Ludwig Thoma
Moral
Ludwig Thoma

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Zweiter Akt

Ein Polizeibureau. Der Schreibtisch des Assessors steht links rückwärts, rechts rückwärts ist ein einfacher Tisch, an dem der Aktuar sitzt; daneben Aktenhund. Links vorne ein Sofa und zwei Stühle. An der rechten Wand ein Telephon. Ein Seiteneingang links; ein weiterer Eingang in der Mitte.

 
Erste Szene

Assessor Ströbel; Aktuar Reisacher. Beide sitzen mit den Rücken gegeneinander. Ströbel links, Reisacher rechts. Ströbel liest in einer Zeitung. Reisacher schreibt.

Ströbel wendet sich halb um: Reisacher!

Reisacher ebenso: Jawoll, Herr Assessor?

Ströbel: Kennen Sie den Ausdruck: »Die Gewappelten?«

Reisacher: Jawoll, Herr Assessor!

Ströbel: Was soll das heißen: die Gewappelten?

Reisacher: Das sind die Leut, die wo was sind und die wo Geld haben.

Assessor: Ist in dem Wort eine Verachtung ausgedrückt oder Klassenhaß?

Reisacher lebhaft: Na – Na! Vor die Leut hat man Respekt.

Ströbel: Sie wissen es genau?

Reisacher: Jo – Jo!

Beide drehen sich um. Ströbel liest. Reisacher schreibt. Kleine Pause.

Ströbel mit halber Drehung: Reisacher!

Reisacher ebenso: Jawoll, Herr Assessor?

Ströbel: Es ist doch Klassenhaß.

Reisacher: Na – na!

Ströbel: Geben Sie mal acht! Hier heißt es liest vor. »Für die Gewappelten gibt es natürlich kein Gesetz.« Das soll doch heißen: Die gebildete Klasse bekleidet eine Ausnahmestellung, und wenn ich sage: Ausnahmestellung, so involviere ich damit die beleidigende und aufhetzerische Idee, daß vor dem Gesetz nicht alle gleich sind, und will zugleich diese bevorzugte Klasse verhöhnen durch eine ordinäre Bezeichnung.

Reisacher: Jawoll, Herr Assessor!

Ströbel: Wie können Sie dann sagen, es drückt keinen Klassenhaß und keine Verachtung aus?

Reisacher: Weil man halt doch wieder Respekt hat vor die Leut, die wo Geld haben.

Ströbel: Sie werden nie präzis denken, Reisacher!

Reisacher: Jawoll, Herr Assessor!

Beide drehen sich um. Ströbel liest. Reisacher schreibt. Kleine Pause. Von links Präsident Frhr. von Simbach. Ströbel erhebt sich rasch und macht eine devote Verbeugung. Reisacher sieht sich um und fährt auf. Bleibt in strammer Haltung stehen.

 
Zweite Szene

Präsident: 'N Morgen, Herr Assessor. Zu Reisacher: Sie können Ihre Arbeit unterbrechen und außen warten. Reisacher ab durch die Mitteltüre. Ich möchte Sie um einiges fragen, Herr Assessor. Ströbel verbeugt sich. Der Präsident geht während der Unterredung gegen die Mitte der Bühne. Er spricht in nonchalantem Ton; etwas gedehnt. Ich habe Ihren Bericht gelesen. Sie haben vorgestern, das war Samstag, eine Frau verhaften lassen?

Ströbel: Ja, Herr Präsident.

Präsident: Was ist mit ihr?

Ströbel: Wie mir der Kommissär Schmuttermaier sagt, haben wir da eine ganz gefährliche Person gefaßt.

Präsident: So?

Ströbel: Sie hat in kurzer Zeit geradezu demoralisierend auf die hiesigen Zustände gewirkt.

Präsident: Sie ist drei oder vier Jahre hier, wie ich aus dem Bericht sehe?

Ströbel: Ja.

Präsident: Was ist das mit der Gefährlichkeit? Sie hat galante Zusammenkünfte vermittelt? Oder liegen besondere Geschichten vor?

Ströbel: Besondere nicht. Aber ich meinte, ihr ganzes Auftreten. Sie hat eine elegante Wohnung mitten in der Stadt, soll sehr gut eingerichtet sein und treibt auch persönlichen Luxus...

Präsident: Und rechnet also nicht auf das gewöhnliche Publikum. Halten Sie das für sehr erschwerend?

Ströbel: Das nicht, Herr Präsident.

Präsident: Eben. Ich bitte, nur keine populären Ansichten über das Verderbnis in der guten Gesellschaft! Seidenjupons machen nichts schlimmer. Ströbel verbeugt sich.

Präsident: Wie heißt sie?

Ströbel: Ninon de Hauteville. Aber ihr wirklicher Name ist Therese Hochstetter.

Präsident: Haute – Ville.

Ströbel: Sie ist in guten Verhältnissen aufgewachsen. Ihr Vater war peruanischer Konsul, ist aber später verarmt, und sie war verheiratet mit einem Legationsrat. Seit vier Jahren ist sie geschieden.

Präsident: Also eigentlich eine gebildete Person.

Ströbel: Aber sie...

Präsident: Wirkt demoralisierend. Weiß schon. Sagen Sie mal, wie kam denn die Verhaftung?

Ströbel wichtig: Vor acht Tagen erhielt ich einen Brief, in dem sehr schwere Vorwürfe gegen die Polizei erhoben waren, weil sie das Treiben dieser Person dulde...

Präsident: Von wem war der Brief?

Ströbel zögernd: Er war – eigentlich – anonym.

Präsident: Ich hoffe, Sie sind vorsichtig gegen anonyme Zuschriften?

Ströbel: Ich gebe sonst wenig darauf. Aber dieser Brief war so abgefaßt, daß ich ihn beachten mußte. Ich habe ihn natürlich nur als Fingerzeig benutzt und wollte mir erst Beweise schaffen. Ich gab dem Kommissär Schmuttermaier Auftrag, die Hochstetter genau zu überwachen. Und am Samstagmittag hatte ich den glatten Nachweis in der Hand.

Präsident: Und weiter?

Ströbel: Dann ließ ich Haussuchung halten...

Präsident: Dabei wurde ein Verzeichnis beschlagnahmt?

Ströbel: Ja, Herr Präsident. Ein Tagebuch, in dem die Besucher aufgeführt sind. Datum, Name, Stand, alles.

Präsident: Sie haben es durchgelesen?

Ströbel: Nein. Ich habe nur flüchtig hineingesehen. Der Kommissär hat es mir vor einer Stunde gebracht, weil ich gestern nicht im Bureau war.

Präsident nachdenkend: Dann geht es heute nicht mehr... Bringen Sie mir also morgen... zieht die Uhr, sagen wir vormittag zehn Uhr... einen genauen Bericht über alle wissenswerten Namen, die sich in dem Buch finden.

Ströbel: Morgen zehn Uhr vormittags

Präsident: Ich lege Wert darauf, daß Sie den Auszug persönlich machen. Der Schreiber bekommt das Buch nicht in die Hand. Oder hat er schon?

Ströbel geht an den Schreibtisch: Nein. Es ist in meinem Schreibtisch eingeschlossen.

Präsident: Lassen Sie nur! Sie können es mitbringen, wenn Sie mir Bericht erstatten.

Ströbel: Nach welchen Gesichtspunkten wünschen Herr Präsident, daß ich den Auszug mache? Soll ich auch vermögliche Bürger auffuhren...?

Präsident betonend: Alle... wissenswerten – Namen. Apropos, wie steht die Sache jetzt? Haben Sie weitere Schritte getan?

Ströbel: Ich habe jetzt das Verhör mit der Hochstetter...

Präsident: Und der Kommissär? Hat er Auftrag zu neuen Recherchen?

Ströbel: Vorerst nicht. Weil ich ja das Tagebuch habe.

Präsident: Ich wünsche vor allem, daß der Mann nicht selbständig vorgeht. Subalterne entwickeln mir zu oft den Kleineleute-Instinkt.

Ströbel: Wie Herr Präsident befehlen.

Präsident: Ich befehle nichts. Sie haben die Verantwortung, und es fällt mir nicht ein, Ihnen Vorschriften zu machen. Aber die Recherchen unterbleiben, bis ich das Verzeichnis kenne.

Ströbel: Gewiß, Herr Präsident.

Präsident: Dabei werden Sie natürlich nichts versäumen, was vorgeschrieben ist.

Ströbel: Ich werde alles tun, was im Interesse der Moral notwendig ist.

Präsident der auf- und abgegangen ist, wendet sich rasch gegen den Assessor zu und bleibt stehen: Der Moral? Ja, sehr gut. Kurze Pause. Wir stehen hier an besonderer Stelle, nicht wahr, Herr Assessor? Ströbel verbeugt sich. Wir unterscheiden sehr wohl zwischen amtlichen – – und sagen wir – – persönlichen Empfindungen, nicht wahr? Ströbel verbeugt sich zustimmend. Ich erwähne das nur, weil Sie von Moral gesprochen haben. Es gibt eine Moral, über die man sich privatim sehr anregend unterhalten kann. Die darf meinethalben unbegrenzt sein. Aber es gibt auch eine öffentliche Moral, die wir zu überwachen haben. Die hat sehr präzise Grenzen. Zum Beispiel: den Skandal. Vergessen Sie nie, daß der Skandal sehr oft erst dann beginnt, wenn ihm die Polizei ein Ende bereitet.

Ströbel schlägt die Hacken zusammen: Gewiß, Herr Präsident.

Präsident: Übrigens, das bringt mich auf eine Frage: Wir haben hier seit 'n paar Wochen einen sogenannten Sittlichkeitsverein. Haben Sie Fühlung mit den Leuten?

Ströbel: Ich kenne die Bestrebungen...

Präsident: Die interessieren mich nicht. Ich meine, ob Sie persönlich Fühlung haben mit den Mitgliedern?

Ströbel: Noch nicht.

Präsident: Noch nicht? Hm! Es ist wahrscheinlich, daß sich der Verein sehr angelegentlich um diese Affäre da kümmert. Wenn jemand zu mir kommt, weise ich ihn an Sie, Herr Assessor. Ströbel verbeugt sich. Sie werden im Auge behalten, daß der Verein Beziehungen zum Landtag und zur Presse hat. Und überhaupt konservative Tendenz zeigt.

Ströbel: Gewiß, Herr Präsident.

Präsident: Also sehr entgegenkommend. Auf jede Anregung dankbar eingehen. Vorschläge zur Besserung des Volkes, et cetera. Mit verbindlichem Danke anhören, aber weiter nichts.

Ströbel unsicher: Wie meinen Herr Präsident?

Präsident: Wei-ter nichts.

Ströbel: Gewiß, Herr Präsident.

Präsident: Man muß die Leute an ihren Einfluß glauben lassen. Die Hauptsache bleibt, daß sie keinen haben.

Ströbel: Ich darf also...?

Präsident: Alles, was Sie verantworten können. Ich mache prinzipiell keine Vorschriften. Und den Auszug erhalte ich, zieht die Uhr, morgen vormittag zehn Uhr? Nicht wahr? 'n Tag. Geht gegen die Tür links. An der Türe bleibt er stehen und wendet sich um. Ich muß übrigens sagen, Sie sind sehr eifrig in Ihrem Referat. Ströbel verneigt sich. Diese Verhaftung auf einen anonymen Brief hin, räuspert sich, das beweist jedenfalls großen Eifer. Ströbel verneigt sich. Ich sehe es sehr gerne, wenn man eifrig ist, aber, räuspert sich, behalten Sie das im Auge, was ich vorhin sagte. Vom Skandal. 'n Morgen! Ab.

 
Dritte Szene

Ströbel setzt sich an seinen Schreibtisch, blickt nachdenklich zur Decke hinauf, wippt mit dem Stuhle und pfeift. Reisacher kommt durch die Mitteltür und setzt sich an seinen Tisch. Er räuspert sich.

Ströbel sich halb umwendend: Reisacher!

Reisacher ebenso: Jawoll, Herr Assessor?

Ströbel: Wie lang sind Sie schon hier in der Polizei?

Reisacher: Im Herbst werden's achtzehn Jahr.

Ströbel: Da haben Sie auch schon verschiedenes mitgemacht, wie?

Reisacher: J – jo!

Ströbel: Sagen Sie mal, unser Präsident, wie lang ist der hier?

Reisacher: Der Herr Präsident? Ja, dös sind sieben... warten S' ... dös sind acht Jahr.

Ströbel: Hm... Wissen Sie eigentlich, ob der Herr Präsident wünscht, daß man stramm ins Zeug geht?

Reisacher eifrig: Jo – jo! Dös hat er gern.

Ströbel: So? – – Kleine Pause. Ich glaubte fast, er will nicht, daß man durch Strenge Aufsehen erregt.

Reisacher eifrig: Na – na! Dös mag er gar net!

Ströbel wendet sich ganz um: Ja, hören Sie mal, Reisacher! Sie widersprechen sich ja fortwährend!

Reisacher ebenso: Entschuldigen S', Herr Assessor, wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf...

Ströbel: Sie widersprechen sich ja fortwährend! Einmal ja einmal nein!

Reisacher: Entschuldigen S', Herr Assessor! Nämlich ich glaub', bei der Polizei is alles recht, was gut naus geht.

Ströbel dreht sich um: Sie werden nie lernen, einen Gedanken präzis zu fassen.

Reisacher ebenso: Jawoll, Herr Assessor!

Kleine Pause. Ströbel liest. Reisacher schreibt. Vor der Mitteltüre erhebt sich Lärm. Die Türe wird aufgerissen. Ninon de Hauteville tritt ein, hinter ihr ein Schutzmann, der sie am Arme gefaßt hält. Ninon versucht, sich frei zu machen.


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