin kennen zu lernen und zugleich mit ihm das Tauffest seines ersten Kindes, eines Knaben, zu begehen. Als die Familie sich aus dem eng gepackten Wagen losgewickelt hatte, drangen die Eltern, von vier Kindern und zwei Dienern begleitet, in das überfüllte Haus. Der Fremde war verwundert, da er die Gemütsart seines Freundes zu kennen glaubte, über dies verwirrte mannigfaltige Getöse, welches die tobende Musik selbst nicht übertäuben, sondern nur in einem gewissen Takte erhalten konnte. Er war aber noch mehr erstaunt, als er jetzt aus der Küche den verehrten Gelehrten selbst hervordringen sah, mit einem großen Brette in den Händen, welches er kaum umklaftern konnte, und auf welchem ein mächtiger Pflaumenkuchen, mit Zucker weiß gepudert, prangte, den er mit eigenen Händen für die speiselustige Schuljugend in Portionen geschnitten hatte. Adrian, der Subrektor, folgte, ebenfalls Kuchen und Wein schleppend, welche für die Primaner und Sekundaner in einem obern Zimmer zubereitet wurden. Als der Professor seine Last abgelegt und den jauchzenden, dankenden Knaben preisgegeben hatte, umarmte er seinen Jugendfreund, der sich kaum erholen, noch seinen Augen trauen wollte. »Wie?« rief er aus, »in einer solchen Verfassung finde ich Sie, verehrter Herr Professor? Und wie jung, stark, blühend sehen Sie aus! Dabei so heiter, fröhlich, möchte ich doch sagen, übermütig.« – »Sein Sie«, antwortete der Professor, »einem wahrhaft glücklichen Manne herzlichst willkommen,« –

Die Jugend machte Raum auf der Treppe, um den Zug der Fremden, den der Hausherr anführte, durch- und hinaufzulassen. »Kommen Sie«, rief der Wirt, »geehrte Frau, und Sie, teurer Freund, mit den lieben Kindern, oben wird es doch irgendwo ein wenig ruhiger sein, daß wir vorerst ein paar Worte wechseln können. Ihr lieben jungen Schulkinder aber, laßt euch in eurer Lust nicht stören!«

Diese benutzten die Erlaubnis auch sogleich und jubelten hoch auf; ein Vivat von groß und klein, bis auf die Straße hinaus, erschallte, und die Musikanten, um den Hausherrn zu ehren, ließen die wütendste und tobendste Janitscharenmusik erschallen, worüber dieser freundlich und wohlwollend lächelte und nur um ein Geringes seinen Schritt beschleunigte, ein ruhiges Zimmer mit seinen Freunden zu finden.

»Sein Sie nicht ungehalten, Teuerster«, sagte er hier, »daß Sie heute eine solche Belagerung und Zerstörung Jerusalems in meinem Hause treffen. Die eigentliche Taufe des Knaben, der von Ihnen, meinem Schwiegervater und dem lieben Doktor hier die Namen führt, ist schon vor acht Tagen geschehen, weil man hierzulande der Meinung ist, ein guter Christ dürfe sein Kind nicht zu lange ungetauft lassen. Ich hatte aber meinem Schwiegervater, einigen Freunden und der Schule ein großes und lautes Fest versprochen, und in dieses reisen Sie nun gerade hinein. Indessen wird ja der Abend vorübergehen, in der Nacht ist zwar Ball, aber morgen sollen Sie Ruhe und Stille antreffen.«

»Mir ist dergleichen«, antwortete der Fremde, »nichts weniger als zuwider, mir ist wohl dabei, und meine jungen Mädchen werden glücklich sein, gleich auf einem Balle recht herumspringen zu können. Aber daß Sie so wohlgemut in dem Getümmel obenauf schwimmen, mit allen Segeln und Wimpeln flatternd, das muß mich billig in Erstaunen setzen,«

»Es ist ja leicht erklärlich«, antwortete der Professor, »wenn ich Ihnen sage, daß ich ein ganz glücklicher Mann bin, dem jetzt auf dieser Welt nichts fehlt, von solchen Freunden geliebt, wie Sie und mein Doktor sind, im Arme einer solchen Gattin, die mir alles ist, und durch welche ich jetzt der fröhlichste Vater geworden bin.«

»Was macht die liebe Frau, auf deren Bekanntschaft ich mich freue?« fragte der Fremde wieder.

»Sie ist, dem Himmel sei Dank, ganz wohl und hergestellt; da sie das Kind selbst nährt, zieht sie sich vom Getümmel etwas zurück und besorgt soeben jetzt die Korrekturen meines neuesten lateinischen Werkes. Doch kommen Sie hinüber, daß ich Sie vorstelle.«

Die Frau und die Töchter gingen mit dem Doktor zur Haushälterin Gertrud, um sich ein stilles Zimmer anweisen zu lassen, wo sie sich für das Fest und den Ball geziemlich umkleiden könnten. Helena ging dem Fremden freundlich entgegen, sie sah schön aus, nur etwas blaß. »Sein Sie mir«, rief der Gelehrte, »als eine Freundin begrüßt, die jetzt zu unserer Zunft gehört.«

Helena lächelte. »Ich bin sehr glücklich«, antwortete sie, »daß ich meinem geliebten Manne in seinen Arbeiten helfen kann, und daß der Sprachunterricht, den er mir selbst in seinen müßigen Stunden gab, nicht umsonst war. Wie mir zu Mute ist«, fuhr sie nach einigen Zwischenreden fort, »wenn ich so jetzt diese Bücherreihen der griechischen und römischen Autoren ansehe, die mir ehemals so fremde, stumme, wenn auch verehrliche Herren waren, und nun, wenn ich ein Werk aufschlage, ein lichter Blick, ein lächelndes Wort, ein tiefer Gedanke mir so befreundet entgegenleuchtet, kann ich nicht ausdrücken.« – Sie umarmte den Gatten mit Dankbarkeit und Freude. Der Fremde wollte ihr etwas Schmeichelndes über ihre Fähigkeiten sagen. »Nein!« rief sie aus, »glauben Sie nicht, daß ich eitel auf diesen errungenen Besitz bin: wie kann man es nur, wenn man so glücklich ist, das Verständnis zu finden? Daß Vergangenheit und Gegenwart sich mir klar verbinden, daß die vielfachen Gemüter und Gesinnungen so vieler großen Menschen jetzt mit mir freundlich reden können, daß das Gedicht aller Zeiten vor mir aufgeschlagen liegt, und ich mit Thränen und Lust der Begeisterung den edelsten Seelen zuhören darf und dadurch meine Seele immer mehr Seele wird, daß sich die dunkeln Flecken meines Geistes aufhellen und die armen stummen Kräfte in mir Atem und Rede gewinnen und wie Kinder, die erst lallen, dann stammeln, immer dreister zu jenem großen Geiste hinaufsprechen, dem wir uns so immer befreundeter fühlen, das ist mein Entzücken.«

»Schone dich«, rief der Mann, »du bist noch zu aufgereizt, auch die Korrektur hat dich angegriffen. Sowie die Schwalben kommen, wollen wir ausreisen, erst zu Ihnen und dann nach der Schweiz.«

Das Fest begann, und selbst der Professor tanzte mit seiner schönen Gattin eine züchtige Menuett, die jüngeren walzten und sprangen, und alles war glücklich, am meisten jedoch Helena, im Bewußtsein, diesem verehrten Manne anzugehören, und jetzt durch das neue Band, welches das liebe Kind um sie schlang, inniger als jemals.

 


 


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