Ludwig Tieck
Der Gelehrte
Ludwig Tieck

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Der Gelehrte.

In dem sonst stillen Hause, das hinter der Kirche lag, war heute mehr als sonst Geräusch und in den untern Zimmern ein lebhaftes Hin- und Widerlaufen. Man rüstete sich zu einer Abfahrt über Land, welche Mutter, Töchter und den Vater gleich sehr interessierte. Die älteste Tochter, Antoinette, ein schönes, blondes Mädchen, war am eifrigsten, sie schalt die Magd und den Diener, weil ihr an ihrem Putze nichts recht war, denn draußen sollte zugleich ein Ball das Fest krönen, zu welchem junge Offiziere aus der Gegend sowie sehr ansehnliche und schöne Forstbedienten eingeladen waren. Die Mutter fand alles, was geschah, sehr vernünftig und vermehrte diese Unruhe, indem sie suchte, umherschickte, verbesserte und am Ende alles nur verwirrte. Der Tumult erreichte den höchsten Grad, als nun der elegante Wagen schon vorfuhr. Die zweite Tochter, Jenny, sprang jetzt ziemlich zornig auf und meinte, sie würde über die ältere etwas zu ausfallend vernachlässigt, und ziemlich unsanft fuhr sie auf ein schlankes und zartes Mädchen los, das bis jetzt schweigend, sanft und demütig allen hülfreich gewesen war. »Die Helena ist doch allzu saumselig!« rief sie jetzt hastig aus; »um nur der vorzüglichen Antoinette alles recht zu machen, muß ich versäumt werden.«

»Du versäumt?« antwortete Antoinette; »hat denn Helena nicht die ganze Nacht für dich gearbeitet, und mein Spitzenkragen ist gestern Abend nur so nachlässig hingepfuscht worden.«

»Nein, nein!« zankte ihr die Schwester entgegen, »für das älteste liebe Kindchen muß alles aufs beste eingerichtet und besorgt werden. Die Helena kann ja für mich kaum ein Stündchen finden, weil die Prinzeß ihre Zeit immerdar in Anspruch nimmt.«

Der Rat trat im völligen Anzuge herein. »Der Wagen wartet!« rief er, »und hier seid ihr ja noch nicht fertig.«

»Mir ist es nur ängstlich«, erwiderte die Mutter, »daß wir so alle ausfliegen, das Haus steht nun bis heute nacht, wohl bis morgen früh ganz verödet, unser Mietmann, der Professor, ist auch verreist, und der Magd und Köchin traue ich zu, daß sie davonlaufen, sowie wir den Rücken gewendet haben.«

»Der grämliche Narr da oben«, sagte Antoinette, »hätte wohl zu Hause bleiben können. Ich glaube, es ist ihm seit zehn Jahren nicht eingefallen, nur einen Fuß vor das Thor hinaus zu setzen, und nun plötzlich und gerade jetzt eine Reise von acht Tagen!«

»Er sommert sich aus«, antwortete Jenny; »ich glaube, sie haben sich ihn in der Residenz verschrieben, weil doch gerade eine Menagerie gezeigt wird. Dies Exemplar macht die Sammlung erst vollständig.«

»Still! still!« sagte der Rat lachend. »Du bist ein witziger kleiner Teufel, aber von reichen Leuten muß man niemals so despektierlich reden. Wenn er nun um dich anhielte, und er dein Gemahl würde!«

»Hm! dann möchte sich's finden«, meinte Jenny; aber Antoinette behauptete, daß sie ihn auf keinen Fall nehmen würde.

»Da steht Helena wieder«, rief die Mutter, »und hört dem Diskurse mit Andacht zu, statt euch die Hüte festzustecken. Hätten wir nur daran gedacht, die Muhme aus der Vorstadt zu bitten, herzukommen und das Haus zu bewachen.«

Das stille, freundliche Mädchen, welches allen so duldsam und demütig half, und in welcher kein Fremder die jüngste Schwester und leibliche Tochter der Eltern würde erkannt haben, sagte jetzt mit einer silbernen, schönen Stimme: »Ich bleibe recht gern zu Hause und habe mich auch schon darauf eingerichtet.«

»Du bist ein gutes Kind«, sagte die Mutter plötzlich viel freundlicher; »du hilfst uns immer aus der Not. Seht einmal, Mädchen, darum ist auch die Helena in ihrem einfachen Anzuge geblieben. Du bist ein verständiges Wesen, denn freilich hast du auch nicht so viel Putz als deine Schwestern, weil du dergleichen nicht liebst.«

So war denn endlich alles fertig, man stieg ein, die heitersten Gesichter saßen im Wagen, denn sie hatten eine gute Mittagstafel in der Aussicht vor sich, eine schöne Gegend, warmen, heiteren Sommertag, am Abende Ball, Schwärmen die Nacht hindurch, artige junge Herren, die verliebt waren oder sich schmeichelnd so stellten, und die arme, gering geschätzte Helena blieb zurück, vergnügter vielleicht als alle, da sie die Ruhe und Einsamkeit liebte, obgleich sie von allen bemitleidet wurde, sogar vom galantenIn der früher gewöhnlichen Bedeutung: geputzt, elegant. Bedienten des Hauses, der auch mit Geringschätzung auf sie vom hohen Kutschenbocke herniedersah, indem er ebenfalls, seiner Liebenswürdigkeit sich bewußt, von seinen Siegen träumte.

Als der Wagen um die Ecke gebogen und verschwunden war, gab Helena den weiblichen Dienstboten auch Erlaubnis, bis zum Abende auszugehen, verschloß selbst die Hausthür und verwahrte den Schlüssel in ihrem Zimmer. Dann ging sie zu ihrer kleinen Büchersammlung und fühlte sich so recht von Herzen froh und behaglich, daß sie nun endlich einmal so ganz in ihrem Sinne ausruhen konnte, indem sie den Geist in erträumten Regionen umherschweifen ließ, welche ein edler und verständiger Autor ihr aufgeschlossen hatte. Sie war so dankbar, daß der Himmel ihr diesen reinen Genuß schenkte, daß sie, als die Kirche gegenüber nun den sonntäglichen Gottesdienst ausläutete, recht innig betete und dem Himmel dankte, der sich so vorsorglich für sie bewies.

Dann ging sie in die Küche, sah nach ihrem kleinen Mittagsmahle und ordnete das Feuer um die beiden Töpfchen. Dann deckte sie in ihrer Stube den Tisch, richtete alles sauber ein, trug sich auf und aß, nachdem sie still und andächtig gebetet hatte, mit vielem Appetite. Auch das war ihre Freude, daß sie in der Einsamkeit beten konnte, welches an dem Tische ihrer Eltern, die in allen Dingen vornehm sein wollten, niemals geschah. Sie las wieder beim Essen, legte dann das Buch aus der Hand, sann über das Gelesene und überdachte ihren Lebenslauf, und wie und warum sie sich denn so überaus glücklich fühle. Sie wußte nicht, daß alle Nachbarn und Bekannte des Hauses ihr Schicksal bedauerten, weil sie so sichtlich von Eltern und Schwestern zurückgesetzt und vernachlässigt wurde; sie aber beklagte die Schwestern, daß diese nicht der Freude an guten Büchern fähig waren, daß sie so vieles Putzes, so vieler Zerstreuung bedurften und diese Ruhe und Einsamkeit, welche ihr als das höchste Glück des Lebens erschienen, wie die ärgsten Feinde oder wie das größte Unglück vermieden. Recht liebend dankbar war sie der Mutter, daß sie von dieser nicht ebenfalls gezwungen wurde, sich nach der Mode zu tragen und Gesellschaft zu besuchen. Auch zog sie sich, wenn sie es durfte, selbst von der zurück, die oft zahlreich genug zu ihren Eltern kam.

Jetzt aber, nach dem Mittagessen, kam noch die größte Freude für Helena, auf die sie seit Jahren schon vergeblich gehofft hatte, nämlich die Zimmer und Einrichtung ihres Mietmannes, des reichen Professors oben, so recht genau zu betrachten, seine Bibliothek zu sehen und wohl gar ein Manuskript von ihm in die Hand zu nehmen. Da er fast nie aus dem Hause ging, die wenigen Stunden abgerechnet, die er als Direktor des Gymnasii auf der Schule zubrachte, und da sie alsdann ihre Familie und das Hauswesen nicht verlassen durfte, so war es ihr nur durch einen so seltenen, nie wiederkehrenden Fall seiner Ausreise möglich, heute ihrer Neugier endlich Genüge zu thun. Der Professor wohnte schon seit fünfzehn Jahren und wohl länger im Hause, denn sie kannte ihn seit ihrer frühesten Kindheit, er hatte noch niemals eine Reise unternommen, er kam in wenigen Tagen zurück, und der Wunsch, den Helena so lange genährt hatte, wäre auch trotz der Begebenheit, die im Leben des Professors fast für ein Märchen gelten konnte, wieder nicht in Erfüllung gegangen, wenn nicht der plötzliche Schmaus und Ball und die unvermutete Einladung der Familie ihr die Möglichkeit gegeben hätte. Darum saß sie gern einige Nächte und arbeitete für die Mutter und Schwestern, und diese brauchten ihr keinen Dank zu sagen, denn es wäre für das sonderbare Mädchen eine Strafe gewesen, wenn sie jene hätte begleiten müssen. Und wie andere sich wohl eine halbe Lebenszeit auf eine Reise nach der Schweiz oder Italien freuen, mit der Andacht, mit der zu solchem aufgesparten Genusse das Mädchen in den Wagen von der Hausschwelle treten mag, mit einer solchen ging sie jetzt die nie betretene Treppe zur Wohnung des Professors hinauf.

Es gehörte zu den Eigenheiten des sonderbaren Mannes, daß, ob er gleich einsam nur mit einem alten Diener und einer bejahrten Schließerin lebte, er dennoch alle Zimmer des großen obern Stockwerkes bewohnte, ja auch den Boden über ihm dem Hausherrn für einen bedeutenden Zins abgemietet hatte, um nur recht ruhig und ungestört sein zu können; denn es war eigen ausbedungen worden, auch die Treppe, da ohnehin nur die ihn Besuchenden sie zu betreten brauchten, in Ruhe zu lassen und fast wie sein Zimmer anzusehn. So mußte sich denn der Rat mit seiner Familie unten behelfen, wo er zwar in seinem großen Hause Raum genug hatte, indessen doch zuweilen die Bodenkammern vermißte, die der Professor eigentlich nicht benutzen konnte; indessen, da dieser der friedfertigste Mietmann war, der nie etwas begehrte, nie auch nur die kleinste Auslage veranlaßte, prompt war, ja zuweilen wohl den Hauszins im voraus zahlte, so ließ man ihn gewähren, und alle hatten eine scheue Ehrfurcht vor ihm, denn er sprach niemanden, man sah ihn nicht, wenn man ihm nicht zufällig in der Hausthür begegnete, so daß er für die jungen mutwilligen Töchter fast etwas Gespenstisches hatte.

Diese selten betretenen, braun angemalten und blank gebohnten Treppen stieg jetzt Helena wie mit einer frommen Scheu hinan, sie zog die Klingel, und der Ton schallte in dem großen, ganz einsamen Hause sonderbar nach. Man hörte die Fliege in der Luft summen, und ganz leise sockte jetzt der Fußtritt der Haushälterin herbei.Sie schlich auf Socken herbei. Scheu und langsam öffnete sie die Thür, machte sie nur halb auf, sagte, so leise auch Helena schlich: »Still! st! st!« als wenn der Herr drinnen schliefe und erwachen könnte, und vorsichtiger wie das Liebchen zum Geliebten schlüpfte Helena mit pochendem Herzen in den leeren, geräumigen Vorsaal. Noch waren sie nicht im Heiligtume, aber mit noch größerer Vorsicht erschloß die alte Gertrud, deren Gesichtsfarbe, da sie nie an die Luft kam, weiß und zart war, die große braune Thür, und jetzt standen beide in der Bibliothek. Diese war in dem großen Saale und drei anstoßenden Zimmern, nach welchen erst die eigentliche Wohn- und Arbeitsstube des Gelehrten folgte. Alle Fenster waren doppelt, um das Geräusch von der Gasse so viel als möglich abzuhalten, schwere, seidene Vorhänge, die zurückgeschlagen werden konnten, verschatteten sie noch mehr; in den übrigen Zimmern, die keine Bücher enthielten, waren gute holländische und niederländische Gemälde an den Wänden, und das Schlafzimmer ging in den Hof, um in der Nacht noch ungestörter zu sein.

Helena war über alles entzückt. Das Leben eines Gelehrten in einer Stille und Einsamkeit wie in einem Kloster, unter so vielen Büchern, selber Bücher schreibend und dem Drucke übergebend, mit niemand sprechend, von niemand gestört, immer nur mit geistigen und hohen Sachen beschäftigt, dachte sie sich als den herrlichsten Beruf, zu welchem ein Sterblicher nur je gelangen könne. »O, wie glücklich muß hier der Professor sein!« sagte sie lispelnd zu Gertrud, »wie im Paradiese,«

»Paradiese?« wiederholte jene lächelnd; »das ist ja doch ein freier und frischer Garten gewesen.«

»Jeder kann seinen Begriff von Seligkeit so benamen«, sagte Helena. »Aber wo stehen denn die Bücher, liebe Gertrud, die er selber hat drucken lassen?«

»Hier, Lenchen«, sagte Gertrud, »diese ganze Reihe ist es; es sind Ausgaben von alten Autoren oder Klassikern, wie er sie nennt.« Das Mädchen nahm eins der lateinischen Bücher vom Fache herunter und blätterte hin und her. »Wie muß nur einem zu Mute sein«, fing sie wieder an, »der diese alten Sprachen so vom Blatte weg lesen kann, der nun selbst Latein schreibt und ein solches Buch drucken läßt. Mehr wie einmal habe ich fremde Reisende bei uns sagen hören, der Mann sei außerordentlich gelehrt.«

»Er muß es wohl sein«, antwortete Gertrud, »denn er thut gar nichts anderes als lesen und schreiben, vom frühen Morgen bis tief in die Nacht. Ich glaube nur, er zieht sich auch die Bücher allzusehr zu Gemüte,«

»Wie so?«

»Ich meine, weil er doch so blaß ist, immerfort so nachdenklich und manchmal recht traurig, gleichsam melancholisch. Wer weiß, was er sich aus alle dem heidnischen Zeuge noch in den Kopf setzt, denn so ein Klassiker, mein liebes Kind, ist eben nichts anderes als ein Heide. In die Kirche geht er auch gar nicht, er sagt, er könne die Orgel nicht vertragen. Man hört sie hier so schön von dem Tempel herüber, als wenn man selbst darin wäre, aber die ganze Zeit, wann sie so herrlich gespielt wird, ist er erzverdrüßlich. Ja, Lenchen, ich bin manchmal schon nachdenklich und traurig darüber geworden, denn ich bin dem lieben Herrn doch gar zu gut.«

»Nicht wahr«, sagte Helena, »er ist ein herrlicher, edler Mann?«

»Nur zu sehr«, war die Antwort; »er liebt alle Welt, bloß die Kupferschmiede und Tamboure kann er nicht leiden, auch die Janitscharenmusik nicht, die er eine Erfindung des leibhaftigen Satanas nennt. Wenn die Leute zusammenrennen, wenn die Wachtparade mit der frischen und freien Janitscharenmusik vorbeizieht, so stampft er manchmal mit beiden Beinen, und einmal habe ich ihn sogar fluchen hören. Er sagt, nur der abscheulichste Pöbel könne daran Gefallen finden, und wer so danach laufe, und Ohr und Seele würde ihm nicht davon zerrissen, der sei auch eines Mordes fähig. Er spricht sonst niemals so viel mit uns, aber über den Gegenstand ging es ihm einmal recht von Herzen. Er hatte sonst in der Stadt hier ein eignes schönes Haus, das hat er unter dem Preise verkauft, weil ein Kupferschmied in die Nähe zog und der Magistrat ihn gegen diesen nicht schützen konnte und wollte. Die Tanzmusik verabscheut er auch.«

Helena musterte alles ganz genau, sie ging mit der redseligen Frau in die andern Stuben. »Welche Menge von Büchern«, rief sie wie entzückt aus. »Aber gut ist der Professor doch auch, wie Sie vorher sagten? Nicht wahr?«

»Gewiß«, fuhr Gertrud fort, »er sieht in allem nach, wenn nur kein Lärm, keine Unruhe gemacht wird. Keiner darf hastig die Thür aufreißen oder zuschlagen, stolpern, rennen, alles muß im Takte sein, wie er sich ausdrückt. Habe ich oder der alte Werner etwas zu bestellen, so müssen wir leise und langsam kommen, es ruhig vortragen und uns so wenig wie möglich hören lassen. Aber so mildthätig und barmherzig gegen die Armut ist er, daß es nicht zu sagen ist. Er traut uns, und da bringen wir doch auch keine Vorbitte vergeblich an, nein, er gibt immer reichlicher, als man es jemals erwarten darf. Viele Familien erhalten monatlich und vierteljährlich ansehnliche Summen von ihm, und für sich selbst, wenn ich die Bücher abrechne, braucht er nur wenig. Darum läßt er auch, um keine Unruhe im Hause zu haben, täglich sein Essen holen, und für uns ebenfalls.«

Sie waren jetzt im Studierzimmer, welches Helena noch mehr als die übrigen Stuben für ein Heiligtum ansah.

»Man nennt uns nur«, sagte Gertrud, indem sie sich zur jungen Freundin niedersetzte, »Quäker und Herrenhuter, weil wir so still sind. Aber lassen Sie ja alles liegen, jedes Blättchen und jedes aufgeschlagene Buch, damit er alles ganz genau so wiederfindet, wie er es verlassen hat.«

»Ich rühre nichts an«, sagte Helena. »Das ist also seine Handschrift? Wie klar und rein, wie rund und eben. Was ist in dem Korbe?«

»Alte Briefe, Kouverte, unnütze Papiere und Konzepte, die er nicht mehr braucht, wenn er sie abgeschrieben hat.«

Helena kramte unter diesen unnützen Papieren, bis sie ein Blatt von der Hand des Gelehrten entdeckte. »Dies will ich mir«, sagte sie, »als ein Andenken dieses schönen Tages aufheben.« Sie steckte es in den Busen. »Hat er niemals«, sagte sie dann, »auch in jüngern Tagen nicht, heiraten wollen?«

»Nein«, sagte die Alte; »er ist schon so menschenscheu, und vor Frauenzimmern fürchtet er sich noch weit mehr. Die Unruhe der meisten, das Geräusch, das sie lieben, die Flatterhaftigkeit, das Schelten mit den Dienstboten würde ihn auch ganz elend machen. Es ist so besser. Und jetzt ist er zu alt. Es würde ihn nun keine mehr mögen,«

»Ein solches Mädchen«, antwortete Helena, »müßte doch nur zu den Armseligen gehören. Sein Geist, sein edler Anstand, seine große Gelehrsamkeit, sein schönes, blasses Gesicht, der Ausdruck in diesem von mildem Kummer und sanfter Freude, seine Wohlthätigkeit und Liebe zu den Armen, diese schöne, weiße, feine Hand –«

»Kind«, sagte die Ausgeberin verwundert, »wo haben Sie denn das alles beobachten können?«

»Wenn er von der Schule wiederkommt«, sagte Helena und brach kurz ab. Sie musterten hierauf noch die Gemälde in den andern Zimmern, bewunderten die Tapeten, die sein gezimmerten Schränke, die vielfache feine Wäsche, das Tischzeug, das Silber und alles, was nur in der größten Haushaltung hätte nützen und glänzen können und das hier bei diesem ältlichen Hagestolz ungebraucht und unbemerkt dalag.

Als es finster wurde, ging Helena, wie berauscht und von allen Genüssen ermüdet, wieder in ihr Stübchen zurück. Beim Scheine der Lampe las sie wieder, aber statt der murmelnden Bäche und rauschenden Haine, statt der klaren Aussicht über Fluß und Berg, die ihre Dichter ihr schildern wollten, sah sie nur immer wieder die stillen, dunkeln Zimmer, die schöngebohnten Schränke, die Tausende der gelehrten Bücher, und alles, was sie denken wollte, mußte jedesmal diesen Bildern weichen. Auch das halb geraubte Papier betrachtete sie. Von sonderbaren Phantasten und halb bewußten Wünschen lieblich umgaukelt, schlummerte sie nach Mitternacht ein und ward durch den ankommenden Wagen und ihre Schwestern aus einer interessanten Unterredung geweckt, die sie soeben mit dem gelehrten Professor angefangen hatte.


Nach einigen Tagen kam auch der Professor zurück. Ein Jugendfreund, sein einziger Vertrauter, und den er viel sah, der Doktor, welcher die Reise mit ihm gemacht hatte, stieg mit ihm aus dem Wagen und geleitete ihn auf sein Zimmer. Mit stiller Freude begrüßte ihn die Haushälterin.

Als der alte Diener abgepackt hatte, als die nicht gestörte Ordnung wieder hergestellt war, warf sich der Professor, der bisher durch seine Zimmer gewandert und sich umgesehen hatte, in seinen Arbeitsstuhl und sagte: »Nun ist mir endlich wieder wohl. Nein, Freund Doktor, was du für meine Gesundheit zuträglich hältst, ist es am allerwenigsten, denn nichts kann mich im Gegenteile so unglücklich machen als eine Reise. Mir ist dann ganz so zu Mute, als wenn man sich in einem fatalen großen Buche verblättert hat und die Stelle durchaus nicht finden kann, die man sucht und bedarf. Nun habe ich mich endlich wieder zurecht gefunden, und die Gedanken fügen sich in ihre rechte Lage wieder, die bisher alle auf dem Kopfe standen.«

»Es thut mir leid«, erwiderte der Freund, »daß das, was ich für heilsam hielt, so wenig seinen Zweck erreicht hat.«

»Diese Zimmer, diese Ruhe und Abgeschlossenheit«, fuhr der Gelehrte fort, »sind mir heilsam. Im Gegenteile, das unbestimmte Freie des Feldes, die weite Luft, das unruhige Wesen in der Natur ängstigt mich und nimmt mir allen Mut. Ich verstehe die übrigen Menschen, wenigstens die Gelehrten, nicht. Von Lessing erzählt man, daß ihn die Natur gleichgültig ließ, daß er sie nicht beachtete, und eine schöne und unbedeutende Gegend ungefähr dieselben Eindrücke auf ihn machten;»Wirklich gewährt mir, was man schöne Gegend nennt, nicht den Genuß, den mir andre rühmen.« Lessing an Jacobi. Vgl. Erich Schmidt, »Lessing«, Bd. 1, S. 14 f. aber mit mir ist es ein ganz anderer Fall. Diese Felsen, das Wasser, die weiten Aussichten über Flur und Wald machen mir, möchte ich doch beinahe sagen, einen fürchterlichen Eindruck, wenigstens so widerwärtig und beklemmend, daß ich vor diesen großen Gegenständen, deren Sprache ich nicht verstehe, mich ganz verliere. Alles, was ich bin, was ich will, alle meine Plane und Wünsche scheinen mir dort so nichtig und unersprießlich, daß mir fast so zu Mute wird, wie einem kleinen Kinde sein muß, dem sich auf offener fremder Straße die Wärterin im Gedränge verstecktErinnerung an ein Erlebnis der frühesten Kindheit Tiecks. Vgl. Köpke, Bd. 1, S. 10 f. und wenn mir auch das Weinen nicht ganz so nahe ist wie solchem schwachen, unmündigen Wesen, so entfällt mir wenigstens aller Mut, und die trostloseste Einsamkeit erschüttert und beängstigt mich so, daß mir die ganze Welt nur wie eine Irrenanstalt oder alles Geschaffene wie Gespenst oder NarrenteidungNarrenteiding, -tageding, eigentlich Narrenversammlung, dann s. v. w. Narrenspossen. entgegentritt.«

»Daß du deine Hypochondrie immer mehr ausbildest«, erwiderte der Freund, »habe ich schon lange voraus gewußt und dir auch gesagt; aber was ist zu machen? Dem ist nicht zu helfen, der keinen Rat annimmt.«

»Und was sollte ich denn thun, Doktor?« fragte der Gelehrte.

»Bewegung, weniger Fleiß«, erwiderte jener, »nicht immer in der Stube unter Büchern sein, gerade die dir verhaßte Natur genießen, frische Luft –«

»Kommt mir nur nicht«, rief der Professor im höchsten Verdrusse aus, »mit diesem eurem Märchen von frischer Luft, das wahrhaftig zum Volksmärchen geworden ist. An dieser frischen Luft, von der unsere Vorfahren nichts wußten, sterben alle jetzigen Gelehrten, die sich Erkältung, Schnupfen und endlich den Tod aus ihr holen, wenn sie einige Jahre ihr Sklave gewesen sind und täglich zwei oder drei Stunden bei allem Wetter, in Schnee und Regen, ihren Körper regelmäßig herumgeführt haben, wie in den Narrenhäusern die Unklugen wohl zu bestimmten Stunden, oder in den alten FürstenschulenDie vom sächsischen Kurfürsten Moritz 1543 zu Pforta und Meißen sowie 1550 zu Grimma gegründeten Lehr- und Erziehungsanstalten. die Zöglinge nach der Uhr spazieren getrieben werden. Dergleichen auch nur zu denken, ist schon mein höchster Abscheu.«

»So geh in Gesellschaft«, antwortete der Doktor, jetzt auch verstimmt, »höre Musik, besuche das Theater, so oft es in unserer Stadt ist, erheitere dich durch Wein und in Abendzirkeln, suche deine veraltete Tanzkunst wieder hervor –«

Der Gelehrte stand auf, stellte sich vor den Freund in einer fast drohenden Stellung hin, betrachtete ihn lange mit weit geöffneten Augen und sagte kein Wort, denn er konnte für die Verachtung, die er hätte aussprechen müssen, keine Wendung und keinen Ausdruck finden. Der Doktor, der mit seiner Art und Weise bekannt war, brach schnell ab, indem er ihm freundlich die Hand drückte. Der Gelehrte kehrte sich hierauf schnell um und setzte sich an seinen Arbeitstisch, indem er die gut geordneten Papiere anders ordnete und emsig etwas Verlorenes zu suchen schien. Als er es nicht fand, ging er einige Male auf und ab und als wenn ihm eine plötzliche Erleuchtung käme, nahm er den Korb, leerte ihn aus und suchte von neuem, aber ebenso vergeblich, denn auch unter diesen weggeworfenen Briefen fand sich das Blatt nicht. Er klingelte heftig, indem seine Hand zitterte. Die Haushälterin trat herein mit furchtsamer Miene, weil es eine ungewöhnliche Stunde war. »Habt Ihr mir«, rief ihr der Proffessor zu, »ein Blatt weggenommen, Oktav, nur auf einer Seite beschrieben, oben drei Worte durchgestrichen?« Gertrud erschrak, und ihr bleiches Gesicht wurde rot, »Nein, mein bester Herr Professor«, erwiderte sie ziemlich verlegen, »Sie wissen ja, daß ich nie ein Blättchen anrühre, da ich schon weiß, wie wichtig Ihnen auch das allerkleinste ist.«

»Und ist auch niemand anders, vielleicht gar in meiner Abwesenheit, hier auf dem Zimmer gewesen?«

Die Haushälterin trat wie entsetzt einen Schritt zurück. »Wie?« rief sie fast weinend, »solche entsetzliche Missethat halten Sie auch nur für möglich? Da verdiente ich ja nicht –«

»Schon gut!« rief der Verstimmte, »auch im Korbe nicht, – nirgend –«

»Den«, sagte Gertrud, »werde ich wohl schon einmal ausgeleert haben – und –«

Der Professor winkte, und die Alte entfernte sich, froh, so wohlfeilen Kaufes losgekommen zu sein.

»Liegt dir so viel an dem Blatte?« fing der Freund wieder an; »hast du den Inhalt, der dir wichtig war, wohl ganz vergessen?«

»Es ist nicht das«, antwortete unmutig seufzend der Gelehrte, »es verdrießt mich nur, daß man meine Ordnung stört, oder daß ich anfange, zerstreut zu werden. Es ist übrigens nichts als eine Emendation einer Stelle des QuintilianMarcus Fabius Quintilianus (geb. ca. 35 n. Chr.), berühmter römischer Prosaiker, ausgezeichneter Lehrer der Beredsamkeit, Verfasser der »Institutio oratorica« (»Lehrbuch der Redekunst«) in 12 Büchern. und meine Bemerkung dazu, um meine Konjektur zu rechtfertigen; ich weiß die Anmerkung noch Wort für Wort und habe selbst unterwegs viel über meine Argumente nachgedacht.«

Er setzte sich nieder, um die Notiz von neuem aufzuschreiben. »Nun ist alles wieder in der alten Ordnung«, sagte er, indem er aufstand und heiterer schien. »Aber freilich –«

»Was du mir«, warf der Doktor ein, »von dem jungen Herrn Adrian erzählt hast, wird dir immer noch einigen Verdruß machen. Es hält schwer, dergleichen Gesellen wieder los zu werden.«

»Doch, doch«, antwortete der Freund wie zerstreut, »indessen sollte mich das nicht sonderlich kümmern, wenn ich nur nicht durch diese Reise einen alten, bewährten Freund verloren hätte, den ich jetzt wenigstens nicht mehr achten kann; und was ist doch ohne Achtung Freundschaft und Liebe?«

»Wen meinst du?« Der Doktor fragte um so gespannter, weil sich die Miene seines gelehrten Freundes wieder von neuem sehr auffallend verfinstert hatte.

Der Gelehrte stand auf und ging unwillig im Zimmer auf und ab. »Der Professor dort in der Residenz, der berühmte Philologe«, rief er aus, »du kennst ihn ja ebenfalls und bist sein Bewunderer: dieser hat mir den tödlichsten Schmerz, einen so schweren Kummer verursacht, daß ich mich lange nicht von diesen Leiden erholen werde.«

»Ihr waret sonst«, sagte der Doktor bescheiden, »in allen euern Ansichten so einig –«

»Das ist nun vorbei!« rief der Professor; »ich mit ihm einig? Ebenso gern mit jedem Stümper und Verwirrer, der in der Wissenschaft nicht A von B unterscheiden kann. Am Abend vor meiner Abreise bin ich noch bei ihm, in seiner Familie, wie sie es immer nennen. Freilich waren denn auch die Kinder dabei und tummelten sich mit der Frau und einigen Gevatterinnen zwischen den Fremden umher, so daß auch kein verständiges Wort gesprochen werden konnte. Bei Tische waren wir noch ziemlich fröhlich gewesen, und er hatte Gelegenheit gefunden, mir manches über MartialMarcus Valerius Martialis (ca, 40–100), der bekannte witzige römische Epigrammatiker. zu sagen, das mir noch neu war. Nun fing aber das wilde Getümmel an, und der alte Gelehrte schämte sich nicht, vor aller Welt mit seinen unmündigen Kindern zu spielen.

Das war ein Geschrei, ein Jagen und Lachen, ein Schaukeln und Reitenlassen der Jungen, ein Haschen mit den wilden Mädchen, so daß ich, der ich dergleichen noch nie gesehen und es nicht für möglich gehalten hatte, glaubte, der Schlag müsse mich rühren. Die Scham, die in der ganzen weit verbreiteten Gelehrsamkeit glühen sollte, brannte auf meinen Wangen. Endlich kam die Frau und machte dem Unwesen ein Ende. ›Schämt euch doch‹, rief sie, ›ihr macht mir ja den Vater ganz wild und kindisch, er hat mehr zu thun, ernsthafte Geschäfte; aus dem Wege, ihr läppisches, tolles Gesindel!‹ So ward es ruhig, und so schüchtern und verlegen ich sonst bin, so hätte ich doch der Frau um den Hals fallen mögen, so liebenswürdig kam sie mir in diesem Augenblicke vor; ich fühlte mich wieder wie unter Menschen, und die Hitze des Unwillens in meinem Innern ließ nach. Und was war nun der Ernst und das Geschäft, welches die Kinderei ablösen und schwichtigen mußte? Die Kaffeemühle brachte sie ihm, und er mußte die Bohnen mahlen, eine Arbeit, wie sie noch erzählte, die er sich nicht nehmen lasse, wenn er nur irgend Zeit habe.«

Es entstand eine große Pause, denn der Professor erwartete, daß sein Freund auf diese Erzählung, die er mit allen Zeichen des Abscheues vorgetragen hatte, etwas Bedeutendes, das dem wichtigen Gegenstande gezieme, antworten solle; der Doktor schwieg aber und biß die Lippen zusammen, weil es ihn große Anstrengung kostete, das Lachen zu unterdrücken. Sein Freund ging ein paar Male beobachtend an ihm vorüber, und da er nicht wußte, was er aus dem Gesichte und dessen seltsamen Falten herauslesen sollte, setzte er sich wieder in großer Verstimmung nieder, seufzte schwer und fuhr nach einiger Zeit in tief bekümmertem Tone fort: »Wenn sich große, berühmte Gelehrte so aufführen, was soll man dann noch von den unwissenden Plebejern sagen? Der Mann ist mir seitdem gestorben, und ich fühle immer mehr, wie mit jedem Jahre mir Freuden verblühen und verwelken, wie ich gar nicht für die Welt tauge. In manchen Stunden überschleicht mich der Wunsch, daß ich nur erst gestorben sein möchte. O Freund! du verstehst vielleicht mein Wesen und meine Empfindung gar nicht. Wie ich so oft in mutigen Tagen hier unter meinen geliebten Büchern, im klaren Bewußtsein aller meiner Plane mich so wohl und selig fühlte, so sicher wie ein König in seinem Reiche, und ich mir einbildete, alle diese Gedanken, Autoren, Bemerkungen, Zeiten und Begebenheiten zu beherrschen und sie für Mit- und Nachwelt verständig zu ordnen, damit dem Wißbegierigen aus aller Fülle scheinbarer Verwirrung ein kluges Auge entgegenblicke, und er mir meine Mühe und den Eifer danke, – so befällt mich jetzt oft das Gefühl der trostlosesten Einsamkeit; dann will mein Geist wie ein Atom in das große Chaos, das ich meine Gelehrsamkeit nannte, zerrinnen, meine Wünsche, meine alte Freude vergeht wie Schnee vor der Mittagssonne, und alles unter ihm ist schwarz und finster.«

Der Doktor faßte herzlich die Hand und untersuchte dann den Puls seines Freundes. »Bin ich etwa krank?« fragte dieser.

»Nicht krank«, erwiderte der Arzt, »aber jenseit des Lebens und der Gesundheit, du bist Hypochonder und wirst es immer mehr werden und an diesem Übel verschmachten, wenn du nicht plötzlich, von heute zu morgen, eine gewaltsame Umänderung deiner Lebensweise vornimmst. Und warum willst du, Eigensinniger, nicht heiraten, wie ich dir schon so oft zugemutet habe? Dein großes Vermögen kommt in fremde Hände, unter undankbare Menschen, du könntest einen Sohn haben, der dein Wissen wie deine Bücher von dir erbte, den du selbst unterrichtetest, der dir Ehre machte. Du kannst eine Frau, dich wird eine liebenswürdige Frau glücklich machen, die deinen Humor kennt und erheitert.«

Weinend und mit einer Heftigkeit, daß der Freund erschrak, umarmte ihn der Leidende. »Liebst du vielleicht?« rief der Doktor. – »Bewahre!« sagte der Gelehrte wieder ruhiger; »nein, ich freue mich nur deiner Freundschaft, und daß, wenn so etwas möglich sein soll, du auch die ganze Sache führen mußt, denn ich würde niemals den Mut haben, ein Frauenzimmer anzureden, auch kenne ich keine; dir traue ich aber zu, der du mich von Jugend auf kennst, dem so viele Menschen vorkommen, der mit allen leicht und sicher umzugehen weiß, daß du für mich das Richtige wählen und mein wahres Glück als Freund wollen und befördern wirst.«

Den Doktor überraschte diese unerwartete schnelle Zustimmung. »Laß uns nur über einige Hauptpunkte einig sein«, sagte er freudig, »so will ich gern alles übernehmen, um, wie ich fest überzeugt bin, dich glücklicher zu machen. Vor allen Dingen muß deine Braut und zukünftige Frau ganz das Gegenteil von dir selber sein, lustig, heiter, immer aufgeräumt, damit sie dich zerstreut und ermuntert; leichtsinnig in der guten Bedeutung, fröhlichen Angesichts und vergnüglich im Umgange. Und da kenne ich, weder hier in der Stadt, noch irgendwo sonst, ein Mädchen, das allen diesen Forderungen so sehr entspräche und dabei so schön, gesund, tüchtig und liebenswürdig wäre, als Antoinette hier im Hause, die älteste Tochter des Rates, deines Hauswirtes. Du kennst sie doch?«

»Nein«, sagte der Gelehrte, »ich habe sie nie gesehen, ich weiß nur vom Hörensagen, daß der Mann drei Töchter haben soll. Ich übergebe mich dir also ganz, mache mit mir, was du willst, nur richte es so ein, daß ich mich nicht zu schämen brauche, falls mich das Mädchen und der Vater ausschlagen sollten.«

Werner trat herein und meldete den Herrn Adrian. »Hat der Bursch«, sagte der Professor, »schon meine Ankunft erfahren?« – »Führe ihn nur schnell ab, den Windbeutel«, rief der Doktor, schon in der Thür, »oder laß ihn lieber gar nicht vor; er wird dir vorpinseln,Vorklagen, vorjammern. und es ist am besten, du sprichst ihn gar nicht.«

»Im Gegenteile«, rief der Professor, »er soll hereinkommen; Werner! setze dem Manne den Stuhl dorthin, und macht euch dann fort, du und der Doktor, denn ich habe mit dem jungen Manne etwas Wichtiges zu sprechen.«

Der Arzt ging, über den Eigensinn seines Freundes, der ihm auf der Reise sein Verhältnis zu Adrian und dessen Unbrauchbarkeit auseinandergesetzt hatte, verwundert.

Der Fremde, ein blonder Jüngling, trat mit der größten Verlegenheit herein. Auf einen höflichen Wink des Professors setzte er sich diesem gegenüber. Der Gelehrte sah ihn lange schweigend an und fragte endlich mit trockner Stimme: »Was ist zu Ihrem Befehle, junger Mann?«

»Ich komme«, erwiderte dieser mit verlegenem Stottern, »um der schrecklichen Lage, in welcher ich mich befinde, je eher, je lieber ein Ende zu machen und der Scham, der ich nicht ausweichen kann, Trotz zu bieten, um nur das Gefühl, das mich peinigt und demütigt, nicht länger walten zu lassen.«

»Und wie wollen Sie das anfangen?« fragte der Gelehrte.

»Mich von Ihnen beurlauben«, sagte Adrian, »und darum, sowie ich nur Ihren Wagen zur Stadt hereinfahren sah, ging ich mit schlagendem Herzen auf einem Umwege zu Ihnen.«

»Es ist mir lieb«, erwiderte der Professor, »ich hätte Sie sonst auf morgen früh zu mir beschieden. Sie halten es für keine Härte, Herr Kollaborator,Mitarbeiter, früher üblicher Titel für Hilfslehrer an Gymnasien. wenn ich Ihnen sage, daß Sie der Stelle durchaus nicht gewachsen sind, für welche Sie sich gemeldet haben, denn Sie wissen es selbst und sind dessen auch eingeständig.«

»Erlauben Sie mir«, sagte der junge Mann etwas heftig, »daß ich Sie unterbreche und mein eigener Ankläger werde, um ein Gespräch so schnell wie möglich zu endigen, das, wie Sie wohl einsehen, mich nur erniedrigen kann. Ich glaubte nicht, ganz aufrichtig gesprochen, daß man an der hiesigen Schule diese Ansprüche an so strenge Gelehrsamkeit machen würde; ich bildete mir ein, es möchte hier so zugehen wie an so vielen Orten, wo der Schein die Wirklichkeit vertreten muß. Ich habe meine Universitätsjahre versäumt, mich meiner Einbildung nach mehr mit Philosophie und schönen Wissenschaften beschäftigt. Meine früheren Lehrer waren Schüler Basedows,Johann Bernhard Basedow (1723–90), der bekannte Pädagog, Begründer der sogenannten Philanthropine, d. h. Anstalten, in denen die Schüler auf möglichst mühelose, spielende Weise zu Weltbürgern erzogen werden sollten. und durch eigene, sogenannte philanthropische Erziehung lernte ich als Knabe schon den Müßiggang als ein Geschäft treiben. So meinte ich denn, hier mit etwas Ästhetik, Unterricht im deutschen Stile, vielleicht in der Historie und dem Erklären einiger leichten Lateiner und Griechen durchzukommen, wohl selbst noch indes das mir Fehlende nachzulernen und so eine Versorgung und Sicherheit für die Zukunft gefunden zu haben. Doch habe ich gesehen, daß in den ersten Klassen, in welchen ich ebenfalls lehren soll, die Schüler weiter sind als ich selbst und daß ich dasjenige, was Sie, verehrter Mann, von mir fordern, auf keine Weise leisten kann.«

»Wir haben uns also beiderseits mißverstanden«, sagte der Professor.

»Leider«, erwiderte der Fremde, und wollte sich entfernen.

»Bleiben Sie noch«, bat der Gelehrte, »Unser Konrektor, ein trefflicher Mann, wie Sie wissen, hat seiner Krankheit wegen auf drei Jahre die Schule verlassen müssen; er hat es möglich gemacht, nach Italien zu gehen, um selbst den hülflosen Zustand für seine Gelehrsamkeit zu nutzen. Der SubrektorUnterleiter, früher Titel des dem Konrektor zunächst folgenden Oberlehrers an einem Gymnasium. sollte seine Stelle und Sie diejenige des Subrektors vertreten. Ich hatte es gut mit Ihnen vor, denn da ich, wenn der Kranke zurückkommt, oder wohl noch früher, ihm oder einem andern meine Stelle als Direktor übergeben wollte, so hoffte ich, daß Sie einrücken und sich hier fixieren würden. Dies ist nun alles anders geworden, Sie haben sich freiwillig zurückgezogen, und ein anderer Kollaborator, den ich in der Residenz selbst examiniert habe, trifft schon übermorgen ein.«

»So ist es«, sagte der Jüngling, stand auf und verbeugte sich. »Ich beurlaube mich von Ihnen, beschämt zwar, aber doch mit der Beruhigung, daß ich zuerst meine Unfähigkeit eingesehen und gestanden habe.«

»Wohin?« rief der Professor etwas ungestüm, »wir sind noch nicht miteinander fertig.«

»Was können Sie mir noch zu befehlen haben?« sagte Adrian, halb verlegen und halb empfindlich.

»Ihr Empfehlungsschreiben«, fuhr der Professor ganz ruhig fort, »war eins von denen, deren es viele gibt, die nicht kalt, nicht warm sind; ich las es erst nachher, als es zu spät war, mit Bedacht; ich hätte mich nicht so übereilen, ich hätte Sie ebenfalls selbst examinieren sollen.«

»Da es nun nicht geschehen ist«, sagte Adrian in der höchsten Ungeduld, »so werden Sie mir jetzt erlauben –«

»So geben Sie sich doch etwas Ruhe, junger Mann«, sprach der Gelehrte, »da Sie doch gewiß mehr Zeit übrighaben als ich, denn wir sind mit dieser bloßen Auseinandersetzung keineswegs zu Ende.«

»Was kann noch –«, unterbrach Adrian.

»Ein Mann, ein Wort!« rief der Professor aus; »ein Wort, ein Mann! Sie können und brauchen mir nicht zu halten, was Sie mir eigentlich gar nicht einmal versprochen haben; aber ich muß, weil ich es kann, mein Versprechen halten, und wenn ich arm und dürftig wäre, so würde ich eher zu den verzweifeltsten Mitteln greifen, als mein gegebenes Wort brechen. Man lobt Sie und Ihre Sitten, Sie unterstützen eine Mutter und Schwester, Sie haben die Hofmeisterstelle aufgegeben, und ich habe Ihnen jährliches Gehalt von fünfhundert Thalern auf drei Jahre zugesagt. Nehmen Sie hier (indem er eine Schieblade öffnete) für das erste Jahr; das zweite und dritte, selbst wenn ich sterben sollte, wird Ihnen ebenfalls gewiß ausgezahlt werden, der neue Kollaborator erhält dieselbe Summe aus der Schulkasse, Sie aus der meinigen.«

Adrian sah ihn lange an, verstummt, dann mit nassen Augen. »Edler Mann«, rief er – »wie soll ich Ihnen danken? –«

»Sie haben mir nichts zu danken«, antwortete der Rektor, »denn wie gesagt: ein Mann ein Wort! Ich muß mein Versprechen halten. Wissen Sie aber, was ich mir im stillen einbilde, indem ich Ihr verständiges Antlitz betrachte, und wie Sie mir danken können? Daß Sie diese drei Jahre anwenden, nachholen, fleißig sind, um nachher doch den Posten einnehmen zu können, den ich Ihnen zugedacht hatte.«

»Gewiß«, rief Adrian, faßte die Hand des Professors in tiefer Rührung und wollte sie küssen, welches der Gelehrte aber nicht zuließ, sondern ihn umarmte, indem er sagte: »Ich thue bloß meine Schuldigkeit, – aber studieren Sie hübsch, und wir wollen nachher Freunde sein.«

Mit den reinen Gefühlen einer edlen Dankbarkeit entfernte sich der junge Mann.



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