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II. Der Mensch unter Menschen

In der Liebe kleiner Seelen mache ich viele kurze Reisen; aber vergeblich. Ich finde keinen Seeraum. Aber in großen Seelen segle ich ohne Wachtdienst vor dem Wind und stoße niemals auf Land.

* * *

Das Licht der Sonne ist nur der Schatten der Liebe. Die Liebe ist der Wind, die Flut, die Woge und der Sonnenglanz. Ihre Kraft ist unberechenbar; sie hat viele Pferdekräfte. Sie endet nie, sie wird nie schlaff; den Erdball kann sie bewegen ohne Stützpunkt, sie kann wärmen ohne Feuer, nähren ohne Fleisch, kleiden ohne Gewand, bergen ohne Dach; sie schafft ein inneres Paradies, das jedes äußere entbehrlich macht.

(Vermischte Schriften)

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Das große einsame Herz liebt allein, ohne den Gegenstand seiner Liebe zu kennen; es hat keinen Partner in seiner Liebe. Es spendet seine Liebe, wie die Wolke den Regen auf die Felder niederträufelt, über denen sie schwebt.

(Tagebücher)

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In unserm Umgang mit jemandem, den wir lieben, erwarten wir Antwort auf jene Fragen, an deren Ende wir die Stimme nicht erheben und kein Fragezeichen setzen – eine Antwort, die ebenso unfehlbar wie allumfassend nach jedem Punkte der Windrose zielt.

(Briefe)

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Liebe muß ebensosehr Licht wie Flamme sein.

(Briefe)

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In der Liebe und in der Freundschaft wird die Phantasie nicht weniger in Anspruch genommen wie das Herz; wenn eines von beiden verletzt wird, so erleidet auch das andere eine Entfremdung. Gewöhnlich ist es die Phantasie, die zuerst verwundet wird, leichter als das Herz; sie ist um so viel empfindlicher.

(Briefe)

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Vergleichsweise können wir jede Kränkung des Herzens vergeben, aber keine, die die Phantasie trifft. Der Phantasie entgeht nichts von ihrer luftigen Höhe aus; sie kennt und sie bewacht die Brust. Mein Herz sehnt sich vielleicht immer noch zutal, aber meine Phantasie gestattet nicht mehr den Sprung den jähen Hang hinab, der mich davon trennt; denn sie ist verwundet, ihre Flügel sind geknickt und sie kann nicht mehr fliegen, nicht einmal niederwärts. »Unser irrendes Herz!« sagen die Dichter. Die Phantasie aber vergißt nicht; sie ist Rück-Erinnerung. Sie besitzt Fundament und ist höchst vernünftig, weil sie allein alles Wissen unseres Geistes zu benützen weiß.

(Briefe)

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Ein Liebender hört niemals das gesprochene Wort; denn das ist meistens falsch oder verbraucht. Aber er hört Dinge, die vorgehen, wie die Wache den Baron Trenck im Boden wühlen hörte und dachte, es wäre der Maulwurf.

(Briefe)

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Die Liebe ist ein strenger Richter; der Haß kann mehr vergeben als die Liebe. Wer strebt, würdig zu lieben, unterwirft sich einem Gottesurteil, das unbeugsamer ist, als jedes andere.

(Briefe)

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Ein Mann von feiner Empfindung hat mehr echte Weiblichkeit an sich als eine bloß weichherzige Frau. Das Herz ist blind, aber die Liebe nicht. Keiner von den Göttern sieht schärfer.

(Briefe)

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Ich brauche deinen Haß so gut wie deine Liebe. Du verstößt mich nicht ganz, wenn du das verstößt, was schlecht ist in mir.

(Briefe)

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In der Neigung schwelgen – da liegt die Gefahr. In unserer Liebe muß Nerv und Heroismus stecken, wie in einem Wintermorgen. Die Religionen aller Völker weisen auf eine Reinheit hin, die die Menschen, wie ich fürchte, nie erreichen. Es kann vorkommen, daß wir uns lieben und doch nicht erheben. Die Liebe, die uns nimmt, wie sie uns findet, setzt uns herab. Wie sorgsam müssen wir über der schönsten und reinsten Neigung wachen, damit sie nicht befleckt werde! Möchten wir so lieben, daß wir nie in die Lage kommen, unsere Liebe zu bereuen!

(Briefe)

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Eine echte Ehe unterscheidet sich in keiner Hinsicht von geistiger Erleuchtung. Jede Wahrheit gewährt, wenn sie lebendig wird, eine göttliche Verzückung, einen unaussprechlichen Freudentaumel, wie wenn der Jüngling seine jungfräuliche Braut küßt. Die höchsten Wonnen einer echten Ehe sind eins damit.

(Briefe)

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Freundschaft entsteht zwischen denen, die sich gegenseitig anziehen, als vollkommen natürliches, als unvermeidliches Ergebnis, dem kein Beruf und kein Entgegenkommen förderlich sein kann. Nicht einmal das gesprochene Wort hat schon im Anbeginn notwendig damit zu schaffen; es folgt erst dem Schweigen, wie sich auch die Knospen in dem Pfropfreis nicht früher zu Blättern entfalten, als bis das Pfropfreis lange gefaßt hat. Sie ist ein Drama, in welchem die Beteiligten keine Rolle zu spielen haben. Darin sind wir alle Muselmänner und Fatalisten. Menschen, die in ihrer Liebe ungeduldig und unsicher sind, glauben, wann immer sie sich begegnen, etwas freundliches sagen oder tun zu müssen, nie kalt sein zu dürfen. Aber wahre Freunde tun, was sie müssen, nicht was sie zu müssen glauben. Auch ihre Freundschaft ist ihnen gewissermaßen nichts als ein erhabenes Phänomen.

(Eine Woche)

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Worte sollten zwischen Freunden überspringen, wie der Blitz von Wolke zu Wolke.

(Tagebücher)

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Vom Freunde erwarten wir nicht, daß er unseren Körper nähre und kleide – das zu besorgen sind Nachbarn freundlich genug; sondern wir erwarten, daß er unserem Geist solche Dienste erweise. Wir wollen uns verkündigen und wie die Sonne unsere Strahlen ausbreiten; der neue Gedanke entfaltet sich, wenn wir ihn dem Freunde zuwerfen. Freunde sind Zwillingsbrüder, die ihre Interessen eins fühlen. Jeder weiß, daß, was er sagte, ebensowohl der andere gesagt haben könnte. Alle Schönheit, alle Musik, jedes Entzücken entspringt scheinbarem Dualismus, aber wirklicher Einheit.

(Tagebücher)

*

Die Behauptung, jemand sei ein Freund, besagt in der Regel nicht mehr, als daß er kein Feind ist. Die meisten denken nur an das, was ein zufälliger und nebensächlicher Vorteil der Freundschaft sein kann; etwa: Beistand in Zeiten der Not durch materielle Unterstützung, durch persönlichen Einfluß oder durch Rat. Wer aber diese Vorteile freundschaftlicher Beziehung im Auge hat, beweist, daß er für ihre wirklichen Vorteile blind ist und völlig unerfahren in der Beziehung selbst. Derlei Dienste sind engpersönlicher und niedriger Natur im Vergleich mit dem ewigen, allumfassenden Dienst, den uns Freundschaft wirklich leistet. Nicht die äußerste Anspannung von gutem Willen, nicht Übereinstimmung und werktätiges Wohlwollen genügen, um Freundschaft zu schaffen; denn Freunde leben nicht nur in Harmonie, wie gewöhnlich angenommen wird, sondern sie leben in Melodie.

(Eine Woche)

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In der Freundschaft liegt nicht so viel Güte, als man denkt. Sie hat wenig menschliches Blut in sich; sie verbindet sich vielmehr mit einer gewissen Geringschätzung für die Menschen und für ihre Erbauungsmittel: Christenliebe und Christenpflicht. Man kann sie eine zuinnerst heidnische Verbindung nennen, die, ihrer Natur nach frei und unverantwortlich, alle Tugenden freiwillig übt. Freundschaft ist nicht nur die höchste Form der Sympathie, sondern auch eine reine und hohe Vergeselligung, das Bruchstück eines götterähnlichen Verkehrs aus uralter Vergangenheit, der noch immer von Zeit zu Zeit aufrechterhalten wird und nicht zaudert, über die bescheideneren menschlichen Rechte und Pflichten hinwegzuschreiten, sobald er sich auf sich selbst besinnt. Wenn aber ein Freund aus seinem Heidentum und Götzendienst heraustritt, wenn er, bekehrt durch die Satzungen eines neueren Testamentes, seine Idole zerbricht, seine Mythologie vergißt und seinen Freund als Christen behandelt oder einfach nach bestem Können: dann hört Freundschaft auf, Freundschaft zu sein, und wird Barmherzigkeit.

(Eine Woche)

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Der ist ein Freund, der uns ohne Unterlaß die Ehre erweist, alle Tugenden in uns zu erwarten, und der sie auch zu würdigen weiß. Es gehören zwei dazu, um die Wahrheit zu sprechen: einer, der spricht, und einer, der hört; bloßes Holz und Gestein, könnte man das mit Hochherzigkeit behandeln? Hätten wir nur mit Falschen und Unredlichen zu tun, wir würden schließlich verlernen, die Wahrheit zu sprechen. Den Wert und Adel der Wahrheit verstehen nur Liebende; Händler schätzen eine wohlfeile Anständigkeit, Nachbarn und Bekannte eine wohlfeile Höflichkeit. In unserem täglichen Umgang mit Menschen bleiben unsere besseren Eigenschaften im Schlummer und verfallen dem Rost. Keiner erweist uns die Ehre, Adel von uns zu erwarten. Wir haben Gold zu verschenken, aber sie wollen nur Kupfer. Was gemeinhin Freundschaft genannt wird, ist nur ein etwas feierlicherer Grad von Hochachtungsbeteuerung zwischen Spitzbuben.

(Eine Woche)

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Die Schwierigkeiten mit meinen Freunden sind von einer Art, die keine Offenheit auszugleichen vermag. Das Neue Testament enthält keine Vorschrift, die mir helfen könnte. Andere können beichten und Mißverständnisse aufklären, ich kann es nicht. Nicht als ob ich zu stolz wäre; aber Aufklärung ist nicht das, was not tut. Freundschaft ist die unaussprechliche Freude, die Gnade, die zweien oder mehreren daraus erwächst, daß sie ihrer Natur nach übereinstimmen. Solche Wesen sind keinen Fehlgriffen ausgesetzt, sie kennen sich durch dick und dünn. Zwischen zwei gleichgearteten Naturen, die geschaffen sind, um zu sympathisieren, gibt es keinen Schleier und kein Hindernis. Was heißt Entfremdung? Zwei Freunde, die Aufklärungen austauschen.

(Tagebücher)

*

Meine Bekannten geben mir zuweilen zu verstehen, ich sei zu kalt; aber jedes Ding ist warm genug für seine Art. Das Feuer selbst ist kalt für alle Dinge, die ihrer Natur nach nicht von ihm erhitzt werden können. Daß ich kalt bin beweist, daß ich von anderer Art bin.

(Tagebücher)

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Die allernördlichste See, die »Polina« genannt wird, gilt für eisfrei. Hab Ausdauer mit den kältesten Naturen, geh weit genug; in ihren höchsten Breitegraden findest du offene See.

(Tagebücher)

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Ich bin zu kalt für Freundschaft mit Menschen; ich hoffe, ich werde nicht zu kalt sein für die Einwirkungen der Natur. Es scheint ein Gesetz zu sein, daß man nicht für beides, für den Menschen und für die Natur, tiefe Sympathie empfinden kann. Eigenschaften, die dem einen nahebringen, entfremden dem anderen.

(Tagebücher)

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Wenn ich mit jemandem zusammentreffe, der anders geartet ist wie ich, so finde ich mich selbst ganz und gar in der Ungleichartigkeit. Worin ich anders bin, wie die anderen, darin liegt mein eigenes Selbst.

(Tagebücher)

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Von meinem Gefährten verlange ich den Nachweis, daß er weiter gewandert ist, als bis zu den Quellen des Nils, daß er über den Umkreis von Stadt und Haus hinausgekommen ist; nicht, daß er eine gute Geschichte erzählen, sondern daß er ein gutes Schweigen bewahren kann. Hat er jemals einer Stille gelauscht, die bedeutsamer war als alle Geschichten? Hat er jemals die Straße verlassen, auf der alle Menschen und alle Narren pilgern? Du willst ein weitgereister Mann sein, mag sein; kommst du aber auch über das Einflußgebiet einer gewissen Klasse von Anschauungen hinaus?

(Tagebücher)

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Was für ein subtiles Ding ist doch Vertrauen! Nichts wahrnehmbares geht vor; keine Folgen kommen jemals zutage, wenn es an die unrechte Stelle gelangte. Und dennoch, etwas ist durchgesickert; ein neues Betragen sprießt auf, das Schiff führt neuen Ballast in seinem Kielraum. Ein hinreichend großes und weitherziges Vertrauen kann nicht mißbraucht werden. Wer ein großes Vertrauen schenkt, wird ein gleiches in sich Wurzel fassen fühlen. Wenn es eben empfangen oder geschenkt wurde, so wagen wir nicht zu sprechen, kaum einander anzublicken; unsere Stimmen klingen hart und unwert des Vertrauens. Wir sind wie Instrumente, auf denen die unsichtbaren Mächte spielten.

(Briefe)

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Die Erfahrung sitzt im Kopf und in den Fingern; das Herz macht keine Erfahrungen.

(Tagebücher)

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Während wir Gehorsam für die menschlichen Gesetze predigen und für die göttlichen, soweit sie im Neuen Testament enthalten sind, bleiben die natürlichen Gesetze, die im Genius, in der Liebe und in der Freundschaft liegen, unverkündigt und unbetont. Wie manche scheinbare Herzlosigkeit ist gerade durch Überfülle des Herzens zu erklären, wie viel scheinbare Rücksichtslosigkeit, ja sogar Selbstsucht, ist offenkundiger Gehorsam für diesen Kodex göttlicher Gesetze.

(Tagebücher)

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Für zwei Leute, die sich zwar fremd, aber doch freundlich gestimmt sind, ist es schwierig, sich gegeneinander so wahr zu benehmen, daß nicht bald ein Gefühl von Falschheit und Hohlheit zwischen ihnen aufkommt. Die leiseste Ängstlichkeit sich wahr zu benehmen, verdirbt die Beziehung.

(Tagebücher)

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Du kannst den Verdacht, mit dem dir ein anderer begegnet, aus dem Betragen, zu dem du dich gezwungen fühlst, erkennen. In seiner Gegenwart trägst du einen neuen Charakter, gleichsam wie ein ungewohntes Kleidungstück.

(Tagebücher)

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Lob und Schmeichelei erregt meistens meine Verachtung, weil es eine Anmaßung in sich schließt; denn wer ist der, der sich erlaubt, mir zu schmeicheln? Die meisten Lobesäußerungen enthalten von Seiten des Lobspendenden die Annahme seiner Überlegenheit. Tatsächlich ist Lob eine feinere Art Herabsetzung.

(Tagebücher)

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Was man gesellige Tugenden, gute Kameradschaft nennt, ist meistens nur die Tugend von Schweinen desselben Wurfes, die eng beisammen liegen, um sich gegenseitig warm zu halten. Die Menschen werden dadurch haufen- und herdenweise in Kneipen und anderswo zusammengetrieben, aber den Namen Tugend verdient das nicht.

(Tagebücher)

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Die beste Art den Menschen zu helfen besteht darin, ihnen zu zeigen, wie selten Hilfe wirklich nötig ist. Ich habe keine Eile, den Menschen zu helfen, nicht mehr Eile als Gott. Wenn sie sich nicht selbst helfen wollen, soll ich ihnen darin Vorschub leisten?

(Tagebücher)

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Mir scheint, daß einem, der auf den Höhen der Philosophie stände, das Menschengeschlecht mitsamt all seinem Tun völlig aus dem Gesichtskreise schwinden müßte; ich glaube, es wird überhaupt zu viel Gewicht auf den Menschen gelegt. Ein Dichter hat zwar gesagt: das wahre Studium des Menschen ist der Mensch; aber ich sage euch: studiert, wie ihr alles das vergessen könnt, und faßt das Universum etwas weiter. Unsere Schwäche ist es, die die Tugend der Philanthropie und der Barmherzigkeit so übertreibt und sie zur rühmenswertesten Eigenschaft des Menschen erhebt. Früher oder später wird die Welt der Philanthropie müde werden und aller Religionen, die ihrer als Hauptstütze bedürfen.

(Tagebücher)

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Ich mache die Beobachtung, daß manche Leute – meistens Leute von Begabung – in eine gewisse Kruste von feiner Lebensart ringsum eingeengt sind, die zuweilen schön-durchscheinendes Email sein mag, aber dennoch abstößt und betrübt, weil ihre Starrheit ersichtlich jede Fortentwicklung verhindert. Solche Leute sieht man immer nur wie von ferne, wie Insekten unter Glas. Sie haben sozusagen eine vorzeitige Verhärtung des Keimes und der Schale erfahren, wodurch das Leben der Pflanze schwer beeinträchtigt wurde, wenn nicht gar zerstört. Das nennt man: sich seiner Würde bewußt sein. Solche Leute sind einfach hartgesottene Sünder, in milderem Sinn. Die Perle ist ein hartgesottener Sünder.

(Tagebücher)

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Die besten Manieren auf der Welt sind plump und dumm, wenn sie mit einer feineren Intelligenz in Berührung kommen. Sie wirken wie die Mode vergangener Zeiten, wie der Hofton, die Knieschnalle und das Beinkleid von gestern. Darin, daß den Manieren der Charakter immer ausreißt, zeigt sich ihr Mangel, nicht ihre Vortrefflichkeit; sie sind abgeworfene Kleidungstücke, Hüllen, die für sich eine Achtung fordern, die dem lebenden Geschöpf gebührte.

(Ausflüge)

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Jeder Mann, jedes Weib ist ein wahrer Gott, eine wahre Göttin, aber für die große Masse ihrer Mitmenschen verkleidet. Es ist immer nur einer da, der durch die Verkleidung hindurchsieht. Wer niemandem so nahe steht, daß er das Göttliche im Menschen sieht, der ist wirklich allein.

(Tagebücher)

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Wir leben immer gewissermaßen dicht an der Grenze eines reinen und erhabenen geistigen Verkehrs, der alle Übel und Erbärmlichkeiten des Lebens in lächerliche Dinge verwandeln würde. Nach jeder kleinen Zwischenzeit – und wäre es nur eine Nacht – sind wir wieder bereit, einander als Gott und Göttin zu begegnen.

(Briefe)

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Was bedeutet die ganz alltägliche Erscheinung, daß eine Seele, die alle Hoffnung für sich selbst verlor, gerade durch das Bekenntnis ihrer Verzweiflung grenzenloses Vertrauen zu sich erwecken kann?

(Briefe)

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Der eine lügt mit Worten und macht sich einen schlechten Ruf; der andere lügt in seinem Benehmen und genießt den besten.

(Tagebücher)

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Über Erziehung wird allerhand geschwatzt, aber niemand will die Pflichten eines Erziehers auf sich nehmen. Ich habe noch keinem den vollen Gewinn aus meiner Person gewährt, keinem die Veredlung durch meine Liebe geboten. Darf ich von Nächstenliebe sprechen, der ich meine Zärtlichkeit zuguterletzt doch zurückbehalte, die allein die Nächstenliebe wünschenswert macht? Was der Arme braucht ist nicht weniger als meine ganze Person, und ich entziehe mich meiner Pflicht dadurch, daß ich Lumpen gebe und Fleisch. Was kann ich einem anderen schenken oder versagen als mich selbst?

(Tagebücher)

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Ich lebe jetzt einige dreißig Jahre auf diesem Planeten und habe von der älteren Generation nicht einmal die erste Silbe eines wertvollen oder auch nur ernsthaften Rates zu hören bekommen. Keiner von den Älteren hat mir etwas Zweckdienliches gesagt; wahrscheinlich sind sie es auch gar nicht imstande. Hier liegt das Leben, für mich ein unversuchtes Experiment; daß andere es durchgeführt haben, nützt mir nichts. Mache ich irgendeine wertvolle Erfahrung, so werde ich mir sicherlich sagen müssen, daß meine Mentoren darüber nicht gesprochen hatten. Was Geheimnis war dem Kinde, bleibt Geheimnis dem alten Mann.

(Tagebücher)

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Wie gar mancher muß, wenn er auf sein Leben zurückblickt, die Überzeugung gewinnen, daß er ein Talent erwarb, aber einen Charakter verlor. Mein Leben hat sich mir in die Finger verlaufen. Die Gesellschaft tut so, als würdige sie die Menschen nach ihren Begabungen, tatsächlich aber geht ihr Gefühl und ihre Kenntnis auf den Charakter. Was einer tut, ist im Vergleich zu dem, was er ist, nur ein geringer Teil.

(Tagebücher)

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Nach meiner Meinung sollten wir zuerst Menschen, dann erst Untertanen sein. Es ist durchaus nicht wünschenswert, für das Gesetz denselben Respekt großzuziehen wie für das Rechte! Die einzige Verpflichtung, die ich auf mich zu nehmen berechtigt bin, ist: zu allen Zeiten das zu tun, was ich für recht halte.

(Vermischte Schriften)

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Ein Mann, der rechtlicher ist als seine Nachbarn, bildet bereits eine Majorität von einer Stimme.

(Vermischte Schriften)

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Unter einer Regierung, die irgendwen ungerechterweise einsperrt, ist der passende Ort für den gerechten Mann gleichfalls das Gefängnis.

(Vermischte Schriften)

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Eine Regierung ist bestenfalls ein Notbehelf; die meisten Regierungen aber sind in überwiegendem Maße untauglich, alle Regierungen sind es zeitweilig. Wenn Handel und Gewerbe nicht aus Kautschuk wären, so brächten sie es nie dahin, über die Hindernisse hinwegzukommen, welche ihnen die Gesetzgeber fortwährend in den Weg legen. Wollte man diese Leute ausschließlich nach den Wirkungen ihrer Handlungen und nicht auch zum Teil nach ihren Absichten beurteilen, sie würden verdienen, wie diese boshafte Sorte von Geschöpfen bestraft zu werden, die Klötze auf die Eisenbahnschienen werfen.

(Vermischte Schriften)

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Ich würde wünschen, daß es möglichst viele verschiedenartige Menschen auf der Welt gäbe, und jeder sollte sorgfältig darauf bedacht sein, seinen eigenen Weg ausfindig zu machen und zu verfolgen und nicht statt dessen den seines Vaters oder seiner Mutter oder seines Nachbars.

(Walden)

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Die Dinge, auf welche heute das Augenmerk der Menschen vor allem gerichtet ist, nämlich Politik und die laufenden Geschäfte des Tages, sind allerdings vitale Funktionen der menschlichen Gesellschaft, sollten aber ebenso unbewußt verrichtet werden, wie die analogen Funktionen des physischen Körpers. Sie sind untermenschlich, etwas Vegetatives. Zuweilen habe ich das dämmrige Gefühl ihres Vorsichgehens in mir, wie man sich in krankhaften Zuständen auch des Verdauungprozesses bewußt werden kann, wenn man nämlich die sogenannte Dyspepsie hat. Nicht nur Individuen, auch Staaten leiden somit an chronischer Dyspepsie, deren rhetorische Künste man sich wohl vorstellen kann. So kommt es, daß unser Leben durchaus kein Vergessen all der Dinge ist, deren wir uns, wenigstens in unseren wachen Stunden, nie hätten bewußt werden dürfen, sondern daß es – leider! – in reichem Maße ein Wieder-daran-erinnert-werden bedeutet. Weshalb sollen wir uns immer als Dyspeptiker begegnen, die von ihren schlimmen Träumen erzählen, weshalb nicht manchmal als Eupeptiker, um einander zu dem immerstrahlenden Morgen Glück zu wünschen?

(Vermischte Schriften)

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