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Schuljahre

Es ist mir nicht bekannt, ob der Wortlaut der Disziplinarsatzungen unserer bayrischen Gymnasien heute ein anderer ist als vor dreißig Jahren; die Ansichten der Lehrer wie der Schüler haben sich jedenfalls geändert, und darum ist trotz aller Widerstände ein vielbegehrter und viel angefeindeter Fortschritt erzielt worden. Als ich Schüler der oberen Gymnasialklasse war, galt uns Jungen körperliche Ausbildung nicht viel mehr als unseren Professoren. Diese nannten alles, was sie fördern konnte, Allotria treiben, und sie waren immer besorgt, daß die Jugend nicht vom Studium abgelenkt wurde.

Wenn ich heute die Scharen junger Leute in die Berge laufen sehe, Backfische mitten unter heranwachsenden Jünglingen, stelle ich mir vor, was die Rektoren älterer Ordnung dagegen zu sagen gehabt hätten, oder wie die Eltern vor so etwas zurückgeschreckt wären.

Wie sauertöpfisch stellten sich viele Lehrer gegen den einen herkömmlichen Maispaziergang! Einige mußten immer wieder daran erinnert werden, und wie oft schrieben wir an die Tafel: »Oramus dominum professorem, ut ambulemus!« Endlich ließ sich der Gestrenge herbei, das Unvermeidliche zu gewähren. Man fuhr etwa nach Bruck, ging zum Maisacher Keller und zurück, und der forsche Schüler trank dann mehr, als er vertragen konnte. Es gingen Heldensagen in der Klasse herum, daß der und jener vierzehn Halbe Bier hineingeschüttet habe, und alle staunten das an. Jungen haben immer Ehrgeiz. Wenn er sich auf Dummheiten schlägt, ist die Erziehung schuld.

Das törichte Froschverbindungswesen zum Beispiel war aus einem Punkte leicht zu kurieren. Hätte man die Jugend angehalten, in Mut und körperlicher Gewandtheit zu wetteifern, so wären ihr sogleich die Folgen heimlicher Saufgelage verächtlich erschienen. Durch strenge Verbote reizte man gerade die Tüchtigsten zur Übertretung, die nun Auszeichnung im Kampfe gegen drakonische Maßregeln suchten. Dazu kam, daß Philister dieser Verbindungen, Fähnriche, Studenten, Praktikanten, zuweilen sogar ältere Esel, mit kommersierenden und mit den darüber hocherfreuten Pennälern die Burschenhüte durchstachen.

Das leuchtende Vorbild für frische Jungen konnte damals ein aufgeschwemmter Student sein, der sich in ein paar Semestern um Gesundheit und Tatkraft soff. Heute verachtet jeder Schüler einen Mann, der in den zwanziger Jahren schon an Folgen des Trinkens leidet, heute rühmt er den besten Bergsteiger, Schneeschuhläufer, Ballspieler, kennt hervorragende Leistungen und träumt davon, sie zu übertreffen.

Und es gibt Lehrer, die diesen Geist fördern und nicht entsetzt daran denken, daß ein Tag im Freien die Lust am Präparieren trüben könnte. Sie stellen sich, wie ich höre, auch auf einen andern Fuß zu den Schülern. Wenn ich eine stattliche Reihe von Professoren in der Erinnerung an mir vorüberziehen lasse, finde ich kaum einen darunter, der uns ein wohlwollender Freund oder gar ein Kamerad gewesen wäre. Sonderlinge, Tyrannen, die Aufruhr witterten, gute Kerle, die seufzend ihren Dienst taten, waren sie Lenker unserer Geschicke, mißtrauische Vorgesetzte, aber niemals Kameraden. Es wurde ungeheuer viel Respekt verlangt und recht wenig eingeflößt. Leichte Dinge wurden unmäßig schwer genommen, und man dachte wohl gar nicht daran, wie empfindlich die Jugend gegen die Unwahrheit ist, die in jeder Übertreibung steckt.

Ich halte für die beste Erziehung die, die jungen Menschen Widerwillen gegen Taktlosigkeit und Unbescheidenheit einflößt. Da ist Vorbedingung ein herzliches Verhältnis zu den Lehrern. Das unsere war so, daß wir alle, auch da, wo wir das Recht auf Seiten der Lehrer sahen, Partei gegen sie nahmen. Das natürliche Empfinden der Jugend entscheidet sich aber, wenn es nicht durch schädigende Einflüsse beirrt wird, immer für das Recht. Der schädliche Einfluß war das ganze System. Heute ist, wie ich sehen kann, vieles besser geworden. Und ich glaube, die Schüler von heute werden sich dereinst nicht mehr als Graubärte mit Entrüstung über ihre Schulzeit unterhalten.

*

Wenn einmal die Rede darauf kommt, breche ich heute noch eine Lanze für die humanistische Schulbildung. Ich habe Gründe dagegen anführen hören, die mir sehr vernünftig, aber nie überzeugend vorkamen. Daß die Naturwissenschaften heute einen ganz anderen Rang einnehmen, als zu der Zeit, da der Lehrplan für humanistische Gymnasien festgesetzt wurde, kann wohl nicht bestritten werden, aber immer gewinnen mich gleich wieder die für sich, die Zweckmäßigkeit nicht als ausschlaggebend für die Bildung des Geistes gelten lassen. Wenn ich nachdenke, was in meinem Schulranzen von früher her geblieben ist, so finde ich wenig an positiven Kenntnissen, wohl aber manches an Gesamteindrücken, Anregungen und Stimmungen, die mir förderlich waren.

Immer bleibt es mir ein Gewinn, daß ich Homer in der Ursprache gelesen habe. Keine andere Dichtung kann empfängliche Jugend, während sie ihre Phantasie anregt, so in das eigentliche Wesen der Dichtkunst einführen wie die Odyssee. Ehrwürdig durch ihr Alter, durch ihre Wirkung auf viele Geschlechter der Menschen, zeigt sie ihr in herrlicher Sprache die Unwandelbarkeit natürlichen Empfindens. Die Wirkung dieser Einfachheit und Wahrheit auf ein junges Gemüt läßt sich nicht scharf umgrenzen; sie bleibt haften und vermag uns nach manchen Irrgängen zum Verständnisse echter Größe zurückzuführen.

Heute noch steht mir die Schilderung, wie die Schaffnerin Eurykleia den Herrn an der Narbe wiedererkennt, oder jene, wie Argos, der Hund, von Ungeziefer zerfressen, auf dem Lager das Haupt und die Ohren hebt, da ihm nach zwanzig Jahren Odysseus naht, weit über allem. Und weil sie mich damals tief ergriffen, glaube ich fest daran, daß sie mir den Weg zum rechten Verständnisse wiesen. Ich habe über der Lektüre Homers manches andere vernachlässigt, wie ich überhaupt mein Interesse für bestimmte Fächer gerne übertrieb.

Ich konnte mich nur schwer in gleichmäßige Ordnung fügen, und noch weniger gelang es mir, in der Schule aufmerksam zu bleiben. Dazu kam, daß ich vieles begann, eine Zeitlang mit Freude betrieb und dann wieder achtlos liegen ließ. So erinnere ich mich, daß ich einige Monate hindurch eifrigst Zeichnungen zur Odyssee machte, zu denen ich in verschiedenen Büchern Unterlagen fand; ich kolorierte sie säuberlich, erwarb mir damit auch die Anerkennung eines noch ziemlich jungen Professors, der in mir künstlerische Begabung entdeckte und mir hinterher sein Wohlwollen entzog, als mein Eifer nachließ und zuletzt ganz einschlief. Es war klar, daß ich bei dieser Veranlagung wenig Neigung zur Mathematik fassen konnte, die systematisches Fortschreiten verlangt und keiner Draufgängerei Vorschub leistet.

Dagegen betrieb ich mit Eifer Geschichte, und die Neigung dafür ist mir geblieben. Nach meiner Gewohnheit hielt ich mich weder an das Schulpensum noch an die Schulbücher. Ich las die bändereichen Werke von Schlosser, Weber und Annegarn, der heute nicht mehr vielen bekannt ist. Annegarn mit Abneigung und innerlichem Widerspruche, denn ich hatte seiner ultramontan gefärbten Darstellung eine waschechte liberale Gesinnung entgegenzustellen.

Ich kann heute darüber lächeln, wie ich mit einer der Gegenwart, nicht aber dem Geist der Zeiten angepaßten Leidenschaft für und gegen längst vergangene Ereignisse und Zustände Partei nahm. Aber ich habe späterhin gereifte Männer gesehen, die sich in die Haare gerieten über den Gang nach Canossa oder die Schuld Maria Stuarts, und so kann ich es mir selber verzeihen, daß ich als Gymnasiast von der Maximilianstraße bis zum Isartor unter heftigen Reden gegen Anjou oder Rom oder die Welfen dahinschritt.

Mein Widerpart war ein kluger Junge, der vom Papa altbayrische Skepsis angenommen hatte und meine wortreiche Heftigkeit belächelte. Gröblicher wurde der Kampf, wenn ich auf den Fahrten in die Vakanz mit meinen Chiemgauer Kommilitonen beisammen saß. Sie studierten fast alle in Freising und zerzausten mir meinen Großen Kurfürsten mitsamt dem Alten Fritz, daß es eine Art hatte.

Geschichte wurde auf den Münchner Gymnasien sehr vorsichtig traktiert. Mit 1815 hörte man auf, wenn es überhaupt so weit ging; was nachher kam, war zu gefährlich, zu aktuell und nicht reif für abgeklärte Darstellung. Ob es auf einen Wink von oben unterlassen wurde, weiß ich nicht.

Was für Absonderlichkeiten damals noch möglich waren, mag ein Beispiel zeigen. Wir hatten in der zweiten Gymnasialklasse, der heutigen siebenten oder Obersekunda, einen Professor, der nur Katholiken in seiner Klasse haben wollte. Man sah dem alten Herrn die Schrulle nach, und da es eine Parallelklasse gab, wurde in sie alles, was Protestant und Jude war, gestopft. Erst das Jahr darauf wurden wir wieder simultan.

Einiges von unseren deutschen Klassikern, mit denen ich frühzeitig vertraut geworden war, lasen wir auch in der Schule, in einer Art, die wirklich Tadel verdiente. Hätte ich zum Beispiel »Hermann und Dorothea« nicht vorher gekannt, so wäre mir vielleicht auf lange Zeit der Geschmack daran verdorben gewesen durch die unbeschreiblich langweilige Behandlung, die sich monatelang dürftig und dürr hinschleppte.

Am Ende waren unsere Lehrer auch da wieder in einer Zwickmühle. In den Werken unserer Dichter ist allerlei enthalten, zu dem man sich als Erzieher nicht freudig bekennen durfte; davor warnen, hieß darauf hinweisen, und so tat man so, als glaubte man uns, daß wir selber alles Gefährdende scheu von uns abweisen würden. Aus einem so verdruckten Getue kommt nie was Gescheites heraus. Natürlich hatten wir Leute unter uns, die wahre Entdecker von Verfänglichkeiten waren und besonders bei Shakespeare Stellen fanden, die sie kichernd vor dem Unterrichte und in den Pausen ihren Vertrauten mitteilten. Vor so was schützt kein Verhütungssystem, bloß eine Erziehung zum frischen und gesunden Sinn.

Wir hatten einen Lehrer, den alten Eilles, einen Grobianus, der trotz seines rauhen Wesens unser Liebling war, und dem wir alle über die Schule hinaus Verehrung bewahrten. Wenn der im Homer an eine Stelle kam, wo etwa Odysseus sich mit Kalypso zurückzog, dann strich er lachend seinen roten Bart und schrie uns zu: »Nur laut reden und nicht murmeln! Hinterher tuschelt ihr euch doch das dümmste Zeug in die Ohren! Und er schlief bei ihr … Jawoll! Ihr Lausbuben und Duckmäuser!«

Mein Interesse an der deutschen Literatur bewies ich nicht bloß durch reichlichen Ankauf von Reclambüchern und Gesamtausgaben, dessen Kosten meine gute Mutter oft mit Kopfschütteln bestritt, sondern neben dem übrigens verbotenen Theaterbesuch auch dadurch, daß ich mich in die Universität einschlich. Damals las Bernays ein Kolleg über Schiller; es begann eine Viertelstunde nach vier Uhr, also nach Klassenschluß. Ich lief mit zwei Freunden Trab durchs Lehel, den Hofgarten und die Ludwigstraße und saß dann keuchend und erhitzt auf der hintersten Bank. Daß es per nefas geschah und uns das Aussehen akademischer Bürger verlieh, war vielleicht der stärkere Ansporn zu dem anstrengenden Hospitieren.

Bernays wirkte mit schauspielerischen Mitteln; wenn er bald flüsterte, bald die Stimme erhob, wenn er Pausen machte und dann ein bedeutendes Wort in die Zuhörer schleuderte, machte er starken Eindruck und wollte ihn machen. Wir bewunderten ihn, und bewunderten uns auch ein wenig selber, daß wir uns die Bildung so sauer verdienten.

Der Theaterbesuch! Natürlich war er verboten, oder richtiger gesagt, nur »nach vorgängiger Erlaubnis des Rektors gestattet«. Heute bin ich noch froh darüber, daß ich mich auch hierin nicht an die Satzungen hielt, denn die allerschönsten Stunden verlebte ich auf der Galerie des Hoftheaters, wo ich mit Herzklopfen saß und beim freundlichen Anschlag der Glocke mich sogleich in eine Märchenwelt versetzt fand. Wenn ich ihren Klang höre und sich der Vorhang feierlich hebt, fühle ich mich immer wieder zurückversetzt in jene Zeit, Jahre versinken, und ich bin wieder jung wie damals. Das Hoftheater hatte ein Ensemble, dessen sich heute die berliner und wiener Bühnen nicht rühmen können. Vorstellungen mit Rüthling, Herz, Richter, Kainz, Häusser, Schneider, Possart, Keppler, mit der Heese, Bland und Ramlo bleiben im Gedächtnisse.

Draußen am Gärtnertheater war auch eine Künstlerschar tätig, die, wie heute keine mehr, Volksstücke und Possen herausbringen konnte. Der alte Lang, Albert, Hofpauer, Neuert, Dreher, Brummer, die Schönchen, Kopp, Hartl-Mitius.

So gab mir das Theater schöne Feste, und eine brave Tante und Theaterfreundin gab mir die dreißig Pfennige für den Platz auf der Galerie. Mit einem Stück Brot und einer Hartwurst in der Tasche wartete ich gerne eine Stunde lang vor den geschlossenen Toren, um dann die engen Treppen hinaufzustürmen und mir den besten Platz zu erobern.

Einen sehr starken Eindruck machte auf mich das Gastspiel der Meininger. Es ist bekannt, wie ihre Regie mit äußeren Mitteln, mit wildbewegten Volksmassen, mit echten Kostümen Wirkungen hervorbrachte, und ich erinnere mich heute noch an die hereinstürmenden Pappenheimer Kürassiere oder an das Geschrei des Volkes auf dem römischen Forum. Aber auch die schauspielerischen Leistungen waren groß, und Teller, Nesper, Drach sind Namen, die sich ins Gedächtnis geprägt haben. Daß die Meininger sich ausschließlich mit der Darstellung klassischer Werke Ansehen erwarben, darf man im Zeitalter der Operette und des gemeinen Filmdramas besonders hervorheben.

*

Ich war der Obhut zweier Onkel anvertraut, die, so entfernt verwandt sie auch mit uns waren, doch nach Sitte und Brauch so genannt wurden. Sie hatten zusammen eine kleine Wohnung in der Frauenstraße inne; der eine, pensionierter Postsekretär, war mit der Schwester des andern, eines pensionierten Premierleutnants, verheiratet. Diese, die gute alte Tante Minna, war der Mittelpunkt des Hausstandes, die Friedensbringerin bei allen auftauchenden Differenzen zwischen den Herren und nebenher eine altbayrische Chronik. Ihre Geschichten gingen zurück in die zwanziger und dreißiger Jahre und spielten in Freising und Altmünchen. Sie erzählte gerne und sehr anschaulich und kannte die städtischen Familien, dazu auch eine erkleckliche Zahl bayrischer Staatsdiener, von denen sie allerlei Menschliches wußte, das im Gegensatze zu etwa vorhandenem Staatshochmute stehen durfte.

Wenn der Onkel Postsekretär abends, wie es seine Gewohnheit war, den Münchner Boten vorlas und mit einem Blaustift ärgerliche Nachrichten zornig anstrich, dann unterbrach Tante Minna nicht selten die Vorlesung mit einer Anekdote über einen Gewaltigen in Bayern. »Der brauchet sich auch net so aufmanndeln …« Damit begann sie gewöhnlich die Erzählung, und dann folgte die Geschichte eines Begebnisses, in dem der hohe Herr schlecht abgeschnitten hatte.

Das konnte oft bis in die frühe Jugend des Getadelten zurückreichen, denn die Tante hatte ein unerbittliches Gedächtnis. Dabei war sie heiter, wohlwollend und herzensgut und sah aus wie ein altes Münchner Bild, mit ihren in der Mitte gescheitelten Haaren, auf denen eine kleine Florhaube saß. Sie hielt den kleinen, aber behäbigen Haushalt in bester Ordnung und ließ in ihrer heiteren und doch resoluten Art keine Verstimmung andauern, die sich zuweilen einstellte, denn die zwei Onkels repräsentierten zwei verschiedene Welten. Der Postsekretär hatte – schon anfangs der dreißiger Jahre – in München Jura studiert, war aber vor dem Examen zur Post gegangen und hatte zuletzt als Sekretär in Regensburg amtiert. Der Premierleutnant hatte die Feldzüge mitgemacht, war nach siebzig krank geworden und hatte den Dienst quittiert.

Vorne, wo Onkel Joseph, der Sekretär, sein Zimmer hatte, war's ganz altbayrisch, partikularistisch, katholisch. Sechsundsechzig und was nachher kam, Reichsgründung, Liberalismus um und um, Kulturkampf, alles wurde als Untergang der guten, alten Zeit betrachtet. Hier bildeten Kindererinnerungen an Max Joseph, der das Söhnchen des burghauser Landrichters getätschelt hatte, das Allerheiligste, und eine Studentenerinnerung an Ludwig I., der den Kandidaten Joseph Maier im Englischen Garten angesprochen hatte, konnte durch keine neudeutsche Großtat in den Schatten gestellt werden.

Wenn aber das »Regensburger Morgenblatt«, das auch abends vorgelesen wurde, einen schmerzlichen Seufzer über Falk, Lutz oder Bismarck brachte, fuhr der angenetzte Blaustift gröblich übers Papier. Da konnte es dann auch Pausen geben, und zwischen zwei Schlucken aus der Sternecker-Maß setzte es ingrimmige Worte über respektabelste Persönlichkeiten ab, bis Tante Minna fand, daß es nun genug wäre und daß man weiterlesen sollte.

Im Zimmer rückwärts, wo Onkel Wilhelm hauste, lebten die Erinnerungen an Wörth, Sedan und Orleans, hier herrschten Freude am neuen Reiche und temperierter Liberalismus.

Freilich war's auch recht gut altbayrisch, und in heroische Töne vom wiedererstandenen Kaisertum mischten sich die anheimelnden Klänge aus dem alten Bockkeller, aus lustigen münchner Tagen, wo der Herr Leutnant Paulus mit dem Maler Schleich und anderen Künstlern selig und fröhlich war. Im allgemeinen vermieden es die zwei Antipoden, besonders in meiner Anwesenheit, auf strittige Fragen zu kommen; wenn's doch geschah, war der Angreifer immer der Herr Postsekretär, der auch vor mir weder seine noch seines Gegners Würde zu wahren beflissen war.

Zuweilen streckte er, wenn ihm etwas mißfiel, heimlich, aber unmenschlich lang seine Zunge hinterm Maßkrug heraus und schnitt Gesichter.

Ich kann mich nicht erinnern, daß ihn der alte Offizier einmal bei der Kinderei ertappt hätte, und ich hütete mich wohl, den prächtigen Onkel, der so wundervolle Grimassen machen konnte, durch dummes Lachen zu verraten.

Trotz dieses Kleinkrieges vertrugen sich die beiden Herren recht gut, und wenn die Sprache auf vergangene Zeiten kam, fingen sie miteinander zu schwärmen an vom Schleibinger-Bräu und vom Schwaigertheater, vom sagenhaft guten Bier und von billigen Kalbshaxen, und sie waren sich darüber einig, daß im Kulinarischen und im Trinkbaren das goldene Zeitalter doch vor der Kapitulation von Sedan geherrscht hatte. Und das versöhnte die Gegensätze.

Waren damals eigentlich andere, mildere Sommertage wie jetzt? Mir kommt's so vor, als hätte es bei weitem nicht so oft geregnet, denn viele Tage hintereinander gab es Hitzvakanzen, und wochenlang gingen wir jeden Abend auf den Bierkeller.

Onkel Wilhelm war nicht dabei; er blieb entweder zu Hause, oder er war um die Zeit schon in Prien zur Erholung. Reisen war nicht Sache des Herrn Postsekretärs. Nördlich ist er nicht über Regensburg hinausgekommen, aber auch nach Süden zog ihn sein Herz nicht, und es genügte ihm, wenn er an föhnigen Tagen vom Fenster aus die lange Kette der Alpen sah.

Das ging damals noch.

Vom rückwärts gelegenen Zimmer aus sah man über einen breiten Bach hinweg die Höhen am rechten Isarufer, darüber hinaus aber die salzburger und chiemgauer Berge.

Am Bache unten lag das freundliche Häuschen eines bekannten Musikers, mitten in einem hübschen Garten. Jetzt ist der Bach überwölbt, die Aussicht von einer öden Reihe hoher Mietskasernen versperrt, und wo die gepflegten Rosen des Musikers blühten, sind gepflasterte Höfe, darüber Küchenaltane, auf denen man Teppiche ausklopft. Ein Stück Altmünchen nach dem andern wurde dem Verkehr, dem großstädtischen Bedürfnisse, dem Zeitgeist oder richtiger der Spekulation geopfert.

Seit Mitte der achtziger Jahre haben Gründer und Bauschwindler ihr Unwesen treiben dürfen, haben ganze Stadtviertel von schlecht gebauten, häßlichen Häusern errichtet, und keine vorausschauende Politik hat sie daran gehindert. In meiner Schulzeit lag vor dem Siegestor ein behäbiges Dorf mit einer netten Kirche; heute dehnen sich dort fade Straßen in die Länge, die genau so aussehen wie überall, wo sich das Emporblühen in Geschmacklosigkeit ausdrückt.

Damals lagen noch die Flöße vor dem »Grünen Baum«, der behaglichsten Wirtschaft Münchens, und weiter unten an der Brücke lag die Klarermühle, in der die Säge kreischte wie irgendwo im Oberland. Jetzt gähnt uns eine Steinwüste an, Haus neben Haus und eine Kirche aus dem Anker-Steinbaukasten. Die Klarermühle mußte verschwinden, denn sie paßte so gar nicht ins Großstadtbild; sie hatte, und das ist nun einmal das Schlimmste, Eigenart, erinnerte an bescheidene Zeiten, wo München in seiner äußeren Erscheinung wie in Handel und Gewerbe zu dem rassigen Landesteile gehörte, dessen Mittelpunkt es war.

Dem Manne, der München zur schönsten Stadt Deutschlands gemacht hat, ist das Sägewerk vor der Brücke nicht peinlich aufgefallen, und im »Grünen Baum« hat Ludwig I. öfters zugesprochen, aber die neue Zeit, die für amerikanische Snobs Jahrmärkte abhielt, ihnen eine Originalität vorschwindelte, von der sie sich losgesagt hatte, die konnte es nicht weltstädtisch genug kriegen. Ich habe in meiner Jugend noch so viel von der lieben, alten Zeit gesehen, daß ich mich ärgern darf über die protzigen Kaffee- und Bierpaläste, über die Gotik des Rathauses und die Niedlichkeit des Glockenspiels und über so vieles andere, was unserem München seine Eigenart genommen hat, um es als Schablonengroßstadt herzurichten.

Wenn ich Onkel Joseph an einem Sonntagvormittag auf seinem Spaziergang durch die Stadt begleiten durfte, machte er mich überall auf verschwundene Herrlichkeiten aufmerksam.

Da war einmal dies, und da war einmal das gewesen, und es klang immer wehmütig, wie der Anfang eines Märchens.

Selten oder vielleicht nie handelte es sich um die großen Erinnerungen, sondern um die kleinen, die wirklich Beziehungen zum Leben des einzelnen haben. Da war einmal die Schranne abgehalten worden, und was hatte sich für ein Leben gerührt, wenn die Bauern anfuhren, Wagen an Wagen, und ihre Säcke aufstellten, wenn Markthelfer und Händler durcheinander liefen, wenn geboten und gefeilscht und zuletzt im Ewigen Licht oder beim Donisl oder im Goldenen Lamm neben der Hauptwache der Handel bei einem guten Trunk abgeschlossen wurde!

Kaffee tranken die Schrannenleute beim Kreckel; die Frauenzimmer aber, die auf dem Kräutelmarkt, oder, wie es bald vornehmer geheißen hat, auf dem Viktualienmarkt ihre Einkäufe machten, kehrten beim Greiderer oder beim Goldner ein.

Wer es nobel geben wollte und gerne ein gutes Glas Wein trank, ging zum Schimon in die Kaufingergasse, der in dem Durchhause seine große Lokalität hatte.

Ja, wie gemütlich und lebhaft es dort zugegangen war! Offiziere, Künstler, Beamte, Bürger, auch Frauen aller Stände, alles durcheinander im schönen Verein, und überall ruhige Heiterkeit, wie es unter anständigen Leuten sein mußte, die einen edlen Tropfen liebten und das wüste Geplärr nicht brauchten und nicht machten. Wie viele anheimelnde Namen sagte mir der Onkel, der fast jeden mit einem Seufzer begleitete! Da waren der Mohrenköpflwirt am Saumarkt, der Melber in der Weinstraße, der Krapfenbräu am Färbergraben, der Fischerwirt neben der Synagoge, der Haarpuderwirt in der Sendlingerstraße und dort auch der Stiefelwirt, der Rosenwirt am Rindermarkt, der Schwarze Adler, der Goldne Hirsch und der Goldne Bär und in der Neuhauserstraße der Goldne Storch, wo Stellwagen und Boten von überallher gerne einkehrten.

Das klang anders wie die armselige Internationalität der heutigen Firmen, die dem Snob sagt, daß er auch in München den hübschen Zug der Nachäfferei und des Aufgebens aller Bodenständigkeit findet.

Dagegen sicher nicht mehr die schmackhafte Spezialität der guten Dinge, die klug verteilt hier im Derberen, dort im Feineren zu finden war.

Aber die schönste Entwicklung hat der brave Herr Postsekretär nicht mehr erlebt; er sah nur die Anfänge dazu und starb noch, bevor man zwischen Marmorsäulen unter überladenen Stuckdecken eine Tasse Kaffee trank und sich einbilden konnte, in einem Bahnhofe oder in einem Tempel zu hocken.

Das blieb dem eingefleischten Altmünchner erspart.

Wenn Maibock ausgeschenkt wurde, nahm er mich zuweilen mit, und da konnte es geschehen, daß er in eine bedenkliche Fröhlichkeit geriet und beim Heimweg den Hut sehr schief aufsetzte.

Bei einem dieser Frühschoppen zeigte er mir einmal einen alten Herrn, der aussah wie ein Oberförster aus der Jachenau oder vom Königssee.

»Das ist der Kobell,« sagte mein Onkel. »Und jetzt hast amal an bayrischen Dichter g'sehn.« Ich bewunderte ihn von weitem, und ich weiß nicht, was mich mehr freute: daß ich den berühmten Mann sah, oder daß er so berglerisch und jägermäßig ausschaute. Hermann Lingg und der Olympier Heyse wurden mir auf der Straße gezeigt.

Auch den alten Döllinger habe ich mehrmals gesehen, und Tante Minna, mit der ich ging, gab mir von ihm und seinem Wirken eine Schilderung, die sich in Persönliches verlor und geschichtlich nicht unanfechtbar war.

Von den bayrischen Staatsmännern kannte ich von Angesicht zu Angesicht die Herren von Lutz und Fäustle.

Es läßt sich denken, was der Herr Postsekretär dem Erfinder des Kanzelparagraphen nachmurmelte; über Fäustle wurde milder geurteilt. Daß er Europens übertünchte Höflichkeit nicht kannte und als Gelegenheitsjäger mehr Eifer wie Talent verriet, wurde aber doch festgestellt.

Den Doktor Johann Baptist Sigl, der damals im Zenit seines Rufes stand und seine lebhaftesten Artikel schrieb, konnte man oft genug sehen. Es war von ihm mehr die Rede als von irgendeinem süddeutschen Publizisten oder Politiker, und die schmückenden Beinamen, die er Personen und Dingen beilegte, fügten sich dem münchner Wortschatz ein.

Ereignisse, die die Meinung lebhaft erregten, gab es nicht; mit Murren über die Neuordnung der Dinge, die auch schon das erste Jahrzehnt hinter sich hatte, mit Murren über den König und seine Bauten wurde so ziemlich der Bedarf an Kritik gedeckt.

Es war eine stille Zeit; auch in literarischen und künstlerischen Dingen gab es keine Aufregungen; wenigstens keine so lauten, daß hellhörige Gymnasiasten was davon vernommen hätten.

Zur Weihnachtsbücherzeit lag ein Band Ebers in der Auslage, daneben was Germanisches von Dahn.

Von ihnen hörte man in der Entfernung, die für einen Schüler abgesteckt war, am meisten.

Freytags »Ahnen« und Scheffels Werke standen in Ansehen bei uns. Nur wenige kannten Storm, Keller, Raabe, Fontane, Conrad Ferdinand Meyer, aber daß auch damals die Jungen schon gescheit zu reden wußten, beweist mir die Erinnerung an ein Gespräch mit einem Mitschüler, der mir bei der Nachricht vom Tode Auerbachs klarmachte, daß dieser Schriftsteller bedeutend überschätzt worden sei.

Ich glaube, daß ich den klugen Altersgenossen bewundert habe, denn ich hatte keine Anlagen zur Zweifelsucht; auch was mir nicht gefiel, war mir schon fast durch die Tatsache, daß es gedruckt war, dem Urteil entrückt.

Einen eigenartigen Eindruck machte auf mich ein kleines Buch, das ich als Siebzehnjähriger in der dritten Gymnasialklasse in die Hände bekam.

Es war Fritz Mauthners »Nach berühmten Mustern«, worin Auerbach, Freytag, Scheffel u. a. parodiert waren. Die scharfen Karikaturen wirkten nicht bloß erheiternd auf mich; sie quälten mich geradezu, weil sie mir mit einem Schlage den unbefangenen Glauben an eine Vollkommenheit nahmen, die mir unantastbar erschienen war.

Ich ließ mich eine Zeitlang mit Zögern auf Enthusiasmus ein; denn was waren Illusionen, die mit einer Zeile zerstört werden konnten? »'ktober war's; der Wein geraten …«, diese Parodie auf Scheffelsche Verse blieb mir lange im Gedächtnis.

*

Ich hatte einen wachen Sinn für bildende Kunst, und vor den Schaufenstern der Kunsthandlungen konnte ich lange stehen. Den Historienbildern im alten Nationalmuseum, den Ausstellungen im Kunstverein widmete ich lebhaftes Interesse; und wenn ich an die Eindrücke, die ich empfing, zurückdenke, sehe ich eine bestimmte Entwicklung des Geschmackes.

Ich hatte kein frühreifes Urteil und mußte immer gegen einen festgewurzelten Respekt kämpfen, bevor ich mich von einer Sache abwandte, die Geltung und Ansehen hatte. Ja, ich erinnere mich wohl, daß ich mich zur Bewunderung zwingen wollte und den Fehler bei mir suchte, wenn es mir nicht gelang. Aber auf die Dauer lassen sich Zweifel, die auf innerlichem Erleben und auf unbewußtem Wachsen beruhen, nicht unterkriegen. So weiß ich, wie ich mich geradezu darnach sehnte, den Glauben an die Schönheit historischer Bilder wiederzufinden, und wie mir's nicht mehr gelingen wollte.

Ich sah nur mehr kostümierte Personen. Größe, Tragik des Geschehens hatten ihre starke Wirkung verloren. Ich brachte den ketzerischen Gedanken nicht los, daß unter den meisten dieser Bilder auch irgendwas anderes stehen könnte, denn ob man bei Giengen, Ampfing oder sonstwo Schwerter schwang und Spieße vorstreckte, das machte doch keinen Unterschied. Ich ging nun durch das Nationalmuseum, das ich häufig aufsuchte, ohne den Wandgemälden Beachtung zu schenken, desto mehr aber der Sache selbst. Rüstungen, Waffen, Trachten, handwerklichen, künstlerischen Erzeugnissen, die mir die Vergangenheit wirklich lebendig machten.

Ich bedauere es noch heute, daß mir jede Führung fehlte, die mir Wissen und Verständnis, die ich mir mühsam und stückweise errang, ganz anders hätte beibringen können. Aber ich hatte niemand, und in der Schule fehlte schon gar jede Anregung, die mich gefördert hätte.

Nichts wurde so trocken gelehrt wie bayrische Geschichte, und ich glaube, daß man das heute in jeder Dorfschule besser macht. Ist es die Vaterlandsliebe weckende Geschichte, die nichts zu erzählen weiß als Erbschaftsstreitigkeiten der Wittelsbacher, die Spaltung und Wiedervereinigung von Bayern-Ingolstadt, Bayern-Landshut, Bayern-Straubing und Bayern-München?

Vom Volke hörte man nichts, von seinem Leben, von Bauart, Kunst und Handwerk, von Handel und Wandel im Lande, ja kaum etwas von den kunstreichen und klugen Männern, die unser Stamm hervorgebracht hat.

Der Gymnasiast lief in München an Kirchen, Palästen, Brunnen und Denkmälern vorbei, und sie waren ihm nichts als totes Gestein und Erz.

Sustris, Frey, Hans Krumper, Muelich, Peter Candid und Christoph Angermaier und viele andere waren leere Namen, wenn sie schon wirklich in Pregers Lehrbuch standen, und doch wäre es möglich gewesen, mit ein paar Hinweisen, am Ende gar auf einem Gange durch die Stadt, dem Schüler bleibendes Wissen beizubringen.

Man lernte in zwei Zeilen auswendig, daß Johann Turmair, genannt Aventinus, der große Geschichtsschreiber Bayerns war, aber auch nur eine Seite von ihm zu lesen, paßte nicht in den Rahmen des bayrischen Geschichtsunterrichtes. Es ist nicht bloß mir, es ist am Ende allen so gegangen: wenn man das Gymnasium verließ, hatte man nichts gelernt und erfahren, was einem die Heimat wertvoller machen konnte.

Im Gegenteil, es war einem die Meinung anerzogen, als stünden wir arg im Schatten neben dem großen Geschehen und Emporblühen anderswo.

Wir hatten kein Fehrbellin, kein Roßbach, Leuthen und Belle-Alliance; unser Schlachtenruhm konnte einem warmherzigen Jungen wohl anfechtbar erscheinen, wenn er auf Seite der Feinde Deutschlands errungen war.

Daß es anderes gab, was uns auf die Heimat stolz machen durfte, davon erfuhr der Gymnasiast wenig oder nichts.

*

Die Pflicht zu meiner Erziehung nahm Onkel Wilhelm wie etwas Selbstverständliches oder seinem militärischen Charakter Zukommendes auf sich, und meine Mutter, die sich vom soldatischen Wesen die besten Erfolge versprechen mochte, war damit sehr einverstanden. Ich glaube nicht, daß der Herr Postsekretär eifersüchtig oder gekränkt war, aber er zeigte zuweilen mit Zitaten aus Klassikern, daß seine Kenntnisse solider waren als die »des Soldatenschädels«.

Der Oberleutnant wiederum wollte den Schein wahren, als ob er alle Gebiete des Wissens beherrschte, und ließ im Gespräche mit seinem Schwager Bemerkungen über Unterrichtsgegenstände fallen, die sein Vertrautsein mit ihnen beweisen sollten.

Das führte bloß dazu, daß Onkel Joseph heimlich die Augen rollte und hinterm Maßkrug die Zunge herausstreckte, wenn der Krieger, der nach einigen Jahren Lateinschule Regimentskadett geworden war, bedenkliche Blößen zeigte.

Mein Onkel Wilhelm war das Urbild des altbayrischen Offiziers von Anno dazumal, als es noch keinen preußischen Einschlag gab.

Ritterlich und ehrenhaft, bescheiden nach den recht kleinen Verhältnissen lebend, aber doch gesellig und ganz und gar nicht auf Kasinoton gestimmt, rauhschalig und stets bemüht, die angeborene Gutmütigkeit hinter Derbheit zu verstecken, freimütig und nicht gerade sehr ehrgeizig. Dazu mit einem wachen Sinn für gutes Essen und gutes Bier begabt, natürlich ein leidenschaftlicher Vorkämpfer des Altbayerntums gegen fränkische und pfälzische Fadessen und Anmaßungen. Wenn der dicke Bader Maier aus der Zweibrückenstraße kam, um meinen Onkel zu rasieren, hörte ich vieles, was mir ein Bild von der alten Zeit gab.

Die beiden duzten sich, da sie, der eine als Korporal und Feldwebel, der andere als Kadett im gleichen Regiment gedient hatten. Da gab es Erinnerungen an Erlebnisse und an alte Kameraden, von denen manche etliche Sprossen höher auf der militärischen Leiter gestiegen waren, da gab es Erinnerungen an kriegerische Abenteuer, denn auch der schnaufende und schwitzende Bader Maier war Anno 66 in der Gegend von Würzburg in Weindörfern gelegen, und immer gab es seliges Erinnern an Eß- und Trinkbares, an sagenhafte Leberknödel, die ein Feldwebel besser wie jede Köchin zubereitet hatte, an Kartoffelsalate oder an Schweinernes mit bayrischen Rüben, für die ein jetziger Major das feinste Rezept besessen hatte.

Der Bader besonders war nur mit kulinarischen Andenken an den Bruderkrieg behaftet, und wenn er auch sonst nicht viel Gutes an den Franken gefunden hatte, ihre Preßsäcke und Schwartenmägen hatten ihm doch Ehrfurcht eingeflößt.

Ich saß am Tisch, und indes ich zu arbeiten schien, horchte ich aufmerksam zu, voll Erwartung, von diesen lebenden Zeugen etwas über Schlachtenlärm und Getümmel zu hören, aber es kam nichts als Berichte über Zutaten zu geräucherten Blut- und Leberwürsten, in denen auch die Rheinpfalz Großes geleistet hatte, als der Gefreite Maier unter General Taxis als Strafbayer dort geweilt hatte. Ich konnte also meinen Hunger nach lebendiger Geschichte nicht stillen, allein vielleicht wuchs in mir heimlich das Verständnis für altbayrische Lebensfreude.

Wie man es von ihm erhofft hatte, verhielt sich Onkel Wilhelm gegen mich als soldatischer Vorgesetzter, der keine Respektlosigkeit und nichts Saloppes duldete und, wenn er schon einmal lobte, auf die Anerkennung stets eine scharfe Mahnung folgen ließ.

Die Überwachung meiner Arbeit, die zu seinem Pflichtenkreise gehörte, bereitete ihm Schwierigkeiten, über die er sich nicht ganz ehrlich wegsetzte.

Da ich seine Schwäche schnell durchschaut hatte, legte ich ihm manches Problem vor und hatte meinen Spaß daran, wie er den Zwicker aufsetzte und sich in den Text einer Stelle in Cornelius Nepos oder Cäsar zu vertiefen schien, um zuletzt zu entscheiden, sie sei gar nicht so schwer, ich solle nur ordentlich nachdenken und selber die Lösung finden.

Nicht selten hielt er Ansprachen an mich, in denen er mich als beinahe reif gelten ließ und mir die Ehrenstandpunkte klarmachte.

So sehr mir das gefiel, war meine Neigung zu Kindereien doch viel zu lebhaft, als daß ich mich als werdender Mann benommen hätte, und das nahm er stets übel, sah eine Woche lang über mich weg und erwiderte meinen Gruß mit abweisender Kälte.

Ich wartete meine Zeit ab und fand das Mittel, ihn zu beschwichtigen, indem ich ihn über gelehrte Dinge respektvollst zu Rate zog.

Sein Kopfleiden fesselte ihn den ganzen Winter über ans Zimmer, und ich mußte für ihn aus der Lindauerschen Leihbibliothek häufig Bücher holen.

Das kleine Fräulein hinter dem Ladentische, ich glaube eine Irländerin, besaß meine ganze Bewunderung, wenn es in gebrochenem Deutsch über jedes verlangte Buch Urteile abgab. Es schien wirklich alles gelesen zu haben.

Ich selber war lesewütig und benützte jede Gelegenheit, Romane zu verschlingen. Ich las auf der Straße und hatte daheim oft unterm Schulbuche einen Schmöker liegen.

Ich habe Gutes und Schlechtes wahllos gelesen, neben Dickens, Gotthelf, Keller auch ganz seichtes Zeug, und es ist mir wie den Konditorlehrlingen ergangen, die sich am Überflusse das Naschen abgewöhnen.

Ich hörte nach und nach auf, an süßlichen und gespreizten Romanen Gefallen zu finden, und wurde mit der Zeit sogar recht empfindlich gegen gedruckte Unwahrheit.

Aber ich möchte doch die Kur nicht allen empfehlen.

Im Mai oder zu Anfang Juni ging Onkel Wilhelm aufs Land, und dann begann für mich eine Zeit genußreicher Ungebundenheit.

Der Herr Postsekretär war kein strenger Stellvertreter; übrigens starb er bald so ruhig und gelassen, wie er gelebt hatte.

Tante Minna aber konnte kaum Aufsicht üben, und so mußte man schon das meiste meinem eigenen Ernste überlassen.

Es ging schlecht und recht.

Der beste Antrieb war die Aussicht auf die selige Vakanz, die damals merkwürdigerweise und weil Zopfigkeit immer hartnäckig ist, nach den heißesten Tagen am 8. August begann.

Es bedeutete offenbar eine ungeheure Umwälzung, die noch jahrelang vorbereitet und erwogen werden mußte, sie schon am 15. Juli anfangen zu lassen. Aber auch so, wie sie waren, brachten mir die Ferien eine Fülle ungetrübter Freuden. In Prien am Chiemsee hatte meine Mutter ein Gasthaus gepachtet, die »Kampenwand«, und ich durfte die Knabenjahre, wie ehedem die Kinderzeit, auf dem Lande verbringen.

*

Der Chiemsee! Wenn ich die Augen schließe, und, sei es, wo immer, Wasser an Schiffsplanken plätschern höre, erwacht in mir die Erinnerung an die Jugendzeit, an Stunden, die ich im Kahn verträumte, den See rundum und den Himmel über mir.

Ich sehe die stille Insel, von der die feierlichen Glockenklänge herüberklingen, ich höre den Kahn auf feinem Kiese knirschen, springe heraus und stehe wieder unter den alten Linden, von wo aus der Blick über die blaue Flut hinüber nach den chiemgauer und salzburger Bergen schweift. Ich gehe an der Klostermauer entlang und sitze am Ufer, wo Frieden und Feierabend sich tiefer ins Herz senken als irgendwo in der Welt, ich gehe zu den niederen Fischerhütten und sehe zu, wie man die Netze aufhängt und die Arbeit für den kommenden Tag bereitet.

Ein abgeschiedenes Stück Erde und ein versunkenes Glück in Jugend und Sorglosigkeit!

Aber doch! Dieses Glück gab es einmal, es erfüllte das Herz des Knaben mit Heimatliebe und wirkte lange nach.

In der efeuumrankten Wirtsstube auf der Fraueninsel habe ich oft ehrfürchtig die Bände der Künstlerchronik durchgeblättert und gesehen, wie diese friedliche Schönheit um mich herum auf bedeutende Menschen Eindruck gemacht hatte.

In den Gedichten war viel die Rede vom Chieminseeo, von Werinher und Irmingard, und diese Romantik der Scheffel- und Stielerzeit begeisterte mich zu den ersten Versen, die ich, allerdings viel später, auf blaue Flut und Klosterfrieden dichtete.

Die Mitglieder der Künstlerkolonie betrachtete ich mit respektvoller Bewunderung, in die sich etwas Neid mischte; denn Maler zu sein, erschien mir als das schönste Los, und heute noch, wenn ich Ölfarbe rieche und Farben mischen sehe, überkommen mich alte Wünsche.

Haushofer, Raupp, Wopfner und etliche mehr waren die Herrscher auf der Insel, die von Künstlern für Künstler entdeckt und in Besitz genommen worden war.

Laienbesucher hielten sich nur etliche Stunden auf und strichen scheu um die Größen herum, die nach der Abfahrt des letzten Dampfschiffes unter sich blieben. Der dicken, alten Julie standen sie weniger als Gäste, denn als Hüter ihrer Rechte und der alten Ordnung gegenüber, und wenn meine Mutter, wie sie es jeden Sommer einmal tat, zu Besuch kam, mußte sie Seufzer und Klagen über die Maler hören.

Die jungen Künstler, Söhne oder auch Schüler der Herren Professoren, hatten für Fröhlichkeit und die herkömmliche Ungebundenheit zu sorgen. Sie veranstalteten Feste an Geburtstagen der Größen, Kahnfahrten, Ausflüge, die dann im Chronikstil ausführlich beschrieben wurden.

Es war eine andere Zeit, und wenn ich mich daran erinnere, wie damals eine absprechende Kritik über einen der Könige der Fraueninsel die ganze Kolonie in Aufregung versetzte, wie sich die Entrüstung übers Wasser gegen Prien hin fortschwang und viele Gemüter beschäftigte, dann darf ich wohl sagen, es war eine harmlose Zeit.

Im Mittelpunkte des allgemeinen Interesses stand der Bau des Königsschlosses auf Herrenchiemsee, der als Symptom der beginnenden Erkrankung Ludwigs II. gelten darf.

Vielleicht ist noch kein Platz unpassender für eine Geschmacklosigkeit gewählt worden als der einstmals wunderschöne Hochwald auf Herrenwörth.

Um ihn zu retten, hatte der König die Insel gekauft, als im Jahre 1874 württembergische Händler den Besitz vom Grafen Hunoldstein erworben und mit dem Abholzen begonnen hatten.

Nunmehr, Ende der siebziger Jahre, zerstörte er selber den Wald und das reizvollste Landschaftsbild, indem er den unglücklichen Abklatsch des Versailler Schlosses errichten ließ.

Der Bau ist nicht fertig geworden, und der viereckige Kasten, der patzig die Insel beherrscht und der von weit und breit die Blicke auf sich zieht, schaut aus wie ein Gefängnis.

Tritt man näher hinzu, oder besucht man den Prachtbau, so friert einen vor dem überladenen, planlos angehäuften Prunk.

Damals freilich kritisierte man nicht; im Lande galt auch dieser Plan des Königs als Beweis seiner kunstfreudigen, vom Großvater ererbten Art, und am Chiemsee war man wohl zufrieden mit dem regen Leben, das sich nunmehr entwickelte.

Lärm gab es genug.

Scharen von Arbeitern siedelten sich auf der Insel, aber auch auf den nächsten Ufern an; Bauführer und Paliere mieteten sich in Prien ein, die Zufuhr des Materials brachte Fuhrleuten und Schiffern guten Verdienst, und der große Mann in diesem früher so stillen Winkel war der Erbauer des Schlosses, Ritter von Brandl.

Der Bau währte bis zum Frühjahr 1886 und gab Anlaß zu vielen Geschichten und Gerüchten.

Dem König dauerte er zu lange, und es soll ihm bei Besuchen manches vorgetäuscht worden sein, was nach seiner Abreise wieder verschwand; zuweilen wurde die Zahl der Arbeiter stark verringert, und am Chiemsee erzählte man sich dann mit Augenblinzeln die seltsame Mär, daß auch einem König das Kleingeld ausgehen könne.

Eine barbarische Maßregel war der Abschuß des Damwildes, das bis dahin ungestört auf der Insel gehegt worden war. Wenn man an stillen Abenden an der Südspitze der Herreninsel vorüberfuhr, sah man stets etliche Hirsche und Tiere, die ganz vertraut waren; auch von der Klosterwirtschaft aus hatte man oft den Anblick, wie Damwild auf die Wiesen austrat und äste.

Jetzt sollte es wegen der neuen Gartenanlagen ausgerottet werden. Alle Jäger und Schießer und Schinder im Chiemgau wurden zu dieser Jagd eingeladen; mit grobem und leichtem Schrot, mit gehacktem Blei und ganz vereinzelt nur mit der Kugel wurde auf das gehetzte Wild geschossen. Angepatzt und immer wieder aufgestört, wurden viele davon erst nach Tagen zur Strecke gebracht, und endlich war kein Stück mehr am Leben, das die übrigens nie ausgeführten Gartenanlagen hätte beschädigen können.

Wenn der König kam, wurden vorher viele Tausende von Blumen in Töpfen herbeigeschafft; man grub sie in den Boden ein und täuschte dem Schloßherrn einen herrlich gepflegten Garten vor.

Im Frühjahr 1886 wurde die Arbeit, die schon vorher gestockt hatte, ganz eingestellt; es war so was wie ein Bankerott, dem bald die Absetzung folgte.

Späterhin führte die Neugierde viele Besucher herbei, und es gehörte auch zu der weit verbreiteten Geschmacklosigkeit, daß diese leblose überladene Pracht bewundert wurde. Die Vorstellung, daß ein einzelner Mensch mit ein paar Dienern in diesen Räumen, langgestreckten Gängen und Spiegelgalerien auch nur etliche Stunden zubringen, hinter diesen von Gold starrenden Brokatvorhängen schlafen sollte, ist unmöglich.

Meine Mutter ließ sich nach dem Tode des Königs nicht zu einem Besuche des Schlosses überreden; sie wollte sich teure und in Ehren gehaltene Erinnerungen an den unglücklichen Mann und an schöne Tage in der stillen Vorder-Riß nicht zerstören lassen. Wenn sie enthusiastische Berichte von der Pracht und Herrlichkeit hörte, erzählte sie, wie sich der König einstmals in seinem Jagdhause so wohl gefühlt hatte, und wie schlicht und einfach er gewesen war.

Die Erinnerung an vergangene Tage wachte besonders lebhaft auf, wenn die alten Freunde Graf Tattenbach, Julius Noerr oder der Jagdgehilfe Bauer zu Besuch kamen.

Sie ließen es sich nicht nehmen, von Zeit zu Zeit Nachschau zu halten, und mochten wohl fühlen, wieviel Freude sie damit erregten.

Auch für sie war mit dem Wegzuge meiner Eltern die Risser Gemütlichkeit zu Ende gegangen; Graf Tattenbach konnte es ebensowenig wie Noerr übers Herz bringen, unter den veränderten Umständen den Isarwinkel aufzusuchen, und Bauer hatte seine Versetzung ins Loisachtal erbeten und erhalten.

So sprach man von dem stillen Forsthause wie von einer verlorenen Heimat, an die sich alle mit Wehmut zurückerinnerten.

Wenn ich die Männer, die sich in ihrer wortkargen, zurückhaltenden Art ähnelten, warm werden sah beim Lobe des alten Oberförsters, dann wurde mir der Vater wieder lebendig vor Augen gestellt und er selbst, sowie seine Umgebung mit einem romantischen Schimmer umkleidet, der für mich daran haften blieb. Bauer sprach von ihm mit einer fast kindlichen Anhänglichkeit, ließ keinen andern Jäger und Schützen neben ihm was gelten, und es kam ihm dabei auch nicht auf Übertreibungen an.

Das stach so sehr von dem Wesen dieses harten Lenggriesers ab, daß es viel stärker wirkte wie lange Reden und schöne Worte.

Er kam später auf einen ruhigen Posten in die Nähe Münchens, diente unter verschiedenen Vorgesetzten, heiratete, hatte Kinder und stand neben der Jagd einem kleinen Anwesen vor, aber wie sich sein Leben auch änderte, in der Anhänglichkeit an seinen ersten Oberförster blieb er sich die Jahrzehnte hindurch gleich. Wenn ich ihn besuchte, als Student, als Anwalt und später, als ich längst Schriftsteller geworden war, saß er mir zuerst schweigsam gegenüber, fragte mich kaum nach meinen Schicksalen und wurde erst vertraut, wenn er die Rede auf meinen Vater gebracht hatte. Dazu bot ihm jedes Ding Anlaß. Eine Pfeife, die er vom Rahmen holte und die noch von meinem Vater her stammte, der österreichische Landtabak, den auch mein Vater geraucht hatte, ein Hirschgeweih aus der Riß, eine alte Büchse, die natürlich viel besser hingegangen war, wie die neuen, eine gemalte Scheibe, auf die mein Vater geschossen hatte, kurz alles, was ehrwürdige Beziehung zur Riß und ihrem Oberförster hatte.

Daß ein Sohn des verehrten Mannes ihm gegenüber saß, machte ihn sogar mitteilsam, und er erzählte in seiner trockenen Art von Zusammenstößen mit Wilderern oder Lumpen, wie man im Isarwinkel sagte, bei denen es sich recht selbstverständlich um Tod und Leben gehandelt hatte.

Trat seine Frau, die allerhand Gutes auftragen mußte, in die Stube, dann hörte er sogleich zu reden auf und rauchte bedächtig vor sich hin, und er fuhr in seiner Erzählung erst wieder fort, wenn sie hinausgegangen war.

»Sie braucht's net z' wissen,« sagte er. Bei den Herbstjagden, die der Regent im Gebirge abhielt, mußte Bauer alljährlich Dienst leisten. Dabei erregte er das Mißfallen des Jagdpersonals, weil er das Verständnis der Lebenden für gar nichts achtete und hartnäckig darauf stehenblieb, daß man bloß früher, wie noch der Max Thoma Oberförster in der Riß war, die Jagd richtig und weidmännisch betrieben habe.

Mein ältester Bruder durfte in Prien ein Festschießen mitmachen, und Bauer fand sich dabei ein, um zu sehen, ob der Sohn dem Vater nachschlage. Am Schießstand stellte er sich hinter ihn und beobachtete ihn, gab ihm gute Lehren beim Laden und Kapselaufsetzen – damals schoß man noch mit Vorderladern –, prüfte Wind und Licht, und wie es dann ganz anständig ging, lachte er freundlich und sagte: »Er werd scho.«

Aber auch in ernsteren Dingen, wenn es sich um wichtige Entschlüsse handelte, wurde der alte Jagdgehilfe um Rat gefragt, und Viktor wollte ihre Ersparnisse nur so anlegen, wie er es für gut und nützlich hielt.

Als er ans Heiraten dachte, zog er sie in sein Vertrauen und schrieb ihr einen Brief, worin er ihr über die Eigenschaften und die Vermögensverhältnisse seiner Zukünftigen genauen Bericht erstattete.

Sie erwog seine Angaben gewissenhaft und gab ihr Gutachten für das brave Frauenzimmer ab, das auch eine tüchtige Hauserin wurde, und ich glaube, daß sich Viktor immer mit Stolz für die Stifterin dieses Glückes hielt.

Späterhin übernahm sie die Patenstelle bei einer Tochter und blieb ihr Leben lang eine sorgsame Gödin, die sich an Geburts- und Namenstagen vernehmen ließ.

Der Eindruck, den Bauer auf mich als heranwachsenden Knaben machte, war nachhaltig, und ich habe an diesem gescheiten und ehrlichen Manne manches von der wertvollen Art unserer Oberlandler kennen und verstehen gelernt.

Er gilt mir als Vertreter der germanischen Bauernrasse, die sich im Gebirge rein erhalten hat; bedächtig im Reden, kühn im Handeln, trotzig und unbeugsam, taktvoll und klug, auch mit manchen Talenten und mit einem schlagfertigen Witze begabt.

Und die verschmitzte Schlauheit fehlte ihm nicht, die den Isarwinkler zum guten Jäger oder zum gefährlichen Wilderer macht.

Graf Tattenbach zeigte bei seinen Besuchen in Prien, späterhin in Traunstein, immer das gleiche, stillvergnügte Verständnis für das Behagen, das er vom ersten Tage an in meinem Elternhause gefunden hatte.

Seine Anwesenheit in der Kampenwand hätte man mir gar nicht erst bekanntgeben müssen, sie verriet sich sofort durch einen wundervollen Tabakgeruch, der das Haus durchzog.

Der Herr Oberst rauchte immer noch aus einem Tschibuk, dessen Rohr bedeutend länger war als er selber, eine Herzegowinermischung, deren Aroma mir unvergeßlich geblieben ist.

Und noch immer schaute der Herr Oberst hinter buschigen Augenbrauen scheinbar sehr streng und grimmig in die Welt, und dabei saß doch das gutmütigste Lachen in seinen Augen, wenn eine fröhliche Erinnerung aufgefrischt wurde.

Seine Jagdgeschichten wurden immer breiter ausgemalt; eine reichte für die Kaffeestunde. Er bewohnte als Pensionist in München mit seinem Bruder, der gleich ihm Hagestolz geblieben war, ein reizendes Häuschen in der Gartenstraße, jetzt Kaulbachstraße, wo ich ihn öfter besuchen durfte.

Die beiden Brüder waren sich herzlich zugetan und lebten in einer Harmonie zusammen, die nur durch den Tod gestört werden konnte. Als der Ältere, der General außer Dienst war, die Augen schloß, hatte auch für unsern Risser Jagdkavalier das Leben keinen rechten Sinn mehr. Er folgte bald dem Bruder nach.

Als Gast meiner Mutter erkrankte er in Traunstein just in der Kaffeestunde, als er, die lange Pfeife in der Hand, eine ausgiebige Geschichte von einem erlegten Hirsch begonnen hatte.

Ganz plötzlich überfiel ihn ein Schüttelfrost, der ihn zwang, mit Rauchen und Erzählen aufzuhören und sich ins Bett zu legen.

Ein paar Tage blieb er noch in Traunstein. »Jetzt blasen wir Halali,« sagte er zu meiner Mutter kurz vor dem Abschied, und er hörte lächelnd ihren zuversichtlichen Tröstungen zu.

»Nein, nein, Frau Oberförster,« erwiderte er. »Diesmal is es Ernst und macht auch nix. Ich kann jeden Tag abmarschieren, mein Rucksack is schon gepackt.«

Verwandte holten ihn ab und brachten ihn nach München, wo er gelassen und vornehm die letzten Dinge abmachte.

Julius Noerr kam in den ersten Jahren zu längerem Aufenthalt und malte in Prien, Übersee, Bernau Studien, aber vielleicht war ihm der Chiemsee zu sehr Domäne Einzelner, oder er fand nicht, was er suchte, jedenfalls beschränkte er sich später auf vorübergehende Besuche, die nur der Pflege alter Freundschaft galten.

Ich durfte ihn zuweilen in seinem Atelier in der Schillerstraße aufsuchen, und was ich bei ihm an Zeichnungen, Porträtskizzen, Landschaftsstudien, an Vorarbeiten für jedes Bild gesehen habe, gibt mir heute noch, so weit das auch zurückliegt, einen Maßstab für das ehrliche, große Können Noerrs und manches Zeitgenossen von ihm, und ich bin überzeugt, daß mich diese Jugendeindrücke gefeit haben gegen allen Schwindel, der seitdem getrieben worden ist. Ich lernte verstehen, warum nur ehrliche Arbeit wirkliche Werte schaffen kann.

Und gewiß schlug damals meine Liebe für diese von aller Manier, Methode und Mode freie Kunst die ersten Wurzeln.

Sie ist mit den Jahren immer stärker geworden und heute, wo galizische Schwindler alle Begriffe umfälschen dürfen, betrachte ich es als Glück, zu Noerr, Spitzweg, Steub und manchem anderen Altmünchner zu fliehen.

*

Der See war der schönste Tummelplatz für einen gesunden Buben, und ich brachte jeden Tag, den ich loskam, darauf zu. Die ängstlichen Bedenken meiner Mutter wurden durch den Westernacher Franz, der meinem Rudern das beste Zeugnis ausstellte, beseitigt.

Allerdings, andere Befürchtungen schwanden nie ganz, und besonders meine älteste Schwester sah mir immer mit Sorge nach und empfing mich mit Mißtrauen.

Sie ahnte, daß die schönen Obstanlagen auf der Herreninsel einen starken Reiz auf mich ausüben mußten, und daß ein Pirat immer in Versuchung war, sich auf der Krautinsel Rettiche zum Brot zu holen.

An der Hachel, einer Stelle, die man nach Kirchturm und Baumwipfeln bestimmen konnte, wenn man das Geheimnis wußte, gab es schwere Bürschlinge, die an regnerischen Tagen gut bissen, und die Fischerei war umso prächtiger, weil sie verboten war.

Dies und noch mehr hatte meine Schwester vor Augen, und als heiratsfähiges Mädchen kümmerte sie sich um die Reputation der Familie.

Ich ersparte ihr die Schande des Ertapptwerdens, obwohl mancher Verdacht auf mich fiel.

Daß mir der Westernacher als fünfzehnjährigem Buben Passagiere zur Überfahrt auf die Inseln anvertraute, galt mir als hohe Auszeichnung, und wenn mich die fremden Gäste für einen Schifferjungen hielten, war mein Glück vollständig, und ich war bemüht, den Eindruck zu befestigen.

Ab und zu hielt sich auch eine Dame zu meiner großen Befriedigung darüber auf, daß mir eine Pfeife im Maul baumelte.

Daran war vornehmlich der alte Bosch schuld, der mein Lehrmeister im Rauchen war.

Ich mußte für ihn Zigarrenstummel in unserer Wirtschaft sammeln, die er auf dem Herd dörrte und dann in einer Kaffeemühle zerrieb. So gewannen wir unseren Tabak. Daneben rauchten wir ungarischen in blauen Paketen, Varinas mit den drei griechischen Palikaren als Warenzeichen, und den Schwarzen Reiter, Kornährentabak, der aus der Pfeife herauswuchs, zischte und lieblich roch. Ich saß oft beim Bosch; an schlechten Tagen in der niederen Stube, an schönen Abenden auf der Bank vorm Haus, und er teilte mir seine Ansichten über alles Geschehen auf dieser Welt mit.

Sie waren recht verschieden von den allgemein gültigen, und wenn sie nicht samt und sonders richtig waren, so waren sie doch auf Grund eigenen Nachdenkens und tüftelnder Bauernschlauheit gefunden, und darum ganz gewiß anregender als alle gedruckten Zeitungsmeinungen.

Zu mir hatte der Alte Zuneigung gefaßt, die auf innigem Vertrauen beruhte.

Er lebte in dauernder Feindschaft mit dem Bauern, der ihm den Austrag reichen mußte, und da seine eigene Kraft nicht mehr ausreichte, mußte ich die Bosheiten ausüben, die zum Wachhalten eines gediegenen Ärgers notwendig waren.

Ich erledigte die Aufgaben mit Geschick und erwarb mir die Zufriedenheit des braven Bosch.

Manchmal besuchten ihn zwei Leidensgenossen, Austrägler, die in benachbarten Häusern lebten, und dann sangen sie zu dritt mit dünnen Kopfstimmen alte Lieder.

Eines handelt vom Rückzug aus Rußland.

Ich habe später den Versuch gemacht, den Text zu erhalten, aber von den Alten lebte längst keiner mehr, und so blieben meine Nachforschungen vergeblich.

Tür an Tür mit dem alten Bosch wohnte ein ausgedienter Zimmermann, der Martin, der Leitern machte, Sägen feilte, die Bauern rasierte, Uhren richtete und als Viehdoktor in Ansehen stand. Er hatte einem Hausierer eine Bibel abgekauft, vermutlich aus keinem anderen Grunde, als weil die Geistlichkeit vor dem heiligen Buche warnte und es nicht dulden wollte.

Martin saß oft mit einer großen Hornbrille auf der Nase vor dem dickleibigen Exemplar und versuchte herauszufinden, wo denn eigentlich die geistliche Obrigkeit der Schuh drückte. Ich glaube nicht, daß er darauf gekommen ist, aber es paßte ihm gut, daß er infolge seiner verbotenen Studien bei den Bauern für einen Mann galt, der geheimes Wissen besäße.

Im Pfarrhof erhielt man natürlich auch Kenntnis davon, aber der alte Geistliche Rat Hefter kannte seine Pappenheimer und wußte, daß Zureden nichts helfen und das Ärgernis nur vergrößern konnte.

Wenn er dem Bibelforscher auf der Straße begegnete, sagte er bloß: »O mei, Martin, du werst aa alle Tag dümmer …« Das sprach sich herum und nützte mehr wie Eifer und heftiges Schelten.

Der Geistliche Rat war noch aus der alten Schule; ein gemütlicher, behäbiger Mann, Verehrer einer trefflichen Küche, eines guten Trunkes und Freund aller Menschen, die ihre Ruhe haben wollten und ihn selber in Ruhe ließen.

Seine volkstümlichen Predigten waren berühmt, und mancher Sommergast ging in die Kirche, um zu hören, wie der alte Herr im breitesten Dialekt, mit fetter Stimme seinen Bauern das Evangelium auslegte.

Damals war es guter Brauch, daß die Studenten nach beendetem Schuljahre im Pfarrhofe ihre Aufwartung machten und die Zeugnisse vorwiesen.

Am ersten Feriensonntag traten wir zu fünf oder sechs vor den Geistlichen Rat, der uns fröhlich begrüßte und ein mildes Wort für minder gute Noten hatte.

»Macht nichts,« sagte er. »Für an Dreier muß ma auch was leist'n, wenn's nur koa Vierer net is. Es is allaweil um an Grad bessa, und überhaupts koane Gelehrt'n wollt's ja ihr gar net wer'n …«

Wir hatten einen unter uns, einen Häuslerssohn aus der Umgegend, der immer glanzvolle Zeugnisse mitbrachte, und es wollte den andern wie mir scheinen, daß ihn der Herr Rat mit Mißtrauen, ja mit einer gewissen Abneigung betrachtete. Seine Laufbahn ist übrigens weder so glänzend, wie seine Lehrer vermuteten, noch so schlimm, wie vielleicht der alte Herr besorgte, verlaufen; er ist Landpfarrer geworden und hat seine Talente vergraben.

Ein anderer, der älteste von uns Studenten, hat nach den Weihen noch dem geistlichen Stande Valet gesagt und als Kunstmaler einen harten Kampf mit dem Leben geführt, den ihm seine Verwandten, lauter reiche Bauern, nie mit der geringsten Unterstützung erleichterten.

Vielleicht hätte der brave Herr Rat Hefter die Leute zu seinen Gunsten gestimmt, aber der war längst tot, als sich das Unglück ereignete, und sein Nachfolger war ein scharfer Herr, der die Entrüstung aller Frommen in Prien teilte und sicherlich nicht dämpfte.

So mußte der gute Franzl für seine Gewissenhaftigkeit und Überzeugungstreue Hunger leiden und ein Künstlerelend kennenlernen, wie es schlimmer kaum in Romanen geschildert worden ist. Erst nach langen Jahren ist es ihm besser ergangen.

Damals stand er mit uns im Zimmer des Priener Pfarrherrn und wies sein Primanerzeugnis vor, wie wir Lateinschüler die unsrigen.

Für den zweiten oder dritten Sonntag wurden wir dann zu Tisch geladen, eine Ehre, die wir sehr hoch schätzten, denn es gab nicht bloß reichliches und gutes Essen, sondern auch lustige Unterhaltung; wenn die Mehlspeise aufgetragen wurde, kam die dicke, alte Köchin ins Zimmer, noch gerötet vom Herdfeuer und den Anstrengungen des Tages, um die Lobsprüche des Herrn Rates in Empfang zu nehmen.

Kaum saß sie, den Stuhl bescheiden etwas zurückgerückt, so fing Herr Hefter an, Geschichten zu erzählen von dem Bauerndirndl, das im Beichtstuhl den Finger in ein Astloch gesteckt hatte und nicht mehr loskam, und dann auf die Frage des Geistlichen, warum es nicht gehe, eine undeutliche Antwort gab, die zum Mißverständnisse führte.

Jedesmal kam Fräulein Marie in schamvolle Verlegenheit, und jedesmal lachte der joviale Pfarrherr und erklärte umständlich, daß es die allerunschuldigste Geschichte sei.

Wir freuten uns darüber, aber einer saß am Tische, der eine säuerliche Miene aufsetzte, ein Kooperator aus dem Kölnischen, den die Folgen des Kulturkampfes nach Altbayern verschlagen hatten, ein eifriger Kämpfer und ein heimlicher Feind des gutmütigen Pfarrers, der übrigens die Abneigung kräftig erwiderte.

Ein seltsames Vorkommnis befreite ihn bald von dem unangenehmen Streiter, aber den Prienern trug es einen Spitznamen ein, den sie heute noch nicht angebracht haben.

Sie hatten als Denkmal für die gefallenen Krieger einen Friedensengel bestellt, dessen linke Brust dem Herrn Kooperator zu groß und zu sehr entblößt erschien. Am Tage vor der Enthüllung überredete er einen Schlosser, nachts die Brust abzufeilen. Er wurde über der Tat ertappt, das Fest konnte noch verschoben und ein neuer Engel bestellt werden, aber wer in der Umgegend einen Priener ärgern will, heißt ihn heute noch »Duttenfeiler«.

Der Streit, der damals im Nachklingen noch in ganz Deutschland die Gemüter erregte, und der später selbst von den Liberalen, die ihn mit Feuereifer betrieben hatten, als »unseliger Kulturkampf« bezeichnet wurde, teilte auch den guten Markt Prien in zwei Lager.

Was bäuerlich war, und was am Alten hing, und was insbesondere auch noch über die Verpreußung grimmige Bedenken nährte, wandte sich mit leidenschaftlichem Zorn gegen die neudiokletianische Verfolgung.

Haarsträubende Geschichten wurden gedruckt, noch haarsträubendere erzählt, und mehr als ein braver Mann im Altbayrischen glaubte, was mir der Herr Aufschläger in Prien ernsthaft erzählte, daß Bismarck nur deshalb so unmenschlich wüte, weil er täglich einen Schnapsrausch habe.

Ich war gefeit gegen diese Angriffe auf meinen Helden und ließ nichts auf ihn kommen, aber ich erinnere mich wohl, mit welchem Ernste auch diese Tatsache im Gastzimmer unserer Kampenwand besprochen wurde. Im anderen Lager standen liberale Kaufherren und ein paar aufgeklärte Handwerksmeister, die sich den Rationalismus und die gemütliche Kirchenfeindlichkeit der Gartenlaube zu eigen gemacht hatten, und die eine aus Zeitungen zusammengelesene Freigeistigkeit gegen Altöttinger Kalendergeschichten ins Feld führten.

Sie waren die wortreichen Dialektiker, die anderen die härteren Köpfe; bei den nicht seltenen Wortgefechten behielten jene mit ehrlichen und geschwindelten Zitaten recht, oder schienen es zu behalten, denn im Laufe der Zeit siegten doch die Hartköpfigen und Konsequenten.

Die priener Diskussionen wurden pompös eingeleitet mit tiefgründigen historischen Kenntnissen, und wurden verbrämt mit Schlagworten aus Klassikern, aber sie endeten gewöhnlich mit landesüblichen Derbheiten und Grobheiten, ja zuweilen mit Hinauswurf und Schlägen. Ein Buchbindermeister, dessen dröhnender Baß mir unvergeßlich ist, mußte fast allwöchentlich Pflaster auf seine liberale Schädeldecke legen, denn seine Hitze führte ihn zur Betrunkenheit und seine Betrunkenheit zu ätzenden Bemerkungen, die weniger gewandte Streiter mit Schlägen und Hinausschmeißen erwiderten.

Das erregte aber keinen bitteren Haß. Der Herr Buchbindermeister saß ein paar Tage darauf, zuweilen noch mit den Spuren des Kampfes, wieder gemütlich bei seinen Mitbürgern und Honoratioren, die ihn mißhandelt hatten, und trank und stritt und hatte von Glück zu sagen, wenn er zu alten Pflastern nicht gleich neue erhielt.

So litt und stritt man in Prien noch manches Jahr nach dem unseligen Kulturkampf.

Von seinen Gegnern merkte übrigens der Eiserne Kanzler nichts, als er auf der Fahrt nach Gastein einige Minuten in Prien verweilen mußte.

Der Bahnsteig war dicht besetzt von Einheimischen und Fremden, da der Expeditor bekanntgegeben hatte, daß der Zug in der Station halten werde.

Der Bürgermeister war mit einigen Männern vom Gemeindeausschuß erschienen und stand eingepreßt in seinen Gehrock und schwitzend vor Aufregung in der vordersten Reihe. Ich harrte mit Herzklopfen auf den Moment, wo ich den großen Mann nun wirklich sehen sollte, und als die Lokomotive, weiße Rauchwolken auspustend, sichtbar wurde, wollte mir das Ereignis ganz unwahrscheinlich vorkommen. Aber der Zug hielt, und Bismarck stand wirklich am offenen Fenster.

»Ist das Prien?« fragte er den Bürgermeister.

»Na, Prean,« antwortete der verzagte Mann, und ein unterdrücktes Lachen ging durch die Menge, die sich eilig vorwärtsgedrängt hatte.

Es kamen noch ein paar Fragen nach der Zahl und der Beschäftigung der Einwohner, die ein Ausschußmitglied beantwortete, denn der Vorsteher unseres Marktes war ganz vernichtet und machte nur eine tiefe Verbeugung nach der andern. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, Hüte und Tücher wurden geschwenkt, stürmische Hochrufe ertönten, und mir war's zumute, als wäre ein nachklingendes Märchen zu Ende erzählt.

Ich hatte keinen Blick von dem Manne abgewandt, der mir ein körperliches Sinnbild deutscher Größe war und nun fast greifbar nahe stand und genau so aussah, wie ich ihn aus vielen Bildern kannte.

Das Verhalten des Herrn Bürgermeisters bei diesem historischen Vorgange wurde lange Zeit besprochen, mit Behagen an dem Spaße, aber auch mit Unwillen über den Mangel an gebührender Repräsentation. Wir hatten im Orte Kaufherren, die sich städtisch und weltgewandt fühlten und immer der Meinung waren, daß sich Prien zum Feineren entwickeln müsse, aber da war eben die erste Bedingung, daß an der Spitze der Gemeinde ein Mann von höherem Streben stand. Es war, wie man mit bedauerndem Achselzucken feststellte, nicht möglich, denn die Mehrheit ließ sich nicht von höheren Gesichtspunkten leiten.

Aber doch regte sich in jener behaglichen Zeit auch in diesem Winkel ein reges Bildungsbedürfnis, vielleicht noch mehr das Verlangen, gebildet zu scheinen, über vieles zu reden und über veraltete Anschauungen erhaben zu sein.

Wie sich das Reich ins Große redete und streckte, überkam bei Wachstum und Gedeihen den Kleinbürger eine Ahnung von seiner Bedeutung und von der Pflicht, sich ihrer würdig zu zeigen. Das führte nicht zu einem vertieften, wohl aber zu einem gesprächigen Interesse am geistigen Leben, das vornehmlich durch Zeitungen angeregt und gestillt wurde.

Zugleich fing man an, sich mehr Bücher zu kaufen, billige Klassikerausgaben und daneben das Konversationslexikon, aus dem sich für anzuschlagende Themata viel Stoff holen ließ. In Prien gab es einen Schreinermeister, dem es nicht darauf ankam, eines Abends Urteile über Richelieu und seine Politik abzugeben und ein andermal gründliche Kenntnisse über chinesische Seidenraupen zu verraten. Er stand in hohem Ansehen, bis auch andere seine Quellen entdeckten.

Aber es war doch schon etwas, daß sich eine Tafelrunde von Bürgern zusammenfand, die an bildungsfördernden Gesprächen Freude hatte, und meine Mutter sah darin arglos ein Fortschreiten der Welt zum Guten und Schönen, ohne an das Konversationslexikon und an kleine Eitelkeiten der Redner zu denken.

Sie sah es gerne, wenn ich an solchen Abenden am Tische saß, und indes sie unermüdlich strickend zuhörte, mahnte sie mich mit Blicken, ja aufmerksam zu sein und von schlichten Bürgern zu lernen, wie man sein Wissen bereichern müsse.

Weniger befriedigt war sie, wenn die alte Viktor, die natürlich bei diesen Bildungskonventikeln nicht fehlen durfte, durch Fragen, die ihr eigenes Interesse geschickt verrieten, das Gespräch belebte, denn darin bestand zwischen den herzensguten Frauen eine gründliche Meinungsverschiedenheit, daß meine Mutter dem weiblichen Wesen nur ein aufnehmendes, Viktor aber ein möglichst tätiges Verhalten zubilligte.

Die Stricknadeln klapperten lauter, und Blicke richteten sich nach oben gegen die Decke, wenn die alte Viktor das Wort ergriff und nicht allzu schnell losließ.

Großes Ansehen erwarb sich damals ein Maurermeister, der nach Palästina gereist war und nun an manchen Winterabenden seine Erlebnisse zum besten gab; daß er dabei einen roten Fes aufhatte und aus einem Tschibuk rauchte, übermittelte den Eindruck einer orientalischen Welt. Bald wurde er aber durch meinen ältesten Bruder in den Hintergrund gedrängt, denn der fuhr nach Australien, und seine brieflichen Reiseberichte, vorgelesen und erläutert von jenem bildungsreichen Schreinermeister, überstrahlten die Abenteuer eines Jerusalempilgers. Meine Mutter erlebte trotz allen Trennungsschmerzes, der in ihr wach blieb, doch manchen stolzen Augenblick, wenn sich in den frisch geschriebenen Briefen gesundes Urteil und tapferer Sinn offenbarten. Sie hat ihren Ältesten, der ein zärtlicher Sohn und das Ebenbild des Vaters war, klug, ernsthaft und weit über seine Jahre männlich, nicht mehr gesehen. Als er nach zwei Dezennien heimkehrte, lag sie schon lange auf dem stillen Friedhofe in Seebruck am Chiemsee.

Die Priener, die literarische Neigungen hatten oder zeigten, fanden zuweilen Gelegenheit, einen berühmten Vertreter des Schrifttums leibhaftig zu sehen.

Ich erinnere mich wohl, wie der Schreinermeister aufgeregt in unsere Küche kam und meine Mutter fragte, ob sie denn auch wisse, daß der Herr, der im Garten draußen Kaffee trinke, kein Geringerer sei als der Volksdichter Hermann von Schmid, und wie meine Mutter dann respektvoll zu dem gefeierten Gaste trat und ihn fragte, ob er mit allem zufrieden wäre, und wie Viktor, etwas ärgerlich, weil sie zurückstehen mußte, den Dichter vom Fenster aus sehr kritisch betrachtete und sagte, er sähe eigentlich nach nichts Besonderem aus.

Und dabei hatte der Dichter doch keine aufrichtigere Verehrerin seines »Kanzlers von Tirol« als die brave Alte, die ihn nunmehr in ihrem Unmute verleugnete.

Felix Dahn, den Dichter des »Kampfes um Rom«, sah man ab und zu in Prien, wenn er seine Verwandten im nahen Ernstdorf besuchte. Und zwei Sommer weilte der Tübinger Ästhetiker und Poet F. Th. Vischer als Gast in der »Kampenwand«.

Der kleine, etwas cholerische Herr ließ sich von mir häufig nach den Inseln rudern und war mit meiner Geschicklichkeit ebenso zufrieden wie mit der Billigkeit dieser Fahrten. Er entlohnte mich stets mit einer Halben Bier und einem Stückchen Käse.

Er sprach sehr wenig und machte mir deutlich klar, daß ich nur auf Fragen zu antworten, sonst aber das Maul zu halten hätte.

Einmal fand ich ihn redselig.

Er hatte sich im Wirtshaus auf der Fraueninsel Kaffee bestellt und die Kellnerin eindringlich ermahnt, daß ja keine Zichorienmischung darin sein dürfe. Hernach merkte er doch den fatalen Geschmack heraus und schritt zornig in die Küche, wo er den erschrockenen Weibern im breitesten Schwäbisch ihre saumäßige Frechheit und viechsmäßige Dummheit vorhielt, so daß sie noch lange an sein ästhetisches Wesen denken mußten.

Leider wollte Viktor eines Tages an dem berühmten Manne ihre Liebhaberei für die schöne Literatur auslassen, was ihr sehr übel bekam. Nur ganz allmählich versöhnte sich Vischer wieder mit ihr, und es bedurfte prachtvoller Strauben und duftenden Kaffees, um ihn zu überzeugen, daß sie trotz allem ein erträgliches Weibsbild wäre.

So gut es ihm in der »Kampenwand« gefallen hatte, blieb er doch weg, als ein anderer Schwabe, der Bruder eines württembergischen Ministers, auftauchte.

Es war ein pensionierter Hauptmann, der sich in der Welt als Kriegsmann umgetan hatte.

Reiterleutnant in österreichischen Diensten, Freiwilliger bei den Nordstaaten von Amerika, zuletzt Offizier in der württembergischen Armee, hatte er verschiedene Feldzüge mitgemacht und lebte nun von einem mäßigen Kapital und einer bescheidenen Pension auf größerem Fuße, als es sich machen ließ.

Als er mit seinem Vermögen fertig war, erschoß er sich.

Es war schade um den gebildeten, gescheiten Mann, der sich, wie ich heute glaube, als Schriftsteller Ansehen und Einkommen hätte verschaffen können.

Im nüchternen Zustande befaßte er sich eifrig mit geschichtlichen Studien, aber immer wieder kam er ins Trinken, beging Verschwendungen und verlor jegliche Willenskraft, die zu ernsthafter Arbeit gehört.

Sonst schweigsam und zurückhaltend, wurde er sehr gesprächig, wenn das nasse Viertel eintrat, und dann erzählte er aus seinem abwechslungsreichen Leben Abenteuer und Begegnungen mit berühmten Persönlichkeiten.

Wie weit das alles zurücklag!

Österreichisches Militärleben im Frieden mit Fußeisen und Fuchtelhieben, seltsame Zustände in galizischen Garnisonen, dann kriegerische Erlebnisse in der Lombardei, im Stabe Gyulais, Begegnung mit Hackländer, Kriegsdienste in Amerika in einem Regiment, das sich selbst »Les enfants perdus« nannte, weil sich Schiffbrüchige aus aller Herren Länder darin zusammengefunden hatten, dann Tauberbischofsheim und Champigny.

Es läßt sich denken, daß ich begierig zuhorchte, und ich war nicht nur ein aufmerksamer, sondern häufig auch der einzige Gesellschafter des Hauptmanns, von dem sich seine Bekannten meist zurückzogen, wenn er zu trinken anfing.

Einer hielt zuweilen bei ihm aus, ein Fürst W., der als Baron Altenburg in bescheidenen Verhältnissen in Prien lebte. Er war ein gutmütiger Herr, der gerne vom Glanze früherer Tage redete, als er noch Kavallerieoffizier war, und der sich doch in diesem Exil ganz wohl fühlte und regelmäßig mit den Bürgern beim Abendtrunke zusammensaß.

Sie machten es ihm nicht immer leicht, die Kontenance zu bewahren, denn als Fürst ohne Mittel, als Preuße und als alter Offizier stieß er überall an den kantigen Ecken der Priener Ansichten und Manieren an.

In der »Kampenwand« kehrte er mit Vorliebe ein, und die Höflichkeit meiner Mutter, die ihn trotz seines Inkognitos immer als Durchlaucht anredete, erwiderte er mit ritterlichen Komplimenten gegen das Haus, die Familie und die Persönlichkeit der Frau Oberförster. Wenn sie von der Vorder-Riß und dem König erzählte, hörte er mit der Teilnahme zu, die man dem Treiben und Befinden eines Gleichgestellten entgegenbringt, und er warf Bemerkungen ein, die seine intime Kenntnis des Hofes verraten sollten.

Er hatte immer eine Liebenswürdigkeit im Vorrat.

Meiner jüngsten Schwester, die als Kind eine auffällig tiefe Stimme hatte, prophezeite er eine glänzende Laufbahn als Sängerin, da irgend eine Dame auf -oni oder eine Lucca, wie er als alter Theaterhabitué wußte, gleichfalls mit einem Basse behaftet gewesen war.

Auch an mir entdeckte er Ansätze zu glänzenden Eigenschaften, und wenn meine Mutter auch nicht ganz davon überzeugt war, so hörte sie es doch gerne und schätzte die gute Absicht. Er sah gut aus, und selbst in dem Anzuge eines Priener Schneiders wirkte er als vornehmer Herr, und wenn er höchst eigenhändig ein Paar neubesohlte Stiefel vom Schuster heimtrug, sah er immer noch wie ein Grandseigneur aus. Über die unfreiwillige Bescheidenheit seines Lebens verlor er nie ein Wort und übersah die Ungeschlachtheit der Ortsbürger, die sich anblinzelten und anstießen, wenn Seine Durchlaucht dreißig Pfennige als Ausgabenetat für zwei Halbe Bier zurechtlegte.

Eine Bemerkung, die ich darüber machte, wies meine Mutter mit ungewohnter Schärfe zurück, und sie erklärte mir, wie ehrenwert diese Selbstzucht eines Mannes war, der einmal in ganz anderen Verhältnissen gelebt hatte.

Wenn der Fürst mit dem Hauptmann zusammen saß und die alten Kavaliere Erinnerungen austauschten, gab mir meine Mutter deutlich zu verstehen, daß ich meinen Platz zu räumen hätte.

Wahrscheinlich vermutete sie, daß die Herren Reiteroffiziere auch einmal auf ein paar Kapitel kommen könnten, die sich nicht für die reifere Jugend eigneten.

*

Immer war mir der letzte Tag im September, und mochte auch die schönste Herbstsonne leuchten, mit grauen Nebeln verhängt.

Frühmorgens gab es die letzten Vorbereitungen zur Abreise; Mahnungen von Viktor, auf meine Wäsche zu achten, da schon wieder Taschentücher und dies und das gefehlt hätten, Mahnungen meiner Mutter, allen Fleiß daranzusetzen; dann das letzte Frühstück in der Küche, die mir nie anheimelnder vorkam als im Augenblick des Scheidens, und der Gang zur Bahn.

Wer mir begegnete, auch wenn ich ihn sonst nicht ehrte, erschien mir als ehrwürdiges und liebenswertes Stück Heimat und empfing meinen wehmütigen Gruß.

Der Herr Maurermeister stand unter der Tür, weil auch seine Buben abreisten, und lüftete seinen Fes, und ich beneidete ihn, daß er so Tabak rauchend alle Tage in dem lieben Ort bleiben durfte.

Ich beneidete den Schreinerlehrling, der pfeifend einen Karren auf die Straße zog, und den Stationsdiener, der auch dableiben durfte, und wenn mich der Expeditor väterlich auf die Schulter klopfte und Glückauf zum Studium wünschte, dachte ich, er habe leicht reden und unbekümmert sein, wenn er doch nicht in die weite Welt hinaus müsse. Pfiff nicht die Lokomotive jämmerlicher wie sonst, und schlich nicht der Zug trübseliger von Bernau herein?

Was für rohe Menschen waren die Kondukteure, die hinter einem die Türe zuwarfen und das verhängnisvolle Billett mit gleichgültiger Miene zwickten! Dann ging es im weiten Bogen herum ums Dorf. Dort sahen noch Bauernhäuser hinter Bäumen hervor, dann kam der Blick auf den See und die Inseln.

Ich habe auch später noch an Heimweh gelitten, damals aber kam es wie Krankheit über mich.

Das Oktoberfest war mir verhaßt, weil das Ende der Ferien mit ihm zusammenfiel, und ich habe lange Zeit nachher den Lärm von Karussellorgeln und den Duft gebratener Heringe in Verbindung mit bitteren und schmerzlichen Gefühlen gebracht.

Der gutmütige Onkel Joseph nahm mich auf die Theresienwiese mit, in der Meinung, daß diese Freuden meinen Trübsinn verscheuchen müßten, aber der Anblick von Oberlandler Bauern oder von Schützen aus dem Gebirge war nur angetan, mir mein Elend erst recht fühlbar zu machen. Daran änderten auch die scharfen Vermahnungen des Herrn Premierleutnants nichts, der mir sagte, er habe das sogenannte Heimweh der Rekruten stets als Scheu vor Disziplin und Pflichterfüllung betrachtet, und er müsse leider annehmen, daß auch meine Wehleidigkeit darauf hinausgehe.

Ich aber legte mir ein Verzeichnis der Tage meiner babylonischen Gefangenschaft an und strich jeden Abend einen aus; nach ein paar Wochen vergaß ich darauf und war geheilt.

Späterhin, als ich über die Flegeljahre hinausgewachsen war, halfen mir ein paar Verliebtheiten, am Aufenthalt in München mehr Gefallen zu finden.

Denn natürlich fehlte es auch an der Jugendeselei nicht; aber ich muß bekennen, daß es nie zu Erklärungen kam.

Ich bewunderte einige Mitschüler, die auf dem Eise oder sonstwo mit Backfischen verkehrten, sprachen, Arm in Arm mit ihnen gingen.

Ich selber verehrte sie nur aus der Entfernung, und sogar vor ihrem Entgegenkommen versteckte sich meine Blödigkeit hinter Trotz.

Machte ich den Versuch, eine junge Dame, die im gleichen Hause wohnte, anzureden, dann war mir die Kehle wie zugeschnürt. Einmal setzte ich an, aber heiser vor Aufregung stotterte ich ein paar nichtssagende Entschuldigungen und floh eilig die Treppe hinunter. Und doch brachte mich ein Jugenderzieher, Schulmann und Rektor in ernstliche Gefahr, indem er mich als Verlorenen behandelte und in einer Weise bloßstellte, die sich nicht für ihn ziemte.

Ich trug wochenlang einen herzlich dummen Brief an jenen Backfisch in einem Schulbuche herum, immer mit der Absicht, ihn zu überreichen, wozu mir stets wieder der Mut fehlte.

Eines Tages erwischte mein Ordinarius den Brief, übergab ihn dem Rektor, und dieser sonderbare Freund der Jugend, der zufällig wußte, daß ich von einer angesehenen Familie zuweilen eingeladen wurde, schrieb an sie und behauptete, ich hätte an die jüngere Tochter des Hauses diesen unziemlichen Brief gerichtet.

Es war unwahr, und ich wehrte mich leidenschaftlich gegen die Anklage, aber es half mir nichts; die Mama war indigniert, und der Papa gab mir jovial zu verstehen, daß man mich nicht mehr einladen könne.

Damals habe ich mich ein paar Tage lang mit Selbstmordgedanken getragen, und ich glaube, daß ich nahe genug daran war, die Torheit zu begehen.

Ein erfahrener Mann hätte wahrhaftig in der Unbeholfenheit des Briefes knabenhafte Blödigkeit erblicken müssen und alles andere eher als Routine und Verdorbenheit.

Der einzige, der damals für mich eintrat, war der Religionslehrer, der über die gedrechselten Phrasen, die ich an das sehr geehrte Fräulein gerichtet hatte, gelächelt haben soll. Er merkte, wie verstört ich war, und sprach mich daraufhin an; schon das wirkte als etwas Ungewöhnliches auf mich, und als mir der strenge und zurückhaltende Mann mit freundlichen Worten zu verstehen gab, daß er mir glaubte, kam ich darüber weg.

Das Erlebnis gilt mir heute noch als Beweis dafür, wie schwer sich Unverständnis und Übelwollen an der Jugend versündigen können.

Ich habe später aus Ferne und Nähe Schülerselbstmorde erlebt und gewöhnlich recht törichte Urteile darüber gehört; selten fand ich Verständnis für die Wahrheit, daß roher Eingriff und grobes Unrecht gerade jugendlichen Gemütern unerträglich erscheinen können.

Sehr drückend empfand ich es damals, daß ich bei den Mitschülern wenig oder kein Verständnis für meinen Schmerz fand; eher beifällige Zustimmung zu der Verfehlung, die ich gar nicht begangen hatte, schlaues Mißtrauen gegen meine Verteidigung, aber kaum Billigung des leidenschaftlichen Zornes, mit dem ich mich gegen das Unrecht wehrte.

Ich darf sagen, daß lauter halb und ganz fertige, ihr eigenes Heil und ihren Nutzen kennende Spießbürger um mich herum auf den Schulbänken saßen.

Schwärmen und rückhaltloses, übertreibendes Sichhingeben an irgend eine Sache konnten sie mit überlegenem Lächeln beantworten.

Die meisten wußten ja auch schon, was sie werden wollten oder sollten.

Diese prädestinierten Amtsrichter, Ärzte, Assessoren, Intendanturbeamten und Offiziere kannten Vorteile und Nachteile der Berufe, und es sollte mich wundern, wenn sie sich nicht über künftige Pensionsbezüge unterrichtet hätten.

Nunc est bibendum,
Nunc pede libero pulsanda tellus!

war ein gern zitierter Vers Horazens.

Jetzt wollen wir trinken, jetzt befreit mit dem Fuß auf die Erde stampfen.

Aber die Ausgelassenheit war bei den meisten schon klug gedämpft; nach ein bißchen konventionellem Saufen trat der freie Fuß in die herkömmliche Laufbahn, und der ordentliche junge Mensch erwarb nicht erst, sondern behielt die vom Vater überkommene Klugheit, innerhalb der Schranken im sachten Trabe zu gehen.

Ich war dazu bestimmt und gewillt, Forstmann zu werden, und mein Vormund, auch einer vom grünen Tuche, hielt mir zuweilen vor Augen, daß Pflichttreue und Wahrheitsliebe gerade die Männer zieren müßten, denen der Staat den hohen Wert der Waldungen anvertraue.

Ich nickte beifällig zu der hohen Auffassung, aber mit meinen Wünschen verband sich doch eher die Vorstellung von einem Hause im Grünen, von Pürschgängen und Tabakrauchen.

Ich hatte das reizvolle Bild meiner Zukunft vor Augen, wenn ich den Bruder meines Vaters, den Oberförster von Wörnbrunn bei Grünwald, besuchte.

Er saß dort unter Förstern und Jagdgehilfen in einem ansehnlichen, von den Münchnern gern besuchten Wirtshause.

Sohn, Enkel und Urenkel schwerer Altbayern und Pfeifen rauchender Jäger, hatte ich natürlich das vollste Verständnis für diese Freuden, und wenn ich an Sonntagen bei den derben und nicht durchaus wahrheitsliebenden Männern saß, wollte ich ihnen ähnlich sein und werden.

Einer davon, der Förster Holderied, war noch ein Vertreter der aussterbenden Rasse von Wildlingen, die einen unaufhörlichen Kampf mit Lumpen führten. Man erzählte von ihm Schauermären, lauter echte altbayrische Geschichten, voll Jägerromantik des Hinaufschießens oder Hinaufgeschossenwerdens.

Ein Prachtkerl war der Jagdgehilfe Schröder, der in der Sauschütte das Schwarzwild zu füttern hatte.

Er konnte lügen, wie ich es nie mehr gehört habe, und ich glaube, daß die Pflege des Jägerlateins in ihm ihren letzten ehrwürdigen Meister gehabt hat.

Er log immer und verzog keine Miene dabei; mit steinerner Ruhe brachte er die ungeheuerlichsten Geschichten vor und schien in Zorn zu geraten, wenn jemand Bedenken oder Zweifel zeigte.

Für mich waren die Besuche in Wörnbrunn nicht ungefährlich. Ich gab mich der Herrlichkeit rückhaltlos, wie immer, hin und wollte auf allen Glanz der Welt verzichten, um in die Lodenjoppe und dieses bajuwarische Behagen zu schliefen. Ich setzte meiner Mutter mit Bitten zu, mich zum niederen Forstdienst gehen zu lassen, aber zu meinem Glücke erkannte sie die Ursache meiner Resignation auf die höhere Laufbahn. Ich durfte nicht mehr so häufig zum Forsthause wandern, und da mir Onkel Franz das selber und, wie ich merkte, mit Bedauern eröffnen mußte, blieb ich ganz weg.

Die Oberklasse des Gymnasiums besuchte ich in Landshut; ich wollte das Wohlwollen jenes münchner Rektors nicht noch mehr herausfordern.

Die wohlhäbige Stadt, Mittelpunkt der reichsten Bauerngegend, in der eine starke Garnison lag und die ihre Tradition als ehemaliger Sitz der Landesuniversität noch bewahrte, gefiel mir sehr gut.

Die breite Altstadt mit ihren hochgiebligen Häusern und der mächtigen Martinskirche als Abschluß war die Hauptstraße, auf der nachmittags die Herren Offiziere, Beamten, Fähnriche und Gymnasiasten bummelten, um den zahlreichen hübschen Bürgertöchtern Beachtung zu schenken.

Vom Kollerbräu zum Dome hinauf, vom Dome zum Kollerbräu hinunter flanierte die Jugend, die in Uniform schon etwas vorstellte, und die andere, die mit Band und Mütze bald etwas vorstellen wollte, und sie grüßten, hier verwegen, dort schüchtern, die Weiblichkeit.

Ich war bei einer angesehenen Bürgerfamilie untergebracht und genoß zum ersten Male volle Freiheit in meinem Tun und Lassen.

Daß ich sie nicht mißbrauchte, rechnete mir der wohlwollende Rektor des Gymnasiums hoch an; er hatte mich mit einigem Mißtrauen empfangen und im Auge behalten, weil ihn der münchner Kollege brieflich vor mir gewarnt hatte.

Nach Umlauf einiger Monate rief er mich zu sich und fragte mich, was ich denn eigentlich an meinem früheren Gymnasium pekziert habe. Ich erzählte ihm frischweg das Schicksal meines verhinderten Liebesbriefes. Lächelnd hörte er mich an, und dann las er mir einige kräftige Stellen aus dem Briefe seines Kollegen vor.

»Was sagen Sie dazu?« fragte er mich.

Ohne langes Besinnen gab ich zur Antwort: »Wenn ich Rektor wäre, würde ich über einen Schüler keinen Brief schreiben.«

Er bewahrte mir sein Wohlwollen während des ganzen Jahres wie in der Schlußprüfung, und ich blieb ihm über das Gymnasium hinaus dankbar dafür; als Universitätsstudent besuchte ich ihn mehrmals, und er brachte das Gespräch gerne auf die resolute Antwort, die ich ihm damals gegeben hatte.

Im Juni meines letzten Schuljahres starb König Ludwig II.

Das Ereignis machte tiefen Eindruck, und er war echt, wie er sich in Schweigen und Niedergeschlagenheit zeigte.

Was später folgte, das Herumerzählen von Schauergeschichten, Tuscheln, Flüstern und Kokettieren mit Frondeurgelüsten, die doch nicht ernst gemeint waren, erregte in mir schon damals Zweifel in die Stärke populärer Stimmungen. Den gepreßten Bürgerherzen in Landshut tat die Kunde wohl, daß man aus irgendeinem Bräuhause einen vorher ordnungsmäßig verdroschenen preußischen Unteroffizier der Schweren Reiter hinausgeschmissen habe, weil er in unehrerbietigen Zweifeln befangen gewesen wäre.

Wenn nicht wahr, so gut erfunden. Denn wie ich an meinem Hausherrn sehen konnte, herrschte Befriedigung, daß sich die allgemeine Erregung, und zwar gegen Norden hin, Luft gemacht hatte.

Im August bestand ich die Schlußprüfung, die von Kennern für leichter als gewöhnlich erklärt wurde. Ich möchte nicht entscheiden, ob das stimmt; jedenfalls war man auch mit der Begründung bei der Hand.

In München hatte ein Prinz das Absolutorium zu bestehen, und dem hätte man es nicht zu schwer machen wollen.

Meinen Ansprüchen genügte die Prüfung, und zu meiner Freude genügte ich den Ansprüchen.

Ein seliger Vormittag, als wir unter dem Tore des Gymnasiums die Hüllen von den farbigen Mützen entfernten und nun mit leuchtenden Rotkappen durch die Stadt gingen.

Beim Abschiedskommerse hatte ich die Rede zu halten.

Meine Kommilitonen trauten mir nach etlichen dichterischen Versuchen, die ich hinter mir hatte, Erkleckliches zu, und an tüchtigen Redensarten von der Sonne der akademischen Freiheit hätte es auch nicht gefehlt, wenn ich nicht beim zweiten Satze stecken geblieben wäre.

Ich rang nach Worten, fand kein einziges und setzte mich unter peinvollem Schweigen hilflos nieder.

Ähnliches war nie geschehen, und ich glaube, daß es mir der Jahrgang lange nachgetragen hat.

Die Situation rettete aber mein verehrter Studienrektor, der sogleich aufstand und eine wohlgegliederte und durchdachte Rede an die abziehende Jugend hielt.

Manches kluge und manches schöne Wort aus den nun abgetanen Klassikern war darin verflochten, und ich sah freilich, wie man's hätte machen sollen.

Die Befriedigung über das ungewöhnliche Hervortreten des Rektors, die Freude an seinen Worten schwächten einigermaßen das Unbehagen, das ich verursacht hatte, ab.

Etliche Tage sangen und tranken wir noch in Landshut herum und kamen uns bedeutender und freier vor, wie jemals wieder im Leben.

Nunc est bibendum,
Nunc pede libero pulsanda tellus!

Damit ging es heim.

Meine Mutter war etliche Jahre vorher nach Traunstein übergesiedelt und hatte den Gasthof »Zur Post« in Pacht genommen. So hatten nun die Bürger dieser Stadt Gelegenheit, mich in Farbenpracht mit dem pede libero stolzieren zu sehen und der braven Frau Oberförster zu dem Erfolge ihres Sohnes Glück zu wünschen.

Sie holte mich mit den Schwestern von der Bahn ab und war gerührt, mich an einem unter manchen Seufzern herbeigesehnten Ziele zu sehen.

Allzuviel konnte ich nicht erwidern, da ich vom bibendo stockheiser geworden war.

Die alte Viktor war etwas gekränkt, weil man sie als Hüterin des Hauses daheim gelassen hatte, und so drängte sie zuerst ihre Gefühle zurück, um brummig zu sagen, ich sähe doch sehr versoffen aus.

Sie rang sich aber zur Freude durch und meinte, nun sei ich auf dem Wege zum Berufe meines Vaters und könne wohl gar noch Oberförster in der Vorder-Riß werden.


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