Alfred Tennyson
Enoch Arden
Alfred Tennyson

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Die Stirne nach der Wand gekehrt, sprach sie:
»Ich kann dir nicht ins Antlitz seh'n, ich scheine
»So thöricht und so tief gedrückt. Als du
»Hereinkamst, drückte mich der Kummer nieder,
»Nun mein' ich, daß mich deine Güte drückt;
»Doch Enoch lebt, das kündet mir mein Herz;
»Er wird's dir wiedergeben; denn es kann
»Wohl Geld zurückgegeben werden, doch
»Nicht deine Güte auch.«
                                  Und Philipp fragt':
»So darf ich's thun?«
                            Da drehte sie sich um,
Stand auf und richtete ihr feuchtes Aug'
Auf ihn und ließ es einen Augenblick
Auf seinem milden Antlitz ruhn. Sodann,
Erflehend Segen auf sein Haupt, ergriff
Sie seine Hand, preßt' leidenschaftlich sie
Und ging hinaus in ihren kleinen Garten.
Gehobnen Mutes nun ging er hinweg,

Dann schickt' zur Schule Philipp beide Kinder,
Kauft' auch die Bücher ihnen, die sie brauchten,
Und war besorgt um sie in jeder Weise,
Wie einer, der's für seine eignen thut;
Und ob er gleich um Annies willen oft,
Des Dorfs Geschwätze fürchtend, seinem Herren
Den liebsten Wunsch versagt' und ihre Schwelle
Nur selten überschritt, sandt' Gaben er
Durch ihre Kinder doch, wie Kräuter, Früchte,
Die erst' und letzten Rosen von dem Zaun,
Kaninchen von der Düne, auch zuweilen, –
Des Mehles Feinheit ihr als Vorwand rühmend,
Das Peinliche der Wohlthat zu umgehen, –
Das feinste Mehl von seiner Mühle droben,
Die auf der öden Felsenhöhe klappert'.

Doch Annie's Herz konnt' Philipp nicht ergründen:
Nur selten, wenn er kam, vermochte sie,
Mit unbegrenzter Dankbarkeit erfüllt
Ihr Herz, ein karges Wort des Danks zu finden.
Doch ihren Kindern war er eins und alles;
Vom fernsten Straßenende eilten sie
Herbei, sein herzlich Grüßen zu erwidern;
Des Hauses und der Mühle Herr war'n sie;
Mit winz'gen Leiden und geringen Freuden
Bestürmten sein geduldig Ohr sie, hingen
An ihn sich, tändelten mit ihm und nannten
Ihn Vater Philipp. Er gewann soviel
Als Enoch einbüßt'; denn der schien für sie
So haltlos wie ein Nebelbild, ein Traum,
So blaß wie eine Lichtgestalt; die man
Am frühen Morgengrauen gehen sieht
Im fernen Ende einer Baumallee,
Und doch nicht weiß wohin. Und so vergingen,
Seit Enoch Herd und Vaterland verlassen,
Zehn Jahr', und keine Nachricht kam von ihm.
An einem Abend wollten Annies Kinder
Mit andern Nüsse sammeln gehn in's Holz,
Und Annie wollte mit; da baten sie
Für Vater Philipp auch (wie sie ihn nannten):
Der Biene gleich, die schafft im Blütenstaube,
So fanden sie mit Mehl ihn weiß bestäubt
In seiner Mühl'; doch als sie baten nun:
»Komm mit uns, Vater Philipp,« schlug er's ab;
Als sie ihn aber zogen, mitzugehn,
Lacht' er und gab bereit dem Wunsche nach;
Denn war nicht Annie mit? so gingen sie.

Als sie die Düne mühsam halb erklommen,
Just wo die steile Seite des Gebüsches
Zur Höhle sich hinabzuziehn begann,
Verließ all ihre Kraft sie, und sie sprach
Mit Seufzen: »Laßt mich ruhn,« und Philipp ruhte
Wohl einverstanden neben ihr; indes
Die Jüngern all mit Jubelrufen sich
Von ihren Eltern trennten und sich lärmend
Durch das schon weißgefärbte Hasellaub
Hinunterstürzten in das Thal, sich dort
Zerstreuten und die Zweige niederbogen,
Die schwanken, widerstrebenden auch brachen,
Um die gebräunten Büschel abzureißen,
Und schrien, sich einander zu und riefen
Bald hier, bald da im Walde laut umher.

Doch Philipp, wenn auch ihr zur Seite sitzend,
Vergaß ganz ihre Gegenwart und dachte
An eine trübe Stunde hier im Wald,
Als er wie ein verwundet Thier sich barg
Im Schatten; doch sodann sein biedres Haupt
Erhebend sprach er: »Höre, Annie, hör
»Wie fröhlich sie dort unten sind im Wald.« –
»Bist müde Annie?« denn sie sprach kein Wort.
»Bist müde?« doch das Haupt war ihr gesunken
Auf ihre Hand; drauf sprach er wie im Zorn:
»Gescheitert ist das Schiff, gescheitert ist's!
»Nichts mehr davon. Warum sollst selber Du
»Dich töten und sie ganz zu Waisen machen?«
»Nicht daran dacht' ich«, sagte Annie, »doch –
»Weiß nicht warum – es lassen ihre Stimmen
»So schrecklich meine Einsamkeit mich fühlen.«

Drauf etwas näher rückend Philipp sprach:
»Es liegt mir, Annie, etwas auf dem Herzen
»Und lag mir lange auf dem Herzen schon,
»Das endlich, wenn ich auch nicht weiß, seit wann
»Hinein es kam, heraus will, wie ich weiß.
»Es ist, o Annie, völlig hoffnungslos,
»Ist gegen alle Möglichkeit, daß er,
»Der vor zehn Jahren dich verließ, noch sollt'
»Am Leben sein; dann also – laß michs sagen
»Es schmerzt mich, arm und hilfsbedürftig dich
»Zu sehn; doch kann ich dir nach Wunsch nicht helfen,
»Wenn nicht – man sagt, es fassen Frauen schnell –
»Vielleicht weißt du, was ich dir sagen wollt' –
»Ich wünsche dich zum Weib. Ich würde gern
»Als Vater deinen Kindern mich erweisen;
»Sie lieben, glaub' ich, mich; ich bin mir sicher,
»Daß ich sie lieb', als wärens meine eignen,
»Und glaube, wärest du mein eh'lich Weib,
»Daß wir nach all den Jahren voller Qual
»Noch könnten just so glücklich sein, als Gott
»Es einem seiner Lieben nur vergönnt.
»Bedenk' es: denn ich bin vermögend, habe
»Verwandte nicht, nicht Sorgen, keine Last,
»Die Sorg' allein um dich und deine Lieben;
»Wir aber kennen uns von Jugend auf,
»Und länger lieb' ich dich, als du es weißt.«

Mit sanftem Ton erwidert' Annie drauf:
»Du warst wie Gottes guter Engel uns.
»Gott segne dich dafür, Gott lohne dir's
»Mit etwas reicherm Glück, Philipp, als ich.
»Kann einer zweimal lieben? Kannst du je
»Geliebt so werden, als es Enoch war?
»Was forderst du?« »Ich bin,« sprach er, »zufrieden,
»Ein wenig nur nach ihm geliebt zu werden.
»O,« rief gleichsam erschreckt sie, »lieber Philipp,
»Ein Weilchen warte noch; wenn Enoch kommt –
»Doch Enoch wird nicht kommen – wart' ein Jahr,
»Ein Jahr ist nicht so lang; gewiß ich werde
»In einem Jahre klüger sein. O, wart'
»Ein wenig!« Philipp sagte trüb: »Da ich
»Mein Leben lang gewartet, kann ich auch
»Ein wenig warten noch.« »O nein,« rief sie,
»Ich bin gebunden, gab mein Wort – ein Jahr;
»Willst du dein Jahr nicht tragen, wie ich mein's?«
Und Philipp sprach: »Ich will mein Jahr ertragen.«
Dann schwiegen sie, bis Philipp, aufwärts blickend,
Des flieh'nden Tages letzte Strahlen sah
Entschwinden von dem Hünengrabe droben;
Da, Nacht und Kälte Annies wegen fürchtend,
Erhob er sich und ließ der Stimme Ruf
Hinunter schallen durch den Wald. Es kamen
Mit ihrer Beute nun herauf die Kinder;
Dann stiegen alle sie zum Hafen nieder,
Und dort vor Annie's Thüre stand er still,
Gab ihr die Hand und sagte weich: »Als ich
»Zu Dir sprach Annie, war's zu einer Stunde,
»Wo schwach Du warst, das war nicht recht von mir.
»Ich bin dir stets verbunden; du bist frei.«
Sie aber weinend sprach: »Ich bin gebunden.«

Sie sprach's; und just als wär's ein Augenblick, –
Indes sie eifrig noch ihr Haus besorgte
Und dachte seinen letzten Worten nach,
Daß er sie länger liebte, als sie wüßte, –
Da brach der neue Herbst schon wieder an,
Und wiederum stand er vor ihren Augen,
Ans Wort sie mahnend. »Ist's ein Jahr?« fragt sie.
»Ja,« sprach er, »wenn die Nüsse wieder reif;
»Komm mit und schau.« Doch sie – sie wies ihn ab –
So viel zu thun – solch Wechsel – einen Monat –
Noch einen Mond – sie weiß, daß sie gebunden –
Nur einen Monat noch. Und Philipp sprach,
Das Auge jener ew'gen Sehnsucht voll,
Leis, wie des Trinkers Hand, die Stimme zitternd:
»Wähl' selbst die Zeit, Annie, wähl' selbst die Zeit.«
Und Annie hätt' aus Mitleid weinen mögen
Mit ihm, und doch hielt sie ihn zögernd hin
Mit fast unglaublichen Entschuldigungen;
Versuchend seine Treue und Geduld,
Bis wiederum ein halbes Jahr entschwunden.

Erbost, daß ihre Hoffnung so getäuscht,
Begannen nun des Dorfes müß'ge Schwätzer
Sich zu ereifern wie bei eignem Leid.
Die einen meinten, Philipp tändle nur
Mit ihr, die andern, daß sie spröde nur
Sich stelle, um noch mehr ihn anzulocken;
Noch andre lachten sie und Philipp aus
Wie Leute, die nicht wissen, was sie wollen;
Und einer gar, in dessen Kopf die bösen
Gedanken all wie Schlangeneier sich
Zusammenhäuften, pflegte lachend noch
Auf Schlimmeres bei beiden anzuspielen.
Ihr eigner Sohn schwieg still, obgleich er oft
Durch Blicke seinen Wunsch verriet, indes
Die Tochter immer in sie drang, zu frein
Den Mann, der ihnen allen war so lieb,
Und der ihr Haus der Armut hatt' entrissen.
Und Philipps blühend' Angesicht fiel ein,
Ward gramdurchfurcht und bleich; und all dies traf
Wie schwerer Tadel sie.

                                Da eines Nachts,
Da sie nicht schlafen konnt', erflehte heiß
Ein Zeichen Annie, ob ihr Enoch tot.
Dann konnte sie, umschlossen von der Nacht,
Die undurchdringlich sie umgab, nicht länger
Was Schreckliches ihr Herze ahnt', ertragen,
Sprang aus dem Bette, machte selbst sich Licht,
Ergriff verzweiflungsvoll die heil'ge Schrift,
Schlug schnell sie auf, ein Zeichen zu entdecken.
Und legt den Finger plötzlich auf das Wort
»An einem Palmbaum.« Das war nichts für sie;
Kein Sinn darin; sie schloß das Buch und schlief.
Da, sieh! ihr Enoch saß auf einem Hügel,
An einem Palmbaum, über ihm die Sonne;
»Tot ist er,« dachte sie, »ist selig, singt
»Hosianna, in der Höhe; dorten scheint
»Die Sonne der Gerechtigkeit, und dies,
»Dies mögen Palmen sein wie sie das Volk
»Glückselig einst ausstreute mit dem Ruf
»Hosianna in der Höh!« da wacht' sie auf,
Entschlossen, sandt' nach ihm und sagte kühn:
»Wir haben keinen Grund mehr, nicht zu frein.«
»So mög's,« sprach er, »um Gott's und unsertwillen,
»Wenn du mich freien willst, sogleich geschehen.«

So wurden sie vermählt, und froh erklangen
Die Hochzeitsglocken; fröhlich tönten sie,
Und jene beiden wurden nun vereint.
Doch fröhlich schlug durchaus nicht Annies Herz.
Ein Schritt schien hörbar neben ihrem Pfad,
Sie wußte nicht, woher; im Ohr ein Flüstern,
Sie wußt' nicht, was; blieb auch nicht gern allein
Zu Haus, noch wagt' allein sie auszugeh'n.
Was war ihr denn, daß eh' sie eintrat, oft
Die Hand ihr zögernd auf der Klinke ruhte,
Den Eintritt fürchtend? Philipp glaubt', er wiss' es:
Ihr Zustand ließe solche Angst erklären,
Ihr hoffnungsvoller. – Als das Kind geboren,
Kam mit dem Kinde in sie neues Leben,
Ein neues Mutterglück zog in ihr Herz,
Ihr guter Philipp war ihr alles nun,
Und ganz verlor sich jene dunkle Ahnung.


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