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III. Kunst und Philosophie

Jeder Autor schreibt in dem guten Glauben, daß sein Buch der endgiltige Ruheplatz sein werde, und schlägt ein Gerüst auf wie für mehr als orientalisches Beharren. Aber es ist nur eine Karawanserei, die wir bald ohne Umstände verlassen. Wir lesen auf dem Schilde bloß: Erfrischungen für Mensch und Tier, und eine aufgemalte Hand weist den Weg nach Ispahan oder Bagdad.

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Es würde die Mühe lohnen, unsere Lektüre mit Sorgfalt auszuwählen, denn Bücher sind der Umgang, den wir pflegen. Die besten Bücher sollten wir zuerst lesen, sonst kommen wir vielleicht überhaupt nicht dazu. Aber nicht diejenigen, welche uns ein bequemes Vergnügen bereiten, sondern solche, in denen jeder Gedanke ein ungewöhnliches Wagnis bedeutet, die ein träger Geist nicht hinunterwürgen und ein furchtsamer nicht ergötzlich finden kann, die uns für alle bestehenden Einrichtungen sogar gefährlich machen – die nenne ich gute Bücher.

(Eine Woche)

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Ein Buch sollte nichts enthalten, als reine Entdeckungen, nichts als den flüchtigen Schimmer einer »terra firma«, wenn auch nur im Schiffbruch erhascht; wir wollen nicht über die Kunst der Schiffahrt hören von denen, die das Land nie aus Sicht verloren. Ein Buch solcher Art braucht dem Autor nicht Weizen und Kartoffeln einzutragen: es muß selbst der freie und natürliche Ertrag seines Lebens sein.

(Eine Woche)

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Nur das Wilde in der Literatur zieht uns an; Langweiligkeit ist bloß ein anderer Name für Zahmheit. Was uns im Hamlet, in der Ilias, in allen Mythologien und heiligen Schriften entzückt, ist das freie und wilde Denken, das nicht Schule und Zivilisation formte. Wie die wilde Ente rascher ist und schöner als die zahme, so ist es auch der wilde Gedanke, der Wildentengedanke, der sich im niederfallenden Tau über das Moor aufschwingt. Das Genie ist ein Licht, das wie der Blitz die Finsternis erhellt und vielleicht sogar den Tempel des Wissens zerschmettert, – es ist nicht eine Fackel auf dem Herdstein des Menschengeschlechts, die vor dem Lichte des Alltags verblaßt.

(Ausflüge)

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Wo gibt es eine Literatur, in der die Natur zum Ausdruck käme? Der wäre ein Dichter, der Winde und Ströme in seinen Dienst zu zwingen wüßte, so daß sie für ihn sprächen; der die Worte in ihrem Ursinn festigte, wie der Landmann im Frühjahr die Pflöcke wieder festrammt, die der Frost lockerte; der seine Worte jedesmal von neuem in ihrer Abstammung erfaßte und mitsamt der Erde an ihren Wurzeln auf das Papier übertrüge. Dann würden sie so wahr, so frisch und so natürlich wie im Frühjahr die aufbrechenden Knospen erscheinen, wenn sie auch halberstickt zwischen muffigen Blättern in einer Bibliothek liegen; dann müßten sie erblühen und nach ihrer Art dem treuen Leser Früchte tragen, jahraus, jahrein, in Übereinstimmung mit der umgebenden Natur.

(Ausflüge)

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Manche Dichter meinen, Dichten schicke sich nur für die Jugend; aber das ist nicht richtig. In dieser hitzigen und erregbaren Periode erhalten wir bloß den Anstoß, der uns auf unserer künftigen Bahn vorwärts treibt; die Ideale enthüllen sich uns, denen wir dann unser ganzes Leben lang nachstreben, ohne sie je zu erreichen. Aber diese bloßen Idealbilder sind, verglichen mit dem beharrlichen Bemühen nach solchem Ziel, von geringer Bedeutung; es ist erfolglos, mit unverwandtem Blick nach einem verheißenen Lande auszuschauen, das uns ein entschlossenes und stetiges Wandern über steile Berge und durch dunkle Täler nicht gleichzeitig näherbringt. In der Jugend, solange wir elastisch sind, erhalten wir den Anstoß auf den richtigen Weg; aber es ist unsinnig, diesen Wert dem der vollbrachten Reise gleichzusetzen, dem Gehorsam, den wir dem ersten Antrieb unser Leben lang unverbrüchlich bewahrten. Herrliche Gegenden bekommen wir zu sehen, damit wir uns verlockt fühlen, dort zu wohnen, nicht, damit wir einfach sagen können: wir haben sie gesehen.

(Tagebücher)

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Von dem, der uns Ereignisse berichten will, dürfen wir verlangen, daß er auf beiden Füßen vor ihnen gestanden und nicht bloß vorübergegangen sei; die Ereignisse können also nicht häuslich genug sein. Der Mann ist als Dichter, als Beobachter, als Nachbar sich und den anderen am wertvollsten, der der zufriedenste ist und zu Hause lebt. Da ist sein Leben am intensivsten, da vergeudet er die wenigsten Augenblicke. Die vertrauten Gegenstände der nächsten Umgebung bieten sich als die tauglichsten Symbole und Erläuterungen seines Lebens. Wenn sich ein Mann, der tiefe Erlebnisse hatte, bemühte, sie in einem Reisebericht niederzulegen, so hieße das die Sprache eines Nomadenstammes statt einer Weltsprache gebrauchen. Der Dichter hat seine kräftigsten Wurzeln in den Boden der Heimat geschlagen, und niemand ist schwieriger zu versetzen als er.

(Tagebücher)

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Wir sollten keine Mühe darauf verwenden, unsere Gedanken kühl zu analysieren, sondern einfach versuchen, sie in einem Zug, parallel zu ihrem Ablauf, möglichst genau niederzuschreiben. Der innere Antrieb bleibt ja doch der beste Sprachkünstler, und seine Logik wird nicht verfehlen die allerüberzeugendste zu sein, obwohl sie mit den Aristotelischen Regeln nicht in Einklang zu bringen ist. Je näher wir an eine erschöpfende aber ungesuchte Niederschrift unserer Gedanken gelangen, um so genießbarer wird die Sache sein; denn unsere Passivität oder unwillkürliche Tätigkeit ist ein Zustand, auf dessen Höhe wir uns halten können. Wir können aber schwerlich auf die Dauer mit unseren Anstrengungen rechnen, am allerwenigsten mit unseren besonderen Anstrengungen.

(Tagebücher)

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Ich möchte gerne jedesmal zwei Berichte in mein Tagebuch eintragen: zuerst die Vorfälle und Beobachtungen von heute, und am folgenden Tage nochmals darauf zurückkommen und verzeichnen, was vorher vernachlässigt worden war und häufig das bedeutsamste und poetischeste gewesen ist. Im ersten Augenblick weiß ich nicht, was mich entzückte. Menschen und Dinge von heute pflegen in der Erinnerung von morgen hübscher und wahrer zu sein.

(Tagebücher)

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Wie kommt es, daß ein Ereignis im Augenblick seiner Gegenwärtigkeit meistens nur mit dem Alltagssinn und -verstand erfaßt wird? Daß es kahl und dürftig ist, so ganz ohne Glorie, ohne den blauen Schmelz dazwischentretender Luft? Laß es aber vergangen oder zukünftig sein und mit einem Schlag ist es idealisiert. Der Mensch wird im Tode vergeistigt, ein Ereignis in der Erinnerung idealisiert. Es ist gereift und von einem zarten Hauch überzogen. Der Verstand hat nicht mehr allein Besitz davon, sondern auch die Phantasie, die zu ihrer Entfaltung ein weites Feld verlangt. Der Dichter hat die Gabe, die Dinge in diesem Sinne als vergangen und künftig, als ferne und allbedeutsam zu sehen.

(Tagebücher)

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Jede Gelegenheit den Stil zu verbessern sollte man ergreifen, als wäre sie die letzte.

(Tagebücher)

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Gut schreiben genau so wie gut handeln heißt dem Gewissen gehorchen. Kein Körnchen Absicht oder Laune darf beigemengt sein. Wenn wir zu lauschen verstehen, so werden wir hören. Wenn wir mit Andacht der inneren Stimme lauschen – vielleicht schwingen wir uns wieder auf die Höhen der Menschheit empor.

(Tagebücher)

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Die Herren von der Literatur, die Herausgeber und die Kritiker glauben, daß sie schreiben können, weil sie Grammatik und Rhetorik studiert haben; aber sie sind gewaltig im Irrtum. Was Kunst ist in einer Komposition, ist so einfach wie das Abschießen einer Kugel aus der Flinte, und ein Meisterwerk hat eine unendlich größere Kraft hinter sich. Das eine große Gesetz der Komposition lautet – und wäre ich Professor der Rhetorik, ich würde darauf besonderen Nachdruck legen –: die Wahrheit sprechen. Die Wahrheit, erstens, zweitens und drittens; mag einer Kieselsteine im Munde haben oder nicht.

(Vermischte Schriften)

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Der Künstler muß mit Gelassenheit arbeiten; zu viel Teilnahme verdirbt das Werk.

(Tagebücher)

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Die Wichtigkeit des Themas wird meistens übertrieben; das eine wird für bedeutend gehalten, das andere für unbedeutend. Aber das Thema bedeutet nichts, das Leben alles. Nur die Tiefe und Gewalt des hervordrängenden Lebens fesselt den Leser. Unseren Gegenstand berühren wir mit einem ausdehnungslosen Punkt, aber die Pyramide unseres Erlebens, unser Interesse daran, ruht auf uns mit breiterer oder engerer Basis. Das will sagen: der Mensch ist alles in allem, die Natur ist nichts, wo sie nicht ihn vor Augen führt oder widerspiegelt.

(Tagebücher)

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Die Gabe sich gut auszudrücken ist sehr gefährlich – die Gabe, das Herz des Lebens mit einem Griff herauszureißen, wie die Indianer einen Skalp abziehen. Ich habe die Empfindung, als wäre mein Leben äußerlicher geworden, wenn ich imstande war es auszudrücken.

(Eine Woche)

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Die Sprache des Dichters läßt sich nicht analysieren. Sein Satz ist ein Wort, dessen Silben Worte sind. Worte, die durchaus würdig wären, von seiner Musik getragen zu werden, gibt es tatsächlich nicht. Aber was schadet's, die Worte nicht immer zu erfassen, wenn wir nur die Musik hören?

(Eine Woche)

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Wenn du sagen kannst, was du nie hören wirst, wenn du schreiben kannst, was du nie lesen wirst, dann hast du seltene Dinge vollbracht.

(Eine Woche)

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Ein Mann von Genie kann zugleich ein Künstler sein und ist es wohl auch in der Regel; aber die beiden dürfen nicht verwechselt werden. Der Mann von Genie ist für das Menschengeschlecht ein Neuerer, ein Gottbegeisterter oder ein Dämon, der, noch unbekannten Gesetzen gehorchend, ein Werk von Vollendung schafft. Künstler ist jener, der dadurch, daß er die Werke des Genies im Menschen und in der Natur beobachtet, das Gesetz entdeckt und anwendet. Der Kunstfertige wendet nur Gesetze an, die andere entdeckten. Ein Genie im reinsten Sinn hat es nie gegeben, wie auch noch keinen, der des Genies völlig bar gewesen wäre.

(Eine Woche)

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Wie wunderbar beschaffen ist der Künstler, seine Selbsterziehung gerade durch die völlige Hingabe an seine Kunst zu erlangen! Der Holzsäger, der sich bemüht seine Arbeit gut zu verrichten, wird nicht nur ein besserer Holzsäger, er wird in demselben Maße auch ein besserer Mensch.

(Briefe)

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Die Reize eines flüssigen Stils werden heutzutage genug besprochen. Man bekommt über manches geniale Werk die Klage zu hören: schöne Gedanken seien wohl darin, aber ohne Stetigkeit und ohne Fluß. Man sollte sich jedoch gegenwärtig halten, daß der Gedankenablauf mit einer Flutwoge mehr Ähnlichkeit hat, als mit dem Gefälle eines Flusses; denn er ist das Resultat einer Kraft vom Himmel und wird nicht durch irgendwelche Abschüssigkeit in der Bahn hervorgerufen. Ein Leser, der für die ganze Reise eine sanfte Talfahrt erwartet hatte, wird sich freilich über das greuliche Stampfen und Schlingern beschweren, wenn sein schwaches Küstenfahrzeug in die Sturzwellen des Ozeans hineingerät, der so gewaltig gegen Sonne und Mond aufflutet und so gar nicht hinfließt.

(Eine Woche)

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Mythologie ist gewissermaßen nichts anderes als die älteste Geschichte und Biographie. Sie ist weit davon entfernt, unwahr zu sein oder erdichtet in gewöhnlichem Sinne; sie enthält vielmehr nur bleibende und wesentliche Wahrheit und übergeht alles Ich und Du, Hier und Dort, Jetzt und Damals. Nur der Lauf der Zeit oder seltene Weisheit ist imstande sie zu schreiben. Vor der Erfindung der Buchdruckerkunst war ein Jahrhundert gleich tausend Jahren. Wer heutigentags ein Stück echter Mythologie schreiben kann, ohne der Nachwelt als Hilfe zu bedürfen, der ist ein Dichter.

(Eine Woche)

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Im Mythus waltet eine überirdische Intelligenz, die die unbewußten Gedanken und Träume der Menschen als Hieroglyphen gebraucht, um zur ungeborenen Nachwelt zu reden. In der Geschichte des menschlichen Geistes gehen diese in Rot und Gold erglühenden Fabeln den Mittagsgedanken der Menschheit voran, wie Aurora den Strahlen der Sonne. Der morgendliche Geist des Dichters, der Vorbote des Lichts der Philosophie, wohnt immer in diesem Frührot.

(Eine Woche)

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Das, was das Publikum liest, ist nicht das eigentliche Gedicht. Es gibt immer noch ein anderes, das gleichzeitig entsteht, aber nicht auf Papier gedruckt, sondern unauslöschlich in das Leben des Dichters eingegraben wird. Es ist das, was er durch sein Werk wurde. Welchen Ausdruck ein Gedanke im Stein, auf der Leinwand oder auf dem Papier findet, darum handelt es sich nicht; wohl aber darum, inwieweit er in dem Leben des Künstlers Gestalt und Sprache gewann. Das wahrste Werk des Künstlers steht in keines Fürsten Halle.

(Eine Woche)

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Ein echtes Gedicht zeichnet sich nicht so sehr durch einen glücklichen Ausdruck oder durch die Gedanken aus, die es anregt, als vielmehr durch die Atmosphäre, von der es umflutet ist. Die meisten Dichtungen haben bloß schöne Umrißlinien und die auffallende Gestalt und Haltung eines Fremden. Aber echte Verse kommen ganz unmerklich auf uns zu, wie der Atem des lebendigen Wohlwollens, und hüllen uns in ihren Geist und Duft. Vieles in unserer Literatur hat die vorzüglichsten Manieren, aber keinen Charakter.

(Eine Woche)

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Kunstlosigkeit ist die Grundbedingung aller Kunst.

(Tagebücher)

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Der Dichter singt, wie das Blut durch seine Adern rollt. Er verrichtet seine Funktion auf so natürliche Weise, daß er um zu singen keines anderen Anreizes bedarf, als eine Pflanze um Blüten und Blätter zu treiben. Sein Singen ist eine selbstverständliche Funktion wie das Atmen, eine Gesamtwirkung wie die Schwere, und sein Bemühen die ferne, flüchtige Melodie, die er zuweilen hört, in eine andere Tonart überzuleiten, wäre ganz vergeblich. Dichten ist nicht ein Überschäumen des Lebens, sondern eher der Niederschlag, der unter den Füßen des Dichters hervorgeholt wird. Homer sagt: die Sonne sinkt, und das genügt. Er ist gelassen, wie die Natur; die Begeisterung des Sängers läßt sich schwerlich entdecken. Es ist nicht anders, als spräche die Natur.

(Eine Woche)

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Große Kunstwerke haben endlose Muße zum Hintergrund, wie das Universum Raum hat. Die Zeit steht still, während sie geboren werden. Der Künstler kennt keine Eile. Die Erde bewegt sich mit unfaßbarer Schnelligkeit um die Sonne, und doch gerät der Spiegel des Sees nicht in Schwanken! Nicht durch Kompromisse, nicht durch demütige und schwächliche Reue können wir unsere Seele erretten und endlich zu unserem Leben gelangen; wir müssen uns die freie Bahn erobern und Reue & Co. unbeachtet lassen, diese gutmütige aber kraftlose Firma, die die Schulden einer alten und wertlosen übernahm. Der Kampf spielt sich auf einem Gebiet ab, wo keine Nachsicht geübt wird und wo niemand vor einarmigen Rittern höflich knixt. Man erwartet, daß wir unsere Pflicht erfüllen, nicht im Widerstand gegen alle Dinge bis auf eines, sondern im Widerstand gegen alle Dinge.

(Tagebücher)

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Die erhabenste Weisheit in Büchern hat zweifellos entweder Reim oder Rhythmus; sie ist Poesie, der Form wie dem Inhalte nach. Hätte ich die Quintessenz menschlicher Weisheit in einem Bande zusammenzutragen, ich würde keine einzige Zeile aufnehmen, die ohne Rhythmus wäre.

(Tagebücher)

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Die Poesie ist der Mystizismus der Menschheit.

(Eine Woche)

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Poesie enthält die ganze Wahrheit; Philosophie drückt nur einen Teil von ihr aus.

(Tagebücher)

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Goethes Leben und Erziehung waren durchaus die eines Künstlers. Ihm fehlt das Unbewußte des Dichters. In seiner Selbstbiographie beschreibt er genauestens das Leben des Verfassers von »Wilhelm Meister«. Denn, wie dieses Buch eine Mischung von seltener und leuchtender Weisheit mit einer gewissen Kleinlichkeit, einer Übertreibung von Lappalien zeigt, so läßt auch seine Selbstbiographie erkennen, daß der Fehler seiner Erziehung in ihrer sozusagen rein künstlerischen Durchbildung gelegen war. Seine Kindheit war die eines Stadtkindes, dessen Spielzeug Bilder und Kunstwerke sind, dessen Wunderwelt das Theater bildet, festliche Umzüge und Krönungen. Wie sich der Knabe beim Einzug des Kaisers aufs gewissenhafteste in die Rangabstufungen vertieft und keinen Eindruck daraus unbeachtet läßt, so strebt der Mann nach einer passenden gesellschaftlichen Stellung, die seiner Auffassung von Achtbarkeit entsprechen konnte. Um vieles, das der wildaufwachsende Knabe genießt, wurde er betrogen. Er war in der Tat zu wohlerzogen, um durch und durch erzogen zu sein.

(Eine Woche)

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Musik ist der Klang der Weltgesetze in ihrer Verkündigung.

(Eine Woche)

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Als ich heute den »großen Ball« majestätisch dahinrollen sah, empfand ich Scham darüber, daß sich der Mensch nicht ähnlich bewegen könne. Alle Würde und Größe hat etwas von der wellenförmigen Bewegung der Sphären. Sie ist das Geheimnis der Majestät in dem wiegenden Gang des Elefanten, das Geheimnis aller Grazie im Leben und in der Kunst. Die Linie der Schönheit ist eine Kurve.

(Tagebücher)

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Alle Schönheit macht den Eindruck, sich selbst zu genügen.

(Tagebücher)

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Die Farbe, der eigentliche Reichtum des Dichters, ist so kostspielig, daß sich die meisten ans bloße Zeichnen und Skizzieren halten und Männer der Wissenschaft werden.

(Tagebücher)

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Wir haben in den letzten Jahrhunderten von den Fortschritten der Wissenschaft viel gehört. Ich möchte behaupten, daß sich die praktischen Resultate der Wissenschaft allerdings angesammelt haben, daß jedoch eigentliches Wissen für die Nachwelt nicht aufgespeichert wurde. Denn Wissen läßt sich nur durch gleichzeitiges Erleben erwerben. Wissen wir, wovon uns nur berichtet wurde? Die Erfahrung der anderen können wir nur durch unsere eigene verstehen.

(Eine Woche)

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Wissenschaft ist unmenschlich. Jedes Ding wird nichtssagend, sobald wir es durch ein Mikroskop betrachten. Man denke sich einmal Menschen und Pferde, Bäume und Vögel in tausendfacher Vergrößerung gesehen und beschrieben. Mit unseren neugierigen Instrumenten stören wir die Harmonie und das Gleichgewicht der Natur.

(Ausflüge)

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Die alten Naturforscher besaßen ein so feines und liebevolles Gefühl für die Natur, daß sie bei den alltäglichsten Begebenheiten in Erstaunen geraten konnten. Das Leben war für sie ein unaufhörliches Wunder, und daher waren auch Gorgonen und fliegende Drachen keine unglaubhaften Dinge. Das größte und traurigste Gebrechen ist nicht die Leichtgläubigkeit, sondern die Gewohnheit zu vergessen, daß unsere Wissenschaft Unwissen ist.

(Tagebücher)

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Ein paar gute Anekdoten enthält unsere astronomische Wissenschaft, dazu einige imponierende Berechnungen von Größen und Distanzen, aber wenig oder nichts über die Sterne, sofern sie für den Menschen in Betracht kommen. Sie lehrt Land vermessen, ein Schiff führen, aber nicht das Leben steuern. Die Astrologie enthielt den Keim einer höheren Wahrheit. Es kommt wohl vor, daß die Sterne einem Fuhrknecht bedeutungvollere und himmlischere Gebilde sind als dem Astronomen.

(Tagebücher)

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Es gibt, wie wir wissen, eine Gesellschaft zur Verbreitung nützlicher Kenntnisse. Die Leute behaupten nämlich, Wissen sei Macht und dergleichen mehr. Mich dünkt, daß ein gleiches Bedürfnis nach einer Gesellschaft zur Verbreitung nützlicher Unwissenheit besteht, eines Wissens, das in höherem Sinne nützlich ist, und das ich das »schöne Wissen« nennen möchte. Denn unser vielgerühmtes sogenanntes Wissen, was ist es anderes als die Einbildung etwas zu wissen, wodurch uns die Vorteile unserer tatsächlichen Unwissenheit geraubt werden? Was wir unser Wissen nennen, ist häufig unser positives Nichtwissen, unser Nichtwissen unser negatives Wissen. In langjähriger zäher und emsiger Zeitunglektüre – denn sind die wissenschaftlichen Bibliotheken etwas anderes als Stöße Zeitungpapier? – häuft der Mensch eine ungeheuere Menge von Tatsachen auf und legt sie in seinem Gedächtnis nieder; wenn er aber in einem Frühlingsmoment seines Leben abseits in die weiten Gefilde des Denkens hineinschlendert, dann geht er sozusagen wie ein Pferd zur Weide und läßt sein Zaumzeug daheim im Stall. Der Gesellschaft zur Verbreitung nützlicher Kenntnisse möchte ich zuweilen zurufen: Geht zur Weide! Ihr habt lange genug Heu gefressen.

(Ausflüge)

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Ein gutes Buch ist die Hand, die in die sonst stummen Saiten unsrer Laute greift. Das Interesse, das wir oft genug auf den geschriebenen und vergleichsweise leblosen Körper des Buches beziehen, gehört tatsächlich dem eigenen ungeschriebenen Nachhall in uns. Dieser Nachhall ist der allerunerläßlichste Teil eines jeden Buches. Das Streben des Autors sollte darauf gerichtet sein, einmal und mit erhobenem Ton sagen zu können: er sprach, Griech. Wort fehlt. Das ist das Höchste, was ein Bücherschreiber erreichen kann. Hat er sein Buch zu einem Damm gemacht, an dem die Wogen des Schweigens sich brechen, so ist es gelungen.

(Eine Woche)

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