Ludwig Tieck
Dichterleben
Ludwig Tieck

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Einleitung des Herausgebers

Es ist bekannt, daß unsern Dichter sein ganzes Leben hindurch der Plan beschäftigt hat, in einem großen umfassenden Werke seine durch die vielseitigsten Studien erlangten Urteile über Shakespeare und seine Zeit niederzulegen, und ebenso bekannt ist es, daß er niemals dazu gekommen ist, diesen Plan auszuführen. Nur einige Entwürfe und kurze Fragmente konnte Köpke aus des Dichters Nachlaß veröffentlichen, und bei Lebzeiten hat Tieck die Resultate seiner wissenschaftlichen und ästhetischen Beschäftigung mit dem großen Dramatiker in einzelnen Aufsätzen, Vorreden &c. nur sehr teilweise bekannt gemacht. In unsrer allgemeinen Einleitung ist näher ausgeführt, inwiefern Tieck, trotzdem er uns das verheißene Shakespeare-Werk schuldig geblieben, durch Wort und Schrift für ein besseres Verständnis des englischen Dichters in Deutschland gewirkt hat. Bei weitem das Schönste und Bleibendste aber, das seiner Liebe zu Shakespeare entquoll, ist nicht ein wissenschaftliches, sondern ein poetisches Werk, die Novelle, welche die nachfolgenden Blätter unsern Lesern darbieten. Das »Dichterleben«, dem 1824 zwei andre Novellen: »Die Gesellschaft auf dem Lande« und »Pietro von Abano«, vorausgingen, ist noch 1824 begonnen, und am 20. August des folgenden Jahres konnte der Verfasser seinem Freunde Karl Förster die vollendete Dichtung vorlesen.Vgl. »Biographische und literarische Skizzen aus dem Leben und der Zeit Karl Försters« (Dresden 1864), S. 319 f. Sie erschien zuerst in »Urania, Taschenbuch auf das Jahr 1826«Leipzig, bei Brockhaus, 1826 (Spätjahr 1825), S. 1–139. und ist bei Lebzeiten des Dichters noch dreimal gedruckt worden.1828 im 6. Bande der »Novellen« (Berlin), 1844 im 18. Bande der »Schriften« und 1853 im 2. Bande der »Gesammelten Novellen«. Schon am 4. April 1809 hatte A. W. Schlegel, der auf Tieck wegen seiner Shakespeare-Kritik nicht ohne eine gewisse Eifersucht blicken mochte, dem Freunde geschrieben: »Auch über Shakespeare . . . wolltest Du schreiben. Ich gestehe, ich bestellte mir von Dir lieber etwas als über etwas»Briefe an Tieck«, Bd. 3, S. 296. Sechzehn Jahre später kam Tieck diesem Wunsche gleichsam nach, indem er Shakespeare schrieb, nicht über Shakespeare, d. h. er faßte, wie MinorIn dem vortrefflichen Aufsatz »Tieck als Novellendichter« (»Akademische Blätter«, 1884, S. 150). sagt, »dichterisch zusammen, was er kritisch in seinem Buche nicht loswerden konnte und auch später niemals mehr losgeworden ist. Was er in jener Rezension des CorreggioVon Öhlenschläger, f. das chronologische Verzeichnis unter 1827. verlangt: daß der Künstler in seiner ganzen Eigenart, wie er sich in seinen Werken zeige, erscheine – das hat er auf Grund der Ansichten, welche er sich eigentümlich und nicht frei von subjektiven Einflüssen über Shakespeare gebildet hatte, in großem Stile ausgeführt. Und wie jenes kritische Werk auch das ganze Zeitalter der Elisabeth in demselben Lichte, in welchem er es einst dem Aufklärungszeitalter gegenübergestellt hatte, schildern sollte, so wird auch hier die Person des Dichters nicht isoliert, sondern auf dem breiten Hintergrund seines ganzen Zeitalters hingestellt.« Sehr richtig hatte der Dichter am 27. April 1818 an SolgerSolgers »Nachgelassene Schriften und Briefwechsel«, Bd. 1, S. 623. geschrieben: »Shakespeare ist nur der Mittelpunkt des englischen Theaters und der neuen Kunst; kennt man nicht genau, was vor ihm war, so bleibt er ein Rätsel, und man schreibt ihm am leichtesten das zu, was er mit allen gemein hat; seine Zeit und Nachwelt muß man auch studieren, um erst vollständig überzeugt zu sein, wie er uns der Schlüssel unsrer Welt und aller unsrer Zustände ist. Leider bleibt er so vielen immer nur noch eine Rarität.« Diese Überzeugung Tiecks gibt uns die Erklärung an die Hand, warum in der ersten und besten seiner Shakespeare-Novellen der große Dichter selbst »gleichsam nur im Hintergrund vorübergeht«,Minor a. a. O. während im Vordergrund seine dichterischen Vorgänger und Mitstreber stehen: der geniale, aber maßlose Marlow und der weichliche, leichtsinnige und selbstquälerische Green. Nur durch die Wirkung der Gegensätze konnte es ihm gelingen, »die innige Harmonie, die wahre Regel«, in welcher Shakespeare »uns ewig Muster bleiben« müsse, »diese tiefste Wahrheit, die durch sich selbst Poesie« werde, die »große Vernunft, die den Shakespeare so himmlisch und echt human«Tieck an Solger a. a. O. mache, dem Leser zu deutlicher Empfindung zu bringen. Die herrliche, tief ergreifende Erzählung machte auf die poetisch fühlenden Zeitgenossen des Verfassers einen mächtigen Eindruck. »Hinreißend« nannte sie A. W. Schlegel»Briefe an Tieck«, Bd. 3, S. 296. und meinte, ins Englische übersetzt, müsse sie Furore machen; und viel später, als er mit Tieck nicht ohne Grund wegen dessen eigenmächtiger Behandlung der von ihm übersetzten Shakespeare-Stücke grollte, bezeichnete er in einem vertraulichen Briefe,An Georg Reimer; siehe M. Bernays in den »Preußischen Jahrbüchern«, Bd. 68, S. 549. der im übrigen voll Bitterkeit gegen den Jugendfreund ist, das »Dichterleben« als eine »unvergleichliche Darstellung« und rief aus: »Es sind Porträte, aus der Idee gemalt, aber von einer so individuellen Wahrheit, daß man schwören sollte, die Personen hätten ihm dazu gesessen.« Der geistvolle Immermann»Briefe an Tieck«, Bd. 2, S. 52 f. erklärte in einem Briefe vom 18. Juli 1831, hier sei ihm »das geheimnisvolle Schaffen von Tiecks wunderthätiger Phantasie am klarsten geworden«, er könne den Eindruck, den sie auf ihn gemacht, nicht anders bezeichnen, als indem er sage: wenn es nicht so zugegangen ist, hätte es doch notwendig so zugehen müssen. Die feinsinnige Tochter des Dichters, Dorothea, schrieb am 31. Mai 1832 an Üchtritz:»Erinnerungen an Fr. von Üchtritz«, S. 164. »Ich muß gestehen, daß unter allen Novellen meines Vaters mir keine so hoch steht als der erste Teil des ›Dichterlebens‹;Die 1825 vollendete Novelle »Dichterleben«. so schön die andern auch sind, so kommt mir diese doch immer als einzig und unerreicht vor.« Hebbel,»Tagebücher«, Bd. 1, S. 122. der an der Charakterzeichnung Shakespeares (aber wohl mehr in Bezug auf die Fortsetzung der Novelle von 1829) zu tadeln fand, urteilte doch: »Die Situationen sind unvergleichlich ersonnen und dargestellt; Marlow . . ., insonderheit aber Robert Green, dieser zum fliegenden Fisch degradierte Halbadler, sind meisterhaft gezeichnet.« Niemand aber hat den Sinn des Dichters und sein poetisches Verdienst klarer erkannt als die geniale Adelheid Reinbold, die in einem Briefe an Tieck vom 19. Juni 1829 unter anderm schreibt:»Briefe an Tieck«, Bd. 3, S. 125 f. »Dieses Werk muß vor allen andern, die ich von Ihnen kenne, so recht aus Ihrem Innersten geflossen sein; denn so nah', so sichtbar möchte ich sagen, hat Sie noch keines vor meinen Geist gestellt. Wie herrlich zeichnen Sie den Kampf der wilden chaotischen Kraft mit dem Menschlichen, den Kampf der Götter mit den Titanen, wie lernen wir Ihren Dichter lieben und bewundern, wie trifft er so wahr und so entschieden immer das Rechte, und doch können wir dabei auch dem Titanen Marlow unsre Liebe und Bewunderung nicht versagen, ja er reißt sie gewissermaßen noch mehr an sich als Shakespeare, den Sie mehr als die ruhige Kritik auftreten lassen, er erobert unsre Zuneigung, wie der Handelnde es immer thut, während der andre sie von Rechts wegen gewinnt. Ich finde in dieser Novelle den Stoff zu einem Trauerspiel, welches Sie Marlow nennen könnten, und über welches ich Goethes Motto schreiben möchte:

›Auch ohne Parz' und Fatum, spricht mein Mund,
Ging Agamemnon, ging Achill zu Grund‹,Aus dem Gedächtnis citiert. In Goethes »Prolog zur Eröffnung des Berliner Theaters im Mai 1821« sagt die Muse des Dramas:
    »Und ohne Zeus und Fatum, spricht mein Mund,
    Ging Agamemnon, ging Achill zu Grund.«

und dem es nur noch an Handlung fehlte, denn den ganzen innern Gehalt eines Trauerspiels, die Gedanken, welche sich untereinander verklagen und nicht aufs reine kommen können, ja es ihrer Grundlage nach vielleicht nie können, hat Ihre Novelle schon.Ernst von Wildenbruch, der hochbegabte Dramatiker, hat 1884 ein Trauerspiel, »Christoph Marlow«, veröffentlicht, das Tieck viel verdankt. So reich an einzelnen Schönheiten das Drama auch ist, so hat es der ältern Novelle die Palme der Meisterschaft doch nicht entwinden können. Es ist eine Göttergestalt, dieser Marlow, der an nichts als an sich selbst hätte zu Grunde gehen können. Und wie schön ist nun wieder der Kontrast des sanften, weichen Green, der eben in der süßen Milde seines Gemütes uns doch wieder auf dem Sterbebett die poetische Beruhigung zeigt, die sein Leichtsinn ihm auf immer zu entreißen droht.« Auch dieser Novelle liegt eine sittliche Wahrheit zu Grunde, die für Tieck charakteristisch ist: sie zeigt, wie Kultus des Genies sowohl als Kultus der Empfindung in ihrer Einseitigkeit ihre Vertreter ins Verderben führen, und anderseits, wie der Mensch, vor allem aber der Dichter, nur des wahren innern Glückes teilhaft werden und das Höchste erreichen kann, wenn er sich die volle Harmonie aller Geistes- und Seelenkräfte zu eigen macht. Auf einzelne Schönheiten – wie auf die prächtige Einführung Shakespeares oder auf die milde Rührung, die das schreckliche Ende Marlows verklärt – kann hier nicht näher eingegangen werden. Wir verweisen auf die feine Würdigung der Meisternovelle, nebenbei bemerkt, der ältesten historischen Novelle Tiecks, durch Jakob Minor.A. a. O., S. 150 ff. Am Schlusse seiner Betrachtung sagt Minor sehr treffend: »Alles ist darauf angelegt, zu zeigen, wie Shakespeares Stern im Hintergrund aufgeht, während sich seine Vorgänger zu Grabe neigen. Es will uns als eine große Geschicklichkeit des Dichters erscheinen, daß er das dürftige Vorleben Shakespeares umgeht; auch was er als Schreiber war, wird nicht gesagt; er tritt nur mit seinen Gedanken in die Handlung ein und ist, während uns Green und Marlow im Vordergrund beschäftigt haben, bereits als großer Dichter aufgestanden . . . In diesem Teile erscheint Shakespeare als eine halb mythische, heilige Person; wie Pallas springt er fertig aus dem Haupte Jupiters hervor. Seine Schwäche, Unwürdigkeit, Niedrigkeit wird uns erlassen; besonders die drückenden Verhältnisse seiner Kindheit und Jugend werden übergangen. Auch mit dem unausstehlichen Herkules in den Windeln werden wir verschont.« Man möchte fast bedauern, daß Tieck dieser »weisen Absicht« später untreu geworden ist. Im Jahre 1828 schrieb er einen »Prolog zum Dichterleben«: »Das Fest zu Kenelworth«Im 6. Bande der »Novellen«, Berlin, Reimer, 1828. in welchem eine Episode aus Shakespeares Knabenjahren anmutend erzählt wird. Adelheid Reinbold spricht in dem oben angeführten Briefe nicht mit Unrecht von dem »heitern, kindlich-lieblichen Prolog mit seinen schlummernden Gefühlen und Blütenknospen«, wenn auch leider, wie Minor bemerkt, der Knabe »etwas altklug ausgefallen« ist und »zu oft und absichtlich den künftigen großen Dichter« verrät. Weit schwächer aber als dieser Prolog, der immerhin einen gefälligen Eindruck hinterläßt, ist eine im Jahre 1829 verfaßte Fortsetzung des »Dichterlebens«,Zuerst 1830 gedruckt in Tiecks »Novellenkranz« auf das Jahr 1831. als »zweiter Teil« bezeichnet, später auch unter dem Titel: »Der Dichter und sein Freund«Seitdem erhielt die ursprüngliche Novelle »Dichterleben« (1825) auf dem Titel den Zusatz: »Erster Teil«. gedruckt. Adelheid Reinbold hatte als Aufgabe des Dichters sehr richtig erkannt, daß Tieck nun »seinen eigentlichen Helden und Liebling einmal im Kampfe mit sich selbst zeige, und wie er sich das Ungeheuere und die nach allen Seiten überströmende Kraft durch das Menschliche und in diesem Sinne Göttliche bändigt«.A. a. O., S. 126. Aber diesem gewaltigen Problem gegenüber erlahmte des Dichters Kraft; dieser »zweite Teil« ist nicht nur in Bezug auf Komposition weit schwächer als der erste, auch die Charakteristik Shakespeares entspricht nicht dem Bilde, das wir uns von dem fertigen großen Manne machen müssen, und der Schluß, der in einen recht schmutzigen Liebeshandel und daraus entspringenden Zwist zwischen Shakespeare und seinem Freunde Southampton ausläuft, ist durchaus unbefriedigend. Daß sich in Einzelheiten, z. B. in dem meisterhaft gezeichneten Charakterbild von Shakespeares Vater, die poetische Kraft des Verfassers in glänzendem Lichte zeigt, kann freilich nicht geleugnet werden.

Zum Schlusse sei bemerkt, daß die Haupthandlung dieser ersten historischen Novelle Tiecks (und auch die des zweiten Teils) eine geniale Erweiterung der verschiedenen Traditionen ist, die uns über Shakespeares und seiner dichterischen Zeitgenossen Leben und Treiben überkommen sind, und daß die auffallend frische und kräftige Lokalfärbung aller drei Novellen sich nicht nur durch Tiecks gründliche Studien, sondern auch durch seine mit Burgsdorff 1817 unternommene englische Reise, auf der er alle für seinen Liebling Shakespeare bedeutsamen Örtlichkeiten selber in Augenschein nahm, erklärt. Bewundernswerter als diese äußere historische und geographische Treue will uns der geschichtliche Sinn des Dichters erscheinen, der uns das geistige Leben der geschilderten Kreise, das seltsame Treiben der damaligen poetischen Genies und nebenbei der religiösen Schwärmer in so knapp bemessenem Raume mit voller Deutlichkeit und Wahrheit vorführt, wogegen wenig in Betracht kommt, daß Tieck in den Gesprächen zwischen Green, Marlow und Shakespeare dem letztern zuweilen Kunsturteile in den Mund legt, die im Grunde die des Verfassers selbst sind.

 


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