Ludwig Tieck
Dichterleben
Ludwig Tieck

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Dichterleben

»Ha! meine lieben täglichen Gäste!« rief der runde WirtDie Szene ist das besonders durch Shakespeare und Walter Raleigh weltbekannt gewordene Wirtshaus »at the mermaid« (zum Meermädchen) in London-Southwark, Bread Street. mit seiner tönenden Stimme; »seid mir gegrüßt, werte, geehrte Herren! der Platz ist schon für euch zubereitet.«

Zwei Männer waren in den geräumigen Saal getreten, dessen Kühlung ihnen bei der zunehmenden Hitze der Sommertage angenehm dünkte. Der Tisch stand am großen Fenster, welches um einige Schuhe in die Straße hinaus gebaut war; das Morgenlicht glänzte durch die runden, in Blei gefaßten Scheiben und malte sich auf dem Boden, den man mit frischen grünen Binsen bestreut hatte. Der älteste von den Fremden war ein Mann von mittlerer Größe, mit schönen braunen Augen, einer fein gebogenen Nase und kräftigen, freundlichen Lippen. Der jüngere Mann war höher und schlanker, seine Augen glänzten feuriger, und seine Gebärden sowie sein Gang waren rasch und heftig. »Ist der fremde Mensch, der immer da hinten sitzt, noch nicht wieder erschienen?« fragte dieser mit hochfahrendem Ton.

»Seitdem nicht wieder«, antwortete der Wirt, »als Ihr ihn neulich etwas hart angelassen habt. Er wird sich wohl haben wegschüchtern lassen, denn er scheint eine stille Seele.«

»Das sollte mir leid thun«, sagte der heroische junge Mann, »sowohl um ihn als um Euch. Ich spreche auch manchmal selbst gern mit dergleichen mittelmäßigen Gesellen, denn man lernt auch von diesen furchtsamen Geistern. Und ich muß keine Vogelscheuche für Eure Gäste werden. – Aber wer ist er denn eigentlich?«

»Darauf kann ich Euch nicht dienen«, sprach der Wirt mit unterdrückter Stimme, indem er sich furchtsam umsah, ob auch der Fremde, von dem die Rede war, nicht unbemerkt eintrete; »denn er läßt sich nicht ausfragen. Ich kann nur so viel melden, daß ich ihn schon so ein sechs oder sieben Jahre über die Straßen wandeln gesehn; und wenn ich mich nicht sehr irre, so ist er eine Zeitlang Schreiber und Gehülfe bei einem Sachwalter gewesen, und dieselbe Würde mag er auch wohl noch bekleiden,«

»Wie? neugierig! Freund Christoph,«Christopher Marlowe (Marlow, 1564–93), der bedeutendste Vorläufer Shakespeares auf dem Gebiet der Tragödie, kraftvoll und leidenschaftlich, aber auch oft roh und geschmacklos. sagte der ältere Mann, der sich indessen schon behaglich niedergesetzt hatte; »es freut mich, daß doch auch eine weibliche Tugend Eure männliche heroische Kraft etwas mildert und mäßigt.«

»O Robert!Robert Greene (Green, ca. 1560–92), nächst Marlowe der begabteste englische Dramatiker vor Shakespeare, anmutig und oft voll lyrischer Zartheit aber ungleich und zu schwach, um zur Vollendung emporzudringen trinklustiger Robert!« rief der jüngere, indem er sich zu ihm setzte; »dir währt es zu lange, den Wein im Becher rieseln zu hören. Dein Gemüt ist ganz auf die Flasche gerichtet, und die Nachrichten, die sie dir mitteilen kann, scheinen dir die einzig wichtigen. – Aber ist sonst nichts Neues vorgefallen?« so wandte er sich wieder an den Wirt, der das Zimmer schon verlassen wollte.

»Ein reicher Squire aus JorkshireYork oder Yorkshire, die größte englische Grafschaft, zwischen der Nordsee im Osten und Lancaster und Westmoreland im Westen. ist gestern abend angekommen, mit Pferden und Leuten«, antwortete der Wirt, »und hat meine besten Zimmer da droben gemietet. Übrigens ein vernünftiger Mann, der mit allen Dingen zufrieden ist. Er sagt, er sei schon vor vier Jahren hier in London gewesen, damals, als wir mit der unüberwindlichen spanischen Armadabekanntlich 1588 durch die Engländer (Drake) vernichtet. zu thun hatten; er will sogar hier gewohnt haben, aber ich kann mich seiner nicht erinnern. Ein Patriot ist er, wie es nur einen geben kann; denn von unserer Königin ElisabethElisabeth von England (geb. 1533) regierte 1558–1603. spricht er nur mit Verbeugungen und der Hand auf dem Herzen.«

»Das muß ein echter Engländer sein«, sagte Robert, als der Wirt hinausgegangen war. »Aber trinkt doch, Christoph, Ihr scheint mir heut' nicht so heiter als gewöhnlich.«

»Ich bin es auch nicht«, sagte jener, indem er den vollen Becher nachdenkend erhob. »Ist es dir wohl schon vorgekommen, daß du das Ende eines Gedichtes nicht finden konntest, welches du mit Begeisterung angefangen hattest?«

»Nein«, sagte Robert, »denn ich kann gar nicht schreiben, wenn es mir nicht leicht wird, und von allen Dingen ist mir der Schluß am leichtesten, ich fange gewissermaßen mit ihm an, denn er ist fast das Erste, worüber ich mit mir selber einig werden muß, und so strebt denn nachher alles von selbst diesem Ziele zu.«

»So ist es nicht gemeint«, sagte der heftige Mann, »und du hast die Gabe, mich mißzuverstehn. So im wachen Schlummer weiter dichten und das Ding nun endlich auch schließen, je nun, das kann ich wohl ebenfalls, wenn ich diesen schläfrigen Fleiß einmal in Anspruch nehmen will. Aber neu zu sein am Schluß, mit großen Gedanken zu endigen, mit Gefühlen und Erschütterungen, die bis dahin in der Tragödie selbst noch nicht auftraten, und die doch in der Sache liegen, so ein Gemälde hinzustellen, das nun noch endlich, nach allen vorhergegangenen Rührungen die ganze Seele umwühlt und das Herz wie zerschmettert: das Bild dieser erhabenen Angst steht mir so lebhaft vor Augen, daß ich mich selbst verwundern muß, wie ich es nicht schon längst viel mächtiger irgendwo habe abzeichnen können.«

»Ja, ja«, sagte Robert wie gerührt, »dies verwünschte Theaterwesen, das uns unsre Bemühungen doch so wenig dankt und belohnt, es reibt unsere besten Kräfte auf; und dich nun gar mit deiner Teufelstragödie, diesem Faust,Marlows dramatische Bearbeitung des deutschen Volksbuchs von »Doktor Faustus entstand wahrscheinlich 1588, ward aber erst 1604 gedruckt: übersetzt wurde sie von Wilhelm Müller, Adolf Böttiger u. a. den dir selbst ein böser Geist als Arbeit hingeschoben hat. Du bist seit dieser Anstrengung, die dich quält, niemals wieder so übermütig gewesen wie im Frühjahr. Ich erlebe es noch, daß er sich vor seinen eignen Teufeln fürchtet und von den Mißgeburten seiner Phantasie bekehren läßt.«

»Wenn ich Robert Green hieße!« erwiderte jener; »o du zerknirschter SünderEine merkwürdige Schrift Greenes, die Tieck vielfach für die Reden desselben benutzt hat: »Eines Pfennigwertes Witz, erkauft mit einer Million Reue« (1592), enthält die kläglichsten Selbstvorwürfe, die, ebenso wie ein erhaltener Brief von ihm an seine treulos verlassene Gattin, einen schwachen, unmännlichen Charakter verraten., der du immer nur in dem Eise der Untugend und im Auftauen der Reue und Buße lebst, wie Aprilwetter, Schnee und Sonnenschein im unbefestigten Gemüt, der sich nur im Hin- und Herschwanken seiner selbst bewußt wird, der nur davon weiß, daß er lebt, alle Morgen die besten Vorsätze zu fassen und sie alle Mittage beim ersten Glase Wein in schlaffer Begeisterung zu vergessen. Deine Tugend ist ein Tagesschmetterling, der das Abendrot nicht leuchten sieht. Wenn ich dich noch einmal stark und konsequent sehen sollte, so würde ich ohne Bedenken alle Wunder glauben.«

Robert lachte herzlich, indem er sagte: »Du bist noch niemals zur Reue und Buße reif geworden, deine Verstocktheit hältst du für Kraft, und doch ist sie eben die schlimmste Schwäche. Wenn dein Herz einmal aufginge und sich zerknirschen lernte, so würdest du über die Macht und Fülle erstaunen, die von dort aus dein ganzes Wesen kräftigte. Aber der gebrechliche Mensch hält den Felsenstein für stärker als die Blüte der Pflanzen, und doch sind es die Wurzeln des Baumes, die jenen sprengen, wenn dieser allgemach und unmerklich in die Klippe hinein wächst. Doch laß deinen Hohn, ich schweige und will durch meine Worte den Teufel nicht um sein rechtmäßiges Eigentum bringen.«

»Wenn er sich noch um mich bemüht«, sagte jener laut auflachend, »so hat er dich schon vergessen, und das ist es eben, was dich kränkt, so daß du ihn täglich bettelnd anläufst und ihn mit Thränen anflehst, er möge dich doch nicht ganz verschmähen, du seist ja ein ganz gutes Stück Menschenwesen und ein trefflicher Kopf, wie sie alle sagen, und tragest Inklination zu ihm und Liebe; er möge sich also durch das bißchen Reue und Frömmigkeit, das du der schwachen Gesundheit wegen alle Morgen beim Frühstück zu dir nehmen müssest, nicht irre machen lassen, denn es sei so böse nicht gemeint; kenne er doch selbst dein beständiges Herz, das von seiner alten Liebe nicht lasse. Nicht wahr, du Dreiviertel-Epikuräer und Einachtel-Puritaner, so ist dein Verhältnis zu deinem Lehnsherrn, der höchstens einmal mit dir mault, wenn er an dich denkt?«

Als sie sich umsahen, hatte sich der junge Mann, den sie für einen Schreiber hielten, wieder still mit seinem Wein in den Hintergrund des Zimmers gesetzt. »Glaubt Ihr auch einen Teufel?« rief der Redende zu jenes Tisch hinüber.

Der Unbekannte, nachdem er den Fragenden erst anständig begrüßt hatte, antwortete mit einem stillen Lächeln: »Herr Marlow, wenn man ihn glaubt, muß man sich nur hüten, nicht an ihn zu glauben, und wenn man ihn leugnet, daß er es nicht selber sei, der uns die Worte in den Mund legt,«

»Sieh, lieber Green«, sagte Marlow, »da hat uns der gute junge Mann eine nachdenkliche Rede zur Antwort gegeben.«

»Eines Doktors nicht unwürdig«, antwortete Green, »ob sie gleich deiner Frage nicht genug thut.«

Das Gespräch wurde unterbrochen, indem sich oben im Saal die Glasthür öffnete, die einen Altan verschloß. Der Wirt zeigte sich oben und mit ihm ein fein gekleideter Mann, der auf die Gesellschaft unten mit großer Aufmerksamkeit herniedersah, sie dann höflich begrüßte und sich mit dem Wirt wieder entfernte. Man hörte hierauf im obern Zimmer sprechen. Nicht lange, so erschien unten ein zierlich gekleideter Page, der auf einem silbernen Teller eine Flasche alten Rheinwein, Zucker und eingemachte Früchte trug. Der junge Mensch sah sich verlegen im Saale um, musterte die Sitzenden und ging dann mit bäurischem Wesen auf den jungen unbekannten Mann am Nebentischchen zu, indem er stotternd sagte: »Mein gnädiger Herr, der Squire Wallborn von Eschentown in Yorkshire, empfiehlt sich und bittet in dieser geringen Gabe um die Erlaubnis, mit dem werten Herrn durch Besuch und Gespräch eine Bekanntschaft anzuknüpfen.«

»Mit mir?« sagte der Mann im schwarzen Kleide; »Ihr irrt Euch, junger Freund.«

»Gewiß nicht«, antwortete der Page, »mein Herr hat mir Euch deutlich beschrieben und mir noch obenein gesagt: ich könnte gar nicht fehlen, denn der Herr sei gemeint, der solch edles königliches Wesen habe«

Die beiden Freunde am Fenster, die das Mißverständnis sogleich begriffen, konnten ein lautes Lachen nicht unterdrücken, und der Fremde, der darüber weder verlegen noch beleidigt schien, ergötzte sich ebenfalls an demselben. Nur der Squire, den das Gelächter, welches er nicht erwartet hatte, wieder auf den Altan lockte, teilte die frohe Stimmung nicht, sondern rief mit lauter Stimme von oben herab: »Dummkopf!« und winkte mit heftiger Gebärde, so daß der Page, noch verlegener, stumm und unentschlossen in der Mitte des Saales stand, indem sein Herr fortfuhr: »Dorthin! zum Herrn im roten Mantel sollst du gehn, zu dem großen majestätischen Mann!« Der Page folgte, im ganzen Gesichte blutrot, der ungestümen Anweisung, konnte aber jetzt kein Wort mehr hervorbringen, sondern setzte zitternd das Silbergeschirr mit allem, was darauf stand, auf den Tisch und entfernte sich dann mit einer stummen Verbeugung. Beschämt über die eigne Heftigkeit, hatte indessen auch der Squire den Altan wieder verlassen, er trat jetzt zu den übrigen in den Saal und nahte sich der Gruppe am Fenster, indem er sagte: »Verzeiht, meine geehrtesten Herren, die Ungeschicklichkeit meines jungen, noch unerfahrenen Dieners und haltet es für keine Anmaßung, wenn ein Fremder, der keine Verdienste für sich kann reden lassen, von dem Rufe so ausgezeichneter Geister angezogen, den Wunsch hegt, mit Männern in Bekanntschaft zu treten, die ihrem Vaterlande so große Ehre machen.«

Green verbeugte sich stillschweigend, und Marlow, der wohl gesehen, daß nur ihm eigentlich die Botschaft des Edelmannes gegolten hatte, nahm das Wort und drückte mit Beredsamkeit die große Freude aus, die ein Dichter empfinden müsse, wenn es seinen Versuchen gelänge, ihm auch in der Ferne und unter angesehenen und ausgezeichneten Männern Freunde zu erwerben, unter denen der Beifall Eines Verständigen das unbestimmte Urteil Unzähliger aus der unwissenden Menge aufwiege.

Der Squire, der ein Mann von Erziehung war, hielt es für notwendig, auch jenem Unbekannten eine kleine Entschuldigung zu sagen; doch dieser kam ihm, als er seine Rede eben erst begonnen hatte, mit Freundlichkeit zuvor, indem er sprach: »Bemüht Euch nicht, Sir! Mir thut nur der arme junge Mensch leid, den Ihr beschämtet; laßt Euch nicht stören, ein Gespräch fortzusetzen, das Euch zu wichtig sein muß, um die Zeit mit einem Unbekannten zu verlieren.«

Diese Worte, höflich, aber sorglos hingesprochen, vermochten den Edelmann, auch diesen Unbekannten mit an jenen Tisch zu laden, welchen die Aufwärter von neuem mit Wein und Früchten besetzten. Der gleichgültige Green machte dem Schreiber, wie man ihn nannte, freundlich an seiner Seite Platz; doch Marlow rückte mit einer kleinen Empfindlichkeit weiter zurück und dem Edelmanne näher. Diesem entging diese Unart nicht, und er sagte gutmütig: »Wer sich nicht selber als Dichter zeigen kann, der wird wenigstens dadurch geadelt, wenn er die Werke edler Geister versteht und liebt; und darum dränge ich mich mit halbem Vertrauen in eure Gesellschaft und bitte diesen jungen Mann, sich uns zu nähern, da seine Worte und sein Wesen wohl deutlich verraten, daß er die Dichter seines Landes zu würdigen weiß.«

Der Wein und heitere Gespräche machten bald alle, die sich bis dahin fremd gewesen waren, miteinander bekannt. Der hochfahrende Marlow vergaß es endlich, daß der Edelmann ihn nach seiner Meinung durch das Herbeiziehen des Fremden ebensosehr gedemütigt, als durch seine zuvorkommende Höflichkeit ihm geschmeichelt hatte. »Wie wohl ist es mir«, sagte der Squire, »jetzt wirklich neben dem Manne zu sitzen, der mein ganzes Herz schon lange bewegt hat, der unter den Dichtern, die jetzt leben, oder von denen ich wenigstens Kunde habe, unbedingt den ersten Platz einnimmt!«

»Es gibt Stunden«, antwortete Marlow errötend, »in denen sich mein berauschter Geist auch wohl dergleichen träumen läßt; aber noch habe ich weder die Muße noch die Stimmung gefunden, um etwas von dem ausrichten zu können, was die Begeisterung meiner Jugend sich vorgesetzt hat. Alles, was die Welt von mir kennt, sind nur Spiele und Übungen.«

»Ihr seid zu bescheiden«, erwiderte der Squire; »wo haben wir nur etwas Ähnliches, wie Eure Übersetzungen des Ovid oder des Musäus?Marlowe war klassisch gebildet und hat die Liebeselegien des Ovid und das kleine Epos des griechischen Dichters Musäos (5.–6. Jahrh. n. Chr.) »Hero und Leander« bearbeitet. Ihr macht unsere Sprache erst mündig, daß sie die Töne der Kraft, Bedeutsamkeit und Tiefe lieblich aussprechen lernt. Eure Lieder sind zart und wohllautend, Eure Tragödien donnernd, und in allem, was Ihr dichtet, regiert ein Ungestüm, ein Sturm der Leidenschaft, der uns auch wider unsern Willen in fremde Regionen hinüberreißt, was mir eben das wahre Kennzeichen eines echten Dichters zu sein scheint.«

»Ich kann auch nur dichten«, fuhr Marlow fort, »wenn eine Stimmung mich aufregt und unwiderstehlich zu Versen und Erfindungen zwingt. Scheint es mir doch manchmal in süßer Täuschung, als führe ein fremder, höherer Geist dann meine Feder. Ich kann wohl selbst, wenn diese edle Raserei mich wieder verlassen hat, über das erstaunen, was ich niedergeschrieben habe. Ich glaube auch nicht, daß man in der Tragödie auf andere Art etwas leisten kann; denn wie soll das Übermenschliche zur Sprache kommen, wenn der Dichter nicht selbst außer sich versetzt wird, und in jenem zitternden Zustand des prophetischen Wahnsinns mit seinem unsterblichen Auge die Dinge wahrnimmt, die seinem irdischen immerdar verschlossen bleiben? Glaubt mir, von allen Trefflichkeiten, die ich an meinem Freunde Green hier bewundere, beneide ich ihm die Gabe am meisten und begreife sie am wenigsten, daß er in allen Stunden und Stimmungen, sowie er sich nur dazu entschließt, schreiben und dichten kann.«

»Wenn das nur irgend Wahrheit enthält«, antwortete Green mit furchtsamer Stimme, »was Ihr kurz vorher geäußert habt, so dürfte dies Talent kein beneidenswertes sein, da es mir durch dieses ja eben auf ewig unmöglich wird, das Höchste oder die wahre Krone der Poesie zu erfassen. Ich bleibe gewiß nicht darin zurück, den Schwung Eures Geistes zu bewundern, und es mag seine vollkommene Richtigkeit haben, daß nur in Stunden der Weihe, wenn der Himmel unsers Innern ganz klar und blau ist, dieser Adler am freudigsten seine Schwingen entfaltet, um in der höchsten Region die Strahlen der Sonne zu trinken: – aber es ist nicht zu leugnen, daß Ordnung, Ausdauer und Festigkeit viel über uns vermögen, die Ihr, mein edler Freund, bei Euern Arbeiten eben allzusehr verschmäht. Diese Ordnung, wenn Ihr sie Euch aneignen möchtet, würde Euch wohl jene Begeisterung selbst zugänglicher machen, so daß Ihr, der freieste und kühnste aller Menschen, nicht fast täglich der Sklave Eurer Laune und Stimmung zu sein brauchtet.«

»Gar recht«, erwiderte Marlow, »wenn es ein anderer sagt; für mich aber unpassend, weil ich eben ein anderer sein müßte, als der ich bin, um solchem guten Rate Folge leisten zu können.«

»Ich im Gegenteil«, fuhr Green fort, »fühle mich fast immer in einer gewissen gerührten, poetischen Stimmung; mein äußeres und inneres Leben, Wirklichkeit und Phantasie sind gar nicht so getrennt wie bei Euch und vielen andern Menschen: darum arbeite ich ganz leicht und ohne andere Unterbrechung, als die ich mir selbst willkürlich mache. Daher kommt es auch, daß ich Lust und Spaß in meinen Dichtungen besser brauchen kann als Ihr: denn so viel Euch die Natur auch mag geschenkt haben, so ist Euch denn doch der Scherz versagt, und so oft Ihr, der Minerva zum Trotz, das Lachen habt erregen wollen, ist es Euch niemals damit geglückt.«

»Nein«, fiel der Edelmann ein, »vielleicht ist es auch unmöglich, das Heroische, Große und Furchtbare so schön ausdrücken zu können und zugleich so leichtes Blut zu haben, daß Witz, Scherz und Lust aus dem schäumenden Becher der Begeisterung sprudeln. Ich glaube fast, ohne irgend einem geehrten Talent zu nahe zu treten, diese Lust sei auf einer niedrigern Stufe zu finden und verlange auch darum nicht so die Anstrengung des ganzen Menschen und aller seiner Kräfte. Ein Riese kann nicht zugleich, wenn er Bäume entwurzelt, ein zierlicher Tänzer sein.«

Der junge Mann im schwarzen Wams lächelte still vor sich hin. »Ihr scheint nicht ganz meiner Meinung«, sagte der Squire zu ihm, indem er ihm von neuem einschenkte. – »Verzeiht«, antwortete dieser, »mir fiel nur ein, ob der Mensch nicht mehr sei als der Riese; wir freuen uns wenigstens in den Gedichten, wenn der Gigant von der edlern Kraft bezwungen wird, und ein Alexander oder Heinrich der Fünfte von EnglandHeinrich V. (1413–22; geboren 1387), der Sieger von Azincourt (1415); Shakespeare (der »Schreiber«) hat später in den Fallstaffszenen in »Heinrich IV.« sein ausgelassen lustiges Jugendleben, in »Heinrich V.« seine Herrschertugenden dargestellt. kann nach der gewonnenen Schlacht schwärmen und trinken, ohne sich zu entadeln; und so gibt es auch vielleicht eine Poesie, die alles verbinden mag.«

»Wenn der Blinde von der Farbe spricht«, fuhr Marlow dazwischen und sah den Unbekannten mit einem zornigen Blicke an, »so erfahren wir freilich neue Dinge, die aber von der Sache selbst weit entfernt sind.«

Der Squire, welcher Streit vermeiden und seinen Liebling bei guter Laune erhalten wollte, wendete das Gespräch auf die weichen Verse und üppigen Schilderungen, in welchen Marlow damals den größten Ruhm genoß, deswegen aber auch von Gegnern und moralischen Lesern getadelt wurde, so daß das geistliche Gericht selbst seine Übersetzungen der ovidischen Gedichte verbieten wolltet.Der Erzbischof von Canterbury ließ Marlowes Übertragung der ovidischen Liebeselegien öffentlich verbrennen »Der Streit«, fuhr der Edelmann fort, »über die Unmoralität der Poesie ist noch nie so lebhaft als in unsern Tagen geführt worden, und wenn die Gegner derselben nur einigermaßen recht haben sollten, so muß man zugestehen, daß ein frommer Wandel, bürgerliche Tugend und Unbescholtenheit sich nicht mit der Dichtkunst vereinigen lassen.«

»Diese Gegner«, sagte Marlow sehr lebhaft, »sind doch nur jene puritanischen Reiniger und Ausfeger, die nicht nur die Poesie, sondern alle Kunst, selbst Wissenschaft, ja, wenn man ihnen folgte, den Unterschied der Stände, Adel, König und Geistlichkeit aus dem Staate hinaus reinigen möchten. Wie es aber bei der großen Gliederung der menschlichen Gesellschaft nicht möglich ist, die scheinbaren Gebrechen, Armut, Druck, Gewalttätigkeit, Laster, völlig aus dem Ganzen herauszunehmen, weil man dadurch nicht nur die Tugenden zugleich mit vernichten, sondern auch das Gebäude der majestätischen Weisheit zertrümmern würde: so ist es auch auf ähnliche Weise mit der Poesie beschaffen. Wir wissen es alle und beklagen es in vielen Stunden, daß der Reiz der Sinne so mächtig über uns walte, aber wir müssen auch zugleich im Bereuen gestehen, daß es unmöglich ist, ihn zu vernichten: denn die Erscheinung des Lebens selbst müßte mit ihm zugleich zu Grunde gehen. Wo sich das Bewußtsein des Lebens in kräftiger Brust erhebt und in Bildern, süßen Tönen und Akkorden seine Regung kundgeben will, da nimmt es diesen innigsten Trieb in seinen glänzenden Banden gefangen und führt ihn an die höchste Grenze des Sichtbaren, in Üppigkeit, Reiz und Wollust hinein, dahin, wo die reinste und heißeste Flamme des Lebens brennt. In dieser Flamme schwingt sich der Geist der Dichtkunst kühn und in allen Farben und Gestalten um; und so wie Liebe, Sehnsucht Schmerz und das geistigste Verlangen sinnlich in Befriedigung, in irdischer Sättigung erlöschen und sich sänftigen: so kann das Himmlische, Lautere, Wundervolle nicht anders als in Reiz und sinnlicher Üppigkeit seine Blumenkrone und seinen farbigen Ausdruck finden. Wie die verschiedenen menschlichen Geister auch gestimmt oder mißtönend sein mögen, hier verstehen sich alle, wenn sie noch unbefangen und natürlich sind. Diejenigen, die mich also hierüber tadeln, schelten nur die Begeisterung selbst, jene Lebenskraft, die im geheimen Dunkel der Seele in Sehnsucht sich erhebt und um sich schaut, mit klaren und immer glänzendern Augen das Wunder ihrer Bestimmung erkennt und so den süßen Trieb, der die ganze Welt erregt, in Liebe mit sich nimmt, um das in Bild und Figur zu setzen, was sonst ewig tot und formlos sein würde. Ist es nun anders mit der Sehnsucht nach Schmerz und Leid? In einem geheimnisvollen Gelüste, aus Furcht, Grauen und Mitleid gemischt, greift die Seele zum Schrecklichen und sättigt ihren furchtbaren Hunger an Gebilden von Blut und Mord; Grausamkeit, Mordlust, die in der Brust des Menschen schlafen, werden von ihren Ketten gelöst, und in der Erhabenheit triumphiert die wilde Natur, rot von Blut, in Schauder und Graus. Und dieser Trieb, der den Menschen in der Wirklichkeit wie in der Poesie hoch über sich selbst hinaus reißt, ist innigst mit jener schmelzenden Wollust verwandt, ist wohl derselbe magische Wunsch, zu schaffen und zu vernichten, in der höchsten Liebe zu verderben und in der Blutgier mit den feinsten Herzensfibern zu schwelgen. Daher sind der Tragödie die Tyrannen so notwendig; daher die Liebe keinem Gedicht fehlen darf, das unsere Seele vom Schlaf erwecken soll; darum wird auch die Liebe, wenn ihre Begeisterung gestört, wenn ihr Genuß gehindert wird, in wilden Gemütern Mord, und darum sind alle Tyrannen wollüstig gewesen und in der Gier der Liebe am furchtbarsten.«

»Trefflich!« rief der Squire; »dies grauenhaft Gespenstische, innigst mit dem Lieblichen vermählt, zieht mit feingeistigen Schauern durch die fernsten Tiefen unserer Seele. Wie habt Ihr soeben herrlich Eure große Tragödie: ›Die Herrschaft der Lust‹Dieses Drama (»Lust's dominion, or The lascivious queen«), erst 1657 gedruckt, steht in den von Tieck vielfach benutzten »Old English Plays« (London 1814 f.) allerdings unter Marlowes Namen, stammt aber von einem andern, unbekannten Verfasser. charakterisiert, in welcher wir den gräßlichen Mohren hassen und bewundern, uns vor ihm entsetzen und ihn doch gewissermaßen lieben müssen. Dieses ganz in Blut getauchte Trauerspiel sowie Euer ›Jude von Maltha‹Gedichtet 1589 oder 1590, gedruckt 1633; übersetzt von Eduard von Bülow (»Altenglische Schaubühne«, 1. Bd. 1831). haben mir immer vorzüglich gefallen.«

So willig und mit leichtem Sinne Green in alle diese Bewunderung einstimmte, so mochte es ihn doch etwas verdrießen, daß von ihm so wenig die Rede sei; er sagte daher mit einem launigen Lächeln, das ihm sehr gut stand: »Ich wette, unser junger Gast dort, wenn er nur reden dürfte, hat auch hierüber manches zu sagen: denn auf seiner hohen Stirn schienen mir einige Gedanken und Zweifel wie leichte Wolken hinzuschweben, und in den feingezogenen Augenbraunen wandelten Einwürfe aller Art, die der Mund nur verschweigen muß.«

Der Squire sah den Fremden nachdenkend an, und Marlow rief: »Er rede! Das soll von mir nicht gesagt werden, daß ich wie ein Tyrann das Gespräch beherrsche; daß in meiner Gegenwart, er sei auch, wer er sei, wenn er einmal zu unserer Gesellschaft gehört, irgend einem Manne nicht zu sprechen erlaubt sei.«

»Nun?« sagte der Squire, »laßt hören, junger Freund, ob sich Herr Green in Ansehung Eurer Mienen nicht geirrt hat, und ob Ihr wirklich von der Sache etwas versteht.«

»Der Gegenstand ist zu wichtig«, antwortete der Unbekannte, »als daß ich mir einbilden könnte, über ihn, besonders Meistern gegenüber, etwas Bedeutendes zu sagen. Herr Marlow hat Gedichte geliefert, die wir alle bewundern, das ist die Hauptsache. Jener Sinnenreiz, von welchem er behauptet, daß er gewissermaßen den Einschlag unsers Lebens ausmacht, so daß ohne ihn kein Gewebe und noch weniger künstliche Figuren in demselben möglich sind, ist gewiß nicht abzuleugnen. Nur fragt es sich, ob er an sich selbst, als Naturtrieb, in seiner Wirkung und Kraft, seien sie auch gewaltig, eben schon eine Aufgabe für die Poesie oder gar die Krone derselben sei. Wie alles Schaffen doch nur ein Verwandeln ist, so dünkt mir, wäre es der Zweck des Dichters und sei es von je gewesen, denselben Trieb, der das Tier roh und stark und die Blume geheimnisreich erregt und entwickelt, in himmlische Klarheit, in Sehnsucht nach dem Unsichtbaren zu steigern, so das Leibliche mit dem Geistigen, das Ewige mit dem Irdischen, Cupido und Psyche, im Sinne des alten Märchens,Von Lucius Apulejus (geboren um 130 n. Chr.). auf das innigste in Gegenwart und mit dem Beifall aller Götter zu vermählen.«

»Seht!« sagte Marlow, »der junge Freund ist nicht ganz ohne Belesenheit; nur muß ich glauben, daß auf diesem Wege Leidenschaft und Feuer sich in ein Nichts hinein verflüchtige und zerstreue. Wer das Leben auf diese Art auflösen will, findet immer nur den Tod. Das möchte denn eben wohl das Gegenteil aller Poesie werden und in jene kalten Allegorieen ausarten, die als leere Schemen jedes Herz mit Frost ernüchtern. So waren die alten Moralitäten,Mittelalterliche Schauspiele, die einzelne Sätze der Sittenlehre durch erfundene Beispiele erläuterten. deren wir noch einige besitzen; so sprachen die hochgepriesenen Gedichte jenes petrarkischen Surrey,Henry Howard, Graf Surrey (1516–47), eleganter Lyriker, führte das Sonett und den iambischen Blankvers in die englische Literatur ein. des Freundes von unserm achten Heinrich; daran leidet, seine Bewunderer mögen sagen, was sie wollen, die herrliche Feenkönigin unseres Spenser,Edmund Spensers (1552–99) unvollendetes Hauptwerk, das Epos »Die Feenkönigin«, ist eine Allegorie auf die Königin Elisabeth. den viele, die sich selbst die Bessern nennen, zum größten, ja zum einzigen wahren Dichter Englands stempeln wollen. Da würdet Ihr, Sir, mit der Bewunderung Eures armen Marlow nur übel ankommen, der sich zwar selbst gern in diesen grünen Waldschatten der Spenserschen Dämmerung ergeht, die so lieblich vom Bachgeriesel und seinem Nachtigallenton erfrischt, von Duft durchhaucht und Mondlicht durchspielt wird, aber auch im Genuß mit Schlummermüdigkeit und schweren Träumen nicht selten bedrückt.«

»Diese ersten drei Bücher, die nur noch erschienen sind«, sagte der Squire, »sind plötzlich so wundersam da, wie zuweilen der Frühling mit allem Laube und seinen Blüten. Das Wunder erstaunt, entzückt und betäubt gewissermaßen; ob Sommer und Herbst schöner oder in anderer Art herrlich sein könnten, fällt uns fürs erste nicht ein. Das scheint mir ausgemacht, ein neuer Ton, ein neues Streben, eine so noch nie vernommene Sprache und Versart erklingt bezaubernd; ja selbst jene Dämmerung und süße Ermattung, von welcher Ihr eben spracht, scheint mir diesem Werke und seinen dunkeln Schatten und tiefen, harmonischen Farben unentbehrlich.«

»Zwölf solcher Bücher«, sagte Marlow, »und jedes Buch von zwölf Gesängen soll das Ganze enthalten, wenn es vollendet ist. Wer wird es lesen können? Werden nicht eine Menge leerer Lückenbüßer, viele allegorische nüchterne Schilderungen und Reden sich einfinden müssen, um nur das weitläufige Gebäude, welches hier einen Flügel, dort eine Kolonnade der Symmetrie wegen alsdann notwendig macht, völlig auszubauen? Schon jetzt ist dergleichen prosaische Notdurft, die aus der Poesie nicht entspringt, nicht zu verkennen. Aber Ihr habt recht, diese Gesänge berauschen wie ein neuer Wein die ganze Nation. Wenn ich über diesen Punkt etwas verschieden denke, so geht es mir mit der gepriesenen ›Arkadia‹ unsers Philipp SidneyPhilipp Sidney (1554–86), neben Spenser der Hauptvertreter der höfischen Kunstdichtung zur Zeit Elisabeths; die »Arkadia« (1578) ist die älteste englische Hirtendichtung. nicht anders. Meiner Ungeduld sind dergleichen Bücher zu lang; am wenigsten kann sie der oft lesen, der selbst etwas hervorbringen will. Von der ›Feenkönigin‹ wollen viele jetzt behaupten, sie werde die Grundlage unserer wahren Nationalpoesie für die Zukunft ausmachen; und ich schmeichelte mir oft, daß ich und meine Freunde diese auf unsere Weise befestigen würden: denn wie jene, wenn auch poetischen, doch sonderbaren Gesänge jemals vom Volke ganz sollen verstanden und mit Wohlgefallen genossen werden, bin ich nicht fähig einzusehen. Seit unserm ChaucerGeoffroy Chaucer (ca. 1340–1400), der Vater der englischen Dichtkunst; sein Meisterwerk, die »Canterbury-Geschichten« (frühstens 1393 verfaßt), ein Cyklus von Novellen in Versen., denk' ich, ist nichts gedichtet worden, was eben dem ganzen Volke gehöre, und von dem herrlichen Alten sind es doch auch eigentlich nur die Canterbury-Erzählungen, die ich hier meine, und unter diesen wieder die witzigen und komischen, samt der unvergleichlichen Schilderung der Personen, die jeden Engländer für alle Zeiten als Muster gelten sollten. Das ist die hellste Lustigkeit und der klarste Verstand, die mir in allem, was ich nur gelesen habe, jemals vorgekommen sind.«

»Ihr habt«, fing der Edelmann wieder an, »schon genug gethan, auch Eure Freunde stehn Euch darin bei, und Eure Schüler und Nachkommen werden hoffentlich darin fortfahren, das Ferne, Unbestimmte, Vergeistigte zu vermeiden. Wie erfreulich, daß Ihr in Eurem ›Eduard dem Zweiten‹Von einigen für Marlowes bedeutendste Tragödie angesprochen; gedruckt 1598, übersetzt von Prölß (»Altenglisches Theater«, 1. Bd. 1880). unsere vaterländische Geschichte, die reich an großen und tragischen Begebenheiten ist, so edel habt auftreten lassen! Herr Green hat einige märchenhafte SagenIn den Stücken »George Greene, der Flurschütz von Wakefield«, gedruckt 1599 (übersetzt von Tieck im 1. Bd. des »Altenglischen Theaters« 1811), und »Die wunderbare Sage vom Pater Baco«, gedruckt 1594 (übersetzt [von Dorothea Tieck] in Tiecks »Shakespeares Vorschule«, 1. Bd. 1823). trefflich bearbeitet, so leicht und behaglich, daß man mehr dergleichen wünscht. Auch Euer Freund Georg PeeleGeorge Peele (zwischen 1550 und 1598), nächst Marlowe und Greene der bedeutendste Vorläufer Shakespeares, behandelt in seinem historischen Drama »König Eduard I.« (gedruckt 1593) einen vaterländischen Stoff. wandelt auf demselben Wege, und man hat mir erzählen wollen, daß einige Unbekannte noch mehr vaterländische Gegenstände schon mit dem größten Beifall dem Theater gegeben haben.«

»O ja!« rief Green spöttisch, »es wird bald dahin kommen, daß der Schüler der Chroniken entbehren und die englische Geschichte lustiger vom Theater lernen kann. O die Bühne, die liebe vortreffliche Anstalt! könnten wir armen Autoren nur wenigstens von dieser erlöst werden.«

»Warum«?« fragte der Squire.

»Wir«, fuhr der sonst freundliche Mann zornig fort, »sind fast die ersten gewesen, die den Komödianten und ihren einfältigen Vorstehern etwas Vernünftiges gegeben und in den Mund gelegt haben; aber das haben sie nun, nachdem das Volk zugelaufen ist und Lust am Theater bekommen hat, längst vergessen. Nun glauben sie unser nicht mehr zu bedürfen, und Werke von Stümpern, von unbekannten Pfuschern, sind ihnen ebenso lieb, ja noch lieber, und die armseligen Versuche, die oft nur so wie gedankenlos hingeschrieben sind, erhalten nicht weniger Beifall als die Gedichte, die uns Zeit und Nachtwachen gekostet haben. Wir haben die Theaterunternehmer erst zu dem gemacht, was sie sind, und sie auch zugleich verdorben. – Und was ist es auch am Ende um das beste Theaterstück? Mein und meines Freundes wahrer Ruhm kann doch nur auf unsern andern Werken beruhen: denn es zeigt sich immer deutlicher, daß fast jeder Mensch ein unterhaltendes Schauspiel schreiben kann, besonders wenn es die Komödianten gut spielen; und es ist nicht zu leugnen, daß diese mit jedem Tage besser werden und in ihrer sogenannten Kunst etwas viel Höheres leisten, als man vor zehn Jahren für möglich halten konnte.«

»Diese geistlosen Schauspieler«, fuhr Marlow fort, »werden bald darauf verfallen, selber alles zu schreiben, was ihre Bühnen bedürfen. Uns kann es gleichgültig sein, denn unser Leben und Ruhm hängt nicht von diesem augenblicklichen und wechselnden Beifall ab. Einige Sachen aus unserer englischen Historie haben schon Glück gemacht, weil man eben alte Erinnerungen, das Wohlwollen für gewisse Männer und die sogenannte Vaterlandsliebe in Thätigkeit setzte und durch alle diese Würzen die blöde und unwissende Menge bestach. Was geht aber den wahren Dichter sein sogenanntes Vaterland an? Der Boden, auf welchem er zufällig geboren ist? Das ganze Reich der Phantasie, Süden und Norden, die Welt der Geister dazu steht ihm offen und ist seiner Herrschaft unterworfen. Wer sich, wenn er für Glück und Unglück, Großmut, Bosheit und furchtbare Begebenheiten sich begeistern will, noch für jenen kleinen Fleck interessieren kann, auf welchem er das Licht erblickte, und nicht ablassen mag, jene Erinnerungen aus der Kindheit willkürlich in die großen Gemälde zu verflechten, der ist gewiß das vollkommene Gegenteil eines Poeten. Darum habe ich meinen TamerlanDer Held von Marlowes Doppeltragdödie »Tamerlan der Große«, gedruckt 1590. mit mehr Schmuck und Herrlichkeit ausgestattet, als jene nur jemals ihrem Talbot, Gloster oder dem schwachen sechsten HeinrichHeinrich VI. (1422–61 und 1470–71 König) sowie der berühmte Feldherr John Talbot, Graf von Shrewsbury (1373–1453), und Humphrey, Herzog von Gloucester, Oheim Heinrichs VI., 1422–47 für letztern Regent, treten in Shakespeares »Heinrich VI.« auf. geben können, oder gar den alten vergessenen Märchenfiguren, die eine kränkliche Erschlaffung uns wieder vorzuführen strebt. Darum ist mir meine letzte Tragödie, die Fabel vom deutschen Zauberer Faust, so wert, weil hier das Entsetzen, Grauen und alle Furchtbarkeit im Wechsel mit fratzenhaften komischen Begebenheiten so ganz selbständig auftritt, sich in seinem eignen Elemente bewegt und keine Sitten unserer Zeit oder Stadt bedarf. Auch in meinem ›Eduard‹ habe ich es vermieden, das sogenannte Vaterland, oder Bedrückung, Volk und dergleichen mitspielen zu lassen; der Kampf der Parteien und das unsägliche Unglück des schwachen Königs genügt und erregt jeden Zuschauer zu Mitgefühl und Entsetzen, eben weil er nur ein Mensch ist.«

Der Unbekannte stand jetzt auf. »Schon wieder böse?« fragte Marlow mit rauher Stimme. – »Ich bin es noch niemals gewesen«, sagte jener mit dem freundlichsten Tone, »und fühle mich im Gegenteil hochgeehrt, daß ich am Gespräch so trefflicher Männer habe teilnehmen dürfen. Meine Zeit aber ruft mich ab, da ich nicht so unabhängig bin, wie Ihr soeben von Euch gerühmt habt.«

»Wenn es Euch«, sagte Marlow, »Euer Sachwalter oder sonstige Beschäftigung irgend erlaubt, so sagt noch jetzt, was Ihr irgend einzuwenden habt.«

»Euer Verlangen«, antwortete jener,Shakespeare spricht im folgenden die Meinung Tiecks aus. Doch stimmen seine Worte zugleich völlig mit der patriotischen Gesinnung überein, die er in Wirklichkeit wiederholt bekundet hat, z. B. »Richard II.«, 2, 1, in der berühmten Verherrlichung Englands durch Gaunt. »soll mir als Befehl gelten, und als dramatischer Dichter müßt Ihr ja auch die Meinung, die von der Eurigen ganz verschieden ist, besser brauchen können als die gewöhnlichen Menschen. Erst wolltet Ihr jenen Grundtrieb unserer Natur, den Sinnenreiz, unbedingt als die höchste Aufgabe der Poesie gelten lassen, ihn, den alle Menschen miteinander, ja sogar mit den Tieren teilen. In dieser Befangenheit glaubtet Ihr die höchste Freiheit zu finden; dagegen verwerft Ihr als ein fesselndes das Gefühl des Patriotismus und wollt als Dichter kein Vaterland und keine Zeit anerkennen. Und dennoch könnt Ihr den Elementen, die Euch ernährt, den Umgebungen, die Euch erzogen haben, nicht entfliehen. Wenn der Mensch kein Mannesalter finden wird, der keine Kindheit gehabt hat, worauf soll denn die Welt, die der Dichter uns gibt, feststehen, wenn er selbst den notwendigsten Stützpunkt, der ihn tragen muß, wegwirft? Die Vaterlandsliebe ist ja ein gebildetes, erzogenes Naturgefühl, ein zum edelsten Bewußtsein ausgearbeiteter Instinkt. Wie sie nur da möglich wird, wo ein wahrer Staat ist, ein edler Fürst regiert und jene Freiheit gedeihen kann, die dem Menschen unentbehrlich ist, so bemächtigt sie sich auch in diesen echten Staaten der edelsten Gemüter und gibt ihnen die höchste Begeisterung, diese unsterbliche Liebe zum Boden, zur überlieferten Verfassung, zu alten Sitten, frohen Festen und wunderlichen Legenden. Wenn sie sich nun mit der innigsten Verehrung zum Herrscher verbindet, so wie es uns Engländern vergönnt ist, unserer erhabenen Königin zu huldigen, so erwächst aus diesen mannigfaltigen Kräften und Gefühlen ein solcher Wunderbaum von Leben und Herrlichkeit, daß ich mir kein Interesse, keine erfundene Dichtung, keine Liebe und Leidenschaft denken kann, die mit dieser höchsten Begeisterung in den Kampf treten dürften. Auch findet hier der Dichter schon die Poesie, die seinem Gemüte, wenn er sie nur erkennen will, im glänzendsten Schmucke entgegenschreitet. Wem schlägt denn wohl das Herz nicht höher, wenn er Cressy und AzincourtDie Schlachten bei Crecy (oder Cressy, 1346) und Azincourt (1415), glorreiche Siege der Engländer über die Franzosen. nennen hört? Welche Gebilde, dieser dritte Eduard,Eduard III. (1327–77 König), der Sieger von Crecy. der fünfte Heinrich, die Bürgerkriege der Rosen, der redliche Gloster, der hohe Warwick, der furchtbare Richard!Krieg der Roten Rose (Haus Lancaster) und der Weißen Rose (Haus York) 1455–85. – Richard Neville, Graf von Warwick, ein Hauptheld in den Kriegen der Rosen auf seiten der Yorks, fiel 1471 in einem Treffen bei Barnet. – Richard III. (1483–85 König), allbekannt aus Shakespeares gleichnamiger Tragödie. oder die Riesengestalt des Gaunt, neben dem zu leichtsinnigen und unglücklichen Richard von Bordeaux!Johann von Gaunt, Graf von Richmond und Herzog von Lancaster (gestorben 1399), Eduards III. dritter Sohn, Oheim Richards II. (1377–1399 König, in Bordeaux geboren). Vgl. Shakespeares »Richard II.« der schwarze Prinz, den der Feind mit Ehrfurcht nannte, jener Löwenherz, oder dessen größerer Vater, der glücklichste und unglücklichste der mächtigen Monarchen!Eduard, Prinz von Wales (1330–76), nach seiner Rüstung der »Schwarze Prinz« genannt, ältester Sohn Eduards III., einer der volkstümlichsten Helden Englands. – Richard I., Löwenherz (1189–99 König), am bekanntesten durch seine Teilnahme am dritten Kreuzzug und seine Gefangenschaft in Deutschland. Sohn König Heinrichs II. (1154–89), eines der wohlmeinendsten und thatkräftigsten englischen Herrscher; unglücklich war Heinrich II. besonders insofern, als die zwei besten seiner Söhne vor ihm hinstarben, die beiden andern aber teils durch Trotz, teils durch Verrat ihm schweren Kummer bereiteten. – Und welch Wunder haben wir denn selbst nur vor wenig Jahren erlebt, als die fremde Tyrannei mit jener ungeheuren Flotte schon zu unsern Schwellen herüberschwamm? Welch Gefühl wehte und rauschte damals durch das Land, in den Ebenen, Wäldern und Bergen! Welche Wünsche und Gebete! Jung und alt drängte sich wohlgemut und mit Herzklopfen in die tapfern Reihen, um zu fallen oder zu siegen. O damals, damals fühlten wir es wohl, ohne der Worte zu bedürfen, welch ein edles Gut, welch ein Kleinod, höher als alle irdische Schätzung, unser Vaterland sei. Und wie nun unsere hohe Königin im Glanz ihrer Majestät mit Liebe und Huld, selbst gewappnet, sich zu Roß den jauchzenden Scharen der Landesverteidiger darstellte und ihr Mund von der gemeinsamen Not sprach, von dem furchtbaren Feinde, den nur der Himmel und die Eintracht begeisterter Söhne des Vaterlandes schlagen könnten – wer, der diese höchsten Augenblicke des Daseins erlebt hat, kann sie jemals vergessen? Und dennoch schienen wir verloren, so hoch uns das unsterbliche Gefühl auch erhob, wenn nicht das Glück, die Rettung unmittelbar vom Himmel gefallen wäre. Aber Elisabeth, Howard, Drake, RaleighHoward von Essingham (1536–1624), Lord-Admiral der englischen Flotte gegen die Armada, später Graf von Nottingham; Sir Francis Drake (1540–96), Vizeadmiral unter Howard; Sir Walter Raleigh (1562–1618), gleichfalls am Kampfe gegen die spanische Armada beteiligt. und alle jene Namen, die an den verhängnisvollen Tagen herrschten und schlugen, müssen mit Dankbarkeit genannt werden, solange noch ein englischer Laut auf dieser glückseligen Insel erklingt! – Verzeiht meiner Bewegung! – Doch dies, mein Verehrter, wäre keine Welt für den Dichter? Muß ich doch beinah' fürchten, teurer Marlow, daß in jenem Bestreben, nur seiner selbst, ohne Land und Zeit, zu bedürfen, der Mensch sich, wie Ihr Euch kurz vorher ausdrücktet, in nichts zerstreut und verflüchtiget. – Aber habt Nachsicht mit dem Laien, der sich dennoch, so sehr er es vermeiden wollte, Euch mit langer Rede und Widerspruch aufgedrängt hat.« Noch einmal allen für ihre Gunst dankend, verließ der Fremde den Saal.

Der Squire sah ihm mit ernstem Blicke, selbst mit Rührung nach; Green nickte beifällig, aber Marlow sagte, ohne gestört zu sein: »Aus dieser Rede kann man allein abnehmen, daß dieser gute Mann keine gelehrte Erziehung genossen hat und auf keiner Universität gewesen ist. Denn das haben wir alle dem Umgang mit den Wissenschaften und der Kenntnis der klassischen Autoren zu danken, daß wir von frühster Jugend an in einer größern Welt einheimisch werden, als uns die neuere Zeit bieten kann. Es ist gut, wenn die Menge so denkt wie jener; aber der ausgebildete oder freie Mann holt seinen wahren Lebensatem aus den alten Republiken herüber, und der hohe Olymp muß immer noch die Wohnung unserer Götter bleiben,«

»Ihr seid in allen Dingen stark und mächtig«, sagte Green, »aber ich muß meine Schwachheit bekennen, ich war gerührt und bin es oft bei solchen Veranlassungen. Auch dacht' ich an den Schluß meines Roger Baco, den ich prophetisch mit dem Lobe unserer Königin schließen lasse, das ich jetzt, nach der Rede jenes talentvollen Schreibers, wohl in ganz andere Verse umsetzen könnte.«

»Da wir nun allein sind«, sagte der Squire, »so laßt mich zu Euch wie zu einem Freunde sprechen und vergebt mir im voraus, wenn ich von diesem Titel vielleicht schon zu früh einen etwas freien Gebrauch mache. Ich habe zum Teil, werter Herr Marlow, die Reise gemacht, um Euch kennen zu lernen; es ist mir gelungen, und ich würde noch glücklicher sein, wenn ich Euch auf irgend eine Art nützlich werden könnte. Ich bin wohlhabend, und da ich gehört habe, daß Ihr zuweilen um jenes armseligen Metalls willen in Verlegenheit seid, so sagt mir, mit wieviel ich Euch dienen kann, und es stehen meinem geehrten Freunde, wenn er mir über mein Vertrauen nicht zürnen will, zweihundert Pfund zu Gebote.«

Marlow hatte mit sichtlicher Verlegenheit zugehört, sein ganzes Gesicht war brennend rot, die feurigen Augen waren halb geschlossen und zur Erde gewendet, die etwas zu vollen Lippen wie im Trotze ausgeworfen; Green betrachtete den Fremden erst mit großen Blicken, dann räusperte er, ungewiß, was sein Freund sagen würde, und trank in langsamen Zügen. Nach einer Pause erst antwortete Marlow:

»Ihr seid ein edler, freundlicher Mann, und wer wäre ich, wenn ich mit einem solchen um seine Großmut zürnen wollte? Vertrauen aber um Vertrauen; so nehmt mein Wort, daß ich Eurer Hülfe nicht bedarf, daß Ihr aber der Erste sein sollt, bei dem ich sie suche, sobald ich sie nötig habe. Wenn Ihr aber so mein Freund sein wollt, wie Ihr Euch anbietet, so laßt mich diesem Ablehnen eine Bitte hinzufügen, wodurch ich Euch mehr zu ehren denke, als wenn ich selbst Euer Schuldner würde. Seht, mein teurer Green dort ist schon seit lange in der drückendsten Not; so leicht sein Sinn ist, so fühlt er sich doch durch sie in Fesseln geschlagen, und, was am meisten zu bejammern ist, sein herrliches Talent wird dadurch gelähmt, das (mag ich auch vorher etwas prahlerisch gesprochen haben) es zum mindesten mit dem meinigen aufnehmen darf, wenn es nicht überwiegt, denn wenigstens muß ihm der Vorzug einer größeren Vielseitigkeit unbestritten bleiben. Diesen wackern Mann könnt Ihr durch Eure Großmut wahrhaft beglücken, denn er triumphiert dann über die Mißhandlungen gemeiner Geister, die wohl schadenfroh sein Elend verspotten, aber niemals seinen hohen Sinn begreifen können.«

Der Squire stand auf und umarmte den verehrten Dichter mit Herzlichkeit; darauf kehrte er sich zu Green, der über diese Wendung des Gespräches höchst betroffen war, und sagte mit Rührung: »So habe ich mir immer die Freundschaft unter Dichtern gedacht, und nicht ich, nein, Euer Freund Marlow, werter Green, schenkt Euch hiermit diese zweihundert Pfund. Wenn die Summe Euch aus der Verlegenheit reißt, so dankt ihm dafür, nicht mir; doch kann ich in Zukunft noch etwas hinzufügen, um Euer Leben einzurichten, so werde ich stolz darauf sein, wenn Ihr Euch mir nachher auch einigermaßen verpflichtet glaubt.«

Green erhob sich, überrascht, verwirrt, ja in Freude vernichtet. »Christoph!« rief er aus und fiel dem schlanken Manne um den Hals; »du bist ein ausbündiger« – – Er wollte noch mehr sprechen, aber Thränen und Schluchzen unterbrachen seine Rede. Etwas gesammelter wendete er sich zum Edelmann. »Ihr nehmt mich aus der Hölle«, rief er begeistert, »großmütiger Mann! Erst jetzt, da ich erlöst bin, kann ich die ganze Größe meines Elends überschauen; erst jetzt darf ich es wagen, ein Glück für möglich zu halten, dem ich schon auf ewig den Rücken zugekehrt hatte.«

Er mußte sich niedersetzen, so fühlte er sich erschüttert. Marlow suchte ihn zu beruhigen; der Fremde selbst war von dieser Äußerung der Freude bewegt. »Siehst du?« sagte Green zu Marlow, »erlebst du es, daß dein Gespött nichts, nichts ist? Ja, ich will in Eurer Gegenwart auch immer so hohen Geistes sein wie Ihr, ich schäme mich dann, demütig, gut und fromm zu erscheinen. Als der böse, liebe, herrliche, verruchte Christoph, der Gott mit dem Munde leugnet und doch so oft nach seinen Geboten handelt, der jetzt eben als Christ und Samariter und Gläubiger mit mir umgegangen ist, als dieser fromme Bösewicht gestern von mir gegangen war, nachdem wir wiederum mit fröhlichem Herzen und eitler Zunge den Himmel hinweg gespottet hatten, da legte ich mich in der Einsamkeit meiner vier kahlen Wände, von dem bleichen, stummen Angesichte meines armen Wirtes um die alte Schuld gemahnt, von den bittenden Augen, nicht von der stürmenden Zunge, zerknirscht und weinend nieder. Schon während unserm Sprechen und Lachen war ich in zagender Angst vergangen. O Himmel! wie lügt man doch oft dann am allerschlimmsten, wenn die Wahrheit in hunderttausend Thränen aus den Augen brechen möchte! Nun richtete ich mich in der stillen Mitternacht zum Beten, mein ganzes Herz zerknirschte sich in Demut, mein frecher Sinn wurde zum Kinde vor dem Herrn; ach! ich hatte gar nicht den Mut, um Hülfe und Rettung zu flehen; nein, ich bat nur, daß mir der Herr diesen Glauben und diese Stimmung erhalten, daß mich mein guter Engel nur mit so viel Dreistigkeit ausrüsten möchte, um meinem Freunde gegenüber zu beharren, daß ich den Allgütigen nicht mehr verleugnete. Und sieh! der Engel hatte meinen Schutzgeist schon in dieses Haus geführt, und er hilft mir, und mein Christoph hilft mir zu dieser Hülfe, und ich kann Gebete und Dank stammeln, und ich darf nun das Angesicht meiner Emmy wiedersehen, und sie wird mit meinem Sohne zur Stadt kommen.«

»Da seht Ihr den armen guten Sünder!« sagte Marlow lächelnd, indem er sich die Thränen vom Auge trocknete.

»Beruhigt Euch, lieber Green«, sagte der Squire; »ich höre, Ihr seid Gatte und Vater.«

»Wie schneiden«, rief der erschütterte Dichter, »diese beiden Worte durch meine Seele! Ich Vater? Ja, aber weniger, als der Rabe oder der Wolf gegen sein Junges ist. Ich weiß es, daß mein Sohn daheim darbt, daß seine kindische Zunge meinen Namen lallt: – aber der Vater, der Gatte sitzt fern von ihm, sieht seine klarleuchtenden Augen nicht, die Händchen nicht, die nach dem Brote langen, das ihm die weinende Mutter bringt, und verschweigt die letzten Groschen, ja die Thränen der Mutter, das Blut des Kindes im Weinhause; von den Gläubigern verfolgt, vom Pöbel verhöhnt, vom rechtlichen Bürger verachtet, kaum von einem Schwachherzigen bemitleidet. Dieser Vater vergißt die Mutter seines Kindes, der er tausend Meineide schwur, deren Jugend er ermordet, deren Herz er gebrochen, deren zarte Liebe und grenzenlose Hingebung er mit Leichtsinn und Untreue erwidert hat. Dieser verlorene Niederträchtige schwärmt hier unter den Thoren der Welt umher, mit Lied und Vers, Lachen und Scherz seine trostlose Verzweiflung verlarvend, und maßt sich an, seine Brüder, die alle besser sind, zu erheben und durch Sang und Saitenspiel, Tragödie und Moral auf den Pfad der Tugend zu leiten; er, der vom Bettler und vom Gefangenen in Ketten selber noch lernen sollte, auf den der Büttel mit verachtendem Mitleid herabblicken würde, wenn er ihm in sein unverhülltes Innere schauen könnte.«

»Genug«, sagte der Squire; »fühlt Ihr jetzt, was Ihr sagt, so mäßigt auch Eure Klage und Selbstverachtung, um Kräfte zum bessern Wandel zu behalten. Um so glücklicher trifft meine oder, wie ich sagte, die Gabe Eures Freundes ein, wenn sie nicht bloß Eure äußere Lage verbessern, sondern auch Euer zerrissenes Herz heilen und Euch Eure verlorne Ruhe wiedergeben kann.«

Marlow bemächtigte sich des Gespräches, um die zu gerührte Stimmung des Unglücklichen abzuschwächen; der Fremde ging ebenfalls auf diese Absicht ein, und so gelang es nach einiger Zeit, die stürmende Erschütterung zu beruhigen. Marlow erzählte von seiner Jugend und seinen Universitätsjahren, von der kurzen, aber sonderbaren Zeit, in welcher er als Schauspieler, doch ohne Glück, aufgetreten war, und wie er sich hierauf bald entschlossen habe, nur der Ausübung der Dichtkunst zu leben.

»Auch ich stand einmal auf den Brettern«, sagte Green, »und unter viel sonderbarern Umständen als Freund Christoph. Als ich meine Studien vollendet hatte, reisete ich mit zwei jungen reichen Edelleuten, deren Freundschaft ich mir auf der Universität erworben hatte, in die Welt hinein. Jung, gesund, übermütig, niemals Mangel fühlend, Geld vollauf, bedurften wir in unsern thörichten Herzen keines Gottes und keiner Vorsehung und Tugend. Witz und Scherz, Ausgelassenheit und Freude, Genuß und Übermut waren unsre Götter, und ich hielt mich in jenen Jahren für den glücklichsten aller Menschen, da es mir mit dieser völligen Sorglosigkeit vergönnt war, die herrlichen Fluren Italiens zu durchstreifen und die Küsten und zaubervollen Gebirge von Andalusien und Granada zu besuchen.Diese Reisen Greenes fallen in die Zeit zwischen 1578 und 1583. Die Rede Greenes stützt sich ganz auf seine eignen, in der oben erwähnten Selbstanklage niedergelegten Bekenntnisse. Die Großmut meiner Freunde zeigte sich darin, daß sie mich ganz wie ihresgleichen behandelten und das Vermögen, welches sie für diese Reise bestimmt hatten, mit mir teilten, so daß ich mich daran gewöhnte, ganz in ihrer Gesellschaft als Edelmann zu leben, zu verschwenden, zu prahlen, Händel zu suchen, Liebschaften teuer zu erkaufen und im Spiel betrogen zu werden, aber nicht daran dachte, daß diese Verwöhnung mich für mein ganzes Leben elend machen könne, wenn ich einmal von meinem Traume erwachte, wie es doch geschehen mußte. Wir kehrten, als die Jahre verflossen waren, wieder nach England; der eine dieser Freunde starb, der andere begab sich in die Einsamkeit und ließ sich von einigen Puritanern bekehren, so daß er sein Leben der Reue und Buße widmete, ohne sich um den Gefährten seiner Sünden zu kümmern. Ich ging zur Universität zurück, um meine Studien fortzusetzen und die akademischen Würden zu erlangen. Durch Vorsprache angesehener Gönner bekam ich nach einiger Zeit eine Pfarrstelle in der Grafschaft Essex. Ländliche Einsamkeit, Ruhe des Gemütes in schöner Natur, ein einfacher Beruf und Fortsetzung meiner Studien, alles das hatte ich mir so poetisch ausgemalt, daß ich mich einige Monate hindurch zwang, mich recht glücklich zu fühlen. Aber freilich kehrten die Gebilde, und in immer glänzendern Farben, von Neapel, Tarent, Cadiz und Malaga in meine Seele zurück; alles, was ich genossen hatte, alle Bekanntschaften, die Kunstwerke, die lustigen Scherze und Gespräche, Venedigs verführerische Schönheiten, die wollüstigen Tänze Spaniens berauschten in der Erinnerung meinen Geist, und wenn ich dann erwachte, so erschien mir die enge Gegenwart, in welcher ich mich befand, noch trüber. Noch schlimmer aber war es, daß ich kurz vor meinem Einzug in die Pfarre in London einige Schauspiele hatte aufführen sehen. In Italien hatte mich das Theater nicht sonderlich angezogen; und obgleich Spieler wie Gedichte in Spanien besser waren, so lebte ich doch zu sehr in Zerstreuungen, als daß ich mich an dieser Form der Dichtkunst sonderlich hätte erfreuen können. In London aber sah ich eine Art zu spielen, ich vernahm eine so natürliche Recitation, daß meine ganze Seele von diesen Gedichten durchdrungen wurde. Meine Kirche, mein Amt, die Einsamkeit wurden mir verhaßt. Es gibt nichts so Unglückliches als einen Menschen, der seinen Beruf verfehlt hat. In Träumen spielte ich Tragödie und Komödie und erfreute mich des Beifalls. Der böse Geist in mir ließ mir keine Ruhe, ich gab mein Amt auf und ging nach London. Man empfing mich mit offenen Armen, denn ich hatte einige Stücke vorausgesandt, an denen sich die Menge erfreute. Ich trat nun in fremden sowie in meinen eigenen Komödien auf; der Zulauf war außerordentlich, denn viele kamen, um den Dichter zu sehen, den sie schon liebten; andere, um sich an mir zu ärgern, daß ein Priester so freventlich den Beruf mit dem Gegenteil desselben umgetauscht hatte; wieder andere zog die Neugier und die Seltsamkeit der Sache herbei. Man wollte mich bereden, ich habe Talent, um ein RosciusQuintus Roscius Gallus (ca. 134–61 v. Chr.), berühmter römischer Schauspieler. zu werden: aber, sei es nun, daß es mir mangelte, oder daß meine Unruhe mich wieder vertrieb, es wurde mir dieser Stand noch früher als mein voriger unerträglich. Jetzt lernte ich bei meinem Umtreiben im Lande meine Emmy kennen. Nun wußte ich erst, was Liebe sei, die ich schon so oft geschildert hatte. Der Vater, Besitzer eines kleinen Gutes, wollte aber von meiner Bewerbung nichts hören, er wies mich schnöde ab und rückte mir meinen Mangel an Charakter und Festigkeit vor. Die himmlische Erscheinung des Mädchens, meine Leidenschaft zu ihr, die Liebe, die sie nach und nach zu mir gewann, machten mir alles möglich. Kein Opfer war mir zu groß, kein Unternehmen zu schwierig, keine Anstrengung ermüdend, um sie nur die meinige zu nennen. Die Eltern mußten endlich in unsere Verbindung willigen, auch sie hatten ihr voriges Mißtrauen vergessen und mich liebgewonnen. Der ersehnte Tag war da. Ich errichtete eine Schule, und alle Kinder der angesehenen und wohlhabenden Leute in der Nachbarschaft wurden mir anvertraut. Die Gegend war schön, meine Gattin glücklich, ich fühlte mich wie im Elysium. Des Himmels Segen war sichtbar, der Garten, die Frucht des Feldes gedieh, und nach einem schnell entschwundenen Jahre war ich Vater eines Knaben. Da – –«

»Warum haltet Ihr inne?« fragte der Squire; »ich errate schon Euer neues Unglück.«

»Nein, Sir, gewiß nicht«, erwiderte Green, indem sich ihm die Augen wieder von Thränen feuchteten. »Da fiel uns eine Erbschaft in London und mit ihr ein Prozeß zu. Die Sache schien für uns bedeutend, wenn auch die Summe selbst nicht groß war. Es sollte jemand nach London gesendet werden, um das Geld zu heben und den Prozeß einzuleiten; ich weigerte mich, denn es war mir, als sähe ich meinen bösen Engel schon in der Ferne stehen, der meiner wartete. Endlich, durch das liebreiche Bitten meiner Gattin ließ ich mich bewegen – und seitdem – es sind jetzt zwei Jahr – sitze ich hier, habe mir nach und nach einen Teil ihrer Aussteuer unter diesem und jenem Vorwande senden lassen, habe ihre Erbschaft verschwendet sowie die Summe, die ich durch den Prozeß gewann, bin nun aller Welt schuldig, von Reue zerrissen, und habe ihr, der Frau, seit zehn Monaten kein Wort geschrieben, um sie in den Armen einer nichtswürdigen Buhlerin zu – vergessen? Nein! aber sie und mich zu entwürdigen und meine Seele für die Hölle zu reifen.«

Nach einigem Hin- und Herreden wurde beschlossen, daß der bedrängte Green von der geschenkten Summe seine Schulden bezahlen und seine Gattin nach London kommen lassen sollte, damit man gemeinschaftlich mit ihr einen Plan für das künftige Leben des Dichters entwerfen könne. Man trennte sich jetzt mit der bestimmten Abrede, sich recht bald wieder zu versammeln; Green begleitete seinen Wohlthäter, der in der Gegend des Towers einen Vetter aufsuchen wollte, mit dem er ein Geschäft abzumachen hatte, und Marlow ging mit dem Pagen, um dem freundlichen Edelmann eine ruhige Wohnung in SouthwarkDer südliche Stadtteil Londons, rechts der Themse; der Tower, die allbekannte Citadelle Londons, in der Nähe der Londonbrücke, am Nordufer der Themse. zu mieten.


Marlow hatte viele Not, den jungen Menschen durch das Gedränge des Volkes zu bringen: denn da ihm alles neu war, so blieb er, ohne es zu wissen, stehen, um es genau in Augenschein zu nehmen. Bald zogen ihn die geschmückten Reiter mit ihren Dienern an, bald die Kutschen, die er noch niemals gesehen hatte, dann die Soldaten oder die Schilder der Häuser, die mit den mannigfaltigsten Gemälden von beiden Seiten in die Straße hinein hingen. »Wie heißest du, mein Sohn?« fragte Marlow. – »Ingeram.« – »Warst du noch nie in der Stadt?« – »Auch noch nicht einmal in einer kleinen.« – Bliebest du gerne hier in London?« – »Hier muß es sich freilich wie im Himmel wohnen, aber mein Herr reiset bald wieder zurück, und dann muß ich auch mit ihm nach Hause. Sagt doch, was ist das für eine lange Straße hier?« – »Das ist die berühmte Londoner Brücke.« – »Brücke? Seh' ich doch kein Wasser!« – »Sie ist von beiden Seiten mit Häusern und Kaufmannsgewölben überbaut.« – »Und wo ist das Wasser geblieben?« – »Wo es immer war: aus allen diesen Häusern sieht man auf den Fluß hinab.« – »Schaut! wieder Soldaten! Was die Männer wild und trotzig dreinblicken! Sagt mir doch, mein vornehmer Herr, sehen denn wie diese Leute alle die Könige aus, der in Frankreich und Schottland?« – »Warum?« – »Weil mein Squire meinte, Ihr hättet eine königliche Miene.« – »Du findest mich also auch mehr soldatisch? Und wie muß denn, nach deiner Meinung, ein König aussehen?« – »So recht nachdenklich, so sanft und milde, als könnte jedermann, auch der Reichste, eine Gnade von ihm erhalten; nicht lachend, aber doch so freundlich, daß jeder ein Zutrauen zu ihm faßt und auch der Vornehmste sich freut, wenn er ihn anlächelt. So habe ich mir aus dem Amadis oder dem Bevis»Amadis von Gallien«, berühmter Ritterroman; das portugiesische Original, um 1370 von Basco de Lobeira verfaßt, ist verloren; eine spanische Bearbeitung von Garcia Ordoñez de Montalva (um 1500) wurde unzählige Male fortgesetzt, nachgeahmt und übertragen. – Bevis of Hampton, englischer Sänger zur Zeit Edgars. Wahrscheinlich liegt aber ein Druckfehler vor, und es ist Selvis zu lesen. »Selvis (oder Silves) de Selva«, eine Nachahmung und Fortsetzung (13. Buch) des »Amadis«. die Könige immer gedacht, wenn sie nicht etwa Tyrannen vorstellten.« – »Und das alles, was du beschrieben hast, sahst du in jenem unansehnlichen Schreiber?« – »Ich zitterte vor ihm, denn ich dachte erst, das müßte der alleroberste Mann in ganz England nach der Königin sein. Mein Herr sprach von Poeten, und ich wußte noch nicht, daß das einen Dichter bedeutet. Ist ein Schreiber aber nicht wenigstens auch ein Poet?«

Bei dieser letzten einfältigen Frage trat Marlow in einen Krämerladen, um ein Paar wohlriechende Handschuhe zu kaufen. Die gutgebildete Frau war sehr freundlich und schien sich geschmeichelt zu fühlen, daß der schöne angesehene Mann so vertraulich mit ihr scherzte. Der Page betrachtete mit Entzücken die Aussicht über den Fluß, nach dem Tower hinüber, welche sich ihm, da die vordere Thür offen blieb, durch die Fenster des hinten liegenden Gemaches darbot. Marlow war schon wieder auf der Gasse, als der Page noch immer mit offenem Munde die Landschaft bewunderte. »Kleiner Mann!« rief ihm der Dichter zu, »komm jetzt und präge dir mit Aufmerksamkeit den Weg ein, damit du mit deinem Herrn nachher das Haus wieder auffinden kannst.« – »Häuser auf der Brücke!« rief der Page, »und in der Hinterstube mächtigen Fluß und grüne Wiesen!«

Als sie jetzt von der Brücke herunter und nach der Straße rechts einbogen, trat ihnen mit freiem Wesen und leichtem Schritt, lachend und laut sprechend, ein schönes weibliches Geschöpf entgegen. »Ei! wie kommst du hieher?« fragte Marlow erstaunt, »in diese Vorstadt?«

»Und du?« rief die Schöne, »wo hast du denn, Stoffel, den allerliebsten Wetterhahn her?« – Sie streichelte dem Pagen die Wange, das Kinn hinunter, und in der anmutigen Bewegung fiel das weite Gewand von der runden glänzenden Schulter, so daß diese und fast die ganze linke, volle und blendend weiße Brust frei wurde. Sie eilte auch nicht, sich zu bedecken, so daß der junge Landmann hier noch fester gebannt stand als auf der Brücke oder in den Straßen. – »Laß das Kind«, sagte der Dichter etwas ungestüm; »so vornehm bin ich noch nicht geworden, daß es mir angehören sollte. Dieser gute Ingeram folgt als Page einem Squire vom Lande, der fürs erste drüben in der Seejungfer abgestiegen ist.«

»Sieht man Euch bald, Stoffel?« fragte die leichtfertige Schöne. – »Morgen, Fanny«, sagte Marlow, »komm' ich nach DeptfordOrt bei London (jetzt Vorstadt) am rechten Themseufer, zwischen Southwark und Greenwich. und da hoff' ich auch noch zu erfahren, welch Abenteuer dich hieher geführt hat in diese verdächtige Nähe.«

»Eifersüchtig?« sagte sie mit lautem Lachen, »o armer Stoffel!« – Ehe Ingeram noch wußte, wie ihm geschah, drückte sie ihm einen zärtlichen Kuß auf die frischen Lippen, und als sie des Dichters verdrüßliche Miene sah, umarmte sie diesen ohne alle Scheu auf offener Straße, indem mancher Zuschauer lachend oder kopfschüttelnd die heitere Szene betrachtete; dann hüpfte sie an den Häusern über die Brücke hinweg. Ingeram blieb eine Weile stehen und wandte sich dann unwillkürlich, um der glänzenden, verführerischen Erscheinung zu folgen. »Dummkopf!« rief ihn der ungeduldige Marlow zürnend an, und beide gingen nach dem Hause, das am Flusse lag. –

Green und der Squire eilten indes die Straße hinab, welche nach dem Tower führte. Ein Schreien und Lärmen erhob sich, und als sie um die Ecke bogen, sahen sie den tobenden Pöbel, welcher einen Mann verfolgte, der langsam daherschritt und die starren Augen auf den Boden heftete. Sein schwarzes Haar hing unordentlich um sein Haupt, und als er jetzt, indem er vorüberging, das Gesicht erhob, bemerkte der Fremde, daß es aufgelaufen und rot war, so daß die unförmlichen Wangen die kleinen, tiefliegenden Augen fast ganz verhüllten. Er warf ihnen murmelnd einen stechenden Blick zu und schritt gravitätisch weiter, indem ihm die Jugend schreiend nachlief.

»Kennt Ihr die widerwärtige Gestalt?« fragte der Squire. – »Nein«, antwortete Green, »er scheint einer der schwärmerischen Puritaner zu sein, die oft erbauliche Reden an das Volk halten wollen und dadurch nur Hohn und Gelächter erregen.«

Das Gespräch ward unterbrochen, indem ein wohlgekleideter Mann auf den Squire zulief und ihn mit dem Ausruf: »Vetter!« in die Arme schloß.

»Ei, Vetter Arthington!« rief der Edelmann; »wie unerwartet! Soeben wollte ich dich in deiner Wohnung aufsuchen. – Lebt wohl, Herr Green, holt Euch heut' noch das ab, worüber wir sprachen, und laßt uns recht bald wieder zusammentreffen.«

Green verließ seinen Wohlthäter, und Arthington sagte: »Ei! ei! Vetter! Wie kommt Ihr, da Ihr doch nur seit kurzem erst in London sein könnt, schon an diesen ruchlosen Menschen?«

»Er ist der bekannte Dichter Green«, antwortete der Edelmann.

»Ich weiß es wohl«, erwiderte jener, »er ist einer von denen, die in der Satans-Livree gehn. Er schreibt ja für die Theater der Gottlosen, die den Herrn verhöhnen und mit bemalten Angesichtern rasen, ja sich nicht entblöden, sich als Weiber zu entstellen.«

»Bist du hier so fromm geworden?« fragte der Edelmann; »das ist auch wohl die Ursache, daß ich auf keinen meiner Briefe Antwort erhalten habe und daß mein Geschäft ganz eingeschlafen ist?«

»Du hast recht«, antwortete Arthington, »alle weltlichen Angelegenheiten sind meinem erweckten Geiste ziemlich weit entrückt worden. Du mußt die Gemeinschaft der heiligen Männer, der Apostel, suchen, die mein ganzes Herz umgekehrt haben; dann wird dir auch dies weltliche Treiben so gleichgültig werden wie mir, wenn dich der Herr erst gesucht hat, nachdem du ihn gesucht, und wenn der Geist in deinem Innern die Wiedergeburt und die neue geheimnisvolle Taufe an dir verübt und zubereitet hat. – Doch laß uns in mein frommes, demütiges Haus eintreten!«

»O mein Prozeß! o mein Geldgeschäft! o mein Landgut!« seufzte der Squire, indem sie die Treppe hinanstiegen, »die ich hier diesem Dummkopf anvertraute, dem andere Narren unterdes seinen wenigen Verstand völlig geraubt haben.«


Emmy, die Gattin Greens, war nun mit ihrem Kinde nach London gekommen. Als der Dichter die Nachricht erhalten hatte, ging er beschämt und tief erschüttert nach dem Hause, ebenso herzlich dies Wiedersehen wünschend, als er sich vor diesem Augenblicke fürchtete. Im blauen Kleide, blaß, aber immer noch reizend, saß die große, edle Gestalt, den Knaben auf dem Schoße, der schon nach dem Vater gefragt hatte, als dieser in die Thüre trat. Sein Auge begegnete sogleich ihren hellen Blicken, sie breitete die Arme nach ihm aus, und er sank weinend und schluchzend zu ihren Füßen nieder. Das Kind, ohne die Szene zu begreifen, weinte herzlich mit, da es seine Eltern so in Thränen sich auflösen sah. Der Knabe war es auch, welcher zuerst zu reden anfing, indem er fragte: »Mutter, ist dieser mein Vater?« – »Ja, mein Kind«, sagte sie, indem sie das große blaue Auge liebevoll emporhob und dem Vater die Hand reichte, daß er aufstehen sollte. – »Nun, so weine nicht«, sagte der Kleine, »du hast ja schon zu Hause genug geweint.« – »Laß mich noch hier zu deinen Füßen liegen«, rief Green, »daß ich mich nur etwas erst fasse und wieder erkenne, daß ich es erst nur wieder glauben kann, du seiest da und habest mir vergeben. Ach, gütiger Gott! daß du noch lebst, daß mein Kind noch atmet, daß mein unwürdiges Auge euch beide wiedersehen darf, wodurch habe ich es bei jener unendlichen Barmherzigkeit verdient, die auch den elendesten Sünder nicht ganz verstößt?«

»Wir wollen uns nicht«, sagte die schöne Frau, »zu tief erschüttern; des Grames sei, der Leiden ein Ende. Ach! möchte doch jene schöne Zeit zurückkehren, als wir in unserer Einsamkeit so glücklich waren! Mein Vater wird sich uns versöhnen, wir werden einen friedlichen, stillen Wohnort finden, unser Herz wird sich wieder beruhigen, und du, Armer, Guter, sollst alsdann wieder lernen, in einfach wiederkehrenden Freuden, in meiner Nähe, im Spiel mit deinem Kinde, in Arbeit und ländlichen Spaziergängen so wie ehemals dein Glück zu erkennen. Glaube nur, ich habe dich niemals, auch in den herbesten Stunden, verkannt. Weiß ich denn nicht, daß alles, was die Menschen an dir tadeln, was du selber schiltst, so innig mit deinen schönsten Eigenschaften verbunden ist, daß du gerade so bist, wie du bist, weshalb ich dich lieben mußte? Wie könnte ich dich also strenge verurteilen? Nein, mein geliebter Robert, mein Herz war gekränkt und zerrissen, aber zürnen konnte es dir nicht. Glaube mir nur, die wahre Liebe kann nicht verdammen, auch in der bösesten Verirrung des geliebten Gegenstandes sieht und erkennt sie noch den göttlichen Funken, der in dir niemals, niemals erlöschen kann. Das war ja mein Schicksal, die Wonne und die Qual meines Lebens, daß ich dich fand; sowie ich das erste Mal in dein helles, freundliches Auge sah, stand in der Ahndung alles, was ich noch erleben würde, ganz nahe vor mir. Warum ging ich dir denn entgegen? Warum that mir dein Blick so wohl? Ich fühlte ja das Schwärmende, Wilde deines Wesens, das doch so weich und gut ist; dieses Ungewöhnliche, dies Edle und Seltsame, was die Menschen auch schon damals verkannten, zog mich ja zuerst an, es band mich fest an deine stürmende Seele, und ich konnte, ich wollte, ich durfte nicht zurücktreten, als du mir deine Liebe gestandest.«

Sie umarmten sich herzlich. »Aber wie?« begann Robert nach einer Pause, »kann der Mensch nur gegen Neigung und Überzeugung vom Guten abfallen und sich dem Bösen zuwenden? Noch unbegreiflicher, wenn die Tugend sich in herrlicher, glänzender Gestalt darstellt und das Laster im trüben, nur geborgten Schimmer! Muß man nicht glauben, daß böse Geister den armen Menschen beherrschen und dessen schwache Stunde belauern? Niemals, in keiner Sekunde meiner Abwesenheit hatt' ich dich vergessen. Ich fluchte mir, daß ich entfernt war, das Leben hier war mir kein Leben, und doch konnt' ich die Kraft, die geringe, nicht auffinden, um zu dir zurückzukehren.«

»Vater«, lallte der Knabe, »Mutter hat mir vorgelesen, oft, von dir und Verse: ein ganzes Buch, du hast es gemacht; wenn ich groß bin, will ich auch ein Dichter werden.«

»Nein, mein Kind«, sagte Green, »thätig, arbeitsam sollst du werden, ein einfacher Mensch. Du sollst, wenn ich es verhindern kann, die gefährliche Bahn nicht wandeln.«

Der Squire trat zu ihnen und freute sich der beglückten Menschen. Man entwarf Plane, wie die Familie und wo sie leben sollte; der Fremde wollte sie unterstützen und auch die Versöhnung mit dem Vater zu vermitteln suchen.


Am folgenden Tage durchstrich der Squire die große Stadt, teils um sie zu betrachten und die Gebäude und Merkwürdigkeiten wieder in Augenschein zu nehmen, die er schon vor Jahren hatte kennen lernen; nebenher aber auch in der Absicht, vielleicht seines Pagen wieder ansichtig zu werden oder Nachrichten von ihm zu erhalten, der ohne alle Ursache, indem er selbst noch Lohn zu fordern hatte, ihm aus dem Dienst gelaufen war. Man hätte argwöhnen können, er sei verunglückt, wenn ihn nicht verschiedene Menschen in andern Teilen der Stadt gesehen und deutlich beschrieben hätten. Indem sich der Squire in den Park wandte, begegnete er seinem Vetter, der, als er diesen Vorfall hörte, sogleich ausrief: »Ja, liebster Vetter, dergleichen ist hier in der Stadt gar nichts Neues, so etwas fällt alle Tage vor: denn den Jungen hat wahrlich ohne alle Umstände der Teufel in eigner Person abgeholt.«

»Arthington!« rief der Squire, »besinne dich! Mann, du bist ja auf dem geraden Wege zum Narrenhause. Wie kann nur ein Vetter von mir so schnell aus der Art schlagen!«

»Spotte nur«, sagte jener, »die Erfahrung wird dich belehren. Du bist übrigens zur allermerkwürdigsten und wichtigsten Stunde zur Stadt gekommen, du wirst über die Dinge erstaunen, die sich binnen kurzem zutragen werden. Man darf noch nicht davon sprechen. Aber du sollst die Apostel selbst kennen lernen. Morgen, übermorgen, sobald du nur willst. Auch meinen vertrautesten Bruder, den Schulmeister Coppinger.«

»Ich habe mich nun wohl selbst überzeugen müssen«, sagte der Squire, »wie sehr du meine wichtigen Angelegenheiten vernachlässiget hast.«

»Angelegenheiten!« rief Arthington, indem er stille stand und mit festen Blicken nach dem Himmel sah; »dort oben, Freund, sind deine Angelegenheiten, mit den irdischen ist es bald völlig zu Ende. Der Kirche steht die allergrößte Reformation bevor, dem Staat eine Säuberung, und wenn es nicht auf dem Wege der Güte gelingt, so muß Himmel und Erde untergehen.«

»Verrückter Mensch!« rief der Squire unwillig aus, »so seid Ihr also ganz ein unkluger und ebenso verruchter Brownist geworden und wißt ja doch selbst, daß dieser Sektierer und Irrlehrer, Euer Apostel Brown,Robert Brown (1549–1630), Stifter der Sekte der Brownisten oder Kongregationisten, widerrief 1590, als er exkommuniziert wurde, reumütig alle seine Lehren, trat aber später wieder mit neuen Angriffen gegen die königliche Episkopalkirche hervor. schon seit zwei Jahren seine falsche und aufrührerische Religion widerrufen hat.«

»Die Wahrheit«, sagte Arthington, »kann kein Mensch widerrufen, und wenn der große Mann von sich selber abgefallen ist, wie ich nicht glauben darf, so wird seine Verantwortung an dem nahe bevorstehenden Tage um so schwerer sein; ich weiß dann nicht, wie er dem Coppinger wird Rede stehen können.«

»Was hat der Schulmeister, wie Ihr ihn nennt, mit dem Brown zu thun?«

»Er ist der Bote des Zornes und der Strenge«, sagte jener; »als ein solcher ist er ausgesendet worden, die Spreu vom Weizen zu reinigen.«

»Vielleicht seid Ihr selbst ein Apostel, Aberwitziger?« fragte der Squire ergrimmt.

»So ist es«, antwortete Arthington ganz ruhig, »aber ich bin der Bote der Barmherzigkeit, ich werde trachten, daß sich alles zum Guten füge; doch der uns sendet, wird, so fürchte ich, unerbittlich sein.«

»Und wer ist dieser?«

»Ein andermal«, sagte der Schwärmer, indem er geheimnisvoll abbrach.

Sie trennten sich, und der Squire, der des Suchens überdrüssig war, begab sich wieder in den Gasthof, wo er seine Freunde anzutreffen hoffte.


Man wollte sich zu einem heitern Mittagsmahl versammeln, und der Wirt, welcher nicht so ganz ohne Kenntnis der neuern Literatur war, tummelte sich rüstig, damit die gelehrten Männer, sowie der reiche Squire, mit seiner Einrichtung und dem Gastmahl zufrieden sein sollten. Außer Green und Marlow war noch der heitere Georg Peele eingeladen, ein älterer Freund der beiden Dichter, ein Mann, der in Glück und Unglück dieselbe unwandelbare Laune zeigte, niemals klagte und sich nie übermäßig freute. Seine einfache Kleidung sowie seine stille Miene kontrastierten sehr lebhaft mit dem Wesen des heftigen, satirischen Nash,Thomas Nash (1558 bis ca. 1601), Dramatiker und boshafter Satiriker. der klein und unruhig, braun und faltig im früh gealterten Gesicht, die schwarzen, vorstehenden Augen beständig hin und her bewegte, den großen Mund zum erzwungenen Lachen verzerrte und mit den unverhältnismäßig langen Armen weit um sich griff. Zwischen diesen rannte der runde Gastwirt geschäftig und lächelnd hin und her und freute sich, alle diese ausgezeichneten Männer in seinem berühmten Hause, der Sirene oder Seejungfer, zu einem fröhlichen und glänzenden Mahle versammelt zu sehen.

Die Tafel war in jenem obern Saale gedeckt, von welchem neulich der Squire in den untern hinabgeschaut hatte, um hier ganz ruhig und ungestört zu sein. Der Squire saß zwischen Green und Marlow, ihnen gegenüber richteten sich Nash und Peele ein. »Wir hätten unsern Schreiber«, fing der Squire an, »wohl auch noch in diese treffliche Gesellschaft laden sollen, denn er scheint ein junger Mann zu sein, der sich gern unterrichtet.«

»Verzeiht«, sagte Marlow, »er würde in dieser größern Gesellschaft sich nur geängstigt fühlen; denn unser Freund Nash ist nicht so mitleidiger Natur wie der gutmütige Green, der zwar mit der Feder beißend sein, aber mündlich keinem lebenden Geschöpfe etwas Scharfes sagen kann. Nash dagegen sucht Händel auf und ist erst recht aufgeräumt, wenn sich ein Gegenstand findet, den er mit seinem unbarmherzigen Witze zerreißen kann.«

»Darum eben«, rief Nash, »hättet Ihr diesen Schreiber oder Schneider, oder wie Ihr ihn nanntet, als Tafelverzierung mitbringen sollen. Bei den schwelgenden Römern war es Sitte, Goldfische neben sich zu stellen und an der Tafel sich am Wechselspiel der Farben, wie sich diese im Absterben wunderlich veränderten, zu ergötzen; aber viel erfreulicher ist es noch, das Farbenspiel auf dem Antlitz eines superklugen Neulings oder Dummkopfs wahrzunehmen, der bis zum Abstehn, Hinwelken und Verschmelzen durch Witz und Hänselei aller Art geängstigt wird. Ein solcher Tafelaufsatz sollte wenigstens immer zum Nachtisch gemietet werden, um mit dem Zucker die Verdauung zu befördern.«

»Jeder, der eingeladen wird«, bemerkte der Squire, »muß auf Wohlwollen und Höflichkeit rechnen können, sonst wird anstatt des Mahles ein solcher unglücklicher Fremdling geteilt und verzehrt. Sah mir doch der junge Mann auch nicht so aus, daß Ihr so unbedingt Eures Sieges gewiß sein konntet; denn diese stillen Menschen, die sich gern in sich zurückziehen, sind nicht immer die kurzsichtigen; sie führen oft scharfe Waffen bei sich, die dann um so gefährlicher werden, weil sie sie nicht zur Schau getragen haben; ihre Wehr ist jenen kurzen, dreischneidigen Dolchen der Italiener nicht unähnlich.«

»Dann hätte es«, fuhr Nash fort, »Stich auf Stich gegolten, ein Turnier, wo es wieder Freude macht, zu sehen, wer aus dem Sattel gehoben wird. Wenn ich aber unsern jungen Freund LodgeThomas Lodge (ca. 1556–1625), dramatischer Dichter, später medizinischer Schriftsteller. ausnehme, so hätten wir doch hier alles beisammen, was auf diese Art von Witz Anspruch machen kann, und darum glaube ich immer noch, jeder andere würde in unserer Gesellschaft viel zu kurz kommen.«

»Es geht mancher nach Wolle«, sagte Peele; »und welche Freude müßte es sein, unsern Haupt-Myrmidonen,Die Myrmidonen, eine alte achäische Völkerschaft in Thessalien, waren mit Achilleus vor Troja. den langarmigen Achilles Nash, mit der gebogenen, witzigen Nase einmal auf einen Stier laufen zu sehen, den er mit seinen kleinen, blöden Augen nur für sanfte Wolle gehalten hätte.«

»Der so oft Geschorene«, erwiderte Nash, »kann nur von einer einzigen Erinnerung alle seine Bilder und Gleichnisse hernehmen, weil ihm selbst die Haut noch immer von der wiederholten Operation wehe thut. Nicht wahr, Freund Green?«

Green fuhr aus seiner Zerstreuung auf und antwortete: »Vergebt, Freund, ich weiß nicht so recht, wovon Ihr eben gesprochen habt.«

»Laßt diesen«, nahm Marlow das Wort, »er ist von seinem neuen Glücke so trunken, daß er jetzt eben für nichts anderes Sinn hat. Seit vielen Jahren war ihm das Gefühl fremd, ohne Schulden zu sein; Frau und Kind sind zu ihm gekommen, er will wieder aufs Land ziehn, er ist ausgetauscht, mit einem Wort, er ist ein ordentlicher Mann geworden,«

Alle sahen erstaunt den glücklichen Träumer an, lachten und tranken auf die Fortdauer seines Wohls und seiner Tugend. »Ja, ja«, rief Green hinüber, »hättet ihr es nur ein einziges Mal geschmeckt, wie süß die wahre Besserung sei, die nicht bloß im hitzigen Anlauf einige Tage währt, ihr alle würdet euch in dem schönen Lande anbauen und dort leben und sterben wollen, und kein Ulysses mit aller seiner Redekunst würde euch wieder zu jenen gefährlichen Irrfahrten verlocken können, die euch nur eine erträumte, glückliche Heimat vorspiegelten, um euch der Scylla und Charybdis oder den Künsten der Circe zu überliefern.«

»Eine artige Allegorie«, bemerkte Nash, »nur ist die wahre Tugend, Freund Robert, keine süße, verführerische Lotos-Speise, sondern der sie Ausübende muß ihr eben ohne Hoffnung des Lohnes dienen; denn unerfreulich und ohne äußere oder sinnliche Erquickung, ohne Reiz ist in der Regel des Tugendhaften Wandel. Wer sich schon oft hat bessern oder der Reue ergeben müssen, der kehrt vielleicht schon deswegen zur Untugend zurück, um das Herzerhebende der Reue oder die Lieblichkeit der Zerknirschung wieder zu genießen. Glaubt mir, Green, es ist ein gefährliches Spiel mit diesen Empfindungen, schlimmer, als dem Laster mit treuherziger Verstocktheit zu dienen; denn der ehrbare Wandel ist ein langweiliger Wandel, der Rechtliche weiß weder, was die Erhebungen der Seele in der Moral, noch die schwelgenden Thränen der Buße sind, er treibt sein Gewerbe, wie alles Wackere und Tüchtige geschehen muß, einen Tag wie den andern, ohne nur rechts und links zu sehen.«

»Worte eines Salomo!« rief Georg Peele; »ich weiß wahrlich nicht, ob ich jemals tugendhaft gewesen bin, ich habe meiner Schulden wegen in Gefängnissen gesessen, ich war frei und habe auf kurze Zeit den Wohlstand genossen, ich habe in guter und auch in recht schlechter Gesellschaft gelebt, ich habe Almosen gegeben und manchen Unglücklichen getröstet, aber freilich auch diesen und jenen um ein Stück Geld gebracht; doch niemals habe ich mich im Guten überhoben, oder mich der Traurigkeit ergeben, wenn es mir schlecht ging, sondern ich dachte, das müsse eben auch so wechseln wie das helle und trübe Wetter, wie Nacht und Tag, Gewittersturm und Frühlingswärme, Diese praktische Philosophie, diese stoische Ruhe und Passivität sitzt mir wie ein wärmender Pelz gegen Hagel und rauhe Luft.«

»Oder wie einer kalten Schnecke ihr elendes Haus!« rief Marlow. »Tugend! Laster! Unheil! rechtlicher Wandel! und wie die trocknen, unverstandenen Namen, die leeren Worte noch weiter lauten mögen. Wißt ihr denn auch wirklich, was ihr mit so hohlem Klang aussprechen wollt? Wenn einem Manne, so weit nur sein geistiges Auge in die unergründlichen Tiefen seines Innern hinabreicht, allenthalben eine Unermeßlichkeit von Frühling in allen Farben entgegenblüht, Kranz auf Kranz gedrängt, wenn er dort das Meer mit Sturm und singenden Sirenen sieht, Erdbeben und Flammen hier, und den Wechselschein der Liebe blitzend durch das Chaos, und dieser Begeisterte im trunknen Herzen den Mut faßt und zu sich sagt: ›Ich will ein Dichter sein!‹ so reißt er sich in diesem Ausruf unmittelbar von der Natur los, erkennt ihre für ihn unbrauchbaren Gesetze nicht mehr an, kann weder ihre Freuden genießen, noch von ihrer Trübsal gebeugt werden. Er zerschlägt im kühnen Mutwillen alle die künstlichen Kristalle, die dem Menschen unendliche täuschende Schimmer entgegenspielen, um ihn zu beglücken und zu kränken, und er erbaut sich selbst ein eignes Reich, eine neue Welt. Wie es ihm in seiner Einsamkeit ergeht, was ihm dort entgegenkommt, wie er mit sich und den Geistern abrechnet, das ziemt keinem zu fragen. Wie sich oft in der alten Welt Krieger oder begeisterte Männer freiwillig dem Tode und der Unterwelt weihten, so handelt der Dichter noch jetzt. Er ist für das, was die Menschen Glück nennen, verloren, denn er hat in der Tiefe des Wahnsinns sich Haus und Garten erbaut; den unterirdischen, rätselhaften Gewalten hat er sich mit freiem Entschluß verpfändet; die Wunder des Geheimnisses dienen ihm, aber dafür, wie in den magischen Märchen, gehört er, der Faust, der Beschwörer, ihnen nach Ablauf seiner Zeit ganz und vollständig, und was sie mit ihm thun werden, hat noch keine Zunge aussagen können. Aber der Frühling, den er in den Winter hinein winkt, die Wundergestalten, die seinem Ruf gehorchen, die Erscheinungen, die gegen alle Naturgesetze, die im kühnen Scherz zerbrochen werden, aus dem Chaos wachsen, mit Lilienhänden die Engelsharfen schlagen und in das rauschende Saitengetön mit rubinroten Himmelslippen Gesang ausströmen, daß die tauben Felsensteine mit Zungen widerklingen: diese verjüngte, verklärte Natur, die das arme Menschengeschlecht aus den Händen dieser unglückseligen Verlornen empfängt, die Kränze, welche Geisterhände von oben herab und unten herauf einander reichen, daß der Dichter die Wunderkronen seinen Zuhörern austeile, dieses Heil, aus Elysium und Tartaros herauf gefördert, ist es denn doch, warum alle Menschen es der Mühe wert finden, weiter zu leben, was die Staaten eint und bindet und Vorzeit und Zukunft verknüpft. Und dieselben Menschlein nun, die ihr kaltes, dämmerndes Dasein an diesen eroberten Prometheus-Strahlen erwärmen, diese wollen dann schelten, wenn der Geheiligte, unterirdisch Geweihte nicht ihren Satzungen der Alltäglichkeit gehorcht? wenn der, der mit Jovis unsterblicher Bande zechen darf und der, an Plutos Tafel zugelassen, die Verdammten und Seligen mit Verwundern beschaut, wenn dieser die arme Sitte verletzt, in welcher jene kläglichen Gefangenen, um nur nicht ein Nichts zu werden, einhergehen müssen? Aber freilich, dreimal Wehe dem Faust, der den hohen Gewalten entspringen, Himmel und Hülle freibeutend stehlen und beide der nüchternen, alltäglichen Welt überliefern will, um nach dem Raube wieder der Insasse der Gewöhnlichkeit zu werden! Die Geister, die ihm dienende Freunde waren, jagen nun als vernichtende Feinde hinter ihm drein, die Welt stößt ihn aus, der Himmel erkennt ihn nicht an, Abgrund und Chaos gähnen ihm verschlingende Rachen zu. Wehe ihm, wenn er in friedlicher, stiller Ehe sich einem Weibe mit Eiden verrät, die, noch unausgesprochen, Meineide sein müssen! Die Arme verbrennt wie Semele unter Jupiters Umhalsung, und er, der Treulose, hat des keinen Gewinn! Doch die vielbesungene griechische Helene darf er sich von seinen Sklaven zuführen lassen, um in geheimnisvoller Buhlschaft in den Armen des Wahnsinns bis zur Vernichtung zu schwelgen. Nie konnte darum Green der Mann sein, der seinem Berufe gewachsen war. Wie die ausgestoßene JunoVgl. Homers »Ilias«, Buch 5, V. 18 ff. hängt er immerdar zwischen Erde und Himmel und wird in keinem der beiden Reiche jemals einheimisch herrschen.«

»O Schreiber! Schreiber!« rief Green aus.

»Was soll er?« fragte Marlow barsch.

»Nichts weiter«, antwortete Robert, »als auch eine etwas poetische Gegenrede zum Lobe der gewöhnlichen Alltäglichkeit halten. Ich bin der Sache nicht stark genug und erlebe meinen bessern Zustand auch viel zu kräftig, als daß ich ihn singen könnte. Ich weiß aber, daß sich auch über Reue und Buße etwas Erkleckliches phantasieren ließe.«

»Jawohl, Freund Robert«, fiel Nash ein, »habt Ihr doch selbst schon ganze Bücher davon vollgeschrieben, und diese Euere neueste Bekehrung wird gewiß wieder zu einem dicken Bande Stoff geben.«

»Ich bin so glücklich«, antwortete Green, »daß ich vielleicht nie wieder dichten werde. Kann ich mich mit meiner Familie versöhnen und irgend einen andern Erwerb in der Stille des Landes, an der Seite meiner Gattin und als Erzieher meines Kindes finden, so sage ich der Stadt und ihren Freuden, dem Apoll und allem jetzigen und künftigen Ruhme gern Lebewohl.«

»Nachruhm?« sagte Nash. »Inkommodiert Euch doch ja des Gespenstes wegen nicht, denn Ihr seid wohl schwerlich ein Sonntagskind, um es gewahr zu werden. Daß man noch nach meinem Tode so meinen Namen obenhin ausspreche und sich weder Hinz noch Kunz dabei denke, ihn auch mit Peter und Paul und allen NäschernWortspiel auf Nash. in Europa verwechsele, seht, um dieses kuriose Glück, das so viele Narren körnt,Weidmännisch: (durch hingestreute Körner) locken, kirren. mache ich mir den Finger noch nicht naß.«

»Es ist nicht so gemeint«, sagte Marlow ernst und feierlich. »Der Gedanke ist unter allen der schönste und erhebendste, daß noch entfernte Zeiten von mir wissen, daß mein Geist auf andern Zungen forttönt, neue Herzen begeistert, und meinem Angedenken und Liede die Thräne der Sehnsucht fließt, wenn diese Mauern hier längst Staub geworden, wenn die Vergessenheit mit ihrem blöden Auge und der breiten, plumpen Hand alle Denkmäler und Inschriften ungeschickt ausgelöscht, und ihr schwerer Fußtritt das Gebäude der Paulskirche und Westminster, die Gerichtshöfe und die Gärten entblättert und zertrümmert hat, daß dann noch hier oder in fernen Ländern Jünglinge und Mädchen entzückt sagen: ›Damals lebte Marlow, der Sänger, er, dessen Strophen uns noch jetzt die Winterabende zu Frühlingsmorgen machen!‹«

»Nachruhm!« seufzte Green still vor sich hin; »vielleicht weht er schon in dem unbegreiflichen Trost, der zuweilen im Andrang der bittersten Leiden unsere Schläfe kühlt.«

»Wer weiß denn überhaupt«, sagte Peele, »wie es in der Zukunft sein wird, und ob es denn überallÜberhaupt. nur eine Zukunft gibt. Wie wenig Vergangenheit besitzen wir im Verhältnis zur Dauer, die doch die Erde wohl schon überstanden hat! und welche Erschütterungen, Verwirrungen und chaotische Verdunkelungen wieder eintreten können, ist uns allen verborgen; und wenn wir nun doch einmal alle vergessen werden sollen, so kommt es auf ein paar Jahrhunderte früher oder später nicht an; ich meine immer, das, was wir geistig leisten, geht auf eine andere Weise, als wir es hier begreifen können, in die Zukunft und Ewigkeit über.«

»So muß es wohl sein«, fuhr Nash fort, »denn nichts Geistiges kann doch verloren gehen. Ist es wohl noch die Frage, ob die sogenannte Materie nicht durch den Geist, welcher durch alle Naturreiche verstreut ist, erhalten wird; und ob sie selbst etwas anderes ist als Geist, der bei der allgemeinen Maskerade nur etwas länger zögert, die Larve abzunehmen und sich kundzugeben?«

»Jawohl«, sagte Marlow; »denn ob er gleich ein Wunder ist, so verstehen wir doch den Geist, aber niemals die Materie. Sie ist ja nur etwas, in welchem sich der schaffende Geist offenbaren kann, und insofern sie fähig ist, mitzugehen, ist sie selber Geist. Die Temperatur wird doch einmal kommen, die sie von ihrem langen Schlaf erweckt. Und unsere Herzensbewegungen, Phantasieen und Einfälle, sind sie nicht vielleicht die innersten Springkräfte und Federn der übrigen Tiere, Pflanzen, Elemente und sogenannten toten Körper? Würde sich auch die Erde ohne den Menschen um die Sonne schwingen? Bräche das Eis der Meere von der Frühlingswärme? Flutete und ebbte das Meer? Was wir denken und schaffen ist denn doch wohl noch inniger als diese Erscheinungen, der Pulsschlag und Lebensatem der großen, unendlichen Natur. Was dies, was ich jetzt eben spreche und denke, im Innern von Afrika, in unbesuchten Landstrichen hervorbringt, kann niemand wissen, und kein Arzt kann mir sagen, ob Erdbeben in Amerika, eine verwüstende Überströmung des Ganges sich nicht in meiner Brust oder im Gehirn als Schmerz ankündigen mag. Und so wurzeln, wuchern und grünen auch jetzige Thaten, Gesinnungen und begeisterte Momente wohl in die unbekannte Zukunft hinein und schießen nach Jahrhunderten als Pfropfreiser in neuen herrlichen Thaten und Gesängen hervor, die mir eigentlich angehören.«

»Recht!« rief Nash, »das ist ganz meine Meinung; und so können wir durch Wunsch, Gedanken und kecken Einfall mehr ausrichten, wie so viele mit ihrem Arm und der eigentlichen sogenannten Handlung. Was trägt denn das Kind des Glücks auf den bäumenden Wogen, die es so oft zu verschlingen drohen, siegend über alle Abgründe hinüber? Ja, was ist denn eben dieses seltsame Wesen, welches die Sterblichen Glück nennen? Nichts als die Gesamtheit der Wünsche, der Liebe von Tausenden, unsichtbare Hülfe, die sich allmächtig jene aus lauter Geisterringen zusammenkettet und den Sohn des Glücks unüberwindlich hält und trägt. So war es mit allen Helden und Eroberern. Ihre Bewunderer, ihre Enthusiasten kämpften unsichtbar aus der Ferne neben ihnen. Sie werden der Abscheu der Welt – und dieselbe magische Gewalt stürzt sie auch in den Abgrund. Das trägt unsere Königin so aufrecht, daß Millionen Seelen hier und in den Niederlanden, in Frankreich und Deutschland, Italien, ja Spanien selbst bewundernd für sie streiten. Das ist es, was jene unüberwindliche Armada schlug und die Furcht Europas zum Hohn der Welt machte. Und in jenen Tagen, Freunde, bin ich mit meiner Seele ebenfalls in den vordersten, gefahrvollsten Reihen der Kämpfer gewesen, wenngleich mein Körper dazumal hier im Wirtshause saß; und so kann ich auch selbstgenügsam über jene Prahler lachen, die mich Taugenichts nannten und meinten, sie hätten mehr gethan, weil sie wirklich dabei gewesen. Als wenn die Kunst nicht größer und der Mut nicht ein zehnfacher sein müßte, so aus der Ferne hinüber noch Kraft genug weit hinwegschicken zu können, um magisch, bloß durch den starken, unüberwindlichen Willen den Feind des Vaterlandes zu schlagen.«

Alle lachten, doch Marlow wurde bald wieder ernsthaft und sagte: »So lächerlich sich vieles wenden läßt, so wissen wir doch immer nicht, wieviel unser Wille, ernstlich angespannt, auch in der Ferne vermag. Ob alle jene Zaubergeschichten, die sich ja auch in unsern Tagen wiederholen, indem man Bildnisse aus Wachs knetet, denen man dann einen Namen anhängt, und sie, mit allen Gedanken daran haftend, am Feuer schmelzen läßt, um den, den sie bedeuten, zu töten, nur Thorheiten seien, lasse ich dahingestellt. Wieviel Vermögen und Kräfte wir haben, ist schwer auszumachen; wissen wir doch nicht einmal, wie viele Sinne wir besitzen. Über die ziemlich groben körperlichen sind alle Menschen einig; aber neben diesem Reiz des Gefühls, neben dem geistigen Sehen, dem wollüstigen Schmecken, dem tiefsinnigen Hören und poetischen Geruch – diese Kraft der Rührung, das Vermögen, das Unsichtbare, Ferne, längst Vergessene sich unmittelbar zu vergegenwärtigen – die Ahndungsfähigkeit – diese sonderbaren Schauer, die das Haar aufrichten und mit Frost die Haut zusammenziehen, diese feinen, leise hinschwingenden Gefühle, die Wollust und Grauen vermählen, diese und andere Empfindungen, was sind sie denn sonst, als wahre Sinne, die nur tiefer liegen, die nicht immer thätig sind, aber dafür auch um so mächtiger wirken, die eben schon die nächsten und unmittelbarsten Organe des Geistes ausmachen, wenn die gewöhnlichen Sinne gleichsam nur die Überkleider und Staubmäntel über den Gewändern vorstellen?«

»Halt, Christoph!« rief Green, »in dieser Gegend, die Ihr darum vermeiden mußtet, seid Ihr völlig geschlagen; denn eben auch das, worin ich, wie Ihr sagt, Virtuosität besitze, die Fähigkeit zu bereuen, zu büßen, mich zu zerknirschen und zu verachten, diese Stimmungen sind auch nur Sinne und wahrhaft göttliche Sinne, in denen sich die überirdische Natur des Menschen am allerklarsten offenbart.«

Nash sagte: »Streiten wir nicht. Alles Denken, Fühlen, Dichten, Philosophieren und das ganze geistige Thun und Treiben ist nur eine Strömung, hierhin, dorthin; eine unsichtbare höhere Gewalt treibt in gelinder Wallung dieselbe Masse der Geistigkeit um unsern Erdball herum, und die nun unten stehen und gerade Maul und Kopf offen haben, empfangen den umkreisenden Spiritus und geben, was sie erhalten, in Bildern, Gedanken, Gleichnissen, mysteriösen Büchern oder Späßen wieder von sich. Und so wie sich die Materie immer wieder aus dem Tode von neuem erzeugt, so auch das, was wir Geist nennen. Beides sind Worte.«

»Großer Denker!« rief Peele; »ebenso gibt es nur eine gewisse Anzahl Schläge auf Erden, die einmal ausgeteilt werden müssen, und wenn ich sehe, daß jemand geprügelt wird, wie es damals unserm Nash begegnete, der von Gabriel HarveyGegen den Arzt Gabriel Harvey richtete Nash, ebenso wie Greene, mehrere seiner witzigsten und boshaftesten Pamphlete. die Schläge empfing, so sage ich im stillen: ›Gottlob! die wenigstens bekomme ich doch nun nicht‹. Die Denker sind auch ähnliche Märtyrer, die, da doch einmal gedacht werden muß, sich zum Besten des Ganzen der Mühwaltung unterziehen, und da schon so manche freiwillig nach diesem Denken trachten, so bleibe ich ruhig und denke nur das, was ich unausweichlich muß.«

Man stand jetzt vom Tische auf und begab sich in ein anderes Zimmer, um den Nachtisch von Zucker und eingemachten Früchten zu genießen. Als Marlow einen Augenblick am Fenster stand, rief er: »Da geht eben der Arzt, der stattliche Gabriel Harvey, mit dem Herrn HenslowPhilipp Henslow, Pfandverleiher und Theaterunternehmer in London; ihm gehörte z. B. das »Rose«- und das »Hoffnung«-Theater; ein von ihm geführtes Tagebuch, das von 1591 bis 1597 reicht und uns zufällig erhalten ist, gilt, obwohl es »verwirrt, unorthographisch und mit Unwissenheit geschrieben« ist (Tieck, »Kritische Schriften«, Bd. 1, S. 247), für ein wichtiges Dokument zur Geschichte des damaligen englischen Theaterwesens. vorüber,«

Nash lachte, und der Squire sagte zu Green: »Wie habt Ihr nur, den ich jetzt als einen sanften Mann habe kennen lernen, es über Euch vermocht, diesen würdigen Arzt so bitter und giftig zu verfolgen? Ist die persönliche Satire, wenn sie so grimmig, so vernichtend zu sein strebt, unter edlen Menschen wohl erlaubt? Ich fühle wohl, daß ich in dieser frohen Gesellschaft nicht eben vom Christentum sprechen darf; aber wird nicht auf diesem Wege alles, was uns als Menschen von den reißenden Tieren der Wüste unterscheidet, vernichtet und in den Staub getreten, um es einem falschen Witze zu opfern, der doch nur denen mit unechtem Glanze in die Augen leuchtet, die sich erfreuen, wenn ein Nebenmensch, vorzüglich ein Mann, den sie achten müssen, dadurch dem Verächtlichsten verbrüdert wird? Mich dünkt, bei den alten Römern und Griechen war die Sache verzeihlicher; auch ist es nicht die Seite ihrer Literatur, die uns gerade zur Nachahmung anreizen sollte.«

»Auch dieser Irrtum«, sagte Green, »auch dieses falsche Bestreben ist, wie eine entstellende Larve, vor meinem Angesichte niedergefallen. Im Unglück denkt man sich wunder wie zu erheben, wenn man Bessere, Glücklichere durch beißende Einfälle, Lüge und Verdrehung noch unter sich selbst erniedrigen kann. In dergleichen Satiren meint sich der Unwürdige durch Galle Flügel zu schaffen, die ihn hoch in den Himmel seiner Einbildung tragen sollen.«

»Satiren?« sagte der Squire, »nennt sie lieber, wenn Ihr ganz ehrlich sein wollt, mit ihrem wahren Namen, Pasquille.«

»Schont mein«, sagte Green, »und vergeßt nicht, daß Ihr mein Wohlthäter seid, dem ich nicht antworten darf. Gottlob, daß ich zu dergleichen keine Feder mehr anzusetzen brauche!«

»Ihr seid sehr moralisch freigebig«, fiel der heftige Nash ein, »und zwar auf Unkosten anderer. Ihr habt wohl vergessen, daß ich Euch in Euren bittern Invektiven gegen diesen Harvey geholfen habe, und daß vielleicht das Schlimmste wie das Beste von mir herrührt? Auch habe ich über diesen Gegenstand ein viel leichteres Gewissen als die beiden geehrten Herren; denn die echte persönliche Satire, sie sei auch noch so bitter und gehässig, erschöpft sich nicht an ihrem Gegenstande; auch in den geringsten, in den scheinbar zufälligsten Bezeichnungen malt sie doch nur ein Bild aller Vergangenheit und Zukunft. Denn keiner bilde sich ein, die Menschheit an sich selbst, ihre ewigen Bedingungen, ihre Geheimnisse und das wahrhaft Geistige zu verstehen und zu erkennen, der nicht das Individuellste, Eigentümlichste in der menschlichen Erscheinung fassen und, sei es auch auf die allerbitterste Weise, ausdeuten kann. Wenn diese verzerrten Fratzen, wie Ihr, Sir, sie vielleicht nennen mögt, nicht dasselbe Recht hätten, im Tempel der Unsterblichkeit aufgehangen zu werden, so stände es auch mit den Tragödien und erhabenen Oden nur schlimm. Auch in der Tragödie bin ich unserm Freunde Marlow ein Gehülfe gewesen, und so habe ich den guten Kindern freilich ihr Spielzeug mit ausstellen helfen. Aber ich dächte, sie könnten nun wohl alle endlich einmal den Plunder völlig satt haben. Poesie? Gut genug als jugendliche Übung. Aber, was ist das Ding denn nun eigentlich? Als wenn ich sagen wollte, es sei nötig, sich immer und immer wieder in Einsamkeit wie in Gesellschaft eine Menge abgeschmackter Dinge vorzulügen. Und bliebe es nur Spiel; aber der Sinn für Wahrheit und Wirklichkeit wird endlich dadurch ermordet, der Mensch kann nichts Großes, Tüchtiges mehr erfassen und erlangen, und doch wird ihm endlich jene Lüge selbst auch zum Ekel. Lieben, dichten muß jeder Mensch in der Jugend; wer aber einen Beruf daraus macht, der ist ärmer daran als jener, der sich mühte, Linsen durch ein Nadelöhr zu werfen. Alle Nützlichkeit bleibt freilich immer eine sehr zweideutige Tugend: indessen ist so viel doch ausgemacht, daß es die Pflicht eines jeden sei, sich selber zu nutzen; wie unmöglich dies aber auf dem Wege der sogenannten Poesie bleibt, ist eine so ausgemachte Sache, daß ich meine Lunge nicht anstrengen mag, Dinge, die sich von selbst verstehen, unnötig zu wiederholen.«

Der Wirt kam herein und meldete, daß Herr Henslow wünsche, die Gesellschaft auf einen Augenblick besuchen zu dürfen. »Wer ist dieser Mann?« fragte der Squire. »Der Eigentümer«, antwortete Nash, »von einigen Theatern; von andern zieht er einen Teil der Einnahme, weil er beim Bau und dem Anschaffen der Kleider Vorschüsse gethan hat. Erlaubt ihm, werter Herr, heraufzukommen, denn er wird Euch zum Nachtische Spaß machen. So sehr sein Geschäft, ja sein Einkommen und Vermögen mit der Poesie zusammenhängen und mit dieser steigen und fallen, so unwissend ist er doch und spricht alberner als ein Kind über diese Gegenstände, mit denen er sich nun schon seit vielen Jahren beschäftigt. Er kömmt gewiß, uns alle, wie wir hier sind, um die Stücke zu mahnen, die er noch von uns zu empfangen hat.«

Der Squire gab seine Einwilligung, und ein Mann mittleren Alters, aber sehr ernsten Angesichts trat in die Gesellschaft. Er war mit einem langen Oberrock bekleidet und trug in der Hand ein Rohr mit goldnem Knopf. Sowie er einschritt, legte er sein Gesicht in viele Falten, um sich ein ehrwürdigeres Ansehn zu geben, woraus er feierlich den Squire begrüßte, die übrigen Herren aber auf vertraulichere Art behandelte; doch fuhr er etwas zurück, als er gegen Nash seine Verbeugung machte, so daß es schien, er habe diesen nicht in der Gesellschaft vermutet. »Ich freue mich«, fing er an, »alle meine guten alten Freunde hier versammelt zu finden, und der fremde Herr Edelmann wird es nicht ungütig nehmen, wenn ich hier von meiner Notdurft spreche; denn wo man sein verlornes Kalb blöken hört, da geht man hin, es zu suchen, und wenn es auch in der Kirche wäre. Ei! ei! Herr Green! Wie? Was? Unsere Tracht- oder Drachenkomödie, die wir herausgeben wollen? Immer noch nicht die Sache observiert und vollendet? Meine Komödianten stehen nun da und haben den ersten Akt im Halse und würgen so erbärmlich daran, daß es ein Jammer ist anzusehn. Schickt doch die andern Akte nach, daß sie den Rachen wieder zuthun können und auch andere Verse skalpieren. Und ist das recht? Ich habe es erst vor einigen Tagen erfahren. Der Bande, die gewöhnlich im SchwanEin mit Henslow nicht in Verbindung stehendes Theater. spielt, habt Ihr Euren wütigen Roland»The history of Orlando Furioso«, ein phantastisches, unreifes Stück, zuerst gedruckt 1594. ja als ein nagelneues Stück verkauft, den ich Euch schon für meine Rose im vorigen Jahre bezahlt habe. Die Kerle schwadronieren nun mit dem Furioso draußen im Lande herum, und es heißt in den kleinen Städten, es sei eine ganz neue, noch nie gehörte Innovation des berühmten Herrn Green in London. Ei! ei! geehrter Mann, zweimal ein und dasselbe Stück verkaufen, das mir schon gehört, kann vor keiner, auch nur halben Mortalität gebilligt werden.«

»Ich gestehe«, sagte Green –

»Gesteht es lieber nicht«, fiel ihm der Redner ins Wort, »und vermeidet solche frakassante Thatsachen. Durch Euer Gestehen wird dieser wütende Roland niemals wieder gescheut werden. – Und Ihr, Herr Marlow –«

»Nun«, rief dieser, »habe ich auch ein Stück hinterrücks verkauft?«

»Nein, berühmter Mann«, antwortete der Bürger, »Ihr seid zu großmütig zu dergleichen kleinen untaktischen Stratalogieen. Ich weiß, wenn es Euch an Geld mangelte, schnittet Ihr mir lieber mit Eurem Dolche da die Kehle ab und massakriertet alle meine Komödianten, als daß Ihr so fein um die Ecke ginget. Aber wie ist es nun mit Eurem Faust? Mein tragischer BuffonPossenreißer. betet Tag und Nacht, daß ihn doch nur endlich der Teufel holen möchte. Aber Ihr zögert unbarmherzig. Und es gibt Leute, so von dem kretischen GeschmeißKrethi und Plethi (2. Sam. 8, 18; 15, 18 etc.), eigentlich Kreter und Philistäer, die Leibwachen Davids. die wollen sagen, der Teufel würde Euch selbst noch früher wegschleppen, als Ihr das Schauspiel fertig gemacht hättet; denn, sagen sie, Ihr machtet die Studien, oder wie sie's nennen, zu eifrig dazu, so daß Ihr täglich mit Satan und Beelzebub konversiertet, um sie nur recht natürlich schildern zu können. He? was soll man denen sagen?«

»Was?« rief Marlow, »daß Ihr ein Bürgersmann seid mit krummem Rücken und roter Nase, der sich also nicht herausnehmen muß, witzig zu sein, weil man ihn nicht züchtigen darf, im Fall man es übelnimmt; man müßte ihm denn die langen Ohren abschneiden.«

»Fein gegeben«, sagte Henslow, »und echt heroisch! Man kann sich nicht besser aus der Sache ziehn. Aber der sanftmütige Herr Peele wird mir wohl freundlicher antworten, wenn ich nach seinem neuen Kunststück frage, das ich schon im vorigen Jahre bekommen sollte, Euren ›David und Bathseba‹»Love of King David and Fair Bethsaba«, Peeles bedeutendste Dichtung, zuerst gedruckt 1598. wollen die Leute nicht mehr so gern sehen, das Volk will immer etwas Neues haben.«

»Recht bald«, sagte Peele gutmütig, »lieber Herr Henslow; man hat immer so viele Zerstreuungen, auch sind die Musen nicht zu allen Zeiten willig.«

»Aber mein Geld«, fügte Henslow, »meine Vorschüsse müssen sich immer willig finden lassen, und nicht allein für Euch selbst, sondern noch für diesen und jenen guten Freund, der sich nicht nennt, sondern lieber unanim, wie sie's heißen, seine Sachen spielen läßt, und, wenn sie Glück machen, mit dem Namen heraustritt, um dann auch übermütig zu sein.«

Als der alte Mann sich jetzt mit einer Verbeugung entfernen wollte, trat Nash mit einer grinsenden Freundlichkeit auf ihn zu, indem er sagte: »Nun, ehrenfester Herr, an mich kein ermahnendes oder zärtliches Wort?«

»Werter Herr Nash«, sagte der Alte, »es wäre besser, wenn wir einander nicht kennten, und hätte ich vermutet, einen so ganz vorzüglichen Geist hier anzutreffen, so wäre ich die Treppe nicht heraufgestiegen. In Summa, vor wem ich mich fürchte, mit dem ist kein Umgang möglich. Ihr seid ein Mann, der sich aus Güte und Gefälligkeit gegen unsern allmächtigen Schöpfer herabläßt, nur überallÜberhaupt. zu leben und auch ein Mensch zu sein; alles, was Ihr thut und sprecht, ist das Ausbündigste, aber wenn man Euch nachher hört, so verlohnen es Eure eigenen Meisterstücke selbst nicht, daß Ihr nur die Feder angesetzt habt, wieviel weniger die armen Mißgeburten eines neuen Euripus oder Plautterenz! Ihr solltet eigentlich der Jub-Peter oder eine andere heidnische Gottheit sein, bei welcher die Dichtersleute immer schwören, oder ein Alexander von Misedonien.«

»Ei! bester Herr Henslow«, rief der Satiriker, der sich über nichts so sehr freute, als wenn er den Leuten furchtbar erschien, »Ihr müßt mich nicht so sehr mißverstehn; wir sind, denk' ich, die besten Freunde; habe ich Euch nicht immer die besten und wohlfeilsten Poeten zugeführt, wenn das rauhe Wetter sie nur irgend hatte geraten lassen? Aber Ihr verlangt auch allzu idealische Sachen und habt mit der menschlichen Schwäche keine Nachsicht; ein Kenner wie Ihr fordert immer nur das Vollendete.«

»Mit Recht«, antwortete Henslow, »was soll ich nun mit der großen Christenverfolgung, zu der ich schon die roten Hosen habe machen lassen, und zu der ich nun von Eurem Poeten die letzten Szenen nicht kriegen kann? Unkosten auf Unkosten, Verzögerung und Verdruß. Und mit dem tyrannischen Kaiser weiß ich noch gar nicht, wie es werden soll.«

»Die Tyrannen«, sagte Nash, »sind doch sonst nicht schwer zu besetzen oder auszustaffieren: Ihr müßt nur den nehmen, der am besten schreien kann.«

»Schon recht«, sagte der Direktor; »der ist aber schlank und schmal, und der Kaiser wird doch von jedermann der dicke LezianDiocletian. tituliert, so daß wir ihn ausstopfen müssen, und das ist beim heftigen Spielen immer fatal.«

»Gewiß«, sagte Nash; »indes verlangt es das Kostüm und die Chronik so, wenn alle Welt ihn Diccletian oder nach der Walliser Mundart Diokletian nennt. So ein starker, robuster Mann kostet auch einige Ellen Samt mehr, und die Zuschauer danken Euch oft dergleichen geschichtliche Genauigkeit nicht einmal.«

»Die Menge ist zu unwissend«, sagte Henslow; »letzt wollte mir einer weismachen, die bekannten Saatraben in Persien wären wirkliche Menschen und ohngefähr wie unsere Statthalter. Aber schafft mir nur die Christenverfolgung, daß wir das Blutbad bald anfangen können. Denn das ist einmal der Gang der Welt; wenn die Poeten auch nicht viel Verstand aufzuwenden haben, wenn sie nur brav Blut fließen lassen, so macht die Sache Glück, und darum sollten die Theater eigentlich neben dem Bärengarten stehen, da die Spiele doch im wesentlichen auf eins hinauslaufen.«

Die beißende Bemerkung hatte Nash von dem einfachen Manne nicht erwartet, und da die übrigen, vorzüglich der Squire, lachten, so verlor er um so mehr die Fassung, als er den guten Henslow für zu unbedeutend gehalten hatte. Ohne sich zu mäßigen, rief er daher, von Zorn entstellt: »Ihr seid ein Einfaltspinsel und meinem Witz oder der Züchtigung zu geringe!«

»Seht, mein fremder Herr«, rief der Bürgersmann, »ich bin ihm doch nicht zu geringe, mich zu schimpfen, und es muß teure Zeit im Lande sein, wenn Herr Nash keinen bittern Einfall mehr aufzubringen weiß. Ja, ja, wenn sich Verstand und Geist von Wucherern wie Geld borgen ließe, ich glaube, die lieben Herren, so verehrlich sie sind, sähen oft ein zwanzig Prozentchen nicht an. Wenn man nun, da ich keinen Witz habe, oft in der Not zu mir kommt, des lieben Geldes wegen, so bin ich ein Mätzen, ein Musenget, ein Apoll, Chorführer und wahrer Parnaß, weil sie auf dem Trocknen sitzen; gewiß, bar muß ich ihnen immer sein, damit sie nur vom Wein naß werden können, das bar-naß ist mein und ihr Parnaß; dann heißt es, ich soll Künste und Talente aufmuntern; – aber brauchen sie mich nicht, da gibt es Ekelnamen aller Art, und ich bin nur ein Spießbürger, ein Geldfuchs, ein armer Hund, der auf dem Esel, statt des Pegasus reitet. Aber nur Geduld, meine Herren, euer Handwerk geht zu Ende, eure goldne Zeit ist vorüber. Jetzt werden meine Schauspieler selbst die Sachen immer mehr ausdichten, die sie nachher von den Brettern herab sprechen. Ich habe es selber nicht gewußt, welchen Schatz ich an dem einen besitze, der bis jetzt auch so unanim seine Komödien hingegeben hat. Ihr werdet euch gewaltig hinterm Ohr kratzen, wenn der euch alle die Lorbeerkränze aus den Haaren reißt, mit denen ihr jetzt noch stolziert, und euch lehrt, was man aus dem Dinge, dem Theater, für ein kurioses Wesen machen kann. Auch ohne Herrn Marlow haben wir schon einen gräßlichen Mohren,Er meint den Mohren Aaron in Shakespeares Jugendwerk »Titus Andronikus«. und wenn ich ihn bitte, schafft er mir auch wohl einen ebenso berühmten Juden und Tamerlan, denn er kann, mein Seel, alles.«

Jetzt trat Marlow wieder hervor und sagte: »Verschont uns mit Euren Stümpern. Wir glauben es ja, daß nicht einer, nein, daß viele es in der Gewalt haben, unsere Gedichte von euren Stadttheatern zu verdrängen. Viel Glück zu allen diesen Pfuschereien und zu der Barbarei, in welche die Bühne auch unausbleiblich wieder versinken wird, die wir erst seit einigen Jahren emporgehoben haben!«

»Ich empfehle mich«, sagte Henslow, »und was Barbaren betrifft, Herr Marlow, so habt Ihr uns deren in jedem Stück genug geliefert, den ungeheuren Tamerlan nicht einmal eingerechnet.«

Der Bürger ging, und auch die Gesellschaft der Dichter brach auf, indem sie sich vom Squire höflich beurlaubten, der ihnen allen seinen Dank sagte, daß sie ihm die Stunden hatten gönnen wollen, um so vieles in Scherz wie Ernst von ihnen zu hören. Er war entschlossen, noch diesen Abend mit seinem Vetter jene gerühmten Apostel zu besuchen, die ihm nach dem, was er gehört hatte, merkwürdig genug dünkten, wenn er auch nicht so viel Unterhaltung bei ihnen als bei den Poeten erwartete. Green ging zu seiner Gattin, und Marlow, um den Haushofmeister des Lord HunsdonDes »Lordkämmerers«, zu dessen Truppe Shakespeare gehörte. aufzusuchen, der ihn zu sich bestellt hatte. Es war die Rede davon gewesen, im Palast des Lords eine Tragödie aufzuführen, und der Dichter schmeichelte sich im stillen, daß es eine von ihm sein möchte, die dem Lord vielleicht vorzüglich gefallen habe. Er träumte schon von Ehre und Lohn, wie von der persönlichen Bekanntschaft mit dem Pair, und so, in dieser Stimmung noch stolzer als gewöhnlich, empfahl er sich dem Squire, dessen Stand und Vermögen ihm in diesem Augenblicke, beides gegen den Lord gemessen, viel unbedeutender als vor einigen Tagen erschien.


Der Squire war, als er auf die Straße kam, zweifelhaft, ob er wirklich seinem unklugen Vetter in jene Versammlung folgen solle, weil er fürchtete, daß diese Schwärmer irgend etwas beabsichtigten, was ihn selbst verantwortlich machen und in ihr Schicksal verwickeln könne. Doch siegte seine Neugier endlich über seine Bedenklichkeiten, indem er zugleich überlegte, daß eine Gesellschaft Aberwitziger nicht imstande sei, gegen die Regierung gefährliche Dinge vorzunehmen. Auch hatten sich bis dahin diese Sektierer noch keine frevelnden Handlungen gegen die Einrichtungen des Staates oder dessen Diener erlaubt. Der Squire holte also seinen Vetter aus dessen finsterer Wohnung ab und fragte ihn: »Wen soll ich nun heute sehen?«

»Endlich«, erwiderte jener, »ist es mir erlaubt, dich zu ihm selbst zu führen!«

»Wen nennst du ›ihn selbst‹?« fragte der Squire.

»Wen anders«, sagte Arthington, »als den einzigen, den man so nennen darf, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden!«

»Seh' ich diesen nicht täglich, stündlich, wenn ich mein Gemüt zu ihm richte?«

»Nein! nein!« rief der Schwärmer, »persönlich wirst du ihn schauen, mit deinen körperlichen Augen, den Messias, den König der Welt, welcher dermalen in seinem jetzigen Zustande Hacket heißt und hinter Broken-Wharf»Gebrochenes (krummes) Werft«, dem Zusammenhange nach eine Örtlichkeit in London-Southwark. wohnt!«

»Bist du rasend?« rief der Squire im höchsten Erstaunen und Unwillen. »Nein, so weit wähnte ich nicht, daß sich der Aberwitz eines Menschen verirren könnte, Ihr Unglückseligen! Ihr empfindet es gar nicht mehr, wie fern euch die göttliche Barmherzigkeit ist, da ihr so zu lästern wagt.«

»Tobe dich nur aus«, sagte der Schwärmer ganz ruhig; »habe ich es denn etwa besser gemacht? Das neue Licht muß lange mit der alten Finsternis kämpfen; das gottselige Buch, welches verschlungen wird, macht Bauchgrimmen, wie jenem liebsten Jünger des Herrn.»Offenbarung Johannis«, Kap. 10 Je schrecklicher der Kampf, je wilder der Zweifel, um so süßer nachher der Glaube und die Beruhigung aller irdischen Gedanken in der leuchtenden Gegenwart des Gesalbten. Als ich zuerst den unansehnlichen, dicken Mann kennen lernte, gefiel er mir gar nicht. Auch seine Art zu beten war mir ganz zuwider; denn er fordert immer Gott heraus, ihn zu vernichten und zu verderben, mit diesen und jenen Strafen ihn zu beschämen, wenn nicht alles, was er sagt, die Wahrheit sei. Aber nachher bin ich von meinen Irrtümern zurückgekommen. Der Heilige muß eben die Qualen der Hülle fast immerwährend erdulden, um uns von Sünden frei zu machen. In Demut trägt er diese gewöhnliche, ja widerwärtige Gestalt, um die Hoffart gänzlich zu stürzen. Ich sage dir, Vetter, er wird vor deinen Augen die allergrößten Wunder verrichten, und England und die Welt wird nur ihm sein Heil verdanken. Aber kannst du beten, Vetter?«

»Wozu diese Frage?« warf jener ein.

»Wenn wir zu ihm kommen«, fuhr jener ruhig fort, »müssen wir beide beten, sonst stoßen uns die bösen Geister aus seinem Zimmer, und dich würden sie zerreißen. Zitterst du nicht, vor den Gewaltigen zu treten? Vor ihn, der alle deine Gedanken kennt, der jedes deiner Gefühle prüft, sowie sein durchdringendes Auge dich nur anblickt?«

»Vetter«, sagte der Squire, »ich bin einmal mit dir unterwegs und habe es unternommen, deinen wunderlichen Heiligen zu sehen, auch weiß ich wohl, daß, wenn man erst unter den Wölfen ist, man mit ihnen heulen muß; sei also meinetwegen unbesorgt.«

Sie standen jetzt vor dem Hause, gingen durch den Hof und stiegen im Hintergebäude die Treppe hinauf. Arthington klopfte leise an, es erfolgte aber keine Antwort aus dem Zimmer; er öffnete die Thür, ohne anzufragen, und sie traten in ein Gemach, dessen Fenster auf die Themse hinaus gingen. Eine knieende Figur, ein abgemagerter alter Mann mit weißen Haaren fiel dem Squire zuerst ins Auge; dieser zitternde Alte sah sich nur mit seitwärts blinzelnden Augen nach ihnen um, und Arthington warf sich sogleich an seiner Seite nieder. »Frommer Coppinger«, sagte er demütig, indem er ihm die Hand reichte, »du Abgesandter und Bote des Zornes, sei uns gegrüßt!« – »Wohl ergehe es dir, Bote der Barmherzigkeit«, erwiderte der zitternde, fast ohnmächtige Alte. – »Wen führst du in meinen Tempel?« rief eine tiefe, heisere Stimme, und der Squire wurde jetzt erst einen Mann gewahr, der im Bette lag und ebenfalls eifrig betete. Der Edelmann erkannte ihn sogleich als denselben, der ihm wegen seiner unangenehmen Gestalt neulich in der Straße aufgefallen war, als dieser Apostel vom lärmenden Pöbel verfolgt wurde. Arthington rutschte auf den Knieen zum Bette, küßte mit inbrünstiger Demut die Hand des zürnenden Hacket und sagte ihm einige Worte ins Ohr. »Er bete denn in unserer Gegenwart«, so rief Hacket aus dem Bette, »so viel sei ihm vergönnt!« Der Squire, der nicht gut zurücktreten konnte und auf das Seltsame schon vorbereitet war, kniete nieder und flehte als patriotischer Engländer für das Wohl seines Landes, der erhabenen Königin und ihrer trefflichen Räte und Beamten sowie für das Fortblühen der Kirche, Bischöfe und Priester.

»Was ist das für ein verwirrtes, gottloses Gebet?« rief Hacket mit zorniger Stimme, als der Squire geendigt hatte.

»Wie?« fragte dieser, »soll ein treuer Unterthan nicht für seine erlauchte Herrscherin flehen, daß der Allmächtige fortfahren möge, sie so gütig wie bisher gegen Gewalt von außen sowie einheimischen Verrat zu schützen?«

»Ich ehre die Königin«, rief Hacket, »ich habe so wenig gegen sie, daß ich es vielmehr bin, der ich ihre Macht erst vollkommen zu befestigen denke, wenn sie mir nämlich Folge leistet und die bösen Ratgeber, hauptsächlich diesen Burleigh,Der berühmte Staatsmann William Cecil Lord Burleigh (1520–1598), Staatssekretär und Großschatzmeister, Elisabeths rechte Hand. von sich thut, die Kirche in ihrer Reinheit herstellt und diese Bischöfe entfernt, den Götzendienst mit Chorrock und allem Frevel, der damit zusammenhängt, aus dem verunreinigten Tempel wirft und meine beiden Boten der Strenge und der Barmherzigkeit zu ihrer rechten und linken Hand sitzen läßt, damit sie mit den beiden alsdann das Land regiere.«

Fast nackt wie er war, sprang er jetzt aus dem Bett und fiel ebenfalls auf die Kniee nieder. »Messias! Messias!« rief Arthington und machte Miene, dem Schwärmer die Füße zu küssen; doch dieser wies ihn von sich, indem er sagte: »Wozu diese äußere Ehre demjenigen, den des Herrn heiliger Geist zum Monarchen und Richter der Erde gesalbt hat?« Er betete hierauf mit ungeheurer Anstrengung, indem er alle Götzendiener, bösen Räte und Anhänger der englischen Kirche mit Verwünschungen der Verdammnis übergab. Mit der Stirn auf dem Boden lagen indes die andern beiden ganz ausgestreckt und erhoben sich nur, um von Zeit zu Zeit wie ein Chor in die Verfluchung einzustimmen. Hacket lud die gräßlichsten Strafen und Martern der Hölle auf sich, wenn er im Irrtum wandle; er forderte den Himmel heraus, ihn durch Blitze zu töten, die Erde, ihn zu verschlingen, die bösen Geister, ihn zu zerreißen. »Nein, er lebt! er lebt! Seht, er bleibt unbeschädigt!« schrieen seine beiden Verehrer wie besessen; »immer wieder beweiset es sich, daß er die Wahrheit lehrt. Er ist der Richter der Welt.«

Der Squire, der endlich die Geduld verlor, ging nach der Thür und sagte: »Weder als Christ noch als treuer Unterthan wage ich es, länger diesen Lästerungen zuzuhören. Blödsinnige, bethörte, unglückselige Menschen, deren Gefühl so verstockt, deren Vernunft so befangen ist, daß ihr nicht mehr von den tollen und frevelnden Worten jenes Verruchten empört werden könnt!«

Da sprang Coppinger, der Bote des Zornes, auf und hielt, zitternd vor Wut, den Squire fest. »Rufe deine Engel, Messias«, schrie er mit heiserer Stimme, »laß den Himmel sich öffnen, kleide dich in Feuerflammen, besteige den Stuhl deines Gerichtes, damit der Elende von deiner Macht überzeugt werde!«

»Laß ihn, laß ihn, großer Abgesandter«, rief der Bote der Barmherzigkeit; »der Geist sagt mir, daß ich ihn noch bekehren werde, denn er ist ja mein Vetter und aus meinem Blut; die Dummheit wird von ihm weichen, er wird zu den Auserwählten gezählt werden. Nicht wahr, Hacket, hoher Meister, der du der wahre Messias bist?«

»Ihm ist für diesmal noch verziehen«, rief Hacket, der sich wieder in das Bett begeben hatte. »Drei Tage sind ihm noch als Frist verstattet; kehrt er dann nicht um, so wird er mit den andern Gottlosen geschlagen, so sehr er dein Vetter ist. Aber du handelst als Bote der Barmherzigkeit, indem du für ihn bittest.«

Arthington verließ mit dem zürnenden Squire das Haus. »Nicht wahr«, fing er auf der Straße an, »alles, was wir gethan, gesprochen und gebetet haben, ist Euch im höchsten Grade widerwärtig gewesen?«

»So sehr«, erwiderte jener, »daß ich alle meine Macht anwenden werde, Euch, Vetter, nicht in der Gesellschaft dieser Rasenden zu lassen, die Euch dem Strange überliefern.«

»So muß es sein«, rief der Prophet; »es freut mich, daß du deiner Bekehrung so nahe bist. Ohngefähr ebenso habe ich gesprochen, als ich gleich darauf in mich schlug und von der Gnade erleuchtet wurde. Hassen, verfolgen, wie Saulus, muß man erst das Wort, um ein Paulus zu werden. Morgen wirst du in unserer Manier beten.«

»Ich antworte dir nicht mehr, denn es wäre vergeblich«, rief der Squire in der höchsten Ungeduld. »Ich denke darauf, dich auf gelinde Weise von der Obrigkeit als einen Wahnsinnigen bewachen zu lassen.«

Arthington lachte laut und von Herzen. »In wenigen Tagen«, sagte er dann, »steht das Regiment in England auf einem ganz andern Fuße, und das wird hoffentlich auf dem sanften Wege, ohne Blutvergießen, ohne Erschütterung zustande kommen, auf eine so einfache und christliche Weise, daß du sie selbst billigen mußt.«

»Und die wäre, mein verständiger Vetter?«

»Ein Brief von mir ist aufgesetzt, den die Königin und ihr Staatsrat lesen muß; in diesem machen wir zwei Boten unsers Gesalbten uns anheischig, in ihrer Gegenwart und der ihrer Räte zu beten und alles Unheil, Strafe, Marter auf unser Haupt und unsere Seele herabzurufen, wenn wir im Unrecht sind. Dann wird man sehen, daß wir gesund und bei Kräften bleiben. Hierauf soll Burleigh, oder wer sonst noch gegen uns ist, ebenso, mit denselben Worten beten; wenn er den Mut dazu hat, so werden ihn die Geister verderben und beschämen, oder er weigert sich aus gerechter Furcht, und wir haben unsere heilige Sache gewonnen.«

»Ein Einfall, deiner Weisheit würdig«, bemerkte der Squire.

»Zugleich aber«, fuhr jener fort, »werden wir die Einwohner der Stadt zur Buße ermahnen.«

Der Squire nahm Abschied und überlegte, auf welche Weise er für die Sicherheit des Thoren am besten sorgen könnte.


Der Schreiber saß schon im Saale, als Marlow und Green hereintraten. »Beruhigt Euch«, sagte der letztere; »wer mit dergleichen Mädchen sich einläßt, muß sich auch auf solche Streiche gefaßt machen, denn ihre Natur umwandeln wollen, heißt etwas Unmögliches unternehmen.«

»Wenn ich nur begriffe«, rief Marlow, »wer sie unterhält, oder wohin sie gelaufen ist! Denn den Gedanken, daß sie sich vor mir verleugnen läßt, mag ich gar nicht einmal aufkommen lassen. Es ist zu schändlich! Was ich an die Kreatur gewandt habe, wie sie mich geplündert hat – und nun! – Dreimal bin ich schon draußen gewesen. Sie sei verreiset, so sagen sie, aber keiner kann Rechenschaft geben, wohin.«

»Wie wohl ist mir«, antwortete Green, »daß alle dergleichen Thorheiten hinter mir liegen! Welch ein Wesen ist meine Emmy! Und wie erscheinen mir jetzt jene trüben Tage, jene Stunden gräßlich, die auch ich mit einer ähnlichen Verworfenen verlebte!«

»Und doch möcht' ich um alles nicht in deiner Lage sein«, fing Marlow wieder an; »dieser Ehestand, diese Kindererziehung! Mein Geist würde in solcher einförmigen Lage, in dieser Langeweile, wo Zärtlichkeit Pflicht und Liebe eine Forderung wird, völlig erlahmen und alle Kräfte einbüßen. Ein Weib, die ich achten sollte, die meine Treue befehlen dürfte, die es mir zum Verbrechen machte, wenn sie mir nicht mehr liebenswürdig erschiene, die vielleicht sogar allen Reiz schon verloren hätte, oder sich wenigstens nicht darum sorgte, schön und anlockend zu sein, da sie mich, wie das Schiff, am Anker des Gelübdes festhielte! Die Welt erhält sich freilich so, und die Anstalt mag löblich sein, aber mir scheint sie unsinnig. Und von jener wilden Fanny kann ich nicht lassen. Es ist ein unglaublicher Reiz in diesen tollen Wesen, die wir nicht achten können, deren Treue wir keines Augenblicks gewiß sind, die niemals die Wahrheit sprechen und deren Entzückungen wir für geheuchelt halten müssen. Aber ebendeshalb müssen wir ihre wandelbare Gunst in jeder Stunde neu erobern, sie selber verjüngen sich unserer Begier durch die Verachtung, die uns quält, und keine kalte Ehrfurcht verwandelt die Sirenen jemals in züchtige Matronen.«

Green lächelte und sagte: »In diesem sonderbaren Lobe und der schmeichelhaften Anklage werdet Ihr, Bruder Poet, nur demjenigen verständlich sein, der auch aus Circes Becher getrunken hat. Aber wahr ist es, das Herz und die Gefühle des Menschen, seine Gelüste und Wünsche sind rasend. Wer vernünftig sein kann, in dem ist das Geheimnis jener Begier schon erstorben, und so ist es mit mir. Kann sein, daß mit meiner Besinnung auch der Rausch meines Talents verflogen ist.«

»Habt Ihr den jungen Grafen schon gesehen?« sagte Marlow.

»Welchen?«

»Nun den, der kürzlich zur Stadt gekommen ist, den jungen, noch unmündigen Southampton!Henry Wriothesly, Graf von Southampton (geb. 1573), Freund Shakespeares, der ihm 1593 »Venus und Adonis«, 1594 den »Raub der Lukretia« widmete. Er wird von vielen für ein Muster der Schönheit gepriesen; ich kann nur Weichlichkeit und weibisches Wesen in ihm erblicken. – Kennt Ihr ihn, Schreiber?«

»Ich habe ihn einigemal an öffentlichen Orten gesehen«, sagte dieser.

»Nun«, fuhr Marlow zu fragen fort, »findet Ihr denn eine wahre, männliche Schönheit in ihm?«

»Ich weiß vielleicht nicht«, antwortete der Unbekannte, »was man so nennen soll. Der junge Graf EssexRobert Devereux, Graf von Essex (1587–1601), der bekannte Günstling der Königin Elisabeth. ist zum Beispiel das Muster einer jugendlich heroischen Schönheit, keck im Ausdruck eines schwärmenden Mutes, ja der Verwegenheit; Euer Gönner Raleigh ist besonnener und sanfter. So mancher ältere Mann trägt in seiner Heldenphysiognomie den veredelten Ausdruck des Löwen; mancher sieht schlau wie ein Ulysses drein, und so stuft sich die Schönheit in unendlich vielen Veränderungen mit mehr oder weniger Bedeutsamkeit ab und bleibt doch, sowie sie diesen oder jenen Charakter aufnimmt, immer noch Schönheit.«

»Von allem diesen paßt aber nichts auf diesen Southampton.«

»Verzeiht«, fuhr der Redner fort, »er ist unentwickelt, er steht ja noch auf jener geheimnisvollen Stelle, auf welcher der Jüngling noch so nahe auf sein kürzlich verlassenes Kindesalter hinblicken kann, eine Zeit, die den Jüngling mit Reiz und wunderbarer Rührung zugleich schmückt. Im Grafen, scheint es mir, ist so recht vorzüglich der Mensch an sich, die menschliche Bildung in der Schönheit verherrlicht. Eine solche kann niemals so strahlend in die Augen fallen wie diejenige, die mit hohem Charakter und bestimmtem, majestätischem Ausdruck sich darstellt. Als ich den Jüngling sah, in dessen glänzenden Augen und auf blumigen Wangen, im Lächeln der reinen Lippen gleichsam tausend süße Empfindungen schlummern und das Erwachen träumend erwarten, war mir, als wenn die alten Märchen von Narcissus oder AdonisNarcissus und Adonis, in der griechischen Sage bekanntlich durch ihre Schönheit berühmt. in ihm zur Wahrheit herausschimmern wollten.«

»Mir etwas unverständlich«, antwortete Marlow, »aber poetisch genug, und wenn Ihr nur ein Dichter wärt, solltet Ihr dem jungen Manne Euren Hof machen; denn ich höre, er bildet sich ein, die Dichtkunst zu lieben. Der pedantische Sprachmeister, der das Italienische lehrt, jener feierliche Florio, schmeichelt ihm auch hinreichend, und fast noch mehr der stille, süßliche Daniel.Samuel Daniel (1562–1619), ein nach Klassizität strebender Hofpoet zur Zeit Elisabeths, Shakespeares Vorbild in der Sonettendichtung. Auch der in London lebende italienische Sprachmeister und ‑Pedant Florio (gest. 1625) ist eine geschichtliche Person. Er verfaßte unter anderm »Die Welt in Worten« (1598, Southampton gewidmet) und übersetzte 1603 Montaignes »Essays« ins Englische. Und so ein vornehmer, reicher Mensch, dem die ganze Laufbahn der Ehre und des Glücks weit offen steht, nimmt dergleichen, sei es auch noch so übertrieben, alles für richtige, blanke Wahrheit an, meint wirklich, er sei als ein Gott vom Olymp herabgestiegen, und belohnt mit Lächeln und freundlichen Blicken jene im Staube liegenden Parasiten, die nur Geld und Geldeswert von ihm erhaschen wollen und denselben Götzen, wenn es ihr Vorteil so erheischte, gern den Flammen überliefern würden. Nein, der Dichter, der wahre, wie ich mich einer fühle, sei zu stolz, dem äußern Menschen, dessen Ansehn, der Macht, dem Reichtum dienstbar frönend zu huldigen. Das Talent steht mit dem Mächtigen durch das von den Göttern verliehene Gut auf derselben Höhe, und soll einer von beiden sich erniedrigen, so sei es der Vornehme. So hat sich Raleigh um meine Liebe bewerben müssen, ich habe ihn niemals aufgesucht, und jenes hündische Anschmiegen an die Großen, das wir leider in allen Zeitaltern sehen, ist nur knechtisch und niederträchtig. Wissenschaft und Kunst sollen doch wenigstens die Gleichheit wiederherstellen, die mit dem goldenen Zeitalter dem Menschengeschlecht verloren ging.«

»Vergebt«, sagte der Fremde, »wenn ich Euch auch hierüber mein Gefühl, das ein anderes als das Eure ist, im Vertrauen auf Eure Nachsicht mitteile. Daß es ein heuchelndes Lügen und niedriges Schmeicheln gebe, welches verächtlich sei, darüber sind wir alle einig; daß wir, wenn wir Wissenschaft und Kunst den Fuß des albernen Reichtums küssen sehen, an diesen Götterkindern selber irre werden und uns mit Geringschätzung von ihnen abwenden, ist eine edle Empfindung, die wir niemals aufopfern dürfen. Wenn wir aber Schönheit, Liebreiz und feines Gefühl mit Macht und Adel in derselben Erscheinung vereiniget finden, so ist nichts so natürlich, als diesem Wesen eine anständige Huldigung darzubringen, durch welche der Mächtige sowohl wie der Geringere Ehre erhält; jener, indem er auf edle Weise annimmt, was ihm gebührt, und dieser, weil ihm ein Sinn beiwohnt, die ausgezeichnete Natur zu fassen und ihr seine Ehrfurcht und Liebe so zu beweisen, daß er sich selber nicht erniedrigt. Und der Dichter vor allen! Er, der gesandt wurde, den verschlossenen Sinnen alle die Erscheinungen der Natur und der Geschichte auszudeuten – soll er denn nicht durch sein höheres Wesen den Sklavensinn zur wahren Verehrung und Liebe, sowie die stolze, sich auflehnende Verachtung, die sich doch selber nicht genügt, zur zarten Milde läutern? Denn mir scheint, der bloße nackte Mensch könne als Mensch keine Verehrung oder Bewunderung von uns verlangen; That, Schönheit, Arbeit, Reichtum müsse erst hinzukommen, damit wir ihn anstaunen mögen; und so gehört auch ohne Zweifel Adel und hohe Abkunft zu jener Verherrlichung der Menschheit, vor der wir uns alle gerne neigen. Ich könnte mir kaum ein poetischeres Verhältnis denken, als das eines Dichters, der in seinem jüngeren, schönen Freunde, den die Natur und das Geschick mit allem ausgestattet haben, was den Neid des Menschen erregt, alle die Gefühle und Eigenschaften sieht, die er an sich selbst und andern verehrt, und nun in diesem Liebling des Himmels und seiner Seele jeden äußern wie innern Reichtum durch allen Aufwand seiner Kunst verklären und vergöttern möchte. Ist der Reiche und Mächtige erst glücklich, wenn er im reinen Spiegel der Dichtkunst seine Vorzüge erblickt, die ohne diesen Widerschein ihm in trüber Einsamkeit wohl selbst arm dünken mögen, so wird auch das einsame Gemüt des Dichters erst wahrhaft mit dem Überirdischen vermählt, wenn er den Abglanz desselben im Irdischen mit liebender Hingebung erkennen mag.«

»Ein artiger Aberglaube, Freund«, sagte Marlow, »aber doch nur Gespensterglaube, dem viele Menschen freilich mit recht ausgebildeter Vorliebe anhangen. Ein Dichter, wie Ihr ihn Euch träumt, müßte nach alledem, was Ihr neulich und soeben gesprochen habt, eine höchst sonderbare Erscheinung sein. Befreundet mit allem, was mir zuwider ist, alles das als Adel der Welt erblickend, was mein Auge als das Gemeine und Geringe sieht, alle Vorurteile stempelnd und rechtfertigend, die man am Haufen entschuldigt, und dabei doch höher als die ganze Menschheit stehend. Es muß wunderbar in Eurem Kopfe aussehen, daß Ihr Euch solche Ungeheuer formieren und dergleichen Widersprüche vereinigen könnt. Übrigens aber zwingt Ihr mich, Achtung vor Eurem Geiste zu haben, und ich denke, wir werden uns näher kommen. In künftiger Woche habe ich vielleicht Gelegenheit, Euren gepriesenen Southampton zu sprechen; denn der Lord Hunsdon hat die Gnade gehabt, mich zu einer Tragödie einzuladen, die in seinem Palaste gespielt werden soll, wo der junge Graf auch als Zuschauer zugegen sein wird.«

»Zu dergleichen«, sagte Green, indem er sich etwas zum Lächeln zwingen mußte, »wird unsereins nicht gebeten. Christoph, dein Gestirn ist ein durchaus glückliches. Ich hoffe, du sollst es erkennen und so aufgemuntert sein, daß noch die späteste Nachwelt von dir spricht. Du aber mußt nicht von Aberglauben sprechen oder ihn schelten, da du selbst solche Vorliebe für alle Arten desselben hegst. Denn so wenig du von Religion wissen magst, so kannst du denn doch das Gefühl nicht entbehren, dein Herz an irgend etwas mit Verehrung zu binden, was dein Verstand nicht begreift.«

»Gut, Robert, daß du mich erinnerst«, sagte Marlow, indem er aufstand, »heut' ist ja der Abend, an welchem ich den Astrologen und Chiromanten, den mir Nash neulich so sehr rühmte, besuchen wollte; begleite mich, Freund, damit wir unser gutes und schlimmes Glück von ihm erfahren; aber keiner muß sich ihm nennen, weil er doch vielleicht von uns gehört hat und dann leichtes Wahrsagen hätte. Und um die Prüfung noch vollständiger zu machen, begleitet uns wohl auch der junge Schreiber hier, wenn wir ihn darum bitten.«

»Ich stehe zu eurem Befehl«, sagte dieser, »denn mein heutiger Abend ist frei.« Sie verließen das Haus, indem es schon anfing, dunkel zu werden. »Der Mann«, sagte Marlow unterwegs, »der sich Martiano nennt, soll eigentlich ein Irländer sein, der sich aber lange in Italien und Spanien aufgehalten hat. Die Vornehmen, die Gelehrten sowie die Unwissenden, die ihn besuchen, kommen alle mit gleichem Erstaunen von ihm zurück. Man sagt, daß er durch geheime Kombinationen die Schicksale errät und findet und keine Magie, weder Instrumente noch astrologische Berechnungen, dabei in Thätigkeit setzt.«

In einer einsamen Gasse gingen sie einen langen Gang hinunter, dann über den Hof und erstiegen endlich auf vielen Treppen das Gemach des Wahrsagers, der sich so hoch wie möglich, unmittelbar unter dem Dache, eingerichtet hatte, um doch einigermaßen die Sterne beobachten zu können. Ein Diener eröffnete die Thür, und sie traten in das Zimmer, in welchem ihnen ein stattlicher alter Mann mit feierlichem und edlem Anstande entgegentrat. Marlow trug im Namen der übrigen das Gesuch vor, und der Magier holte aus einem Wandschranke eine Anzahl von Blättern, die fast das Ansehn eines Kartenspiels hatten. Er mischte sie wie ein solches, indem er einige Worte murmelte; dann mußte Marlow mit der linken Hand abheben. Nun legte der Alte die Blätter in gerader Linie hinunter; es waren planetarische Zeichen, andre Hieroglyphen oder unleserliche Buchstaben eines fremden, vielleicht orientalischen Alphabets, dazwischen fanden sich rote und gelbe erfreuliche Gestalten, Blumen und Pflanzen, auch Kreuze, schwarz oder grau gefärbt. Als die Linie gebildet war, legte er eine zweite horizontal, so daß sich ein Kreuz formierte, und als dieses sich vollendet hatte, fügte er der Grundfigur andere Linien wie Strahlen an, so daß sich ein bunter, sonderbarer Stern ordnete, dessen letzten Enden er die Blätter, die ihm noch übrigblieben, anreihte. Als dies geschehen, ging er murmelnd um die frei stehende Tafel. Plötzlich, indem er geheimnisvoll zählte, rechnete oder Formeln sprach – denn seine Worte waren leise und unverständlich – wurde seine Bewegung ein schnelles Rennen, und er brach bald hier und da, bald oben, bald unten ein Blatt aus der bunten magischen Rose und fügte es anderswo an, so daß nach wenigen Minuten eine neue Figur, der vorigen ganz unähnlich, entstanden war. Er hatte aufgehört zu murmeln und betrachtete die irreguläre Gestalt von allen Seiten, als wenn er einen Augenpunkt aufsuchte, von welchem sie sich zusammenhängend und bedeutend gestaltete. Er sah dem Dichter scharf ins Auge und sagte: »Ihr habt einen Verlust erlitten, der Euch sehr empfindlich fällt.«

»Verlust?« sagte jener, »daß ich nicht wüßte.«

»Nicht an Geld«, antwortete der Magier, »aber dies graue Kreuz, das hier neben Eurer Figur liegt, zeigt es mir an und kann mich nicht täuschen.«

»Recht!« sagte Marlow jetzt, »ich entsinne mich. Und werde ich wiederfinden, was ich verlor?«

»Der Verlust«, fuhr der Wahrsager fort, »ist Gewinn für Euch, wenn Ihr ihn zu nutzen versteht; sucht ihn nicht wieder, es könnte Euch verderblich werden.«

Als er noch einiges Allgemeine bemerkt hatte, raffte er die Blätter wieder zusammen, mischte sie von neuem, ließ Green abheben, legte sie ebenso wie vorher in Kreuz und Stern und fing dann an, ebenso zu murmeln und zu laufen, indem er die Zeichen hastig in eine andere Gestaltung warf. Es zeigte sich jetzt, daß seine leise gesprochene Formel ihm eine Regel vorschrieb, die wieder von den Blättern, wie der Zufall diese gelegt hatte, abhängig war; denn die Figur, die sich jetzt bildete, war eine von der vorigen völlig verschiedene, die noch weniger Regel und Einheit darstellte. Der Zauberer schritt jetzt auch viel länger unentschlossen hin und her, und es schien, daß es ihm fast unmöglich falle, einen Zusammenhang oder Anfangspunkt zu entdecken, von welchem aus er seine Weissagung beginnen könne. Endlich stand er still und sagte: »Ihr habt ein großes Glück und einen wahren Freund gefunden, aber beides mutwillig von Euch gestoßen.«

»Gewiß nicht«, sagte Green lebhaft; »darin irrt Ihr.«

»Also noch nicht?« fuhr jener fort, ohne gestört zu werden; »so hütet Euch, daß es nicht sogleich geschehe. Ich beachtete den Charakter dort nicht, den ich seitwärts habe legen müssen. Ihr habt schon viel Glück und Unglück überstanden. Jetzt aber habt Ihr dieses wohl überwunden, wenn Ihr es nicht freiwillig aufsucht.«

Dem dritten Gegenwärtigen wurden hierauf die Zeichen ebenso gelegt. Doch ehe er noch einige Minuten seine Formel leise gesprochen und den Stern verändert hatte, rief er aus: »Was? schon zu Ende? Und so plötzlich formiert sich von selbst diese liebliche, symmetrische Figur? Ei, junger Mann, wer Ihr auch sein mögt, Ihr wandelt jetzt auf dem rechten Wege, und das Glück reicht Euch die Hand.«

Der ungestüme Marlow wurde ungeduldig und warf die Blätter durcheinander, indem er sagte: »Laß diese allgemeinen Phrasen, die mehr oder minder auf die ganze Welt passen, nimm dieses Goldstück und sage uns etwas Bestimmteres. Und damit es dir leichter werde, so wisse, du siehst drei Schriftsteller vor dir, nenne sie Dichter, wenn du willst, und es ist unter uns die Frage entstanden, von wem der hier Gegenwärtigen die Nachwelt sprechen werde, wessen Bemühungen den Kranz des Ruhmes davon tragen und am längsten zur Freude der Welt dastehen und dauern mögen.«

»Friede mit den Geduldigen!« sagte der Wahrsager. »Nach Eurem Zorne und Schelten müßt Ihr Euch hier für den Vornehmsten halten und des Kranzes wohl schon gewiß sein. Dann solltet Ihr aber meine Schwelle nicht betreten haben; denn keiner muß sie überschreiten, der die Gewißheit schon mit sich bringt. Auch müßt Ihr in meiner stillen Wohnung jene geheimnisvolle Regel achten, der ich mich selber unterwerfe; wer mit tyrannischer Hand in diese Ordnung der Blätter greift, zerstört die Geisterlinien schmerzhaft, die sich in meinem schauenden Gemüte wie Strahlen ausbreiten, und hemmt meine Kunde. Könntet Ihr das unsichtbare Kunstwerk gewahr werden, das sich vor meiner innern Schauung entfaltet, Ihr zerrisset es so wenig wie eine Leinwand, auf welche Tizians Pinsel seine Farben legte.«

»Handle, sprich«, rief Marlow, »ich will dich nicht wieder stören.«

Jener nahm die Blätter, faltete sie aufeinander, blies einigemal darüber hin und lispelte mit einer solchen Miene der Andacht, als wenn er die Verletzten mit neuer Weihe entsühnen wollte. Nun mischte er viel länger als vorher, ließ alle nach der Reihe abheben und vermengte die Zeichen jedesmal von neuem, worauf er sie dann in drei verschiedenen Teilen, vor jedem der Fragenden, in abgesonderten Figuren ausbreitete. Als er hiermit fertig war, fing seine Formel und stille Rechnung wieder an, er riß hier ein Blatt ab und setzte es dort an, so daß nach kurzer Zeit die Figur, welche für Green bestimmt war, verschwand. Die vor Marlow lag unordentlich, die vor dem Unbekannten in einer klaren Regelmäßigkeit; bald, indem die Rechnung fortging, hatte der letzte auch alle Blätter Marlows gewonnen, die in geordneten Kreisen eine wundersame, scheinbar verständliche Figur bildeten. Als diese Operation vollendet war und der Magier sein Werk lange und aufmerksam betrachtet hatte, nahm er, wie mit demütiger Gebärde, sein Barett vom Haupte, schaute den unbedeutenden Fremden scharf an und sagte: »Dieser junge Mann, wer er auch sein mag, ist vom Schicksal dazu bestimmt, den Kranz des Ruhmes zu tragen, er wird genannt werden, wenn ihr längst vergessen seid, und dasjenige, was er jetzt schon gedichtet hat, wird Jahrhunderte überdauern, der späteste Enkel wird sich seiner freuen, und das Vaterland wird auf seinen, jetzt noch unbekannten Namen stolz sein.«

So feierlich er auch diese Worte gesprochen hatte, so wirkten sie dennoch so unwiderstehlich auf die Lachlust der beiden Dichter, daß das kleine Zimmer von den schallenden Tönen erschüttert wurde, indes der Unbekannte, hoch errötend, rückwärts und so tief in sich versunken den Boden betrachtete, daß er weder die ausgelassenen Lacher noch den Propheten zu bemerken schien. »Beim heiligen Georg!« schrie Marlow auf und schlug mit der Faust so heftig auf den Tisch, daß alle jene bunten und leichten Blätter durcheinander tanzten, »die Prophezeiung hat sich in einen trefflichen Aberwitz aufgelöst! Nun, Schreiber, was sagt Ihr dazu? So hoch seid Ihr und Eure Skripturen noch niemals geehrt worden. Es ist glaublich, daß die Akten, die Ihr gestern abschriebt, eine ziemliche Weile aufgehoben werden. O Thor, alter, blödsinniger Thor! Und wir noch größere Narren, mühsam in diese Bude herzulaufen, um gemeinen Trug und Albernheit einzuhandeln! Aber zu sehr, alter Schwarzkünstler, habt Ihr Euch bloßgegeben, und ich werde mich die Mühe nicht verdrießen lassen, die dumme, thörichte Menge zu enttäuschen.«

»Thut, was Ihr wollt, Verblendeter, Übermütiger«, rief der Magier im heftigen Zorn, indem er sein Barett wieder mit majestätischer Gebärde auf sein Haupt warf. »Ihr entriegelt das Gefängnis meiner Lippen, so daß ich nun die Worte, die ich wie Verbrecher in meinem tiefsten Busen verschlossen hatte, hervortreten lasse, um die Röte von Euren Wangen, den Glanz aus Euren Augen zu verjagen. Was kümmert mich Euer Ruhm, was Eure hinfälligen Werke, da Euer Leben ja selbst noch hinfälliger ist? So haben mir diese verachteten Figuren, so die Lineamente Eures Angesichtes gewahrsagt. Wo du, Großer, deinen Ruhm und dein Glück suchst, da wirst du deine Demütigung ernten; jener Lacher dort wird morgen schon und übermorgen die heutige Stunde vergeblich zurückwünschen; ja, dieser Monat nicht, nicht die künftige Woche wird ganz verschwunden sein, so hat euch ein frühzeitiger Tod eingeholt, und Vergessenheit und Schmach mit dem grinsenden Antlitz schwingen über eure Leichname die düstern Fahnen. Den Herrischen dort wird ein gewaltsamer Tod dahinraffen, wie auch sein finstrer Blick, jene unglückschwangere Falte in der Stirn verkündigen. Nun so lacht doch, ihr Elenden, freut euch doch eures Witzes! Die Nacht ist noch lang, bis euch dann jene ewige in ihren schwarzen Mantel hüllt, aus welcher kein Entrinnen ist, und in der kein Morgenrot von Fröhlichkeit und Lust, Witz und Scherz jemals wieder aufdämmert.«

Alle waren still und ernst geworden, Green und Marlow hatten die Farbe verloren und gingen blaß und nachdenkend die hohe Treppe hinunter und über den Hof zur dämmernden Gasse. Der Unbekannte eilte mit einem einfachen, höflichen Gruß nach Hause, tief in Gedanken versenkt. Marlow erhob draußen den Blick und sagte: »In künftiger Woche gehe ich zu Lord Hunsdon. Schlage dir, mein schwacher Freund, die Abgeschmacktheit völlig aus dem Sinn. Wer wollte an dergleichen Fratzen nur eine Minute seines heitern Lebens verlieren?«

»Du bist selbst mehr erschüttert«, sagte Green, »als ich dich jemals gesehen habe. Man sollte sich mit derlei Teufelszeug niemals einlassen; wird es einmal aufgerührt, so fassen die Mühlräder des aberwitzigen Getriebes auch den Stärksten und Entschlossensten. Das ist es ja eben, daß das Fundament unsers Lebens auf Narrheit ruht; werden die Grundsteine von der Thorheit erschüttert, so wankt unser Wesen, dünken wir uns auch vorher noch so stark. Lebe wohl, meine Emmy wird mich schon seit lange erwarten.«

Ohne noch etwas zu sagen, schlenderte Marlow tief sinnend die öde Gasse hinunter, und als Green sich wieder dem belebteren Teile der Stadt näherte, schlug ihm in der Finsternis plötzlich eine weiche Hand auf die Schulter und fragte: »Nun, wohin, alter Junge?«

»Gott bewahr' uns«, rief Green, »vor Feen und Elfen! Jeden Geist hätt' ich eher erwartet, als dich wiederzusehen, du gottloses Kind, du unglückliche Billy.«

»Warum unglücklich?« fragte sie schäkernd, indem sie sich an seinen Arm hing.

»Deines Standes und deiner Verirrung wegen«, sagte Green, und strebte vergeblich, sich von der Sünderin loszumachen.

»Daß ich dich so lange nicht gesehen habe«, fing sie von neuem an, »war doch wohl nicht meine Schuld?«

»Nein«, antwortete er, »nur meine Armut; denn als du sahest, daß du mich ganz rein ausgeplündert hattest, verschlossest du mir hübsch tugendhaft deine Thür und ließest dich verleugnen.«

»Das ist eben nicht wahr!« rief sie freundlich zürnend; »hab' ich keine Verwandten, keine Schwestern? Kann es sich nicht fügen, daß eine von ihnen tödlich krank wird und ich sie verpflegen muß? – Sieh, Alter, ich wohne noch hier, in dem vorigen Hause. Komm doch einmal nach langer Zeit wieder hinauf.«

»Ich kann nicht«, rief Green aus; »ich will, ich darf nicht!«

»Ei, du willst«, schmeichelte sie, »nur um Abschied von mir zu nehmen, wenn du mich doch so treulos verlassen wirst. Nur eine einzige Abschiedsminute; die habe ich doch wohl an dir noch verdient. Du sollst nur meine Einrichtung sehen, und wie schön ich alle deine Bücher, in saubern Bänden, da hingestellt habe. Diese machen ja seit lange meinen einzigen Trost aus. Dein Bild hängt immer noch an dem alten Platz, und täglich wird es mit Lorbeer oder frischen Blumen bekränzt. Du weißt doch, daß morgen dein Geburtstag ist?«

»Morgen schon?« fragte der überraschte Dichter.

»Sieh«, fuhr sie mit der süßesten Stimme fort, »das weiß ich besser als du, so sehr ist dein Leben mit meinem unglücklichen Herzen verwachsen. Nun komm, nur einen Augenblick! Ich verspreche dir, ich will auch nicht einmal einen Kuß von dir verlangen.« Die Thränen unterbrachen sie.

»Ich gebe nach«, sagte Green, »ob ich gleich recht gut weiß, daß ich es nicht thun sollte. Aber dann mußt du auch getröstet sein und mich ruhig und auf immer ziehn lassen.«

»Will ich denn etwas anderes?« schluchzte sie; »kann ich denn, wenn ich dich liebe, irgendwas als dein Glück wollen? Und was kümmert dich auch mein Elend?«

So traten sie in das kleine, vertrauliche Zimmer, das grillenhaft ausgeschmückt und an den Wänden mit wollüstigen Gemälden verziert war. Sie ließ sich auf das Ruhebett fallen, nahm die Laute und sang eins jener zarten Lieder Greens mit rührender Stimme, das er selbst im vorigen Jahre für sie gedichtet hatte. »Das ist nun alles, alles vorbei«, sagte sie dann; »jetzt bist du ein stiller, ein ordentlicher Mann, der zur rechten Zeit nach Hause kommt.«

Green saß ihr gegenüber und klimperte auf der Laute.

»Was seid ihr Männer doch für Wesen!« fuhr sie schwatzend fort, indem sie ihn zärtlich ansah; »erst vergöttert ihr uns wegen unsers Leichtsinns, wegen unserer wandelbaren Laune, schmält auf das Alltägliche und Ehrbare, und kehrt dann doch mit Reue zu diesem zurück. Ist denn ein Kuß, halb gegeben, halb gestohlen, nicht viel süßer? Ich meine, wenn ich ein Mann wäre, würde mir ein Mädchen um so mehr gefallen, das ich immer wieder, so oft ich in ihr Zimmer träte, durch neuen Liebreiz gewinnen und fesseln müßte. Jetzt heißt es bei dir: ›Liebe mich!‹ und du mußt gehorchen.«

»Ich muß gehen«, sagte Green und stand auf, »jetzt gib mir den Abschiedskuß.«

»Das ist gegen die Abrede«, rief sie und sprang mutwillig zurück. Er lief ihr nach, und sie jagten sich lange lachend im Zimmer herum. Er ergriff sie endlich, seine Hände hielten sie fest, sie konnte nicht weichen, ihr Gewand hatte sich beim Ringen verschoben, und mehr als ein Kuß ward erbeutet.

Er kam in dieser Nacht nicht in sein Haus zurück.


Der Squire hatte schon alle seine Sachen nach seiner neuen Wohnung schaffen lassen und war im Begriff, vom Gasthof und dem redseligen Wirt Abschied zu nehmen. Er lehnte sich jetzt aus dem großen Fenster und überschaute das Gewimmel der lebhaften Straße. Indem er die mancherlei schnell vorüberwandelnden Gestalten musterte, dünkte ihm, daß er unter diesen seinen entlaufenen Pagen wahrnähme. Er war in anderer Kleidung und trug stattlich einem schönen weiblichen Wesen den Fächer vor, die nach ihren Gebärden und farbigen Gewändern den vornehmeren Kurtisanen zugehörte, die meistenteils in den Vorstädten, in zierlich eingerichteten Häusern ihr Wesen trieben. Was ihn etwas irre machte, war nicht nur, daß der Bursche in ganz andern Kleidern ging, sondern daß er auch ein gewisses freches Wesen angenommen hatte, welches seinem ehemaligen schüchternen und bäurischen Betragen völlig entgegengesetzt war. Er wollte schon hinabeilen, um die beiden zu verfolgen, als er durch einen ungeheuren Tumult am Fenster festgehalten wurde, der sich die Straße herunterwälzte. Das verworrene Geschrei der Menge war so heftig, daß, durch Neugier aufgeregt, aus allen Nebengassen sowie von der entgegengesetzten Richtung Volksmassen in großer Eile herbeistürzten, um die Neuigkeit zu erfahren und an dem Tumulte teilzunehmen. Der Wirt kam ängstlich in das Zimmer gelaufen, um die Ursach' des Geschreis zu erforschen, und zu sehen, ob er etwa Thür und Fenster verschließen müsse. Denn nach dem wiederholten Toben und Geschrei mußte er fürchten, daß ein Aufruhr des gemeinen Volkes entstanden sei.

Bald kam die Hauptgruppe näher, und der Squire unterschied zu seinem Erschrecken sogleich jenen bleichen, abgemagerten Schulmeister Coppinger und Arthington, seinen unklugen Vetter. Beide schrien, so laut sie es nur vermochten: »Bekehrt, bekehrt euch, Engländer! Thut Buße! Das Gericht des Herrn ist unterwegs; der Richter der Welt liegt noch ruhend, hier nahebei in Broken-Wharfe und erwartet den Ausgang des heutigen Tages; uns, seine Apostel, sendet er mit den Wurfschaufeln voran, die Tenne zu reinigen.« – »Ich«, rief Arthington, »bin der Bote der Barmherzigkeit; höret heute noch einmal und zum letztenmal meine Stimme! Jener, Coppinger, ist der Bote des Zorns, der euch in eurer Halsstarrigkeit zermalmen wird.«

Sie wollten unter diesem Geschrei weiter vordringen, aber es war ihnen unmöglich, so heftig war der Andrang des Volkes und so groß die wogende Masse, die sich immer dichter und tobender um sie schloß. Vor dem Gasthofe stand ein leerer Karren, von welchem der Wirt eben Wein abgeladen hatte; diesen bestiegen jetzt die Propheten, um von dort gehört zu werden und ihre Reden an das Volk zu halten. Arthington verkündigte ihnen nun, daß der Messias da sei, der die reine, ungefälschte Kirche stiften werde und jenen Götzendienst verbannen, der sie jetzt entstelle. Die Königin könne, wenn sie sich bekehre, in Ruhe fortregieren; auf jeden Fall aber müßten ihre bösen Ratgeber, vor allen Burleigh, der Oberschatzmeister, dem Verderben überliefert werden. Das Volk beantwortete ihre Reden mit Beifall und Geschrei, einige Reiter, die im Haufen eingeklemmt waren, wollten zur Ruhe ermahnen und den Aufrührern ihren Frevel verweisen, aber ein allgemeines Toben, ein schreckliches Hussarufen und Drängen und Stoßen übertönte und verwirrte sie; die Fernstehenden fragten, forschten, die Nähern suchten zu antworten, die Propheten, ohne gehört zu werden, baten, daß man ihnen Platz machen möchte, weil sie noch durch die ganze Stadt ziehen müßten, um die guten Bürger zur Buße zu ermahnen, indessen ein Sheriff mit KonstabelnEin Landrichter mit Polizeidienern. durch die undurchdringliche Mauer des Volks sich Platz zu brechen strebte. Der Squire eilte hinunter, ergriff schnell seinen Vetter, der in der Verwirrung nicht vermißt wurde, und führte ihn durch das Haus nach einem dunkeln Hinterstübchen, wo er ihn alsbald einschloß. »Ich danke dir, guter Vetter«, sagte der erhitzte Redner, »daß du dich der guten Sache so eifrig annimmst; wußte ich doch, daß die Bekehrung wie ein reißender, übertretender Strom dich plötzlich ergreifen würde; so kann ich nun sogleich aus dem Hinterhause in die Gasse dort und von da meinen göttlichen Beruf durch die übrige Stadt fortsetzen.«

»So ist es nicht gemeint«, sagte der Squire. »Warte hier, bis das größte Getümmel vorüber ist, und dann, Wahnwitziger, rette dich, so gut du kannst.«

»Kleingläubiger!« rief Arthington und lächelte mit Verachtung. »Glaubst du denn, daß ich wahnsinnig genug gewesen wäre, mich in dieses große Unternehmen einzulassen, wenn die Möglichkeit einer Gefahr da wäre, daß mir auch nur ein Haar gekrümmt werden könnte? O ihr Kurzsichtigen, ihr an allen Sinnen Verstümmelten! Du willst also nicht glauben, bis du das Wunder siehst und fühlst? Aber dann wird es für dich sowie für die übrigen Verstockten zu spät sein.«

»Dein Schulmeister«, sagte der Squire, »ist in diesem Augenblick gewiß schon ergriffen, und es endigt mit ihm wie mit dir, Vetter, in Tyburn.«Früher der öffentliche Richtplatz Londons.

»Laß sie uns greifen«, rief der Schwärmer, »laß sie uns zum Hochgericht führen, ja schon die verderbliche Schnur um den Nacken legen, und du wirst mich dennoch laut und herzlich lachen sehen. Auf einen einzigen Wink meines hohen Meisters, ein Wort von ihm, und es stürzen sich aus den Himmelsräumen die tausend Heeresscharen der Engel, die ihm dienstbar sind und ihn und uns unter den harmonischen Tönen ihrer bewegten Fittiche hinauf oder in die Ferne tragen. O ihr Armen! ihr nur dauert mich, denn jetzt seid ihr alle verloren.«

»Warum?« fragte der Squire.

»Hätten sie Buße gethan«, fuhr der Prophet fort, »so wären die schlimmen Räte abgesetzt, und die Königin hätte nach unserer Anordnung ihre Regierung eingerichtet. Nun aber wird eine Tobsucht über alle Einwohner dieser erbarmungswürdigen Stadt herniederfallen, sie werden sich selber nicht erkennen, jeder wird den zweiten für seinen Feind ansehen, und so müssen sich alle wie wütige Tiger und Löwen selbst untereinander aufreiben und zerfleischen. Da wird sein Heulen und Jammern, Fluch und Zeter, Verzweifeln und Hohnlachen. Babels Verwirrung wird sich, nur blutig und fürchterlich, wiederholen. Und dann erscheint Hacket in den Wolken und sieht triumphierend in die Zerstörung hinab, und wir an seiner Seite richten die Verdammten, und das neue Jerusalem wird dann gegründet.«

»Wahrscheinlich«, sagte der Squire, »wird Hacket als das Haupt dieser elenden Verräterei schon im Gefängnis sitzen und als das erste Opfer fallen.«

»Er? Hacket? der allmächtige?« schrie der ereiferte Prophet. »Ei, Vetter! Vetter! wie bist du doch gar so dumm und ohne alle innere Offenbarung und könntest dir Lehre, Besserung und dein Glück doch aus so naher Quelle schöpfen, da ich dein Blutsfreund bin! Er gefangen? Er beschädigt? Ebenso leicht könnten aus diesen toten Mauern Weinreben hervorsprossen, ebenso leicht könnten Sonne und Mond vom Himmel fallen und draußen im Park als fremde Wunderdinge spazieren gehen, ebenso leicht fiele die Kluft zwischen Himmel und Hölle ein, ja ebenso leicht könntest du ein vernünftiger Mann und wie unsereins werden.«

»Laß es gut sein, wir wollen über diese Punkte nicht streiten«, sagte der Squire. »Komm jetzt durch diese Nebengäßchen, daß du so in dein Haus und womöglich dann schnell aus der Stadt schlüpfen kannst. Halte dich irgendwo in der Landschaft auf einige Zeit verborgen, bis der unglückliche Handel wieder vergessen ist, und vielleicht magst du so dein Leben erhalten und in Zukunft einmal, in ruhigern Zeiten, deine Vernunft wiederfinden,«

Sie schlichen durch die Gassen, die dort nur wenig lebhaft waren, man hörte aber von jenseit noch das Getümmel dumpf aus der Ferne. In der Nähe der Wohnung Arthingtons nahm der Squire von diesem Abschied, indem er ihn noch einmal ermahnte, die günstigen Umstände zu benutzen und sich eiligst aus der Stadt zu entfernen. Sowie der Freund fortgegangen war, kehrte der Vetter kurz wieder um und bog in eine andere Gasse, um sich der Szene des Tumultes zu nähern. Als er in die größere Straße trat, kamen ihm Gerichtsdiener entgegen. »Nicht wahr«, redete er sie an, »ihr sucht den Propheten der Barmherzigkeit?«

»Nicht anders«, erwiderte der Anführer. »Könnt Ihr uns vielleicht anweisen, wo wir den Narren und Bösewicht habhaft werden können?«

»Ich bin es selbst«, sagte Arthington freundlich lächelnd.

»Selbst?« rief jener erstaunt. »Nun, um so besser, daß Ihr uns der Mühe überhebt. Ihr müßt sogleich mit uns ins Gefängnis.«

»Wirklich?« fragte der Prophet lachend. »Nun, wenn ihr es so meint, ich kann auch nichts dagegen haben.«

»Um so glücklicher, wenn wir einander so freundschaftlich verstehen. Euer sauberer Schulmeister ist auch schon festgenommen, und der Hacket wird uns ebenfalls nicht entgehen.«

»Ihr armen, armen Menschen!« rief der Prophet, »wie seid ihr doch so über alle Maßen unglückselig!«

»Ihr seid schlimm daran«, sagte der Anführer, »bemüht Euch nicht, uns zu bedauern, denn Euch allen ist der Galgen gewiß genug.«

»Wo wächst der Baum«, fragte Arthington, »der uns töten könnte?«

»Er ist längst gewachsen«, antwortete jener lachend, »und ausgewachsen, ein hübscher, stämmiger Bursche, da draußen in Tyburn, der Euch nicht wird fallen lassen, wenn er Euch erst einmal in die Arme genommen hat. Gewiß, Ihr werdet eine angenehme Bekanntschaft an ihm machen, und Ihr müßt Euch recht gut ausnehmen, wenn Ihr dort paradiert.«

»Elende Spötter!« sagte der Prophet, sie mit Blicken betrachtend, in denen sich Verachtung und Mitleid mischte; »wie wird euch sein, wenn ihr mich in meiner Herrlichkeit erblickt!«

Sie führten ihn laut lachend fort, indem sie sagten: »Solche kräftige Sehnsucht nach dem Galgen haben wir noch an keinem wahrgenommen.«


Die unglückliche Emmy hatte seit jenem Abende ihren Gatten nicht wiedergesehen. Sie war in der Nacht unter Angst und Thränen wach geblieben, und am Morgen hatte sie Boten zu allen Bekannten gesendet, auch in den Gasthof, um von ihm zu erfahren; aber alle kamen ohne Nachricht und Trost zurück. Sie würde geglaubt haben, er sei umgekommen, wenn nicht der arme Wirt Greens, bei dem er vormals gewohnt hatte, ihr in guter Meinung das Gerücht überbracht hätte, daß einige Bekannten ihren Freund mit einem schönen, aber übel berufenen Frauenzimmer hatten über Land fahren sehen. Einige wollten in Greenwich, andere in RichmondGreenwich, unterhalb Londons, südlich der Themse (jetzt Vorstadt); Richmond, oberhalb (westlich) Londons am rechten Themseufer. von ihnen gehört haben. Da nun schon mehrere Tage verflossen waren, konnte man so viel wenigstens für ausgemacht annehmen, daß Green nicht die Absicht habe, zu seiner Familie zurückzukehren.

In Trauer und Thränen fand der Squire die arme Gattin und den unmündigen Sohn. »Ach, lieber fremder Mann«, rief ihm dieser weinend entgegen, »der Vater ist uns wieder verloren gegangen; tröste die Mutter, sie will sterben und auch von mir gehen.«

Der Freund erkundigte sich nach den nähern Umständen, und als er alles erfuhr, war sein Gefühl unentschieden, ob er mehr mit der Frau leiden oder über den so leichtsinnig Verblendeten zürnen solle. Endlich fiel ihm ein, daß Green dennoch vielleicht auch diesen letzten Sturm überstehen möchte; nur müsse man dafür sorgen, ihn, sowie er zurückgekehrt sei, gleich auf das einsame Land hinaus zu schaffen.

»Und glaubt Ihr«, antwortete sie, »daß damit wirklich etwas gewonnen sei, daß ich mich bei einer so eiligen Anstalt beruhigen könne? Es zeigt sich ja nur zu deutlich, daß er unter einem unglücklichen Banne, in einem verhängnisvollen Zauber lebt, den er niemals zerbrechen kann. Was es in seinem Geiste und Herzen ist, das ihn so über die Schranken der Natur hinüber reißt, daß er sein Glück und seine Ruhe von sich wirft, begreife ich nicht; denn ich weiß im voraus, er selbst wird diese Flucht auf das bitterste bereuen; ja schon jetzt in diesen Minuten ist ihm nicht wohl, und dennoch verfolgt er seine Laufbahn. Daß er aber so schnell nicht umkehrt, sehe ich daraus, daß er alles, was ihm von Eurer Großmut noch übrig war, von jenem Kaufmanne sich hat auszahlen lassen.«

»Reiset der Vater so gern?« fragte der Knabe; »warum nimmt er mich denn niemals mit«?«

»Dein Vater ist« – rief der Squire zornig, aber er brach gerührt ab und sagte: »Ach! armes Kind, er ist dir kein Vater.«

»Ja!« rief der Kleine heftig aus, »er ist und bleibt unser Vater. Wir haben niemals im Hause einen andern gehabt. Und die Kinder müssen um den Vater weinen, so gehört sich's. Sie sagen alle, der Vater ist unartig, und darum will die Mutter, daß ich desto artiger werde. Mutter, lache doch nur einmal wieder! Du weißt wohl, dann gefällt mir der böse Großvater, dann fasse ich meine Puppen draußen wie lauter Brüderchen an und ich bin so lustig wie der König von Frankreich. Aber Mutter weint zu viel, das Lachen ist nur wie das Wetter gestern, wo auch den ganzen Tag die Sonne nur ein Augenblickchen schien. Und doch kann sie recht schön lachen«, schwatzte der Knabe weiter, indem er sich an den Fremden schmiegte, »die böse Mutter, wenn sie nur will; gar anders als Großvater zu Hause, der immer verdrüßlich ist.«

»Vergebt ihm«, sagte Emmy, »das Herz möchte mir oft bei seiner lieben Albernheit brechen.«

»Teure, liebe Frau«, sagte der Squire gerührt, »am besten, wir sprechen von Green gar nicht weiter. Wie Euer Edelmut, Eure Liebe ihn entschuldigt, das weiß ich; ich kann Euch darin nicht beistimmen, schelten darf und mag ich in Eurer Gegenwart nicht, und darum werde er nicht genannt, der diese kostbaren Thränen aus diesen Augen so gewissenlos strömen macht. Ihr müßt geschützt werden, das ist die Hauptsache. Ich werde dafür sorgen, daß Ihr auf anständige Art zu Euren Eltern zurückkehrt; – wenn Ihr außerdem meine Hülfe, meine Freundschaft annehmen mögt –«

»Ihr habt schon zu viel für uns gethan«, fiel ihm Emmy ins Wort.

»Nimm, Kleiner«, rief der Squire, – »aber stört mich nicht, edle Frau!« Er gab dem Knaben einen Beutel mit Gold. »Ihr müßt hier noch manches zu bezahlen haben, Ihr braucht dies und jenes, bevor Ihr reiset.«

Ohne Dank abzuwarten, entfernte er sich; aber auf der Straße traten ihm unerwartet die Gerichtsdiener entgegen, die ihn schon aufgesucht hatten und ihn nun ebenfalls ins Gefängnis und zum Verhöre führten, weil man erfahren, daß er mit Arthington verwandt sei, auch diesen öfter gesprochen und sogar den Hacket in seiner Wohnung besucht habe.


Emmy war mit ihrem Knaben abgereist, und der Squire war einigemal wegen seines Verhältnisses zu Arthington und Hacket verhört worden. Der Prozeß mit diesem war schnell geendigt, er ward als Verräter hingerichtet, und dasselbe Volk, welches seinen ausgesendeten Aposteln zugejauchzt hatte, sah jetzt mit lärmender Freude seinen schmachvollen Tod an. Der Squire, dessen Unschuld die Richter einsahen, wurde bald wieder losgesprochen, und es ward ihm vergönnt, seinen Vetter im Gefängnisse zu besuchen, den er in einem sonderbaren, von seinem ehemaligen ganz verschiedenen Zustande antraf.

Arthington gehörte zu jenen leicht beweglichen Gemütern, denen es nicht unmöglich ist, schnell von einem Äußersten auf das Entgegengesetzte überzuspringen. So hochmütig, so sicher er gewesen war, so zerknirscht und demütig erschien er jetzt. Er hatte seinen Richtern in den Verhören nicht die mindeste Ehrfurcht bewiesen, aber vor Hacket war er niedergefallen, um ihn anzubeten, der ihn auch, selbst wahnsinnig, mit seinen falschen Verheißungen von neuem berauschte. Als jetzt der Squire in das Gefängnis trat, fand er den Unglücklichen in Thränen gebadet am Boden liegen. »Ach! Vetter! teurer Vetter!« rief er, »du gehst mir wie die Sonne in meinem düstern Kerker auf. So gibt es also doch noch ein Wesen, das sich um mich Ärmsten, den ganz Verlornen, kümmert? Das ist Christentum, das ist Liebe!«

»Nun, du Armer, Schwacher«, sagte der Squire, »wo sind jetzt deine thörichten Hoffnungen? Vorgestern ist der frevelnde Hacket hingerichtet worden, und gestern ist Coppinger im Gefängnis, in das er schon halbverhungert kam, vor Gram und indem er sich aller Nahrung enthielt gestorben. Wo ist nun deine Prophetengabe? Wo ist dein Welterlöser geblieben?«

»Spotte nicht, Vetter«, rief der Trostlose, »ermahne mich nicht weiter; denn ich habe mir selber schon alles gesagt, seit ich die Hinrichtung des gottlosen Hacket habe mit ansehen müssen. Ich habe es nicht für möglich gehalten, daß ein Mensch so grob betrügen könne, noch weniger aber, daß ein anderer sich auf so grobe, handgreifliche Art betrügen ließe. Ich glaube aber, daß eben das Feinere uns nicht so hintergehen würde, und so bin ich denn verloren und in ein Irrsal geraten, das ich niemals wieder gutmachen kann. Nicht wahr, Vetter, ich hatte es so gut daheim? Man kann es sich nicht besser wünschen; da mußtest du mich nach London schicken, damit der Satan hier sich meiner armen Seele bemächtigen und mir die Schnüre des Verderbens an meinem Halse zuziehen könnte.«

»Weißt du es denn auch«, fuhr der Squire fort, »daß selbst alle Frommen von deiner eigenen Sekte dich und den Hacket verwünschen? Daß keiner euch für Heilige oder gute Menschen anerkennen will? Bis jetzt ist die Thorheit der Puritaner noch in keinen öffentlichen Aufstand ausgebrochen, ihr Murren gegen Kirche und Regierung geschah nur im stillen und hatte auch keine weitere Folgen; doch jetzt ist ein erschreckendes Beispiel gegeben worden, und es ist keinem Zweifel unterworfen, daß man nun gegen diese Sektierer strengere Maßregeln versuchen wird. Darum verleugnen euch und eure Thorheit alle diese Puritaner, aber sie werden doch vielleicht veranlaßt, wenn sie mehr gedrückt und gestört werden als bisher, in offenbare Unzufriedenheit auszubrechen, und so pflanzt sich wohl von dieser Stunde ein unglückseliger Kampf zwischen Unterthan und Herrscher fort, der in schwächern, in verhängnisvollen Zeiten von den schlimmsten Folgen sein kann. Und alles dieses Unglück hat dein und deiner Freunde Aberwitz zunächst veranlaßt.«

»Lieber Vetter«, erwiderte Arthington, »das alles und noch viel Schlimmeres ist mir jetzt völlig gleichgültig und nichts weniger als wichtig, seit es mir klar geworden ist, daß es sich hier um meinen Hals handelt. Ich gehöre, bester, teuerster Vetter, zu gar keiner Sekte mehr. Was gehen mich alle Puritaner und Brownisten an, die Presbyterianer und Wiklefiten, und wie sie alle noch Namen führen, die unglücklichen Leute, die fremde Eier ausbrüten wollen und nicht bedenken, daß ihnen Schlange oder Truthahn, Gans oder gar Basilisk, im Fall die Brut gerät, unmittelbar in den Schenkel beißen? Nein, mein geehrter Blutsfreund, seit ich eingesehen habe, wie dumm ich gewesen bin, seit ich gesehen, wie sie mit dem Hacket umgegangen sind, und daß mir dasselbe geschehen soll, ist mir in einer so fürchterlichen Todesangst Gedanke, Gefühl, Glaube und alles Überirdische so völlig verschwunden, daß es mir sogar gleichgültig ist, ob nur überall noch eine Seele in meinem Leibe steckt. Bloß um diesen und um meinen Hals ist es mir zu thun. O Vetter, wer noch niemals gehängt ist, hat gut schwatzen. Nun ist es mir zwar auch noch nicht begegnet, aber im Hacket habe ich alles selber mit erlebt. Nein, mein Kind, ich bin kein Puritaner mehr, ich bin gar nichts mehr als ein Mensch, der noch gerne länger sein Butterbrot essen möchte.«

»Deine beiden Schreiben«, sagte der Squire, »in denen du deine Richter um Verzeihung bittest, deine Irrtümer bekennst, die Art aufrichtig erzählst, wie du bist verführt worden, und deine Reue so unverkennbar zeigst, haben, das weiß ich, schon die beste Wirkung hervorgebracht.«

»Haben sie das?« rief Arthington entzückt, sprang auf und umarmte seinen Vetter; »o, gesegnet sei dann die Feder, mit der ich schrieb, und dreimal gesegnet die Gans, von welcher diese heilbringende Feder genommen ist! Ach, Gänse, Gänse, Vetter, sie können auch in unsern Tagen noch arme Sünder, wenn auch kein Kapitol mehr retten.«

»Ich bin«, fuhr der Squire fort, »so glücklich gewesen, selbst den Lord Oberschatzmeister Burleigh zu sprechen.«

»Nicht wahr«, sagte Arthington erfreut, »ein ganz vorzüglicher Mann? Ein Mann, dem die Königin mit Recht ihr ganzes Vertrauen schenkt! O, der einsichtvolle, treffliche Minister wird gewiß begreifen, daß England auch glücklich und ruhig sein kann, ohne daß ich meinen armen Hals herzugeben brauche.«

»Er wurde von meinen Vorstellungen gerührt«, sagte der Squire; »ich erzählte ihm – und du mußt mir schon vergeben, Vetter, einem Politiker gegenüber muß man selbst, auch manchmal der Wahrheit zuwider, politisch sein – du habest von je an nur einen schwachen Geist kundgegeben, so sei es dem Verräter gelungen, dich mit seinen thörichten Vorspiegelungen zu berauschen, und dein Unternehmen sei also vielleicht, wenn man sich deiner erbarmen wolle, mehr Narrheit als Verbrechen zu nennen.«

»Recht so, recht so, goldener Vetter!« rief Arthington; »ein Narr bin ich, ein ausgemachter Dummkopf, das sind so die rechten Worte für die Sache. O, du hast eine herrliche Redekunst! Weiß ich es doch, daß du mich von außen und innen kennst. Immer war ich ein Gimpel und Einfaltspinsel, man kann es nicht mehr sein; mache das doch den Herren vom Rate und dem hochverehrten Lord Burleigh so recht klar und deutlich. O Vetter, erinnerst du dich noch, wie ich schon in der Schule das Lesen nicht begreifen konnte? Mit den lateinischen Autoren ging es nachher noch schlimmer. Nichts konnte ich in MathesiMathematik kapieren; der korpulente Simplex hieß ich dazumal immer. Rufe doch alle die Streiche in dein Gedächtnis zurück, daß die gütigen Herren mich nur aus dieser Todesangst nehmen.«

»Sie haben deine Bestrafung«, endigte der Squire, »darum noch aufgeschoben, um zu sehen, ob es dir mit deiner Reue und Buße auch wirklich Ernst sei.«

»Kein Ernst«?« rief der Gefangene; »Vetter! sollte mir der Himmel aus diesen Mauern helfen, sieh, so will ich die Regierung, die Königin und ihre Räte so ausbündig lieben, daß es fast eine Schande sein soll. In Disputieren, Denken und Grübeln über Religionssachen will ich mich so wenig einlassen, daß ich eher glaube, mein ganzes Christentum geht von dannen, und ich wandle als ausgemachter Heide umher. Was geht mich denn unsere Kirche mit allen ihren Bischöfen und Zeremonien an? Und wenn sie über die ganze Pauluskirche, oben vom Kreuz des Turms bis unten hinab ein Chorhemde ziehen, so soll es mich freuen, besonders wenn ich etwa die Leinwand dazu liefern und ihnen verkaufen müßte. Der allerbeste Unterthan in ganz England will ich werden, denn ich fühle dazu die bestimmtesten Anlagen in mir. Nach London will ich auch zeitlebens nicht wieder kommen, denn in solcher großen Stadt wird der einfache Mensch, der lange auf dem Lande gelebt hat, nur gar zu leicht verführt. Jawohl haben sie mich hier zum Apostel der Barmherzigkeit gemacht, daß es zum Erbarmen ist. Vetter Goldmund, gehe nur hin und stelle das alles meinen Richtern vor, so brühwarm, wie ich es dir eben vorgetragen habe, bekehre die Leute mit deinem Feuereifer, daß sie sich das verdammte Hängen und Hinrichten aus dem Sinne schlagen.«

Der Squire verließ den Unglücklichen, der jetzt in seiner Bekehrung fast ebenso thöricht sprach als in seinem vorigen sündhaften Zustande. Er besuchte alle seine Freunde, die einigen Einfluß hatten, und suchte neue zu erwerben, um den armen Wahnsinnigen von seiner Angst zu erlösen und aus seinem Gefängnisse zu befreien. Man schien auch zu glauben, daß für den Pöbel die Bestrafung des einen Aberwitzigen hinreiche, um abzuschrecken, so daß der Squire die Hoffnung fassen konnte, seinem Verwandten, der weder zu leben noch zu sterben geschickt war, bald seine Verzeihung anzukündigen.


Green hatte sich in London wieder eingefunden. Blaß, entstellt, in schlechten Kleidern, mit erloschenen Augen betrat er wieder die Straßen, und alle seine Bekannten verwunderten sich, wie er sich in kurzer Zeit so sehr habe verwandeln können. In dieser Gestalt schritt er zum Erstaunen des Gastwirtes bei diesem ein, setzte sich wieder an jenes Fenster und ließ sich wie damals eine Flasche Wein reichen. Auf alle Fragen des neugierigen Wirtes antwortete er nur mit stummen Bejahen oder Verneinen und trank, so schien es, mehr, um seine trübe Laune nur irgend zu erheitern, als aus Wohlbehagen. Nach einer halben Stunde trat Marlow ebenfalls mit allen Zeichen einer stillen Verzweiflung zu dem Einsamen, ließ sich auch Wein geben und trank in eiligen Zügen, indem er den alten Freund nur obenhin begrüßte, so daß er sich gar nicht darüber zu verwundern schien, diesen wieder nach der Abwesenheit mancher Tage in der Stadt zu erblicken.

Green eröffnete das Gespräch mit den Worten zuerst: »Da wäre ich nun wieder, von Gram zerstört, geplündert und, wie ich es wohl fühle, sterbend. Und so hatte unser Wahrsager, den wir verlachen wollten, wohl recht. Jene Billy, die du auch kennst, zog mich wieder, der ich mich so sicher wähnte, in ihr Netz; sie mußte von meinem Gelde gehört haben. Wir führten einige Tage hindurch, was die Leute ein lustiges Leben nennen; ich hatte die Hölle im Herzen. Nun ist mir wieder wohl, nun ich hier die letzten Schillinge verzehre, nun meine Frau wieder abgereiset ist, nun mein Wohlthäter mich verachtet; jetzt kann ich wieder als Dichter meine Begeisterung erwecken, schaffen, wirken und das in der Phantasie und in Grillen suchen, wofür ich, es im Leben zu finden, kein Geschick besitze.«

Marlow sah ihn mit starren Blicken an, stand auf und ging im Saale auf und ab. »Also du bist nun, Robert«, fing er an, »wieder auf dem alten Flecke? Du ließest dich ja so gut zu einem reputierlichen Manne an; wie ist es denn nun doch so anders gekommen! Du ein Dichter? Wie ein armer Sünder siehst du aus, der dem Gefängnisse mit genauer Not entsprungen ist.«

»Draußen, in Glostershire«,Grafschaft im westlichen England, am untern Severn. sagte Robert, »mußte ich meine guten Kleider lassen, als meine edle Geliebte mit diesen und meinem Gelde davongelaufen war. So, wie du mich siehst, hat mich der Trödler kaum noch für mein weniges Geld ausstaffieren wollen. Es war bei dem allen eine spaßhafte Reise. Wie ich wieder zu der dichterischen Weise gekommen bin? Wie ich nach meiner Bekehrung zur alten Wildheit wieder habe umsatteln mögen? Guter Christoph, als ich in Neapel war, da hatten wir einen so wilden Hengst, daß ihn kein Mensch reiten konnte; der Kräftigste und Geschickteste in unserer Gesellschaft setzte sich hinauf, das Tier rannte mit ihm davon, und er brach den Hals. Ich war in der ganzen Stadt der schlechteste Reiter, ich hatte nie viel von Pferden gehalten und vermied, wo ich nur konnte, auch das sanfteste zu besteigen; gegen die Neckereien und das Gespött meiner Gefährten war ich ganz gleichgültig – aber nun, von dem Halsbrecher aufgemuntert, von aller Welt abgeraten, schwinge ich mich auf das Roß, und somit die Bestie, die schon ohne Anreiz unbändig genug war, mit allen Kräften gepeitscht und gespornt. Wir schossen denn auch wie der Blitz dahin und einen steilen Abhang hinunter, ich lag lange für tot da, und die unsinnige Kreatur hatte zwei von den vier Beinen gebrochen. Sage, Marlow, sind wir es selbst, die solche weise Streiche ausführen? Und wenn wir es nicht sind? – O weh! der Wein widersteht mir auch, er schmeckt bitter.«

Marlow sang, umhergehend, Stellen aus alten Balladen. »Jawohl«, fing Green wieder an, »ist das Leben ein solches unbändiges Roß, diesmal hat es mich so abgeworfen, daß mir alle Rippen erkracht sind. Wie oft bin ich schon mit dem Viehe gestolpert, wie oft ist es mit mir durchgegangen, den Zaum zwischen die Zähne nehmend, aber dennoch habe ich mich niemals auf den Esel der Tugend setzen oder den Wanderstab in die Hand nehmen wollen, um einen einfachen, demütigen Wandel zu führen. O Christoph, Freund, mein Geist ist so abgejagt und müde, alles, woran ich nur denken kann, erscheint mir so abgestanden, schal und nüchtern, daß ich Spaßes halber den ersten armen Sünder zum Narren haben und statt des seinigen meinen Hals in die Schlinge stecken möchte. Hast du auch wohl schon die Empfindung gehabt?«

»Kennst du den Neid?« rief Marlow.

»Nein«, sagte Green. – Es entstand wieder eine Pause, nachher fuhr Marlow tiefsinnig fort: »Vielleicht auch ist es die Bewunderung, die meine Natur nicht ertragen kann. Ich weiß es nicht zu nennen. Bosheit, gemeine Bosheit kann es doch wohl nicht sein.«

Green hatte sich auch erhoben, und die beiden ganz verstimmten Freunde wandelten verdrüßlich im Saale auf und ab. Plötzlich rief Marlow den Aufwärter und ließ ein Feuer im Kamin anzünden. »Friert dich?« fragte Robert. »Seele und Phantasie sind mir erfroren«, antwortete der mürrische Marlow. Als das Feuer brannte, näherte er sich demselben und ließ aus seinen Taschen ein Blatt nach dem andern in den Kamin fallen. Green hatte es erst nicht beachtet, endlich ging er näher und rief im höchsten Erstaunen, indem er ihm die Hand festhalten wollte: »Wie? das sind ja deine Gedichte! dies ist ja dein neues Trauerspiel! Plagt dich denn der Teufel persönlich?«

»Laß!« rief Marlow, indem er sich den Arm frei machte und das letzte Papier mit Widerwillen in die Flamme schleuderte; »er hat mich geplagt, daß ich mich für einen Dichter, für etwas ganz Besonderes hielt; aber er hat mich nun verlassen, eine Beschwörung vermochte es, mich armen Besessenen von dem bösen Geiste ganz frei zu machen.«

Der erstaunte Green konnte sich in seinem Freunde nicht finden, er betrachtete ihn genauer und wurde nun erst gewahr, wie zerrüttet, wie blaß, ja wie verzweiflungsvoll er aussah. »Mensch!« rief er, vor Schrecken einen Schritt zurücktretend, »du bist recht ernsthaft krank, der Tod sitzt dir im Auge, wenn es nicht der Wahnsinn ist.«

»Alles gleich«, antwortete Marlow, »mag kommen, was will, ich werde es zu ertragen wissen. – Aber wir wollen uns wieder niedersetzen, und ich will dir die ganze Geschichte umständlich erzählen, denn du mußt ja doch erfahren, weshalb mir so seltsam zu Mute ist.«

Sie rückten die Stühle an den flackernden Kamin, und indem die Flamme, die am Tage mit bleichem Scheine leuchtete, ihren Glanz auf die beiden entstellten Gesichter warf, die mit ermatteten Augen vor sich hinstarrten, war es, als wenn von der Glut zwei Leichname oder Sterbende noch blasser gefärbt würden.

»Gestern abend«, fing Marlow an, »war ich Mitglied eines großen und vornehmen Kreises im Palast des Lord Hunsdon.«Die erste Ausgabe von »Romeo und Julia« (1597) trägt auf dem Titel die Bemerkung, die Tragödie sei in dieser Gestalt »oft und mit großem Beifall durch des Lords Hunsdon Leute (so hieß indes Shakespeares Truppe nur einige Monate 1596–97, sonst »des Lord-Kämmerers Leute«, die bis 1585 gewöhnlich im Blackfriarstheater, später im Globetheater spielten) aufgeführt worden«. die »Lord Chamberlains players« (bis 1591 »Schauspieler der Königin«) waren neben denen des Lord-Admirals die bedeutendste Schauspielertruppe in London und spielten die meisten Stücke bei Hofe. Zu ihnen gehörte nicht nur Shakespeare, sondern auch der größte englische Schauspieler, Richard Burbage (gest. 1618). Entstanden ist »Romeo und Julia« Anfang der neunziger Jahre.

»Richtig«, sagte Green, »so ist ja endlich dein Wunsch erfüllt worden; auf diese Stunden hattest du dich lange schon gefreut. Ist alles zu deiner Zufriedenheit abgelaufen?«

»So sehr«, erwiderte jener, »daß ich die ganze Nacht kein Auge habe zuthun können. Doch laß mich erzählen, du wirst alles erfahren. Du weißt, daß ich mir einbildete, der Lord würde ein Stück von mir, vielleicht mein neuestes, spielen lassen, und ich sei recht eigentlich dazu eingeladen worden, damit man mich in einem Kreise ausgewählter Zuschauer verherrlichte. Ich hatte mir diese Thorheit so fest in die Gedanken geprägt, daß ich die Artigkeit ganz natürlich fand, mit der mir viele entgegentraten, ja, daß meine Eitelkeit vielmehr glaubte, es geschähe meinen großen Verdiensten noch viel zu wenig. Als das Stück nun anhob, sah ich wohl, daß von mir nicht die Rede sei, sondern jenes alte GedichtShakespeares unmittelbare Quelle war ein episches Gedicht: »Die tragische Geschichte von Romeus und Juliet, geschrieben zuerst im Italienischen von Bandello und jetzt in England von Arthur Brooke 1562«. das wir alle längst kennen, war zu einer Tragödie verarbeitet, die Liebesgeschichte nämlich und der jämmerliche Tod von Romeo und Julia. Aber, Freund, welche Tragödie! Schon in den ersten Auftritten diese Wahrheit und Natur, dieser seltsame Eigensinn, Sache und Charaktere gerade so und nicht anders aufzufassen und alles durch den glänzendsten Witz zu verbinden; dann die Leidenschaft selbst, die Poesie der ernsten Szenen, die Liebe, und alle Gefühle rätselhaft, wundervoll, wie volles klares Mondlicht über Feld, Wies' und durch den Wald, alles bis an die Grenze der äußersten Möglichkeit getrieben und dann wieder so gelinde in die ebene Bahn der Wahrheit, des Natürlichen und Gewöhnlichen zurückgeführt, um von neuem durch Wunder zu erstaunen; – ich sage dir, Freund, alles, alles, was wir gedichtet haben, alles, was wir haben von Liebe und Leidenschaft verkündigen wollen, ist nur Stümperei gegen diesen austönenden Mund, den eine göttliche Muse durch den süßesten ihrer Küsse selbst begeistert hat.«

»Du übertreibst«, sagte Green, der den Erzähler mit großen Augen ansah.

»Ich wollte«, erwiderte jener mit einem tiefen Seufzer, »du hättest recht. Nein, Narr, ich wollt' es dennoch nicht, denn so wäre ja diese herrliche neue Schöpfung nicht wie die Liebesgöttin aus dem Schaum der bewegten Wogen der unermeßlichen Dichtkunst und Leidenschaft emporgestiegen. Ja, Freund, ein Nebencharakter, Merkutio, dessen Scherz und Geist, die einzige wundersame Erzählung von der Feenkönigin Mab»Romeo und Julia«, 1. Akt, 4. Szene. ist mehr wert, als was wir je geschrieben haben und schreiben können; was sage ich, wir? Dieser zufällige Nebenjuwel im Kranz des Gedichtes überherrscht an Glanz und Kostbarkeit alles, was man bis jetzt auf dem englischen Theater gehört hat,«

»Sagt' ich's doch«, antwortete Green, »du bist im Fieber.«

»Wo der Selige«, fuhr Marlow fort, ohne sich stören zu lassen, »nur in unsrer düstern Sprache diese lichten Töne gefunden hat? Wie ihm nur die fernsten, ungewöhnlichsten und bedeutsamsten Worte wie gehorsame Kinder entgegenlaufen, und er dann so mit ihnen liebkost und sie im zartesten Tanz regiert, daß Himmelsgeister den Menschen beneiden müssen, der so etwas schaffen oder auch im vollen Entzücken genießen kann?«

»Mein Freund«, sagte Green bewegt, »was du sprichst, ist selber Poesie.«

»Die Rolle des alten Mönchs«,Bruder Lorenzo, ein Franziskaner. sprach der Dichter weiter, »wie ist jedes Wort gefühlt, wie zart, bedeutungsvoll, alles aus seinem Stande hergenommen, und so weich und liebevoll. Und wie wurde sie gespielt! Ein feiner Mann von mittlerer Größe, mit herrlichen Augen, der aber keine tönende Stimme hat, gab sie in einer so zarten Innigkeit, mit solchem Ausdruck der herzlichen Empfindung, so wahr das Alter, die Furcht des geistlichen Einsamen nachahmend, aber dabei mit solcher Würde, solchem Anstand und Adel, daß ich nur staunen, nur sehen und fühlen konnte und fast aller Worte beraubt war. Als ich nach einer großen Szene einen Nachbar frage, wer dieser herrliche Schauspieler sei, vernehme ich zu meinem doppelten Erstaunen, er sei der Dichter selber, der dieses wundersamste Werk erschaffen habe.«

»Und der ist?«

»Wirst du es glauben, begreifen, Green? Einer von Henslows gewöhnlichen Komödianten, der ihm schon seit einigen Jahren um geringen Lohn dient, der auch schon manches, so sagte man mir, ohne sich zu nennen, hat spielen lassen; ein Name, der niemals ist gehört worden, kurz, ein gewisser Shakespeare.«

»Shakespeare?« wiederholte Green.

»Ein gewisser?« fuhr Marlow fort; »ja, er wird gewiß und immer gewisser derjenige sein, der eine neue große Zeit der Poesie stiftet und begründet. Ja, es muß dahin kommen, daß sein Name der lallenden Zunge des Unmündigen geläufig wird.«

»Mäßige dich nur«, fing Green an; »am Ende ist es denn doch jener Schauspieler, mit welchem uns der einfältige Henslow neulich drohte. Wie ist es nur möglich, daß ein solcher Genius zu diesem Tölpel gerät, und daß er so lange hat verborgen bleiben können! – Doch erzähle weiter.«

»Wie Schmerz und Lust«, sprach der begeisterte Dichter, »verbunden war, wie das Gemeine mit dem Edlen kontrastierte und eins damit wurde, indem es sich gegenseitig bedingte und erklärte, wie der Übermut des Lebens, Leichtsinn, hohe, göttliche Leidenschaft und klügelnde Vernunft und Übereilung endlich alle, alle, wie auf dem Wege der Vorsehung, in das Grabgewölbe geführt werden, wo in der Dunkelheit des Grauens der Karfunkel des entzündeten Herzens um so zauberischer glimmt, wie endlich Tod und Versöhnung, der höchste Schmerz und die Auslöschung alles irdischen Schmerzes eins waren: das mag ein anderer, dem mehr Redekunst zu Gebote steht, versuchen, in deutliche Worte zu flechten, um die bunte Fülle der Gedanken anschaulich zu machen, die mit tausend Gefühlen zugleich meine erstarrte Seele überströmten. Nur eins für alles; ich habe eine Tragödie, ich habe die Liebe dargestellt gesehen; wonach meine Träume im ängstlichen Schlafe rangen, ist in die klarste Wirklichkeit getreten.«

»Als es nun vorüber war?« fragte Green.

»Ich war vernichtet«, sagte Marlow, »mehr als das, denn nur jener Shakespeare könnte Worte für meinen Zustand finden; mein Schmerz, daß mein Leben so an nichts verschwendet worden, daß ich selber nur Schatten und Rauch sei, spiegelte sich in der Seligkeit des Genusses und im Erkennen des fremden Geistes, und im zurückblitzenden Strahl war mir, als gehöre auch mir im Erkennen diese Herrlichkeit. Herrscht doch auch in diesem Gedichte neben seiner Größe eine so zarte Milde, eine so sanfte Bescheidenheit, ja eine so süße Unschuld blickt, trotz der Ausgelassenheit, hindurch, daß der Verfasser zugleich der beste und liebevollste aller Menschen, daß er bescheiden sein muß; ja er kann nicht anders, denn was hat ein so selig begabter Geist noch zu wünschen auf Erden?«

»Und wenn dein Fieber vorüber ist«, sagte Green, »und wir das Ding beim Lichte besehen, so ist es eine Erscheinung, wie schon manche in unsern Tagen auftrat, bewundert, begafft, unbedingt gepriesen, und an der man denn doch auch die Fehler und Gebrechen erkannte, wenn sie nicht gar vergessen wurde.«

»Das Nämliche«, sagte Marlow heftig, »dieselben Worte flüsterte mir auch mein niederträchtiger Neid ein, als ich das allgemeine Entzücken, die tiefe Rührung aller Zuschauer bemerkte. Ich wollte mich damit trösten und selber auf eine armselige Art wieder zu Ehren kommen. Ich flüchtete mich aus der Gesellschaft, und der Haushofmeister, der als Einhelfer gedient hatte, gab mir das Manuskript. Oben in einem einsamen Zimmer saß ich und las die ganze Nacht und las wieder und mußte immer mehr bewundern, denn manches, was mir zufällig oder überflüssig erschienen war, gewann nun, bei genauerer Prüfung, an Bedeutsamkeit und notwendiger Fülle. Dieser gute Haushofmeister gab mir noch ein anderes Gedicht, welches der Verfasser noch nicht ganz vollendet hat, ›Venus und Adonis‹, um es in meiner nächtlichen Muße zu lesen. Freund! auch hier, auch in dieser süßen Erzählung, in dieser weichen Sprache und der wollüstigen Schilderung – in diesem berauschenden Gebiete, wo ich mich bis jetzt nach einem mir nur Ähnlichen umsah – bin ich völlig, völlig geschlagen! O diesem Mann, der mehr als ein Sterblicher, ihm, das fühl' ich wie mein Leben, muß ich der innigste Freund oder der allerbitterste Feind werden. Entweder ich finde noch einen Weg neben ihm aus, oder ich erliege diesem Apollo, und er mag dann über meiner dahingestreckten Leiche die letzten rühmenden oder scheltenden Worte sprechen.«

Meres,Francis Meres, angesehener Publizist, verfaßte ein literargeschichtliches Werk: »Palladis Tamia«, d. h. Schaffnerin der Pallas (1598), welches in dem Abschnitt »Diskurs über unsre englischen Dichter im Vergleich mit den griechischen, lateinischen und italienischen Dichtern« auch einige historisch sehr wichtige Sätze über Shakespeares Dichtungen enthält. ein Mann von einigen dreißig Jahren, trat jetzt zu ihnen in den Saal. Er war ebenfalls in der gestrigen Gesellschaft des Lords gewesen, und die Rede kam natürlich auf die neueste Tragödie. Meres rühmte sie ebenfalls, wenngleich nicht mit so kühnen Worten, als der feurige, aufgeregte Marlow, und fügte dann hinzu, daß er schon seit einigen Wochen die Bekanntschaft dieses Shakespeare gemacht habe. Er lobte dessen Bescheidenheit und Fleiß sowie seine milden, gefälligen Sitten. Indem er ihn noch schilderte, rief er plötzlich: »Dort kommt er, gerade hier auf das Haus zu, und mit ihm geht der junge Graf Southampton.«

Marlow stürzte an das Fenster, Green eilte ihm nach, und beiden entfuhr zugleich der Ausruf, denn ihnen war, als hätten sie ein Gespenst gesehen: »Unser Schreiber!« – Marlow schlug sich mit der flachen Hand heftig vor die Stirn, bedeckte dann beide Augen mit den Händen und taumelte in seinen Sessel zurück. Green beobachtete bewegt, aber doch mit mehr Ruhe, die beiden Vorübergehenden. Shakespeare war in Seide, bunt und festlich gekleidet, der junge, freundliche Graf nahm jetzt Abschied, weil die Diener ihm sein Pferd brachten. Der Dichter trat zurück und verneigte sich ehrerbietig. »Nicht so!« rief Southampton, indem er ihm die Hand bot, die der Dichter herzlich schüttelte, worauf ihn der Graf umarmte.

»Er kommt doch nicht, nicht hieher?« rief Marlow ganz außer sich.

»Nein«, sagte Green, »er geht nach jener Ecke; ein Bekannter, ein vornehmer Mann, wie es scheint, hat ihn zu sich gerufen.«

»Dem Himmel sei Dank!« sagte Marlow mit einem schweren Seufzer; »jetzt hätt' ich seinen Anblick, sein Gespräch nicht ertragen können.«

»Warum denn nicht?« antwortete Meres, »er ist freundlich und bescheiden; Ihr müßt ihn nicht verachten, teurer Marlow.«

»Verachten?« sprach der Dichter durch die zusammengepreßten Lippen. »Ich – ihn verachten?« Er stürzte hinaus, aber Meres blickte ihm so erstaunt nach, daß er einer Bildsäule gleich im Saale stand, denn er hatte gesehen, wie dem bleichen Marlow eine große Thräne aus den brennenden Augen gefallen war.

Auch Green ging gedankenvoll und mit gebrochenem Herzen nach seiner kleinen Wohnung, wo er den alten Wirt wieder hatte aufsuchen müssen, der ihm schon sonst, so arm er selbst war, mitleidig ausgeholfen, und dem er aus Leichtsinn die Summe noch nicht bezahlt hatte, die er dem Unglücklichen schon seit lange war schuldig geblieben.


Green hatte sich auf sein ärmliches Lager geworfen, aber nicht schlafen können. Er fühlte jetzt erst, was er eingebüßt, sein Herz war seit kurzem zu einem neuen Glück mit frischer Kraft erwacht und nun um so schmerzhafter gebrochen. In der langen Entfernung und im unvermuteten Wiederfinden hatte er es selbst nun erfahren müssen, wie innig er an seiner Gattin hänge, mit welcher bittersüßen Empfindung er sein Kind liebe. Alles dies hatte er noch gewaltsamer als ehemals von sich gestoßen, die verächtliche Buhlerin hatte ihn schmählicher als je behandelt, so tief, so ohne Widerhall von einem guten und beruhigenden Gefühle hatte er sich noch niemals verachtet. Er wendete sich mit Ekel von der widrigen Zerrüttung seines Innern ab und konnte doch, mochte er auch durch alle Tiefen seines Wesens suchen, jenen Leichtsinn nicht wiederfinden, der ihn in frühern Tagen, auch im herbesten Unglück, bis zum Mutwillen emporgehoben. Nun hatte Marlows Erzählung ihn tiefer erschüttert, als er sich selber gestehen mochte; die leuchtenden Gebilde, die vorher über seinem düstern Lebenslaufe anmutig gegaukelt hatten, verloren ihren erborgten Schimmer, und die Ahnung drohte in Erfüllung zu gehen, daß sein Wirken und seine Schriften nur ein vorüberschießender Glanz, wie eines nächtlichen Meteores, seien, ohne wahren Geist und Inhalt, daß Bessere kommen würden, die ihn und sein Andenken völlig auslöschten.

Gegen Morgen war er aufgestanden, um zu schreiben. »So will ich denn diese unnütze Feder doch noch einmal zur Hand nehmen«, sagte er zu sich selbst. »Dichten? – Ich vermag es nicht. So willig mir sonst die Bilder und Gedanken entgegenkamen, so daß ich oft nicht schnell genug niederschreiben konnte, was sich mir anbot, so stumpf, matt, farblos ist mir die innere wie die äußere Welt. Ach nein! sterben mag für den nichts Schreckliches sein, der wahrhaft gelebt hat; aber tot sein, indes dieser Leichnam sich noch regt, ist furchtbar. – Hinweg denn, du Erinnerung an meine Jugend, an Liebe und Glück, Hoffnung und Frühling! Ich habe hier und dort nichts mehr mit euch zu schaffen, – Liebe? Ha, wie kann der ein anderes Wesen lieben, der sich selber nicht zu lieben versteht? War denn die ganze Richtung meines Lebens, mein ganzes Bestreben etwas anders, als mich zum Hasse gegen mich selbst zu erziehen? O wohl dem, der sich noch in den Abgrund schrecklicher Gefühle und Ahndungen tauchen kann, dem aus seinem gequälten Innern noch Schauder entgegentreten, der selbst im Labyrinth seines Herzen noch mit dem Ungeheuer Verzweiflung ringt! – Aber so wie oben Luft und blauer Himmel, Baum und Berg abgestorben und verschwunden ist, so ist mir auch jene nächtliche Tiefe versunken, und was ich sonst mein Inneres nannte, ist weder außen noch innen, ist nur eine kahle, dürre, nichtige Fläche. Mein Leben ist weniger als ein Possenspiel, nüchterner als das Erwachen nach einem Rausch, und mein Tod wie das Vergehen der Fliege an der Wand, ein Verhauchen, spurlos und geräuschlos, kein Wesen wird mich vermissen, auch der schwächsten Seele wird nicht nach mir bangen: ich war tot, längst eh' ich gestorben war.«

Er schrieb einige moralische BetrachtungenVgl. Anmerkung, S. 118. nieder, um sich zu entfliehen, um sich zu suchen: denn er hatte die Empfindung, als wenn seine Hand sich nur in den gewohnten Zeichen bewege, als wenn die brennenden Gefühle im Bache untertauchten und plätscherten, um sich abzukühlen. Spät kam sein alter bleicher Wirt herauf und stellte ihm ein kleines Frühstück hin. »Ihr habt nicht gerufen, Herr Green, da kam ich von selbst, weil es schon spät ist;« so sagte er und wollte sich wieder entfernen.

»Green?« sagte der Schreibende, indem er vom Blatte aufsah, »Green? – Der ist nicht hier – ach, lieber Alter, der ist längst, längst in alle Fernen hinein verschwunden; was hier sitzt, ist nur noch ein leeres, hohles Gespenst, dem kein Geist inwohnt, ein Trugbild, das sich lebendig stellt. Jener Green war ein anderer und besserer als dieses Phantom. Du kommst viel zu spät, wenn du jenen suchst.«

»Gott im Himmel!« rief der Alte entsetzt – »wie seht Ihr aus! Wie bleich! Und wie brennend Euer Auge! Ihr seid krank, Ihr habt ein schlimmes Fieber. Soll ich den Doktor holen? Lieber Himmel! wovon den Arzt nur bezahlen? Ach, und Ihr armer Mann seid mir schon viel schuldig, und ich habe auch nichts mehr.«

»Beruhige dich, Alter«, sagte Green, »sterben werde ich, ja, und recht bald, aber nicht krank sein. Mein Leben war meine Krankheit. Und um deine zehn Pfund sorge nicht, ich habe dir hier schon einen Brief an sie geschrieben, sie wird dir gewiß bezahlen.«

»Es wäre«, rief der Alte, »als wenn ich einen Schatz fände, denn Ihr wißt ja selbst, wie es mir kaum möglich wurde, nach und nach so viel auflaufen zu lassen; nun wollen mir die Leute auch nicht mehr vertrauen; ach! und wenn ich im Gefängnis umkommen sollte, es wäre doch allzu hart. Ich habe es alles aus Liebe zu Euch gethan, da Euch die andern Wirte nicht mehr einnehmen wollten, da Euch weder Garkoch noch Weinschenk mehr borgen mochte; seid Ihr doch so ein guter, lieber Mann und so gelehrt, und doch so sanft und gegen die Armut und den gemeinen Mann so bescheiden und mitleidig; das Herz hat sich mir immer umgewendet, wenn ich Euren Mangel so ansehen mußte. Ja, ja, es muß wohl wahr sein, daß das hiesige bittere und verwirrte Leben nur eine Prüfung ist, nur ein Durchgang, wie unsere Geistlichen sagen. Ach! liebster Herr Green, soll ich Euch nicht meinen Beichtvater rufen? Seht, Ihr wankt auf den Füßen, Ihr werdet immer hinfälliger.«

»Nein!« rief Green, indem er sich ermattet wieder auf das Lager warf; »aber, wenn du noch eins, das letzte für mich thun willst, so schaffe mir nur noch einen Becher von dem starken spanischen Wein, den ich immer so gern zu trinken pflegte, er soll meinen Geist mir etwas wieder zurückrufen.«

Der dienstwillige Alte ging, und Green versank in eine sonderbare Träumerei. Er dünkte sich wieder in Malaga zu sein, als wenn er, wie in der Jugend, zuerst diese entzückende Gegend mit staunenden Augen betrachtete. Die Wände des Zimmers wichen zurück, um den Weingebirgen, der blauen Luft und dem weiten Blicke über das glänzende Meer Raum zu geben. Er hörte die Winzerlieder klingen und den wunderlichen Ton des wollüstigen Fandango.Spanischer Nationaltanz mit Kastagnettenbegleitung. Er sah seiner eignen Seele zu, wie sie sich ergötzte, in das Meer aller dieser Freuden untertauchte und schwimmend in der reinsten Lust spielte und scherzte. Als der Alte wiederkam, fand er den Kranken schlummernd und ein holdseliges Lächeln auf den erblaßten Lippen. Er stellte den duftenden Wein auf den Tisch und setzte sich an das Bett, um innig für den Leidenden zu beten. Heiter erwachte dieser, gab seinem treuherzigen Wirte die Hand und genoß die Labung. »Dies war«, sagte er dann, »das letzte, was mir dieses Leben bieten konnte, in diesem Duft, in dieser Würze des Geschmacks haben mich nun zum letztenmal die geheimnisvollen Geister der Natur begrüßt und gelabt; so wie mein Gaumen erstarrt, mein Leben dort erstorben ist, sind diese Naturgeister für mich tot, aber in meinen stilleren Kräften, so fühle ich, blühen dann Sinne auf, die mir aus Flut und Licht, Erinnerung und Sehnsucht die volle, glänzende Traube pressen und den echten Wein des Lebens keltern. O wie süß fährt auf dem sanften Strom der Phantasieen meine Seele hold eingewiegt ihrer Heimat zu! Hörst du die Nachtigall aus den blühenden Mandelbäumen am grün bewachsenen Fels? Dort von Xerez weht der Ton herüber, und volle Chöre antworten sich aus den Lorbeerhainen. Gelobt sei Gott, der alles schuf und dichtete!«

Der Alte weinte und freute sich, daß das Ende seines unglücklichen Freundes so sanft und heiter sei. Da trat der Squire in das Zimmer, der es doch nicht lassen konnte, um den Verlornen zu sorgen. Er war erschüttert, als er den sanften, freundlichen Ausdruck des Sterbenden sah. »Armer, lieber, guter, unglücklicher Mann!« rief er, indem ihm die Thränen aus den Augen brachen, »gebt mir Eure Hand! – Sie ist kalt – was, was kann ich für Euch thun?«

»Alles kommt zu spät«, sagte Green lächelnd. »Ihr seid edel und freundlich; – laßt diesen letzten Händedruck mein Testament sein; – zahlt diesem armen Alten meine Schuld, verzinset ihm noch obenein seine Liebe, die ich nicht verdiente und noch weniger vergelten konnte; – helft, wenn es möglich ist, meiner Emmy und meinem Kinde« – – Mit diesen letzten Worten war er entschlafen.

Weinend und schluchzend umarmte der Squire den alten greisen Wärter. Er gab ihm mehr, als dieser oder Green hatte erwarten können. Still ward die Leiche des Unglücklichen auf dem Kirchhofe beigesetzt. Erst am Tage des Begräbnisses erfuhren seine ehemaligen Freunde den Tod des Dichters.Greene starb am 3. September 1592, etwa 35 Jahre alt.


Der Squire hatte es möglich gemacht, seinem Vetter die Freiheit zu verschaffen. Die Richter sahen es ein, daß Arthington mehr ein Tor als ein Verbrecher genannt werden müsse. Wie ein Kind gebärdete sich dieser, als er zuerst wieder die freie Luft begrüßen durfte. Er jauchzte im Gefühl des neu geschenkten Daseins, er konnte es nicht müde werden, alles, was ihm mit dem Leben gegeben war, sich ins Bewußtsein zu rufen. »Nun will ich weise sein«, rief er aus; »künftig, Vetter, sollt Ihr mich keinen Narren mehr schelten; jetzt weiß ich, an welchem schwachen Faden unsre Stunden hangen, die uns gesponnen sind; jetzt will ich mich fortan um nichts kümmern, als mit Verstand jede Minute zu genießen, bis ich dann abgerufen werde.«

Sein Verwandter hatte ihn in Deptford eingemietet, damit er der lästigen Neugier Londons dort entzogen werde. Er selbst schrieb Greens Ende, das ihn tief erschüttert hatte, der Frau, die sich bei ihren Eltern befand, er zeigte seine ganze Teilnahme, meldete, wie er allen Groll gegen den Gestorbenen habe fahren lassen, dessen treffliche Eigenschaften und große Talente er lobte, was er um so lieber that, so sehr es auch aus seinem Herzen floß, weil er dadurch das feine Gefühl der Frau schonte und beruhigte. Er sagte am Schluß, daß er nach verflossenem Trauerjahre bei ihr anfragen würde, ob sie ihn für den schönen Knaben als Versorger und schützenden Vater annehmen könne; bis dahin aber wolle er, um ihr auf keine Weise weh zu thun, ihren Anblick vermeiden, der ihm außerdem höchst wohlthuend sein würde. In der Stadt hatte er noch einiges zu besorgen; dann dachte er mit seinen Pferden den Vetter von Deptford abzuholen, um in dessen Gesellschaft nach Yorkshire zurück zu reisen.

Marlow wurde indessen, wie von einem bösen Geist geplagt, in Unruhe umhergetrieben. Er war jetzt nach Deptford gegangen, um seine ungetreue Schöne, sei es nun in der Güte oder durch Gewalt, zu sehen und ihr das vielfältige Unrecht vorzuhalten, das sie sich gegen ihn zu schulden kommen lasse.Der Tag der nun folgenden Handlung, nach Tiecks Darstellung in dieselbe Woche wie Greenes Tod fallend, war eigentlich der 1. Juni 1593. Marlowe wurde nur 30 Jahre alt. So schritt er unter den Bäumen des Ortes auf und ab, immer die Thüre im Auge behaltend, die ihm so hartnäckig verschlossen war. – »Also, Green«, sagte er zu sich selbst, indem er sich in seinen Mantel hüllte, »du bist nun auch dahin! du guter, freundlicher, leichtsinniger und doch edler Freund! Wie werden diese Puritaner und jene aufgesteiften Tugendhaften dein Andenken lästern, die niemals das klare Angesicht der Wahrheit gesehen, denen niemals die freie Schönheit, auch mit dem Unerlaubten ringend, erschienen ist; die sich mit der kläglichen Heuchelei und der selbstbewußten Lüge abfinden müssen, um nur ihr nichtiges Dasein und ihre verdorbene Phantasie mit nachgemachten künstlichen Blumen aufzuputzen!«

Jetzt glaubte er eine Gestalt zu bemerken, die sich am Fenster hinter den zugezogenen Vorhängen bewege. – »Welch ein Nichtswürdiger bin ich!« sagte er verdrossen zu sich und stampfte mit dem Fuße; »wie ein Lakai, der seinen Herrn erwarten muß, wandle ich hier auf und ab, um ein Wesen zu belauschen, von dem ich weiß, daß sie eine Metze ist, daß sie nichts Besseres war, als ich sie kennen lernte; die mich mit Recht verlacht, wenn sie meinen Zorn sieht. – Eine feine Rolle für den großen Geist, für den ersten Dichter seiner Zeit, wie du dich seit so lange selber nanntest! – Aber freilich, Lakai, Nachtreter, armer Diener bist du ja auch jenem nur, den du nun hast kennen lernen. – Derselbe Mann, den du in deiner Blindheit so hochfahrend behandeltest – wenn er dich jetzt sähe, wenn er in dein Herz blicken könnte, von welchen Erbärmlichkeiten es in diesen Augenblicken zerrissen ist! – Aber, ist er nicht Mensch? Er würde mich bedauern – nein, er würde mich verstehen, und das ist mehr. – Aber ich will sie auch verlassen, vergessen, verachten. Sei jede Leidenschaft auch rasend und eben durch ihren Wahnsinn nur Leidenschaft, so ist doch etwas in mir, was auch mit der wildesten ringen und kämpfen kann. Konnte der zweite MahomedMohamed II. Bujuk, d. h. der Große, türkischer Sultan 1451–81, der Eroberer Konstantinopels (1453). seinem Ruhm, seinem Heer das Opfer bringen, daß er mit eigner Hand, in Gegenwart der Freunde, seiner Geliebten, die er anbetete, das Haupt abschlug – und sie war keine feile Buhldirne, sie war edel und liebte ihn mit ihrem Herzensblut; – ist es nicht schimpflich, feige und mehr als lächerlich, daß ich um eine solche hier wie ein irrender Ritter kreuze? Wenn ich so löblich fortfahre, so weine ich auch noch um sie. Hinweg! und verdammt sei jedes Gefühl, das zu ihr neigt, jeder Blick, der sich zurückwendet!«

Mit diesem Entschlusse kehrte er rasch um nach der großen Straße, doch sowie er sich drehte, sah er die wohlbekannte Alte, die Aufwärterin Fannys, die sich behutsam und oft umblickend dem Hause näherte und, von der Seite schielend, die Thür aufschloß. Kaum hatte sie geöffnet, als der rasche Marlow sie schon übereilt hatte und sie selbst, noch ehe sie von innen verriegeln konnte, kräftig in den Flur stieß, mit drohender Gebärde Stillschweigen gebot und die zweite Thür, deren Schloß nicht sonderlich fest war, durch einen kräftigen Stoß eröffnete. Sowie er eingedrungen war, erscholl vom Lager her ein lauter Schrei, die Leichtfertige zeigte sich ihm selbst, in den Armen Ingerams, des Pagen jenes Squire.

In blinder Wut stürzte Marlow auf die Erschreckten. Der junge Mensch schlüpfte hinter das Bett, doch Fanny war nicht so leicht zu verschüchtern, sie trat dem Zornigen dreist entgegen und fragte mit ziemlich ruhiger Stimme: »Was willst du, Stoffel?«

»Dich beschämen«, rief Marlow, »dich bestrafen, du Schändliche!«

»Beschämen«, sagte sie mit der Fassung der Frechheit, »dürfte dir vielleicht etwas schwer fallen – und bestrafen? – Wofür? Daß ich dir angehörte, solange es uns beiden bequem war, ist wohl ganz natürlich; aber wie oft hast du mich verlassen und dein Vergnügen bei andern gesucht, ohne daß ich dich deshalb zur Rechenschaft ziehen durfte? Und ich soll nicht das Recht haben, zu wechseln? Bin ich deine Sklavin? Hast du mich erkauft? Habe ich dir jemals geschworen, daß mir kein anderer Mann gefallen sollte, wie sie es in ihren Ehebündnissen machen?«

»Ein Mann!« stotterte Marlow schäumend vor Wut; »kannst du diesen Buben, diesen verächtlichen Knaben so nennen?«

»Kurzum«, rief sie aus, »wenn er mir nun gefällt! Und weißt du denn, ob dieser liebe, hübsche Junge nicht mehr für mich gethan hat, als du nur jemals wolltest oder vermochtest? Er hat mir zuliebe den besten Herrn von der Welt verlassen, der ihn befördern, der ihn im Alter reichlich versorgen konnte; statt sich in seinem Dienst zu verbessern, hat er sich so sehr verschlimmert, daß er dort im Wirtshause an der Straße ein gemeiner Aufwärter geworden ist; alles nur aus reiner Liebe und Ergebenheit zu meiner Person. Kannst du für dich etwas Ähnliches anführen? Und endlich, so hoch trägt ihn sein unschuldiges Herz, will er mich aus wahrer Zärtlichkeit heiraten und zu seiner rechtmäßigen Frau machen, nicht wahr, Ingeram? Wenn du nur irgend noch, du zorniger Stoffel, ein zärtliches Gefühl für mich hast, kannst du dann wohl mein Glück hindern wollen? Kannst du darüber böse sein, wenn unter dem Gelde, mit welchem wir uns einrichten wollen, sich auch einige EngelAlte englische Goldmünze (angel) im Werte von 10 Shilling; der Name rührt von dem Gepräge her. von dir befinden? Oder die schöne goldene Kette, die du mir einmal in einer schwachen Stunde geschenkt hast?«

»Ruchlose! Unverschämte!« schrie Marlow laut.

Ingeram trat jetzt hervor und sagte: »Laßt meine Frau in Ruhe! Nein, das sage ich Euch, ich lasse meine Frau nicht so schimpfen, sie soll nicht so bedroht werden, sag' ich Euch, ich!«

»Wurm!« rief der Dichter; »Knabe!« – Er zog seinen Dolch.

»Laßt den Dolch stecken, Herr«, rief Ingeram, jetzt ganz mutig gemacht. »Wir lassen hier in unserm Hause keine Waffen ziehen, und wenn sie auch noch so blank sind. Wenn ich damals vor Euch zitterte, als ich Euch den Wein überreichen mußte, so hat sich das jetzt ganz gewaltig geändert. Wir sind in einem freien Lande hier. Keiner von uns beiden ist Euer Sklave, Ihr barscher Herr!«

Dergleichen Worte waren dem jähzornigen, ungebändigten Manne noch von keinem Sterblichen geboten worden; die Furie ergriff ihn, und sein Gesicht wurde furchtbar entstellt; mit geschwungenem Dolche stürzte er auf den Burschen zu, doch dieser, ohne sich erschrecken zu lassen, fiel ihm in den Arm, hielt diesen mit aller seiner Kraft fest, so daß der Dolch in der Luft schwebte, dann drehte er die Spitze mit der andern Hand gewaltsam abwärts und schlüpfte hierauf behende unter dem aufgehobenen Arme des Feindes hinweg, so daß Marlow, der sich zornig gegen ihn stemmte, plötzlich niederstürzte und im Fallen den umgewendeten Dolch sich tief in Auge und Gehirn einbohrte. Er schrie laut auf, indem ihn das Bewußtsein verließ und über Bett und Kammer ein dunkler Strom des Blutes floß. Auch das Mädchen erhob jetzt ihre Klage, und die dienende Alte stimmte in das gellende Geschrei, so daß die andringende Menge die Thüren aufriß und das Volk, da es den Ermordeten liegen sah, sogleich die Gerichtsdiener holte. Ingeram ward gefesselt, so sehr er sich auch verteidigte und Schutz bei allen Anwesenden suchte. Unter diesen befand sich auch Arthington und der Squire, die das Geschrei ebenfalls herbeigerufen hatte. »Auf diese Weise«, sagte der letztere, »hast du in London so schnell deine Bestimmung gefunden? Ein Mörder und Missethäter, der dem Galgen so jung verfallen ist? Was werden deine Eltern in Yorkshire sagen?«

»Ich bin unschuldig«, rief Ingeram, »wenn der Tote nur reden könnte; seht nur seinen eignen Dolch in seiner Faust; Notwehr ist in keinem Gesetz verboten. Dann ist er gestolpert und hat sich die Schneide ins Auge gestoßen.«

Dasselbe beteuerte das weinende Mädchen, aber mehr als alles entschied die Aussage des Sterbenden selbst, der sich noch einmal ermunterte, um allen Umstehenden den Vorfall zu erzählen und die Unschuld des Knaben an seinem Tode darzuthun. – »Himmel!« rief er am Schluß seiner Erzählung, »wen sieht mein mattes, sterbendes Auge? Oder sind es schon die Gestalten meines Innern? Du, gerade du hier, der Dichter, der Unsterbliche, – und –«

Shakespeare war es wirklich, dessen gerührtes, mildes Antlitz sich jetzt über den Verscheidenden neigte. Er war mit Southampton hinaus gewandelt, und beide Freunde kamen jetzt zu dieser traurigen Szene. »O, welch neidisches Verhängnis«, sagte Shakespeare, »raubt uns so früh diesen großen, starken Geist! Wo lebt noch ein wahrer Dichter wie dieser? Und welche Hoffnungen, welche edlen Werke sinken mit ihm in sein unzeitiges Grab!«

Er hatte die Hand des Sterbenden gefaßt, dieser sah ihn jetzt mit brechendem Auge an und sagte stammelnd: »Diese Worte von dir – ich habe nicht umsonst gelebt.«

Das schöne, helle Auge Southamptons vergoß häufige Thränen, alle standen stumm und in feierlicher Rührung um den schönen Leichnam. Der Squire maß den trauernden Dichter, den er sogleich wiedererkannt hatte, mit großen Blicken, doch konnte er im Schluchzen keine Worte finden, um die Rührung und den Schmerz auszudrücken, daß sein verehrter Liebling so früh und auf so furchtbare Weise seine irdische Laufbahn hatte endigen müssen.

 


 


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