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II.

Zwanzig Jahre waren seit den erzählten Ereignissen auf der Hohenburg verflossen. Das Jahr 1848 hatte auch nach Deutschland den »Völkerfrühling« gebracht. Das Jahr 1849 sah die Saaten dieses Frühlings verdorren. Das deutsche Parlament – dessen Mitglied ich war – glaubte in Frankfurt nicht mehr tagen zu können, beschloß seine Uebersiedelung nach Stuttgart. Es war keine kluge und keine muthige That des deutschen Parlaments. Ich hatte mich dagegen erklärt; ich mußte es dennoch für meine Pflicht halten, dem Beschlusse der Mehrheit mich zu unterwerfen.

Ich verließ Frankfurt in den letzten Tagen des Monats Mai. Ich reiste mit schwerem Herzen ab; vor meinem Geiste stand Alles, was folgen sollte, folgen mußte, folgte. Ich nahm meinen Weg nach Stuttgart durch die einsamsten Gegenden; ich mochte keinen Menschen sehen. Ich durchstrich den Odenwald, den Schwarzwald. Ich hatte Zeit. Die Sitzungen des Parlaments, des »Rumpfparlaments«, in Stuttgart begannen erst nach einer Woche. In den stillen, freundlichen Thälern des Odenwaldes konnte ich aufathmen; in den finsteren, engen Schluchten des Schwarzwaldes wurde mir das Herz wieder weit und frei, und der alte Muth kehrte wieder bei mir ein und weckte die frische Kraft wieder.

Ich hatte von Baden aus das Murgthal verfolgt. Kein Thal ist so schön, so reich an Wechsel von lieblicher, freundlicher Anmuth und wilder, finsterer Zerrissenheit der Natur. Ich durchschritt es zu Fuß, allein, ohne alle Begleitung; ich kam durch das reizende Gernsbach, an der alten Burg Eberstein vorüber, ich kam weiter und weiter, bis zum Ende des Thales.

Es war damals überall so still; es war darum doppelt schön. Ich erreichte eine Stelle, die schöner war, als Alles, was ich in dem Thale gesehen hatte. Den Namen habe ich vergessen, aber die Bilder, die vor mir aufgingen, werden mir stets im Gedächtnisse bleiben. Mein Weg war lange zwischen steilen Thalwänden eingeschlossen gewesen; sie hatten sich allmählich zu sanft aufsteigenden Bergmatten abgeplattet.

Bald war ich umgeben von Feldern und Wiesen, die weit sich ausdehnten, die das Auge weithin übersehen konnte. Zwischen ihnen erhoben sich Gebüsche, kleine Baumanpflanzungen, Gärten, Wohnhäuser. Das Alles lag zerstreut umher und bildete doch ein Ganzes, wie ein großen weit ausgestreckter Weiler. In der Mitte stand eine kleine Kirche mit einem weißen Thurme; das Pfarrhaus daneben, in seinem Garten und vorn von hohen Obstbäumen überschattet, glaubte ich nicht verkennen zu können. Die Anhöhen stiegen zu beiden Seiten auf, fielen zu der Murg hinab, deren Lauf in der Tiefe durch krauses Gebüsch an ihren beiden Ufern angezeigt wurde. Ganz hinten verschwand das Gebüsch; an seiner Stelle erhoben sich dort zwei hohe, steile Felspartien, wie zu einem Felsenthore; zwischen ihnen hindurch strömte der Fluß weiter, und das schöne Murgthal sei zu Ende, wurde mir gesagt. Ich selbst kam nicht dahin. Anderes hielt mich zurück.

In der Mitte der großen, verstreuten Häusergruppen sah ich einen Haufen von Gebäuden näher und dichter zusammen liegen; die Kirche war nicht weit davon; ich müsse dort einen Gasthof finden, dachte ich. Ich ging darauf zu, ich hatte mich nicht getäuscht; ein stattliches Wirthshaus, mit einem goldenen Löwen auf dem Schilde, nahm mich auf.

Ich war gegen Abend in dem Dorfe angelangt; ein Dorf wurde der Complex der weilerartig zerstreuten Häuser genannt. Ich war nicht ermüdet. In dem Wirthshause war ich der einzige Gast. Es drängte mich, einen Spaziergang zu machen, das Thal, das ich von oben übersehen hatte, mir auch von unten, von den Ufern der Murg her, anzuschauen.

Der Abend war still: im Dorfe war es leer; seine Bewohner waren noch in den Feldern, in Wald und Wiesen beschäftigt; erst die untergehende Sonne führte sie zu den Häusern zurück. Die Sonne stand noch klar am Himmel, schien noch warm in die Stille und den Frieden des Thales hinein.

Ich ging dem Flusse, den Bäumen und Gebüschen zu, die seinen Lauf hier noch anzeigten. Erst in weiterer Ferne erhob sich das Felsenthor.

Mein Weg, – es war eine schöne Landstraße – führte mich an freundlichen Häusern vorüber, sie lagen hier wieder zerstreut, zwischen Gärten und Gebüsch. Die Abendstille herrschte hier noch mehr, als bei der Kirche und bei dem Wirthshause. Wohnungen für Arbeiter waren diese freundlichen Häuser nicht, einzelne von ihnen glichen kleinen Landhäusern, die wohl den besser situirten Bewohnern des Dorfes gehörten, vielleicht hatten auch in dem einen oder anderen Fremde ihren Aufenthalt genommen, um für einige Wochen oder Monate in der Stille und Einsamkeit des schönen Thales einem beschaulichen Leben sich hinzugeben, von den Unruhen in der bewegten Welt sich zu erholen, oder auch ihre Gesundheit wiederzufinden oder zu befestigen.

In den Häusern sah ich Niemanden, weder an den Fenstern, noch vor den Thüren. Hinter den Hecken, unter den Ostbäumen, in den Lauben der Gärten schien es manchmal lebendiger zu sein; ich hörte im Vorübergehen Plaudern und Lachen; Erwachsene unterhielten sich, Kinder spielten. Ich ging an Allem vorüber, ohne besonders darauf zu achten; unten in dem Schatten der Bäume – am Ufer der Murg – wollte ich mich ausruhen und an dem Anblicke der belebten und bebauten Höhe mich neu erlaben.

Da hatte ich schon auf dem Wege einen Anblick, der mich fesselte.

Ich hatte eins der hübschesten und freundlichsten der kleinen Landhäuser an der Straße erreicht. Es lag so reizend, so einladend da, mit den weißen Mauern, die in der Abendsonne leuchteten, mit seinen grünen Jalousien, mit seinem kleinen Balcon, den eine roth und grau gestreifte Marquise beschattete, in einem Garten, der nach der Straße hin nur Raum für ein paar Blumenbeete hatte, zu beiden Seiten aber desto weiter und tiefer sich ausdehnte, mit grünen Plätzen, mit Spalieren, mit Lauben. Das Alles machte einen so wohlthuenden Eindruck; ich hielt meine Schritte an, um näher zu betrachten.

Da sah ich, wie Jemand, halb verborgen hinter einem Schirm, der gegen die Strahlen der Sonne schützen sollte, forschend und stechend die Augen auf mich gerichtet hatte. Ich ging weiter; ein Verweilen hätte eine verletzende Neugierde an den Tag gelegt. Aber ich hatte doch mit dem ersten Blicke mir den ganzen Mann anschauen können, und ein zweiter Blick hatte in schneller, rascher Folge mir noch Etwas gezeigt, was mich ergriff, durchfuhr, mich fast erbeben machen wollte. Noch wenige Schritte ging ich weiter, dann mußte ich hinter einer vorspringenden Hecke Halt machen, um mich zu besinnen, um meine Gedanken zusammenzufassen, um mich ganz über das zu vergewissern, was meine Augen gesehen hatten, was mein Verstand nur noch als ein wirres Chaos aufzufassen vermochte.

Einen ältlichen Herrn hatte ich unten vor der Hausthüre an den Blumenbeeten hinter dem Schirme gesehen. Er hatte das Aussehen eines kranken und elenden Mannes; die dunklen, großen Augen, die so mißtrauisch nach mir geforscht hatten, stachen aus einem abgemagerten, grauen und gelben Gesichte hervor; eine Pelzmütze bedeckte das Haupt, das nur wenige oder gar keine Haare mehr zu tragen schien, ein weites, dichtes Plaid hüllte die Gestalt ein, gegen den Abend, der noch so warm war, in den Sonnenstrahlen, gegen deren Brennen der Schirm schützen sollte.

Der Anblick eines Kranken flößt Theilnahme, Mitleiden ein. Der Anblick dieses Mannes wollte mich erschrecken, erfüllte mich – ich konnte mich mit dem besten Willen nicht dagegen wahren – mit einem innerlichen Grauen. Der Mann war so häßlich, und seine Häßlichkeit war die der Sünde, des Verbrechens.

Und warum hatten seine Augen mich so siechend, so mißtrauisch, boshaft hassend getroffen? Ich besann mich vergeblich, ob ich ihn schon früher gesehen hatte; er war mir noch nie in meinem Leben begegnet. Dieses Gesicht, diese Augen, hätte ich sie jemals gesehen, würden meinem Gedächtnisse gar nicht haben entschwinden können.

Und warum gerade mich sein Blick so siechend verfolgt hatte? Sah der Instinct des Verbrechers in mir, ohne daß er mich kannte, den Criminalrichter? Hatte ein Instinct den Blick des häßlichen kranken Mannes vor dem freundlichen Landhause auf den Criminalrichter gelenkt?

Ich war damals freilich kein Criminalrichter mehr; ich war selbst ein, wenn auch nicht schon wirklich verfolgter, doch zur criminalgerichtlichen Verfolgung von der Regierung bestimmter Mann, der aber wegen seiner Theilnahme an den Sitzungen des Parlaments in Stuttgart, gleich nach seiner Rückkehr in die Heimath unter der Anklage des Hochverraths processirt, verhaftet und beinahe ein ganzes Jahr lang im Zuchthause detinirt wurde, bis die Geschworenen ihn freisprachen.

Ich ging weiter, mit meinen Gedanken über den Mann beschäftigt. Ich hatte die Ecke des freundlichen Hauses erreicht, konnte den Kranken nicht mehr sehen, hatte aber einen andern Anblick, der mich in eine Zauberwelt, aber in eine wilde, dämonische Welt versetzen wollte.

Eine Frau saß dort, und durfte ich meinen Augen trauen? Die Frau hatte ich schon gesehen, vor vielen Jahren schon, und ich hatte damals mit ihr gesprochen und verhandelt, Vieles und Entsetzliches.

Sie saß auf einem Stuhle im Eingang einer Laube. Sie war mit Stricken beschäftigt, aber die alten Augen waren sorgenvoll nach der Stelle gerichtet, wo der Kranke hinter dem Schirm saß. Sie mußte von ihrem Sitze aus ihn sehen können, ich auf meinem Platze sah ihn nicht.

Frau Walter! hätte ich der alten Frau zurufen mögen.

Sie war die Frau Walter; es blieb mir kein Zweifel; ich erkannte sie genau. Sie hatte sich nur wenig verändert. Wie kam sie aus dem fernen deutschen Norden hierher, in das Murgthal? Wer war der Kranke, an den ihre Blicke sich richteten, so sorgenvoll, als wenn sie ihn behüten solle wie seine Wärterin? Wer konnte dieser Mann sein?

Der Baron Emmerich von Willingen?

Der Gedanke hatte mich plötzlich wie überfallen. Weil ich die Kammerfrau seiner verstorbenen Mutter in seiner Nähe, in seiner Gesellschaft sah, wahrscheinlich zu seiner Bedienung? – Aber die Baronin war ja ermordet, und der Verdacht des Mordes, mindestens einer sehr hervorragenden Theilnahme daran, haftete unbeweisbar auf dem Baron Emmerich, und die Frau Walter war die treueste Dienerin dieser Ermordeten gewesen! Sie sollte jetzt die treue Gefährtin, die sorgliche Hüterin des Mörders sein?

Ein Blick der Frau fiel in die Richtung, in der ich stand. Sie sah mich; sie erkannte mich. Auch mein Aeußeres hatte in den zwanzig Jahren sich wenig verändert. Sie erschrak; das Strickzeug entglitt ihren Händen; ihre Augen flogen zu dem kranken Manne, dann wieder zu mir, dann saß sie unbeweglich, wie betäubt.

Der häßliche Kranke mußte doch der Baron Emmerich sein.

Aber was ging es mich an? Ich hatte kein Amt mehr; ich war in einem fremden Lande.

Ich wollte mich entfernen, um meinen Weg zu der Murg hinab fortzusetzen.

Da sah die Frau noch einmal zu mir hin. Ihr Blick schien mir eine Bitte auszusprechen, mich jetzt zu entfernen, später mich wieder einzufinden; ihre Augen winkten nach dem Garten zurück, der hinter ihr sich weit ausdehnte.

Ich hatte sie richtig verstanden.

Mir klopfte das Herz in der Erwartung dessen, was ich von ihr erfahren würde, über den Mord und den Mörder auf der Hohenburg. Wie oft hatte ich in den zwanzig Jahren an ihn zurückdenken, mir immer vergebens die Frage vorlegen müssen: Wer war der Mörder? Sollte ich endlich Aufklärung darüber erhalten?

Meinen Spaziergang zu der Murg konnte ich nicht fortsetzen; ich fürchtete, mich zu verspäten. Ich ging weiter in der Straße, ging an dem hübschen freundlichen Haus und seinem Garten vorbei. Der Garten war überall von einer Hecke umschlossen. Ich umging ihn. An einer Stelle nach der Rückseite des Hauses, diesem gerade gegenüber, hatte ich die Hecke weniger dicht gefunden; ich konnte mir durch Auseinanderbiegen der Zweige eine Oeffnung verschaffen, durch die ich einen freien Blick bis zum Hause erhielt. Zu dieser Stelle kehrte ich zurück. Ich durfte hoffen, die Frau Walter dort zu sehen, ich glaubte vorher noch Anderem begegnen zu müssen, was mir von Interesse sein werde. Ist man einmal gespannt, so rechnet man immer auf irgend ein Ereigniß.

Ich hatte nicht vergeblich eines erwartet.

Unmittelbar jenseit der Hecke, an der ich stand, war ein mit Obstbäumen bepflanzter Rasenplatz. Aus einem Seitenpfade des Gartens sah ich ein allerliebstes, reizendes Kind, ein Mädchen von neun bis zehn Jahren, den Rasen beschreiten. Es trug in der einen Hand eine Puppe, in der anderen ein Buch. Die Puppe herzte und küßte es; an dem Buche war ihm wohl nicht viel gelegen; es schien nur darauf zu achten, daß es ihm nicht entfalle. So ging es auf dem Rasen auf und ab, leicht, graziös in allen seinen Bewegungen, die kindlichste und mütterlichste Zärtlichkeit gegen die Puppe und dabei dennoch immer um sich her horchend und spähend.

Es kam mir einmal der Gedanke, die Kleine denke sich auf einem Theater, spiele eine Rolle und habe sich in ihr eigenes kindliches Schauspielertalent so verliebt, daß sie die Bäume, den Rasen und die Hecke fragen müsse, wie sie ihnen gefalle. Kindlich wäre das freilich nicht gewesen, und ich wollte sie schon darum weniger reizend finden. Ich that ihr doch wohl Unrecht.

Da rief vom Hause eine Stimme:

»Hortense, wo bist Du?«

Es war eine Frauenstimme, die das rief, und sie rief in französischer Sprache.

»Unter den Bäumen, Mama« antwortete das Kind in derselben Sprache.

»Was machst Du da, Hortense?«

»Ich lerne, liebe Mama!«

Und sie nahm die Puppe mit großer Gleichgültigkeit in den Arm und öffnete das Buch und richtete die Augen hinein, als wenn sie mit dem größten Eifer lerne.

Es wollte mir wehe thun, daß das junge Wesen schon eine so gewandte Heuchlerin sei.

Wer konnte ihre Mutter sein?

Sie kam näher, die Mutter.

Ich sah auch sie!

Madame Bernard war die Mutter, die Französin von Schloß Hohenburg, die Kammerfrau des Fräulein Haller!

Es war mir doch im ersten Augenblick eine Befriedigung, daß nicht Helene Haller die Mutter war.

Dann aber – was war jener kranke, häßliche Mann dem Kinde und was war er der Mutter des Kindes? Und, wenn er der Vater des schönen bewußt oder unbewußt schon koketten Mädchens war, konnte er der Baron Emmerich sein?

Die Französin war in der Toilette einer vornehmen Dame; sie hatte ganz die Manieren einer vornehmen Dame.

Sie war noch schön; die zwanzig Jahre, in denen ich sie nicht gesehen hatte, hatten ihr jenes Embonpoint verliehen, das bei schönen Frauen noch im Herbst ihres Lebens den Schmelz der Jugend vergessen machen kann.

Sie entfernte sich bald mit dem Kinde. Sie kehrte mit ihm zu dem Hause zurück.

Mir brannte der Boden unter den Füßen vor Verlangen nach Aufklärung. Meine Sehnsucht sollte bald befriedigt werden, freilich in welch' geringem Maße!

Die Frau Walter erschien auf dem Rasenplatze.

Ich machte ihr ein Zeichen; sie nahte sich mir; wir unterhielten uns durch die Hecke.

Sie war so heftig erschrocken, als sie mich zuerst gesehen hatte; sie war es für den Kranken, den sie bewachte, oder zu bewachen schien. Spuren von Besorgniß zeigten sich noch in ihrem Gesichte, und sie mußte ihrer Sorge sofort Ausdruck geben.

»Dürfen Sie mir aufrichtig eine Frage beantworten?« sprach sie.

»Ich hoffe, jede,« war meine Erwiderung.

»Hat ein bloßer Zufall Sie hierher geführt, oder verfolgen Sie –?«

Sie stockte.

»Jemanden?« sagte sie dann.

Ich konnte sie beruhigen.

»Nur der Zufall brachte mich hierher. Ich bin in keinem Amte mehr; ich habe keine amtlichen Verpflichtungen weiter.«

Sie war von ihrer Sorge befreit, und ich sah, daß diese Sorge eine schwere gewesen war.

»So werden Sie die Ruhe, die wir hier gefunden haben, nicht stören?«

»Ich nicht! Aber« – mußte ich doch fragen –»haben Sie hier wirklich Ruhe gefunden?«

Sie hatte keine Antwort auf die Frage.

Ich hatte eine andere Frage an sie:

»Wer war der Kranke drüben am Hause?«

Sie mußte doch mit der Antwort zögern

»Der Baron Emmerich von Willingen,« sagte sie dann.

»Und was ist ihm die Kammerfrau des Fräulein Haller, die Französin Madame Bernard!«

»Sie sahen sie?« rief sie, und sie konnte bei dem Ausrufe eine plötzliche Bestürzung, eine neue, innere Angst nicht verbergen.

»Ich sah sie mit dem Kinde.«

»Die Dame ist die Gemahlin des Herrn Barons.«

»Und ihre Tochter seine Tochter?«

»Ja!« war die kurze Antwort.

Wir standen Beide einen Augenblick stumm. Sie erwartete wohl neue Fragen von meiner Seite: Ich mußte für mich nachdenken, eine lange vergangene Zeit in mein Gedächtniß zurückrufen, ihre Ereignisse mit dem, was ich in den letzten Augenblicken gesehen, gehört hatte, in Verbindung bringen, um diese letzten Augenblicke begreifen zu können. Ich stand dennoch vor Räthseln.

»Frau Walter«, sagte ich, »dürfen auch Sie aufrichtig sein?«

Sie erschrak.

»Fragen Sie mich lieber nicht.«

»Doch, doch! Wer war der Mörder auf Schloß Hohenburg?«

»Ich weiß es nicht«

Sie sprach das wieder zögernd. Sie hatte ihr Gesicht zur Seite gewandt, ein Zweig der Hecke zwischen uns verbarg mir ihre Augen.

»Lassen Sie mich in Ihr Auge sehen, Frau Walter.«

Sie wandte mir die Augen zu.

»Bei Gott, ich weiß es nicht«, sagte sie, und ich las in ihrem ehrlichen Blicke die Wahrheit ihrer Worte.

»Die Wahrheit über den Mord kam mithin nicht an den Tag!« bemerkte ich.

»Nie!« sagte sie.

»Was wurde aus dem Fräulein Haller?«

»Sie blieb die Unglückliche, die sie immer war.«

»Sie war eine Schuldige?«

»Möchte ich sie von Schuld freisprechen können!«

»Auch sie selbst konnte es also nicht?« fragte ich.

»Sie nie!« rief sie entschieden, fast heftig.

»Aber der Baron konnte hier Ruhe finden?«

Sie schüttelte diesmal den Kopf auf die Frage.

»Wo ist Fräulein Haller?« fragte ich.

»Ich weiß es nicht«

»Wann hatten Sie die letzte Nachricht von ihr?«

»Es sind viele Jahre seitdem vergangen.«

»Wo lebte sie damals, unter welchen Verhältnissen?«

Sie sann nach; sie hatte einen Entschluß gefaßt.

»Ich werde Ihnen Alles mittheilen. Mir fehlt nur jetzt die Zeit dazu. Können Sie morgen früh um sieben Uhr wieder hier sein? Bis um acht Uhr schläft die Herrschaft.«

»Heute Abend hätten Sie keine Zeit?«

»Nein, nein!« wehrte sie mit einer gewissen Angst ab.

Nicht ohne Sorge sah ich sie zugleich nach dem Hause, in den Garten zurückblicken.

»Bis morgen dann!« sagte ich.

Sie kehrte rasch zu dem Hause zurück.

Ich blieb voll unbefriedigter Neugier an der Gartenhecke stehen. Von den Räthseln der Vergangenheit war mir keines gelöst; was ich von der Gegenwart erfuhr, hatte neue Räthsel zu den alten zugefügt, und mußten nicht die letzten Worte der alten Frau die Vermuthung in mir erwecken, daß dem freundlichen einsamen Landhause noch der heutige Abend irgend ein seltsames Ereigniß bringen werde?

Hierüber mußte ich unmittelbare Auskunft erhalten, es war keine Indiscretion, wenn ich in der Nähe des Hauses und Gartens blieb.

Der Abend begann zu dunkeln. Die Sonne war aus dem Thal verschwunden.

Ich ging an der Hecke des Gartens auf und ab. Ich behielt so den Garten im Auge und konnte zugleich wahrnehmen, was sich auf der Landstraße begab, die vor dem Hause vorbei führte.

In dem Hause wurde es hell. Es war ein zweistöckiges Gebäude, in beiden Etagen sah ich Fenster erleuchtet. Draußen war es dunkler geworden. Nach dem Verschwinden der Sonne legte sich schnell die Finsterniß über das Thal. Mit der Finsterniß stellte sich bald überall die Stille des Abends ein. Nur aus der Ferne tönte der Gesang der Mädchen und Burschen herüber, die zwischen den Häusergruppen des Dorfes umherzogen. In der Nähe vernahm ich keinen Laut, weder auf der Landstraße, noch in dem Hause, noch in dem Garten; wie die Französin, die Baronin Willingen, mit dem Kinde in das Haus gegangen war, so mußte schon vorher der Baron seinen Platz vor dem Hause verlassen und gegen die kühle Abendluft in seine Zimmer sich zurückgezogen haben; vielleicht schon, als die Frau Walter zu mir kam, ich hatte sie nicht danach gefragt; ich hatte ja gar nicht mit ihr über ihre Stellung in dem Landhause gesprochen.

Die Stille wurde unterbrochen durch eins leises Geräusch in der Nähe des Hauses. Ich war an der Gartenhecke, als ich es vernahm. Ich konnte es nicht unterscheiden, ich mußte mich auf irgend etwas Besonderes vorbereiten, da konnte das Geringste von Bedeutung werden. Ich ging leise an der Hecke entlang dem Hause zu. Das Geräusch wiederholte sich, traf deutlicher mein Ohr. Ein Pförtchen, das neben dem Hause in den Garten führte, wurde leise geöffnet.

War schon vorhin der Versuch dazu gemacht? Oder hatte sich Jemand angemeldet, der jetzt eingelassen wurde? Und das Letztere mußte der Fall gewesen sein. Ich hörte zwei Stimmen, die mit einander zischelten, nur wenige Worte, dann verloren sie sich tiefer in den Garten hinein. Nach einer Weile hörte ich sie wieder, sie waren der Hecke näher gekommen, an der ich stand. Ich unterschied jetzt eine Mannes- und eine Frauenstimme. Ich erkannte denn bald eine der Stimmen, die der Frau, und ich wollte meinem Ohr nicht trauen, es war die Frau Walter, die ich sprechen hörte. Ich konnte mich nicht täuschen, wenn ich auch kein Wort verstand, aus dem Ton der Stimme nicht einmal einen Schluß auf den Inhalt oder die Art der Unterredung der Beiden zu ziehen vermochte.

Die Stimme des Mannes war und blieb mir unbekannt. Das Gespräch dauerte lange, entfernte sich von mir, nahte sich wieder, verlor sich zuletzt ganz nach dem Hause hin, dann schien es mir, als wenn wieder ganz leise ein Pförtchen geöffnet werde. Dann hörte ich nichts mehr. Lange Zeit, vielleicht eine halbe Stunde lang, wurde die Stille nicht weiter unterbrochen, die beiden Redenden mußten sich getrennt haben, die Frau Walter mußte in das Haus, der Mann in den Weg zurückgekehrt sein, der ihn zu dem Hause geführt hatte.

Auch ich schlug meinen Rückweg ein. Ich ging langsam durch Stille und Dunkel in der Landstraße. Es war später Abend geworden. Die Menschen mußten überall im Thale sich schon zur Ruhe begeben haben. Auf der Straße begegnete mir Niemand, in den Häusern an der Straße sah man kein Licht mehr, hinten in dem Dorfe, dem ich zuschritt, war der Gesang der Burschen und Mädchen längst verstummt.

Auf einmal höre ich einen Schritt hinter mir. Ich sehe mich um, ich erblicke hinter mir eine Gestalt, ob es aber ein Mann oder eine Frau ist, kann ich nicht unterscheiden. Ich bleibe stehen. Die Gestalt kommt näher, es ist ein Mann. Ich gehe weiter, ruhig und langsam, wie bisher. Der Mann ist rascher als ich, ob um mich einzuholen, oder ob er auch vorher ohne Absicht so ging, ich konnte es nicht wissen, es konnte mir gleichgültig sein.

Er hat mich erreicht, er ist an meiner Seite.

»Guten Abend!« sagt er.

Er bleibt an meiner Seite, hält gleichen Schritt mit mir. Ich sehe einen ältlichen Mann, hager, das Gesicht eingefallen, auch bleich, wie ich trotz der Dunkelheit zu sehen glaube, ein paar leuchtende, fast glühende Augen hefteten sich auf mich, so sonderbar wie es mir schien: ich muß das Gesicht näher betrachten, aus dem heraus sie mich fixiren. Es ist häßlich, ein Gesicht, dem man in Finsterniß und Einsamkeit nicht begegnen mag, und war ich nicht auf dunkler und einsamer Landstraße mit ihm?

Und wie ich mir nochmals den Mann ansah, hatte ich dieses häßliche, blasse, verlebte Verbrechergesicht nicht schon einmal gesehen, vor langer Zeit, gleichfalls vor zwanzig Jahren, gleichfalls auf der Hohenburg, damals im Gespräch mit dem Fräulein Haller, in der Felsenspalte am Wasser?

Und jetzt war er im Gespräche mit der Frau Walter in dem Landhause gewesen? Aus alter und neuer Zeit ging es mir wirr durch den Kopf. Wie kam dieser Herr van Roelof in das Landhaus des Barons Willingen, und hier zu der heimlichen Unterredung mit der Frau Walter? Und warum folgte er mir und schloß meiner Nachtwanderung auf der menschenleeren Landstraße sich an?

Er hatte unzweifelhaft auch mich erkannt, mit der Frau Walter vielleicht über mich gesprochen! Er war früher ein Verbrecher gewesen, der mit jenem Morde in Verbindung gebracht wurde, darum in Verbindung gebracht wurde, weil seine Vergangenheit ihn der schwersten Verbrechen fähig erscheinen ließ. Einen Augenblick wollte es mich heiß überlaufen, dann war ich nur erwartungsvoll.

Ich ging nach der gegenseitigen Begrüßung schweigend weiter. Einige Augenblicke schritt auch er stumm neben mir. Dann begann er plötzlich zu sprechen.

»Hm, mein Herr, ich habe wohl die Ehre, von Ihnen wiedererkannt zu sein?«

Was wollte er mit der Frage einleiten?

Ich antwortete ihm mit einer Gegenfrage:

»Wo hätten Sie mich gesehen, mein Herr!«

»Ich sprach davon, daß Sie mich gesehen hätten,« erwiderte er.

»Ja, mein Herr,« sagte ich, »ich sah Sie und erkannte Sie wieder.«

»Ah,« rief er in seinem sonderbaren Tone, »so wird es mir leicht werden, in Ihrem Gedächtnisse Thatsachen aufzufrischen, über die ich mich mit Ihnen unterhalten möchte.«

Er mit mir? Ich hätte es ihn beinahe gefragt. Ich schwieg; er sollte ganz von selbst an mich herankommen. Daß er Etwas vorhatte, war mir gewiß; ich konnte nur nicht klar darüber werden, was es sei.

Er fuhr fort, wieder mit einer Frage.

»Wie haben Sie nur den Mord von der Hohenburg in diesem verborgenen Asyl des Schwarzwaldes wiederzufinden vermocht?«

»Ich verstehe Ihre Frage nicht,« antwortete ich.

»Die Mörder denn!« sagte er.

Ich konnte noch immer nicht klar darüber werden, was er wollte.

»Wissen Sie Etwas von den Mördern?« fragte ich.

Er lachte.

»Ach, Sie inquiriren also doch noch, nach zwanzig Jahren noch!«

»Nein, mein Herr,« sagte ich kurz.

»Pah, doch wohl! Sie suchen den Mörder! Auch in mir, mein Herr?«

»Mein Herr,« antwortete ich ihm entschieden, »brechen wir ein Gespräch ab, zu dessen Fortsetzung mir wenigstens die Lust fehlt.«

Er lachte nochmals.

»Hm, mein Herr, ich lese Zeitungen, ich weiß, daß Sie, kein Amt mehr bekleiden, keine Criminaluntersuchung mehr zu führen, aber wohl eine zu fürchten haben. Wir können also ungezwungen über jene Vorfälle auf Schloß Hohenburg plaudern, und ich denke, es wird Ihnen nicht unangenehm sein, wenn ich Ihnen Etwas darüber ausplaudere.«

»Unser Gespräch ist mir überhaupt nicht angenehm weiter,« erwiderte ich dem unangenehmen Menschen.

»Sie brauchen ja nur zuzuhören,« lachte er.

Entkommen konnte, oder wollte ich ihm nicht. Ich schwieg. Er sprach weiter:

»Es herrschten sonderbare Umstände auf Schloß Hohenburg. Allerlei Menschen waren da zusammengeworfen, aus alten Verhältnissen in neue, mit alten und mit neuen Beziehungen und Interessen. Um den sauberen Baron Emmerich gruppirte sich Alles, und seinetwegen wieder um seine Mutter. Bei ihm galt es seinem Reichthum und seinem Range; bei der armen Baronin zuletzt ihrem Leben. Ein Herz war wohl auch da, ein einziges; aber –«

Er brach ab. Dann fuhr er plötzlich wieder fort.

»Sie sahen vorhin in dem Landhause da unten die schöne Baronin. Erkannten Sie Madame Bernard wieder? Von der Zofe der Geliebten des Barons zur Gemahlin, der rechtmäßigen Gemahlin des vornehmen und reichen Freiherrn avancirt! – Aber reich? Nun, er ist noch immer kein armer Teufel, und die französische Abenteurerin hat noch immer eine gute Partie gemacht, und wenn ich bedenke, was sie früher war! – Indeß, kehren wir nach der Hohenburg zurück. Wen halten Sie für den Mörder? Bitte!«

Ich antwortete ihm nicht, trotz der Bitte. Der Mensch war mir widerwärtig, und doch war er auf dem Wege, mir Enthüllungen zu machen, auf die ich so lange Jahre gespannt gewesen war. Aber wollte er mir nicht vielmehr die Wahrheit verdunkeln, mich irre führen? Zu welchem Zweck freilich?

»Sie wollen mir nicht antworten?« sagte er. »Gut! Sie werden sich selbst Antwort geben müssen. Wen hielten Sie früher für die Mörderin oder für den Mörder, oder auch für die Mörder? Wen halten Sie jetzt dafür? Jetzt nach Ihren heutigen Entdeckungen in jenem Landhause? Aber ich muß diesen Entdeckungen Einiges hinzufügen. Sie sahen mich mit dem Fräulein Haller an dem Wasserfelsen bei Schloß Hohenburg. Die edle Dame war damals in einer etwas peinlichen Situation. Ich hatte sie mit allem ihrem Edelmuthe in meiner Hand, auch aus früherer Zeit, wie aus neuerer Zeit, für die nächsten Stunden. Ich spreche Ihnen in Räthseln mein Herr! Sie hören mir mit Aufmerksamkeit zu! Wie werden Sie erst ganz Ohr werden, wenn ich Ihnen die nackte, klare, offene Wahrheit mittheile!«

Wollte er mich zum Besten haben, mich bloß neugierig machen? Gespannt war ich gleichwohl.

»Doch nein!« fuhr er fort. »Nicht Thatsachen werde ich Ihnen mittheilen. Man darf seine Freunde nicht compromittiren, auch nicht alte, ehemalige. Vernehmen Sie Eventualitäten von mir; Sie construiren sich dann selbst die positiven Thatsachen daraus. Nehmen Sie zum Beispiel an, die Baronin habe sich selbst vergiftet.«

Er schien zu glauben, er habe mir eine wichtige und mich überraschende Mittheilung gemacht; er sah mich darauf an, welchen Eindruck sie bei mir hervorgebracht habe. Ich hatte gleichgültig bleiben können. Der Gedanke an Selbstmord war ja schon für mein Verfahren vor zwanzig Jahren angeregt, hatte aber als völlig unzulässig aufgegeben werden müssen.

»Sie glauben nicht an einen Selbstmord?« fuhr er fort. »Sie hatten früher Recht darin. Würden Sie aber jetzt wieder inquiriren wollen oder können, Ihr Glaube, vielleicht Ihre Meinung würde anders ausfallen.«

Schwerlich! mochte er in meinem Gesichte lesen.

Wir gingen dicht neben einander, der Himmel war sternenklar.

»Früher,« sprach er weiter, »nahm die Frau Walter Ihnen den Glauben. Die gute alte Frau war damals in einer eigenthümlichen Verfassung. Sie war einerseits ihrer Herrin, der Baronin, schwärmerisch ergeben, wenn man von einer schwärmerischen Ergebenheit sprechen darf. Sie war andererseits fast blindlings eingenommen für das Fräulein Haller. Dadurch war sie in einen mehr als bedenklichen Zwiespalt mit sich selbst gerathen. Auf das Fräulein sollte keine Schuld fallen, auf die Baronin nicht. Da bestritt sie den Selbstmord, und selbst oder folglich den früheren Selbstmordversuch der alten Dame, brachte wegen des Mordes mich bei Ihnen in Verdacht, wußte wegen des Versuches den Gärtnerburschen, den dummen Peter, leicht zu einer Fabel zu bereden, die mich wiederum als den Schuldigen hinstellen mußte. Würden Sie den Peter jetzt fragen können, Sie würden die Wahrheit von ihm erfahren. Aber die Frau Walter ist ja hier, reden Sie mit ihr, sie wird Ihnen jetzt die Wahrheit sagen; ihre damalige Unwahrheit lastet ohnehin seit Jahren schwer auf ihr.«

Ich konnte diesen Herrn van Roelof nur für einen grundschlechten Menschen, für einen hartgesottenen Verbrecher halten. Er hatte aber im Laufe seiner Mittheilung unwillkürlich ein Wesen angenommen, das ebenso unwillkürlich mich zwang, ihm, wenn auch unter großem Mißtrauen, entgegen zu kommen.

»Haben Sie das,« fragte ich ihn, »was Sie mir da mittheilen, von der Frau Walter selbst?«

»Ja!« war seine bestimmte Antwort.

Wir gingen dann wieder, Beide schweigend, weiter. Ich mußte seine Eröffnungen in mir verarbeiten; er wollte mich dem wohl überlassen. Nach einer Weile hob er wieder an

»Indessen, mein Herr, wenn Sie an einen Selbstmord der alten gottesfürchtigen, frommen und edlen Dame durchaus nicht zu glauben vermögen, so gehen wir zu anderen Eventualitäten über.«

Sein Wesen war frivol geworden.

»Sie sprachen also nur von einer Eventualität,« sagte ich.

»Ich denke, ich hatte Ihnen das von vornherein angekündigt.«

»Fahren Sie fort.«

»Wohlan! Sie erfuhren bei Ihrem Inquiriren auf der Hohenburg nicht, daß am Tage der Vergiftung der Baronin der Baron Emmerich mit dem Fräulein Haller einen heftigen Streit oder Zank gehabt hatte, und zwar um Madame Bernard, der Französin, willen!«

»Ist das,« mußte ich ihn fragen, »gleichfalls eine Eventualität, die Sie setzen?«

»Nein, mein Herr, das ist eine Thatsache, die man Ihnen zu verschweigen wußte.«

»Und von wem erfuhren Sie diese Thatsache?«

»Frau Walter wird Ihnen auch das sagen.«

Sie müssen sich das besondere und ein absonderliches Vertrauen der Frau Walter erworben haben! wollte ich ihm bemerken. Ich unterdrückte die Bemerkung.

»Was wollen Sie aus diesem Streite oder Zanke herleiten?« fragte ich ihn.

»Ich wünsche die Schlüsse zu erfahren, die ein gewiegter Inquirent daraus zu ziehen vermöchte.«

»Welche Veranlassung und welchen Gegenstand hatte der Streit?« fragte ich ihn trotz seiner Ironie.

»Veranlassung?« erwiderte er. »Die beiden Damen standen einander im Wege.«

»Das wäre ein Motiv gewesen, keine unmittelbare Veranlassung«

»Die unmittelbare Veranlassung also! Nehmen wir an, die eine der beiden Damen hätte die andere in einem tête-à-tête mit dem Baron betroffen.«

»Das wäre nur also eine von Ihnen aufgestellte Eventualität?«

»Nehmen wir es einstweilen an.«

»Und welche Dame wäre die Betreffende und welche die Betroffene gewesen?«

»Lassen wir das einstweilen gleichgültig sein.«

»Und der Gegenstand, der Inhalt des Streites zwischen dem Baron und dem Fräulein?«

»Eifersucht, mein Herr. Sie werden sich das selbst sagen.«

»Fräulein Haller wäre eifersüchtig auf ihre Zofe, auf eine Madame Bernard gewesen!«

»Halten Sie das für unmöglich, mein Herr? Fräulein Haller war unzweifelhaft eine sehr edle und hoch vortreffliche Dame, und Madame Bernard war die tugendhafteste aller hübschen französischen Kammerfrauen; aber auch Tugend und Edelmuth können eifersüchtig werden, auch auf einander, gegenseitig.«

»Und welche von den beiden vortrefflichen Eigenschaften wäre zu der Ermordung der Baronin geschritten?«

»Beim Morde sind wir noch nicht angelangt, mein Herr!«

»Gehen Sie zu ihm über!«

Die Ironie meines Gefährten hatte mich unwillkürlich angesteckt.

»Wohlan,« sagte er. »Nach dem gestörten Rendezvous hatte der Baron sich entfernt, brüsk gegen beide Damen. Die beiden Damen hatten sich getrennt, trotz Edelmuth und Tugend, etwa wie zwei Hyänen, die über eine Beute sich gegenseitig zerfleischen möchten. Sie sahen sich wohl nicht wieder.«

»Und was geschah weiter?«

»Die Baronin wurde darauf vergiftet, und wir wären beim Morde angelangt, mein Herr!«

»Und von wem wurde die Baronin vergiftet?«

»Man rief mich nicht dazu, mein Herr!«

»Sie erklärten den Mord für eine Folge jenes Streites!«

»Parbleu, mein Herr, Sie inquiriren schon wieder. Sie suchen am Ende den Mörder in mir! Ich sagte es schon.«

»Wäre ich damit weit von der richtigen Spur entfernt?«

Die Frage war mir nicht entschlüpft, ich stellte sie ihm rasch, aber mit vollem Vorbedacht.

»Es wäre möglich«, lachte er. »Indeß, wir sind hier ohne Zeugen und Sie sind kein Criminalrichter mehr.«

»Sie sprachen von mehreren Eventualitäten,« erinnerte ich ihn doch noch.

»In der That. Aber bleiben wir zunächst bei der ersten, bei dem Streite der beiden Damen. Welche von ihnen würde Ihr inquisitorischer Scharfsinn für die Mörderin halten?«

»Ihre Mittheilungen,« erwiderte ich ihm, »waren zu allgemein und vage, um irgend ein bestimmtes Urtheil begründen zu können.«

»Gehen wir auf Specielleres ein« sagte er. »Die Französin sollte auf der Stelle fortgeschickt werden. Sie werden der Meinung sein, auf Verlangen des Fräuleins?«

»Dem war nicht so?«

»Das Gegentheil war der Fall. Das Fräulein wollte fort, auch auf der Stelle, da blieb dem armen Baron Emmerich zwischen dem Feuer, oder vielmehr zwischen den Zähnen der beiden Hyänen nichts übrig, als dem Fräulein Anerbietungen zu machen; es waren annehmbare Compensationen, das Fräulein nahm sie an. Am andern Morgen war die Baronin todt, und der Verbindung des Fräuleins Haller mit dem Baron Willingen stand nichts mehr im Wege, der legitimen Verbindung, wie man zu sagen pflegt.«

»Es läge also,« mußte ich fragen, »danach ein Muttermord vor?«

»Ich war nicht dabei, mein Herr, ich hatte schon einmal die Ehre, es Ihnen zu sagen. Es war wohl Niemand dabei; den Baron Emmerich sah man den Abend nicht mehr, am andern Morgen war er ganz verschwunden. Das Einzige, was ich aus eigenem Wissen bezeugen kann, ist, daß der theure Baron schon seit Jahren mit Gift versehen gewesen war und damit umzugehen verstand. Wir waren Freunde, mein Herr, seit vielen Jahren, in fernen Ländern. Ich hatte ihn von manchen leichtsinnigen Streichen zurückgehalten.«

»Und warum nicht von diesem Verbrechen, mein Herr?«

»Mein Herr, ich beehre mich noch einmal, Ihnen zu bemerken, daß ich kein Zeuge eines Verbrechens war.«

Aber ein Gehülfe! schwebte es mir auf der Zunge, indem ich an die heimliche Anwesenheit dieses Menschen zur Zeit des Verbrechens auf Schloß Hohenburg denken mußte. Ich unterdrückte die Worte für eine Frage.

»Hätten Sie die Güte, mir auch zu sagen, was Sie mit dem Fräulein auf dem Felsen am Flusse verhandelten?«

»Nehmen Sie an, ich hätte sie von dem Verbrechen abgemahnt.«

»Sie mußte Ihnen also Eröffnungen über das Verbrechen gemacht haben!«

»Mein Freund, der Baron Emmerich, könnte sie mir gemacht haben.«

»Zu welchem Zwecke?«

»Nehmen Sie an, um eben das Fräulein zu ermahnen, um sie zu bitten, daß sie von ihrem Verbrechen abstehe.«

»Mein Herr –«

» Plait-il?«

Ich hatte plötzlich abgebrochen. Er hatte offenbar die Absicht, mich irre zu führen. Ich hatte ihm das vorhalten wollen; ich sah zeitig genug ein, daß ich ihm dadurch einen Triumph bereiten würde. Ich schwieg auch auf seine Frage.

Einige Augenblicke gingen wir schweigend neben einander, dann begann er wieder zu sprechen, und er entwickelte seine volle Frivolität. Ich konnte ihm nicht wehren; ich hatte auch bald keine Lust dazu.

»Sie sind ein alter Inquirent, mein Herr,« hob er an. »Inquirenten pflegen ihr Verfahren damit zu beginnen, daß sie das Vorleben der Inquisiten erforschen, die vitae ante acta feststellen, wie es ja wohl in der Geschäftssprache heißt. Ihr Blick fragt mich, woher ich das weiß. Inquirent war ich nie; Sie werden mir das glauben. Ob aber Inquisit? Nehmen Sie es meinethalben an, auch das. Was haben Sie nun seinerzeit über das Vorleben Ihrer damaligen drei Inquisiten ermittelt? Denn die tugendhafte Madame Bernard verhörten Sie ja wohl hierzu. Sie würden es heute unzweifelhaft, wenn Sie noch Inquirent wären, und in diesem Falle wäre ich unzweifelhaft der Vierte. Und in der That, ich kann Ihnen mit dem Vorleben von uns allen Vier dienen. Haben Sie also die Güte, mir zuzuhören.«

Mein Blick hatte gar nicht nach ihm hingesehen. Ich hörte ihm dennoch mit Aufmerksamkeit zu.

»Wir Vier waren weit in der Welt umhergestreut; das konnte man Ihnen auf der Hohenburg sagen. Wir fanden uns zusammen; wir kamen auseinander; wir kamen wieder zusammen, denn wir gehörten zusammen. Wir waren Abenteurer, alle Vier, der Eine aus reinem Vergnügen, der Andere aus bitterer Noth, der Dritte und Vierte durch Launen des Schicksals; die Veranlassungen wechselten auch zuweilen, wie das im Leben so geht.

In welcher Weise wir Abenteuer suchten und fanden – es wechselte gleichfalls, nach Lust, nach Noth, nach Zufall, je nachdem wir zusammen oder getrennt waren. Wir waren oft getrennt, auf kürzere oder längere Zeit, durch weite Fernen, durch feste Mauern, das Leben bringt Vielerlei mit sich. Wie der theure Baron und ich uns fanden – es kommt nicht darauf an; Sie werden kaum begierig sein, es zu erfahren. Aber wie der Baron und das edle Fräulein Haller sich fanden, sich liebten? Oder aber wie der Baron die tugendhafte Madame Bernard fand und auch liebte? Sie auch ihn? Die Dame liebt nur sich und vielleicht jetzt auch ihr Kind. Von welcher der beiden Damen also zuerst? Die Französin hatte der theure Freund Emmerich zuerst gefunden. Sprechen wir demnach zunächst von dem Fräulein.

Er war einmal in großer Noth, der Herr Baron Willingen, in doppelter Noth; er hatte kein Geld mehr und wurde verfolgt, weil er falsch gespielt hatte. Er konnte nicht flüchten; er wurde, nach dem Gesetze des Landes, in dem er war, gehängt, wenn er ergriffen wurde. Er kannte nur ein Asyl. Er hatte in besseren Tagen in dem Hause einer angesehenen aristokratischen Familie Eingang zu erhalten gewußt. In dem Hause hatte er das Fräulein kennen gelernt. Sie war Erzieherin dort. Er war ein schöner Mann, deutscher Baron, galt für reich, in der Familie als Tugendheld. Die arme Erzieherin war dankbar für seine Aufmerksamkeit. Die Dankbarkeit, mein Herr, ist eine breite Straße zu der Liebe. Eine fast so breite Straße ist das Bewußtsein, geliebt zu werden, für die Gegenliebe. Der Baron Emmerich und Fräulein Helene Haller wurden ein Liebespaar; sie mit ihrem vollen, offenen, reinen Herzen; er mit mancher Reserve eines Herzens, das nicht rein, desto mehr voll Nichtswürdigkeit war und mithin nicht offen sein durfte.

In seiner doppelten Noth suchte er Zuflucht, geheime Zuflucht bei dem Fräulein. Die Edle gewährte sie ihm, auf die Gefahr hin, ihren Ruf, ihre Stellung, ihre Ehre zu verlieren. Sie verbarg ihn, bis Freunde und Genossen ihn wieder mit Geld versehen konnten und dann auch von seiner Verfolgung nicht weiter die Rede war. Geld vermag Alles, mein Herr, namentlich in Rom, auch bei der Polizei, auch bei der Justiz.

Zu den Freunden und Gönnern des Barons gehörte auch ich. Der Vortreffliche war mir später in eigenthümlicher Weise dankbar. Ah, er hat jetzt seinen Lohn dafür!

Aber ich fahre fort.

Gebessert war Emmerich Willingen weder durch die doppelte Noth, in der er sich befunden hatte, noch durch die Großmuth seiner Freunde, noch auch durch die Liebe des Fräulein Haller. Die Liebe soll bessern, veredeln, sagt man. Pah! Es gibt Menschen, die nichts mehr bessern kann. Der Herr Baron Emmerich begann sein altes Leben von Neuem, spielte wieder falsch, hatte seine Gelage mit frechen Gesellen und verworfenen Weibern, kam wieder in Conflict mit Polizei und Justiz, wurde noch einmal von dem Fräulein verborgen und gerettet, mußte nun den Schauplatz seiner damaligen Heldenthaten verlassen, hatte dabei einen kleinen Mord verübt und ging mit zwei jungen Damen auf einmal durch. Mit ihnen kam er in dem Schlosse seiner Väter an, bei seiner Mutter, die dann nach einiger Zeit vergiftet wurde.

Das ist das Vorleben des Barons Emmerich, des Fräuleins Haller, der Madame Bernard, von der Sie wohl werden errathen haben, daß sie die zweite der beiden Damen war, mit denen er durchging; es ist zum Theil auch mein eigenes Vorleben, was Ihnen klar werden wird, wenn ich noch die Ehre gehabt haben werde, Ihnen zu sagen, daß Madame Bernard meine Geliebte gewesen war, die er mir gestohlen hatte und die er dann sammt dem edlen Fräulein entführte, oder um mich richtig auszudrücken, die ihn sammt dem Fräulein entführte.

Doch das ist eine ganz absonderliche Geschichte, und von ihr ein ander Mal.

Gute Nacht, mein Herr!«

Wir standen vor der Thür des Gasthofes, in dem ich logirte. Auch er hatte dort sein Quartier.

»Ah, wir wohnen zusammen,« sagte er noch. »Ich werde morgen das Vergnügen haben, Sie wieder zu sehen.«

Damit ging er in das Haus. Ich folgte ihm.

Der Kopf war mir wirr; der Mensch hatte ihn mir verwirren wollen. Aufklärung konnte ich nur von der Frau Walter erhalten. Aber hatte sie den guten Willen, oder in ihrer Stellung zu dem Baron und dessen Gattin den Muth, mir die Wahrheit zu sagen?

 

Ich war schon vor sieben Uhr am andern Morgen an der Gartenhecke des Landhauses, um den Herrn van Roelof hatte ich mich nicht weiter gekümmert.

Ueber drei Punkte besonders sollte die alte Kammerfrau mir Auskunft geben: über den Streit des Fräuleins Haller mit der Französin; über einen Selbstmord der Baronin, den sie früher so entschieden zurückgewiesen hatte, und den sie, nach der Behauptung des Herrn van Roelof, jetzt bestätigen werde; darüber, daß sie früher auf das Entschiedenste für die Unschuld des Fräulein Haller eingetreten war, jetzt aber, nach der Versicherung des Herrn van Roelof, gleichfalls anderer Ansicht geworden sei.

Freilich was waren dieses zweideutigen Menschen Behauptungen und Versicherungen, die er selbst nur Eventualitäten nannte?

Aber hatte die Kammerfrau in Beziehung auf das Fräulein Haller nicht schon in auffallender Weise Manches zurückgehalten und dann am gestrigen Abend Aeußerungen gegen mich fallen lassen, die nur als Zeugnisse der Schuld der Dame aufzufassen waren?

Die Frau erschien, als ich kaum auf meinem Platze war. Sie mußte auf meine Ankunft gewartet, mich gesehen haben; sie war in den Garten gefolgt. Unsere Unterredung wurde wieder durch die Hecke geführt.

Ich solle Alles von ihr erfahren, hatte sie am gestrigen Abende mir versprochen. Ich ließ sie das Gespräch beginnen. Sie begann es anders als ich erwartet hatte.

»Der Herr van Roelof sprach mit Ihnen?« fragte sie.

»Er holte mich auf dem Rückwege zu meinem Gasthof ein.«

»Er unterhielt sich mit Ihnen über die Ereignisse auf der Hohenburg?«

»Ja!«

»Auch über die Zustände in diesem Landhause?«

»Nein.«

»Der Herr van Roelof ist ein schlechter, ein sehr schlechter Mensch!«

Ich mußte der alten Frau doch eine Bemerkung machen.

»Nach seinen Mittheilungen an mich, Frau Walter, scheint er Ihr Vertrauen zu besitzen!«

Sie wurde nicht verlegen; aber ein Zug des Kummers, fast der Angst flog durch ihr Gesicht.

»Er weiß viel, zu viel,« erwiderte sie. »Er hatte Alle auf Schloß Hohenburg in seiner Gewalt; auch hier müssen Alle vor ihm zittern.«

»Auch Sie, Frau Walter?«

»Auch ich!«

»Frau Walter, wer war der Mörder auf Schloß Hohenburg?«

»Sie sollten Alles von mir erfahren, versprach ich Ihnen; hören Sie mir zu. Ich werde über Alles, was ich weiß, Ihnen hier die offene Wahrheit sagen. Früher hatte ich mich nicht dazu entschließen können; ich wollte, ich durfte nicht die Ursache eines namenlosen Unglücks werden. Jetzt – ach, es ist dennoch so viel Unglück eingetreten; aber mein Schweigen hat es nicht angestiftet, meine Worte können es nicht noch vermehren, und ich muß mir das Gewissen erleichtern.«

Ihre neuen Mittheilungen begannen erheblich zu werden, schon sofort für die Zeit der Rückkehr des Barons Emmerich in Begleitung des Fräulein Haller.

Der Baron hatte, wie ich schon wußte, gleich nach seiner Ankunft im Schlosse eine Unterredung mit seiner Mutter gehabt, dann zu dieser für eine kurze Unterredung das Fräulein geführt. Die Frau Walter wollte früher von dem Inhalte beider Unterredungen keine Kenntniß gehabt haben. Sie räumte jetzt ein, daß sie die Vertraute der Baronin gewesen sei, die vor ihr kein Geheimniß gehabt, die ihr auch sofort anvertraut habe, was sie mit dem Sohne und dem Fräulein gesprochen hatte.

Der Baron Emmerich hatte seiner Mutter mitgetheilt, das Fräulein sei eine unglückliche Dame, die, von widrigen Schicksalen verfolgt, ohne Mittel in der Welt dastehe und auch ohne Schutz gewesen sei, wenn sie nicht den seinigen angenommen hätte. Sie habe zu dessen Annahme sich nur schwer entschließen können, zuletzt nur unter der Bedingung einer Einwilligung seiner Mutter. Um diese Einwilligung, zugleich um ihren eigenen Schutz für das Fräulein hatte er die Baronin gebeten. Er war dabei offen gewesen. Er liebe das Fräulein; er wolle sie zu seiner Gattin machen; er habe ihr seinen Entschluß noch nicht zu erkennen gegeben; er wolle vorher der Einwilligung seiner Mutter auch dazu sicher sein, und er sehe ein, um diese zu erlangen, müsse die Baronin das Fräulein näher kennen lernen.

Seine augenblickliche Bitte an die Baronin war, die junge Dame als ihre Gesellschafterin aufzunehmen. Die Baronin hatte sich anfangs geweigert. Seine Bitte war dringender geworden. Er hatte dabei gestanden, daß er in seinem bisherigen Leben vielfach auf die bedenklichsten Abwege gerathen sei, daß vor dem Abgrunde nur Helene Haller ihn gerettet habe; sie sei sein Schutzengel gewesen; sie müsse es ferner bleiben, wenn wieder ein ordentlicher Mensch aus ihm werden sollte.

Sie wolle das Fräulein sehen, hatte die Baronin zuletzt erklärt und halb nachgegeben. Welche Mutter, die ihren Sohn liebte und nicht ganz verloren geben wollte, hätte das nicht gethan?

Der Baron führte darauf das Fräulein zu seiner Mutter; die Baronin hatte jene kurze Unterredung mit ihr. Das Aeußere der jungen Dame hatte einen vortheilhaften Eindruck auf die Matrone gemacht. Das Fräulein war von einer edlen Schönheit; ihr Benehmen war einfach, bescheiden und doch so würdig.

»Sie haben mir gestattet, gnädige Frau, mich Ihnen vorzustellen. Ihr Herr Sohn hat Ihnen seine Bitte vorgetragen; darf ich sie Ihnen als die meinige wiederholen?«

»In welchem Verhältnisse stehen Sie zu meinem Sohne?« fragt die Baronin sie.

»Gnädige Frau, in keinem unedlen! Bei Gott nicht.«

»Wie wurden Sie mit ihm bekannt? Wie setzte diese Bekanntschaft sich bis zu Ihrer Reise hierher fort?«

»Gnädige Frau, der Baron Emmerich hat entweder Ihnen darüber keine Mittheilung gemacht, dann würde eine Antwort meinerseits einen treulosen Verrath seiner Geheimnisse enthalten, oder der Baron hat Ihnen Alles gesagt, dann legt ihre Frage ein verletzendes Mißtrauen gegen Ihren Sohn und gegen mich an den Tag, und seine und meine Ehre verbieten mir eine Antwort.«

Das Fräulein hatte das mit jener einfachen, natürlichen Frauenwürde gesprochen.

Die Baronin erwiderte nach kurzem Besinnen darauf:

»Bleiben Sie hier, Fräulein, führen Sie auch den Namen meiner Gesellschafterin. Um Sie aber in meine Gesellschaft aufzunehmen, muß ich die volle Gewißheit, die feste Ueberzeugung haben, daß ich nur eine Würdige um mich sehe. Ich werde Sie beobachten.«

Das Fräulein dankt der Baronin. Die Beiden sehen sich nicht wieder, lange Zeit nicht.

Die Baronin und ihr Sohn sehen sich selten, sprechen nie über das Fräulein.

Die Baronin läßt dagegen das Fräulein beobachten, durch ihre Kammerfrau, Frau Walter.

Der Kammerfrau kann es nicht entgehen, daß zwischen dem Baron Emmerich und dem Fräulein ein vertrautes Verhältniß besteht, das in manchen seinen Beziehungen sich den Augen der Welt zu entziehen sucht, in anderen dagegen sich klar an den Tag legt.

Die Beiden machen weite Promenaden in Wald und Feld, zu Fuße, zu Pferde, stets allein, ohne auch nur einen Diener mitzunehmen; wenn sie fahren, fährt der Baron selbst, nur selten ist der Kutscher bei ihnen.

Sie speisen allein, zu Mittag und zu Abend; sie bleiben nach Entfernung der Dienerschaft noch Stunden lang beisammen, wiederum ohne alle Gesellschaft. Des Abends hört man in der Regel sie dann musiciren. Aus der Oeffentlichkeit, mit welcher so das Verhältniß der Beiden zu einander sich zeigt, schließt die Frau Walter auf dessen Reinheiten in allen seinen Theilen. Nie hat sie etwas Unziemliches wahrnehmen können.

Daß in den Herzen Beider eine Leidenschaft brennt, kann sich auch den Blicken der Kammerfrau nicht verbergen, und daß die Bewohner des Schlosses keine günstigen Urtheile über ein solches Zusammenleben der zwei jungen Leute fällen, hat sie nicht selten mit anhören müssen. Es kann auf ihr Urtheil nicht einwirken. Dem Urtheil der Dienerin tritt die Herrin bei, wie es scheint, gern.

Lange Zeit war so vergangen, fast ein Jahr.

Da hatte eines Abends die Kammerfrau ihre Herrin beim Auskleiden in einer ungewohnten Aufregung gefunden und bald von ihr Folgendes erfahren:

Die Baronin hatte nach langem Sinnen und Kämpfen mit sich selbst einen Entschluß gefaßt. Sie hatte, ohne Jemandem vorher Mittheilung zu machen, das Fräulein Haller in ihrem Zimmer aufgesucht, gegen Abend, als der Baron verreist war. Die Matrone hat mit der jungen Dame sich aussprechen wollen. Das Fräulein – aber theilen wir die Unterredung der Beiden mit.

Die Baronin war im ersten Augenblick der Begegnung wohl etwas befangen, das Fräulein war durch den unerwarteten Besuch überrascht gewesen. Bald hatten sich Beide wieder gefunden. Die Baronin hatte das Gespräch begonnen.

»Fräulein Haller, ich habe Sie hier aufgesucht in Ihrem Interesse und in dem meines Sohnes, folglich auch in dem meinigen.«

»Gnädige Frau, ich erwarte Ihre Befehle!«

»Ich habe nur eine Bitte an Sie, nur eine. Ich werde Ihnen mit voller Offenheit entgegenkommen; seien auch Sie offen gegen mich.«

»Sie werden mich ganz offen und aufrichtig finden, gnädige Frau.«

»Mein Sohn liebt Sie!«

»Der Baron Emmerich versichert es mich, und ich habe … Ja, gnädige Frau, er liebt mich.«

»Und er hat ihre Gegenliebe?«

»Er hat meine volle Liebe, wie ich die seinige.«

»Wohlan, Fräulein Haller, gegenseitige Liebe setzt gegenseitiges Vertrauen voraus. Kennen Sie meinen Sohn?«

»Ich kenne sein Herz.«

»Auch sein Leben, sein früheres Leben?«

»Seine ganze Vergangenheit liegt klar vor mir.«

»Und Sie konnten mit dieser Vergangenheit ihn lieben?«

Das Fräulein besann sich einen Augenblick, dann antwortete sie entschlossen.

»Gnädige Frau, mein Herz liebte ihn um dieser Vergangenheit willen.«

Die Baronin stutzte über diese Antwort.

»Darf ich um eine Erläuterung Ihrer Worte bitten?« sagte sie.

Und das Fräulein erwiderte mit jener klaren, ruhigen und einfachen Würde, mit der sie der Matrone bei der ersten Zusammenkunft entgegen getreten war:

»Gnädige Frau, der Baron Emmerich bedurfte einer Leitung, einer festen Führung. Ich wollte sein Schutzengel werden.«

»Sie wurden es?« fragte rasch die Baronin.

»Ja!« erwiderte ebenso rasch das Fräulein. Aber dann setzte sie zögernd und wie um ihr entschiedenes Ja zu beschränken, hinzu: »Ich bin es geworden.«

»Möchten Sie es für immer geworden sein!« rief gerührt die Baronin.

Sie hatte doch noch einige Fragen.

»Ob mein Sohn,« sagte sie, »auch Ihre Vergangenheit kannte – ich setze es voraus.«

»Sie dürfen das, gnädige Frau, und der Baron Emmerich durfte sie erfahren.«

»Auch über die Reinheit Ihres jetzigen Verhältnisses zu ihm habe ich keine Zweifel.«

»Ich bin Ihnen dankbar dafür, gnädige Frau.«

»Aber über Eines muß ich mir Auskunft von Ihnen erbitten, um Ihretwillen, nur für Sie, mein liebes Fräulein, nur für Ihr Wohl, für Ihre Zukunft.«

Die Matrone hatte mit besonderer Herzlichkeit gesprochen; das Fräulein war um so betroffener geworden. Die Baronin schien es nicht zu bemerken; sie fuhr fort:

»Sie leisteten meinem Sohn einen großen Dienst; es handelte sich um seine Ehre. Dadurch gewannen Sie seine Liebe. Bald darauf bot er Ihnen seine Hand an. Sie haben diese bis heute nicht angenommen. Warum nicht?«

Das Fräulein hatte die Frage wohl erwartet, mit steigender Ungeduld. Ihre Antwort war offenbar eine Antwort der Verlegenheit.

»Ich war Ihrer Einwilligung nicht sicher, gnädige Frau.«

»Und wenn ich jetzt meine Einwilligung gäbe?« sprach die Baronin. »Wenn ich,« fuhr die Baronin fort, »in der Absicht hierher gekommen wäre, Ihnen Emmerichs Hand anzutragen?«

Das Fräulein verhüllte ihr Gesicht, hatte keine Antwort.

Die Baronin war überrascht, erstaunt, gegenüber einem Benehmen, das ihr unerklärlich erscheinen mußte.

»Sie lieben meinen Sohn?« sagte sie.

»Ich liebe ihn.«

»Er liebt Sie! Sie sind von seiner Liebe überzeugt.«

»Er liebt mich. Ich kann nicht die Seinige werden.«

»Sie wollten sein Schutzengel werden! Sie sagten, Sie seien es geworden.«

»Ich bin es nicht geworden! Ich hatte mich getäuscht. O, das war der schwerste Irrthum meines Lebens.«

Die Baronin verschwendet keine Worte mehr an die Unglückliche. Sie verläßt sie, selbst erschrocken, fassungslos.

In der Nacht kommt der Baron Emmerich zurück. Am andern Morgen hat er eine lange Unterredung mit dem Fräulein. Er verläßt sie finster. Die Kammerfrau Walter war ihm begegnet; sie erschrickt, als sie ihn sieht; es liegt etwas Entsetzliches in seinem Blick. Er erschrickt vor ihr – wie ein ertappter Verbrecher, sagte mir die Frau.

Er war an demselben Tage wieder abgereist. Er blieb drei Tage aus. Er war nach seiner Rückkehr finster, wie bisher; er sprach Niemanden, sah Niemanden außer dem Fräulein Haller; zu ihr ging er oft. Auch das Fräulein sah man nicht; sie hielt sich eingeschlossen in ihrem Zimmer. Die Frau Walter war einmal ihrer ansichtig geworden; sie hatte ein bleiches verweintes Gesicht gesehen. Acht Tage lang hatte das so gewährt, da war die Baronin vergiftet.

Das waren die neuen Thatsachen, die von der Kammerfrau mir jetzt mitgetheilt wurden, die sie mir früher verschwiegen hatte; warum verschwiegen?

»Ich wollte Niemanden anklagen.«

»Wen hätten Sie anklagen müssen?«

Sie schwieg.

»Den Baron?«

»Nicht ihn allein!«

Die Worte kamen über ihre Lippen, wie aus einem tief und schwer gepreßten Herzen.

Sie konnten nur auf das Fräulein Haller zielen; ich fragte sie nicht danach.

Sie hatte noch mehr auf dem Herzen.

Ich müsse Alles erfahren, sagte sie, und sie erzählte weiter.

An dem Abend, an dem die Baronin vergiftet war, hatte die Frau Walter den Thee für ihre Herrin, wie gewöhnlich, in der Küche bereitet. Sie war mit der Bereitung fertig und im Begriff, das Geschirr nach oben in das Zimmer der Baronin zu tragen, als sie durch den alten Kammerdiener der Herrin hinausgerufen wurde. In der Küche blieb nur das Küchenmädchen, die Köchin war schon zufällig vorher fortgegangen. Der Diener hatte an die Frau Walter irgend ein Anliegen gehabt; sie konnte sich nicht mehr erinnern welches. Sie war nach wenigen, höchstens fünf Minuten zurückgekehrt.

Als sie in die Nähe der Küche kommt, hört sie in dieser ein Geräusch; sie achtet nicht darauf; sie denkt, es rühre von einer Arbeit der Küchenmagd her. Auf einmal hört sie Jemanden aus der Küchenthür treten, rasch und leise; sie blickt hin; sie sieht eine männliche Gestalt, die in dem nämlichen Augenblicke nach der andern Seite hin verschwindet.

Was mag der Baron in der Küche gemacht haben? fragt sie sich. Aber nachher weiß sie nicht, wie sie darauf gekommen ist, daß es der Baron gewesen sei, sie sah nur eine Mannesgestalt, die in demselben Moment wieder verschwunden war, sie hat die Gestalt nur in dem Halbdunkel des schlecht erleuchteten Ganges gesehen. Als sie in die Küche tritt, findet sie diese leer; auch die Küchenmagd war fortgegangen.

Die völlig arglose alte Frau hat nicht die mindeste Veranlassung, über das, was sie gehört und gesehen hat, nur eine Secunde lang nachzudenken, zumal da in der Küche Alles auf seinem Platze und nichts Auffälliges zu bemerken ist.

Sie trägt den Thee zu der Herrin hinauf. Am anderen Morgen, da die Baronin todt ist und kein Zweifel mehr darüber aufkommen kann, daß sie durch den Thee vergiftet sei, fällt in all' ihrem Schreck und ihrer Angst auf das Entsetzlichste die Gestalt, die aus der Küche kam, ihr wieder ein, und der Gedanke, es sei der Baron gewesen.

Aber kann sie diesen anklagen, trotz allem Verdachte, den sie schon ohnehin gegen ihn hegen mußte? Sie schweigt; sie hat nicht einmal gewagt, später die Küchenmagd zu fragen: wann und aus welcher Veranlassung diese die Küche verlassen hatte.

Konnte nach diesen Enthüllungen der alten Frau Walter noch an der Schuld des Barons Emmerich von Willingen gezweifelt werden?

Aber das Fräulein Haller? Auch sie war von der Frau Walter als schuldig bezeichnet. Ich mußte doch jetzt die Frau nach ihr fragen.

»Und Fräulein Haller?« fragte ich. »Theilen Sie mir auch über sie Alles mit.«

Sie war bereit dazu, aber mit schwerem Herzen; sie sagte es, und ich sah es ihr an.

»Fräulein Haller,« begann sie, »war ein Jahr nach dem Tode der alten Baronin die Gattin des Barons Emmerich.«

Das war eine Nachricht, die mich doppelt überraschen mußte. Hatte das Fräulein den Baron Emmerich, den Muttermörder, heirathen können, der sein Verbrechen nur um ihretwillen begangen hatte, durfte man dann noch irgend einen Zweifel hegen, daß sie die Mitschuldige dieses Verbrechens sei? Andererseits, war denn nicht die Französin, Madame Bernard, die Gattin des Barons?

»Helene Haller ist todt?« mußte ich die Frau Walter unterbrechen.

»Sie lebt.«

»Und die Französin ist dennoch Baronin Willingen?«

»Es ist so!«

»Erzählen Sie! Wie war die eine, wie die andere Verbindung möglich?«

Ueber die erste Verbindung und deren Auflösung wußte sie aus eigener Wissenschaft wenig; was ihr darüber bekannt war, hatte sie nur durch Dritte erfahren, freilich zumeist durch den Baron selbst. Ueber die Französin konnte sie dagegen um so mehr aus ihrer eigenen Wahrnehmung mittheilen.

Sie hatte, nachdem die Willingen'schen Güter von dem Baron Emmerich an den kurländischen Edelmann verkauft waren, Schloß Hohenburg verlassen und in einem benachbarten Städtchen ihren Aufenthalt genommen. Sie konnte auskömmlich leben. Nicht nur die alte Baronin hatte in einem Testamente für sie gesorgt, auch der Baron Emmerich hatte bei dem Verkaufe seiner Güter dem Ankäufer zur Bedingung, gemacht, den alten Dienern aus der Hohenburg Pensionen auszuzahlen.

Zwölf Jahre lang hatte die Frau Walter in ihrem Städtchen von den früheren Besitzern, Bewohnern und Gästen der Hohenburg nichts erfahren, weder von dem Baron Emmerich, noch von dem Fräulein Haller, noch von der Madame Bernard, da erscheint eines Tages der Bürgermeister der Gemeinde, zu welcher das Schloß Hohenburg gehört, und übergibt ihr ein versiegeltes Schreiben, das der Baron Emmerich ihm zugesandt habe, zur Uebergabe an sie, wenn sie noch am Leben sei, zur Zurücksendung, wenn sie nicht mehr lebe.

Sie erbricht das Schreiben. Der Baron bittet sie darin, zu ihm zu kommen und ihre alten Tage bei ihm zu beschließen; sie sei die treue Hüterin und Pflegerin seiner Kindheit gewesen; er habe eine unüberwindliche Sehnsucht, sie wieder um sich zu sehen. Er nennt ihr den Ort, wo er sie finden werde; er legt ausreichendes Geld zu ihrer Reise bei.

Der Brief ist so dringend, so rührend geschrieben, die Frau kann der Bitte nicht widerstehen. Sie fühlt trotz ihres Alters sich noch kräftig. Sie reist nach dem bezeichneten Orte. Er ist das Landhaus im Murgthale, in dessen Garten sie mir erzählt. Sie findet die Menschen und das Leben hier, fast wie es noch heute ist.

Der Baron ist verheirathet mit der ehemaligen Kammerfrau des Fräulein Haller, Madame Bernard.

Er ist krank, elend, von der Gicht geplagt, schweigsam, verkehrt mit Niemandem, auch mit seiner Frau nicht, mag selbst sein Kind nicht sehen. Die Baronin, die vormalige Kammerfrau, kümmert sich nicht um ihn, lebt nur für ihr Kind, das schon damals, erst zwei Jahre alt, voll Reiz, voll Anmuth und voll Fröhlichkeit war.

Die Frau Walter übernimmt die Pflege des Barons, sieht die Baronin wenig oder gar nicht; desto lieber und öfter die kleine Hortense, die in ihrer Offenheit und Fröhlichkeit an Alle, so auch an sie sich anschließt.

So sind acht einförmige Jahre vergangen, der eine Tag wie der andere, bis –

»Bis,« sagte die Frau zu mir, »am gestrigen Mittage jener entsetzliche Mensch, der Herr van Roelof, plötzlich hier erschien, und am Abend Sie kamen.«

Den Baron Emmerich hat sie bei ihrer Ankunft als einen unglücklichen Menschen angetroffen, er ist das geblieben bis zu dem letzten Tage. Sein Körperleiden macht wohl nur den geringsten Theil seines Unglücks aus; er wird verzehrt von älteren und neueren Seelenleiden.

Seine Frau will ihn nicht sehen, behandelt ihn, wenn sie ihm einmal begegnet, mit kalter Verachtung oder mit frechem Trotz. Er meidet sie soviel er es vermag, ganz ausweichen kann er ihr nicht; er hat dann nur Schweigen, um nicht ihren Hohn oder ihre Frechheit herauszufordern.

Das Kind will er nicht sehen; es darf aber auch nicht zu ihm; die Mutter hält jede Annäherung zurück.

Die Herrschaft im Hause führt die Frau; der Baron wagt nicht den geringsten Widerspruch.

Wie die Französin eine solche unbedingte Gewalt über den Baron sich hat verschaffen können? – die Frau Walter hatte nur Vermuthungen, Ahnungen darüber. Der Baron hatte sich gegen sie beklagt, er finde keine Liebe, keine Theilnahme, nicht einmal das gewöhnliche Mitleiden für seinen elenden Körperzustand. Darum hatte er die treue Pflegerin seiner Kindheit zu sich kommen lassen; die Französin hatte sich hartnäckig und lange auch dem widersetzt, seinen dringenden Bitten aber endlich nachgegeben.

Wenn er in jener Weise sich beklagte, hatte er zugleich sich selbst angeklagt, sein früheres Leben, dessen Theilnehmerin die Französin gewesen, und er hatte errathen lassen, daß sie im Besitze von manchen Geheimnissen aus jener Zeit sei, durch deren Veröffentlichung sie ihn vernichten könne.

Dann hatte er auch über das Fräulein Haller, seine erste Gattin, gesprochen, wie edel sie gewesen, welche hingebende, aufopfernde Liebe sie ihm bewiesen, wie auch er sie geliebt, welch' ein schönes Kind sie ihm geschenkt; das er habe herzen können und dürfen, das sie Beide so unendlich geliebt; daß sie Beide dennoch nicht hatten glücklich werden können; daß so oft ein finsteres Gespenst zwischen sie getreten, am Drohendsten gerade, wenn sie ihres Kindes sich hatten freuen wollen. Und zuletzt habe er dann auch die edle Frau verlassen müssen, mit dem Kinde, das ihre gemeinsame Liebe, ihre gemeinsame Angst gewesen war. Und nie seit jener Trennung hatte er Nachricht von ihnen erhalten dürfen.

Solche Klagen hatte die Frau Walter oft anhören müssen. Es lag wohl viel Dunkles und Räthselhaftes darin. Aber, wie der Baron eine Scheu vor dem Eintreten in spezielle Thatsachen gezeigt hatte, so hatte auch die Frau sich zu Fragen nicht entschließen können, deren Beantwortung dem Unglücklichen Ueberwindung kosten, und von der sie ein Licht befürchten mußte, das ihr die schrecklichsten und dunkelsten Abgründe erhellte.

Zur Zeit der Ankunft der Frau Walter in dem Landhause waren seit der Trennung des Barons von seiner ersten Gattin vier Jahre verflossen.

Ein halbes Jahr nach dieser Trennung hatte er die Französin geheirathet.

Zur Zeit meiner Anwesenheit, im Jahre 1849, waren also seit jener Trennung vierzehn, und seit dieser Wiederverheirathung über dreizehn Jahre vergangen.

Ein wenig mehr Licht in das Dunkel hatte die Französin gebracht, freilich war es nur sehr wenig.

Sie hatte namentlich in der ersten Zeit Gelegenheit gesucht, mit der Frau Walter zusammenzutreffen, theils um der Frau, mit der sie früher in demselben Hause eine gleiche Stellung eingenommen, sich jetzt als die vornehme, gnädige Frau zu zeigen, theils aber auch, um von der alten Dienerin etwaige Geheimnisse, vielleicht nur vertrauliche Aeußerungen des Barons, über sich selbst herauszulocken.

Sie hatte dabei für ihren Zweck eine gewisse Offenheit ihrerseits gezeigt, und ein paar Mal sonderbare Worte fallen lassen. Der Baron habe mit seiner ersten Gattin unglücklich gelebt, gar nicht glücklich leben können. Beide, das waren einmal ihre Worte gewesen, wußten zuviel von einander, und sie mußten sich darüber gegenseitig Vorwürfe machen. Die Frau hatte gewöhnlich angefangen; sie wollte, die Reine, die Edle spielen; das mußte ihn verdrießen, provociren. So lebten sie in ewigem Unfrieden.

Die Frau Walter hatte, wohl nicht ohne Absicht, entgegnet, der Baron habe ihr nie von einem Unfrieden gesprochen.

Die Dame hatte sich in der That dadurch reizen lassen.

»Ich glaube es,« versetzte sie. »Er hätte näher auf die Streitigkeiten eingehen müssen, und dadurch wäre zum Vorschein gekommen, daß die Frau auf seinen Vorwurf ihm zehn zurückgeben konnte.«

Ein ander Mal, als sie denselben Gegenstand wieder zur Sprache gebracht, war sie in Eifer gerathen, und sie hatte plötzlich ausgerufen:

»Und der Tod der Baronin auf der Hohenburg! Warum mußte die vortreffliche Dame sterben? und wer war ihr mehr Dank schuldig, als jenes Fräulein Helene Haller? Ah, ich habe sie kennen gelernt, und wenn ich hätte reden wollen! Wenn ich es noch wollte! Aber ich darf ja nicht, um meines armen Kindes willen. So mag denn auch jenes Verbrechen im Grabe ruhen für sie Beide, mit allem dem Anderen, was sie manche Jahre lang zusammen ausgeübt haben!«

Ein Gedanke war bei der letzten Mittheilung über mich gekommen.

»Sollte nicht«, mußte ich die Frau fragen, »die Französin die Gehülfin des Barons bei dem Morde gewesen sein? Sie hat diese unbedingte Gewalt über ihn, sie hat ihn unzweifelhaft zu der Verbindung mit ihr gezwungen, wahrscheinlich sogar auch zu der Trennung von seiner ersten Gattin, dem Fräulein Haller.«

Die Frau Walter schüttelte den Kopf.

»Wäre die Französin die Theilnehmerin des Mordes, der Baron hätte das Fräulein gar nicht heirathen dürfen, und wenn jene erste Ehe eine unglückliche wurde und zuletzt aufgelöst werden mußte, war denn nicht vielmehr das gemeinsame Verbrechen jenes finstere Gespenst, das zwischen die Gatten trat, das ihnen, wenn sie ihres Kindes sich freuen wollten, zurief: Ihr Muttermörder, an dem Kinde haftet der Fluch Eurer bösen That! –«

Ich mußte das Gespräch mit der Frau Walter abbrechen. Auf der Landstraße sah ich Herrn van Roelof näher kommen.

»Der Mensch will hierher, Frau Walter?«

Sie bejahte mit Bekümmerniß.

»Was hat ihn hierher geführt?«

»Ich fürchte, er will Geld erpressen.«

»Von wem?«

»Von Beiden, von dem Baron, von der Französin. O, dieser Mensch weiß am Meisten, er weiß Alles, er kann sie Alle vernichten.«

Er war zur Zeit des Mordes an dem Orte des Verbrechens, fiel mir ein.

»Sollte er nicht gleichfalls ein Mittheilnehmer des Mordes sein?«

»Aber er verhandelte mit dem Fräulein Haller,« rief die alte Frau.

Ich hatte nur noch Zeit, sie zu fragen, wie der Herr van Roelof sie Alle hier habe auffinden können.

»Er gestand es mir offen,« erwiderte sie: »Er hatte auf der Hohenburg sich nach mir erkundigt; mein Aufenthalt war dort bekannt; so hatte er keinen Zweifel über den des Barons.«

Ich trennte mich von der Frau. Sie blieb im Garten, in dem sie wohl auch den Herrn van Roelof treffen sollte. Ich entfernte mich nach einer Seite, auf der ich dem Menschen nicht zu begegnen hoffte. Sein spähendes Auge hatte mich schon gewahrt. Er trat mir entgegen.

»Ah, Sie waren mir hier schon zuvorgekommen!«

»Ich glaube schwerlich,« erwiderte ich ihm; »daß ich hier den gleichen Zweck verfolge, der Sie hieher führt!«

Er lachte in seiner frivolen Weise.

»Wer weiß doch! Uns Beide führen Geheimnisse hierher. Der Unterschied ist wohl nur, daß Sie Geheimnisse suchen, und ich sie besitze.«

»Sie meinen, ich suchte Ihre Geheimnisse?«

»Unzweifelhaft, mein Herr!«

Mir fiel plötzlich Etwas ein.

»Sie haben Recht, mein Herr! Einige Wochen vor jenem Tage, als ich Sie bei der Hohenburg mit dem Fräulein Haller sah, waren Sie in der Gegend durch Steckbriefe verfolgt! Wurden Sie später ergriffen?«

Keines meiner Worte hatte ihn verlegen gemacht.

»Ich wurde nicht ergriffen, mein Herr. Ueberhaupt haben Gerichte und Polizei mich nie in ihren Händen gehabt. Ich hatte Glück, freilich auch Verstand! Uebrigens, mein Herr, bin ich erfreut, Sie wiederzusehen. Ich versprach Ihnen gestern noch Einiges aus dem Vorleben Ihrer früheren vier Inquisiten oder derjenigen Personen, denen Sie gern die Ehre erwiesen hätten, sie zu Ihren Inquisiten zu machen. Lassen Sie hier gleich meines Versprechens mich entledigen.«

»Sie wollten mir erzählen, daß die jetzige Baronin Willingen Ihre Geliebte gewesen sei!«

»Richtig mein Herr! Aber auch, wie der Baron Emmerich sie sammt dem Fräulein Haller entführte; Freilich wurde er im Grunde, wenn auch nicht von den beiden Damen, so doch von der tugendhaften Madame Bernard sehr wider seinen Willens entführt und – lassen Sie sich die Geschichte erzählen, der Baron hatte einen kleinen Mord begangen, sagte ich. Es war seine Leidenschaft und sein Metier. Er hatte diesmal ein doppeltes Unglück dabei gehabt. Zuerst, daß sein Gegner, den er betrog und rupfte, der Liebhaber der kleinen Madame Bernard war, aber ein verschmähter, der mithin voll Groll und Wuth gegen seinen glücklichen Gegner und Nebenbuhler sich fühlte, diesem scharf auf die Finger paßte, die Volten und anderen Kunststücke bald durchschaute und den vortrefflichen Baron Emmerich laut für einen Dieb und Betrüger erklärte. Der Baron mußte ihn fordern. Auf Pistolen, verlangte der Gegner, ein französischer Officier. Der Baron mußte die Pistolen annehmen. Aber zu einem Schusse daraus ließ er es nicht kommen. In der Nacht vor dem zum Duell bestimmten Tage wurde der französische Officier auf dem Weges zu seinem Hause erstochen. Ganz kunstgerecht, mit einem Banditendolche und einem Banditenstoße. Leider für den Baron wurde, auch die Person des Banditen ermittelt. Der Mensch hatte die Unverschämtheit, zu behaupten, daß er von einem deutschen Baron gedungen sei, er bezeichnete den Baron Emmerich, und dieser gedachte der ausgezeichneten italienischen Justiz, die den inländischen Banditen laufen läßt und den deutschen Edelmann hängt, und er machte sich auf und davon, und dabei entstand ein großartiger Wettkampf zweier edlen Seelen, der schließlich zu einem heftigen Kreuzfeuer gegen den armen Baron Emmerich sich gestaltete. Er wollte wieder dem Fräulein Haller sein Schicksal und sein Leben anvertrauen; die edle deutsche Dame leistete ihm wohl mehr Gewähr, als die tugendhafte Französin. Sie war auch bereit, ihn zu retten, obwohl er ihre Bereitwilligkeit durch das duldende Anhören schwerer Strafpredigten erkaufen mußte. Allein Madame Bernard hatte ihn nicht aus den Augen gelassen, überraschte das Paar im Moment der Abreise, verlangte, daß der Baron mit ihr reisen und das Fräulein verabschieden solle und drohte mit allen Sbirren des Gerichts, wenn ihrem Verlangen nicht sofort entsprochen werde. Sie war die Frau, ihre Drohung zu verwirklichen. Sie wurde dennoch l a dupe de l'affaire. Das Fräulein mußte zurücktreten; der Baron reiste mit der Französin allein ab. Drei heimlich zwischen dem Baron und dem Fräulein gewechselte Worte hatten aber zu einer allerliebsten Intrigue genügt. Als der Baron mit Madame Bernard die Schweiz erreicht hatte, stellt auf der nächsten Station Fräulein Haller sich den Beiden vor, und der Baron und das Fräulein erklären der Französin, wenn sie die Kammerfrau des Fräuleins werden wolle, könne sie mitreisen, sonst – und das drohte der Baron ihr heimlich, in Abwesenheit des Fräuleins – sonst werde sie einfach in die erste beste Felsenspalte des St. Gotthard geworfen. Die Französin wußte, daß der Baron der Mann war, seine Drohungen wahr zu machen. Sie übernahm die Rolle der Kammerfrau des Fräuleins und ließ dabei niemals ihren Zweck aus dem Auge, Frau Baronin Willingen zu werden.

Das, mein Herr,« schloß der Herr van Roelof, »ist die Entführungsgeschichte des Baron Emmerich, des Fräulein Haller und der Madame Bernard.«

»Und«, mußte ich fragen, »in welcher Verbindung steht mit ihr die Ermordung der alten Dame auf Schloß Hohenburg?«

»Ich verstehe Ihre Frage nicht,« meinte er.

»Nach Ihrer gestrigen Mittheilung wäre ein Verlangen des Fräulein Haller für den Baron das Motiv des Mordes gewesen!«

»Hm! Aber nehmen wir an, ich hätte die Sache so dargestellt; ich verstehe noch immer Ihre Frage nicht.«

»Aus Ihrer heutigen Mittheilung muß oder soll man schließen, die Französin habe den Tod der Dame gefordert.«

»Die Französin nicht! – Aber Frau Walter wartet auf mich. Auf Wiedersehen, mein Herr!«

Der häßliche, freche Mensch ging damit.

Er hatte unzweifelhaft Falsches und Wahres auch jetzt in seiner Mittheilung durch einander geworfen; ob von diesem oder von jenem mehr, ich zerbrach mir nicht den Kopf darüber. Für mich konnte das Eine wie das Andere gleichgültig sein, und auch er konnte keinen Zweck weiter haben, als eben aus frivoler Laune irre zu führen.

Ich ging tiefer in das Thal hinunter. Es war hoher Morgen geworden; die Sonne brannte heiß; an dem Ufer der Murg, unter seinem krausen, grünen Gebüsch fand ich eine wundervoll erfrischende Luft. Ich weilte lange dort, ging dann an dem Flusse hinunter, bis zu dem Felsenthor, wo er von seinem schönen Thale Abschied nehmen muß. Ich schweifte in der ganzen Gegend umher, von der ja auch ich am folgenden Morgen mich verabschieden mußte.

Es war später Abend, als ich in das Dorf, in meinen Gasthof zurückkehrte. An dem Landhause des Barons Willingen hatte mein Weg mich nicht vorbeigeführt. In dem Gasthofe war schon fast Alles zur Ruhe gegangen; ich fand nur noch den Wirth auf.

Ich fühlte noch keinen Schlaf, auch der Wirth war noch munter. Ich ließ mir von ihm einen Schoppen Wein geben; er setzte sich zu mir. Wir plauderten von der Gegend, von Land und Leuten. Auch nach jenem Landhause und dessen Bewohnern fragte ich ihn. Er wußte davon nicht viel. Ein alter, kranker, reicher Herr wohne dort mit seiner Frau und einem Kinde, still und eingezogen; man höre fast nichts von ihnen.

Nach dem Herrn van Roelof fragte ich ihn dann, den Mann ihm bezeichnend, ohne den Namen zu nennen. Er wußte auch von ihm nichts; der fremde Herr sei einige Zeit vor mir angekommen, gleichfalls, um die schöne Gegend kennen zu lernen, sei fast den ganzen Tag draußen und sei heute noch gar nicht zurückgekommen; er, der Wirth warte auch noch auf ihn.

Diese Mittheilung wollte mir doch auffallen. Der Herr van Roelof war nach den Worten der Frau hier, um von dem Baron Willingen und der Französin Geld zu erpressen! Indeß, ich war müde geworden, ich suchte mein Zimmer, mein Nachtlager auf, schlief bald ein. Die Rückkehr des Herrn van Roelof hatte ich nicht vernommen.

Am anderen Morgen – ich war etwas spät aufgewacht – überraschte, erschreckte der Wirth mich mit einer Nachricht.

»Der kranke Herr in dem Landhause, von dem wir gestern Abend sprachen, ist heute Nacht gestorben.«

Ermordet! hätte ich beinahe ausgerufen.

»Ist der Fremde zurück, von dem wir gleichfalls sprachen?« mußte ich doch fragen.

»Er kam erst gegen Morgen heim.«

»Und wo ist er jetzt?«

Der Wirth stutzte.

»Er ist abgereist.«

»Schon lange?«

»Herr, Sie bringen mich auf sonderbare Gedanken. Der fremde Herr, als er in der Nacht nach Hause kam, forderte gleich seine Rechnung, da er des Morgens in der Frühe abreisen müsse. Er bezahlte sie, ging in sein Zimmer. Als ich heute aufstand, sagte mir der Hausknecht, der Herr sei schon ganz früh abgereist.«

»Zu Fuß?«

»Zu Fuße, wie er gekommen war.«

»Bemerkten Sie in der Nacht nichts Besonderes an ihm?«

»Er war, wie sonst. Freilich, er hatte immer etwas Besonderes.«

»Etwas Unheimliches!«

»Bei Gott, das war es!«

Ich eilte zu dem Landhause.

Niemand war im oder am Hause zu sehen. Thüren und Fenster waren verschlossen.

Ich zog eine Glocke neben der Hausthür.

Oben öffnete sich ein Fenster.

»Ich komme«, sprach die Stimme der Frau Walter zu mir herunter.

Die Frau kam.

Sie war leichenblaß, aber sie konnte sich aufrecht halten.

»Um Gottes willen, Frau Walter, was ist geschehen?«

»Der«Baron ist todt!«

»Ermordet?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wo ist die Französin?«

»Abgereist.«

»Allein?«

»Mit ihrem Kinde.«

»Der Baron ist ermordet, Frau Walter! Aber erzählen Sie mir Alles!«

Sie wußte Folgendes:

Der Herr van Roelof war am vorgestrigen Tage plötzlich bei ihr erschienen, als sie allein im Garten war. Er hatte sich für einen alten Bekannten des Barons und der Baronin ausgegeben, hatte nach den Beiden sich erkundigt, dabei von ihnen aus alter Zeit gesprochen, auch über den Mord auf der Hohenburg, von dem er die genaueste Kenntniß gehabt hatte, aber in einer Weise, daß in der Frau Walter der Verdacht entstanden war, er wolle hier Geld erpressen.

In der That hatte er dann verlangt, die Französin allein zu sprechen, zugleich daß der Baron von seiner Anwesenheit nichts erfahre. Er hatte sein Verlangen mit der Drohung begleitet, daß er Alle im Hause unglücklich machen könne und werde. Die Frau hatte sein Verlangen und seine Drohung der Französin überbracht. Die Dame erschrickt schon bei den ersten Worten der Frau, der Beschreibung des Menschen, der seinen Namen nicht genannt hat. Als sie Alles angehört hat, ist sie plötzlich beruhigt.

»Begleiten Sie mich in den Garten,« befiehlt sie der Frau Walter.

Beide begeben sich in den Garten; der Fremde wartet hier.

Die Französin bleibt völlig ruhig bei seinem Anblick, weist die Frau an, in der Nähe zu verweilen, macht dem Fremden ein Zeichen nach einer nahen Laube hin, tritt in die Laube; der Fremde folgt ihr hinein. Beide bleiben eine Viertelstunde lang den Blicken der Frau entschwunden, dann kommt zuerst der Fremde wieder zum Vorschein, er verläßt den Garten, die Frau Walter von ferne stumm grüßend, seine Mienen zeigen nichts Besonderes. Als er fort ist, tritt auch die Französin aus der Laube, kehrt mit der Kammerfrau in das Haus zurück. Unterwegs sagt sie nur:

»Sie werden dem Baron nichts sagen. Es würde ihn unnöthig beunruhigen.«

Sie selbst ist völlig ruhig und unbefangen.

So begibt sie sich wieder in ihre Zimmer.

Das war am gestrigen Morgen gewesen.

Den ganzen Tag ist es dann unruhig in den Gemächern der Dame. Frau Walter glaubt, sie packe.

Sie will fort? Mag sie gehen! Der arme Baron bekommt Ruhe, die er nie findet, so lange sie hier ist.

So denkt die Frau Walter, und sie sagt auch dem Baron nichts.

Es werde ihn in der That unnöthig beunruhigen.

Aber wohin sie gehen mag? Mit diesem häßlichen, unheimlichen Menschen? Und ob sie ihr Kind mit sich nehmen mag? Gewiß, gewiß! Aber ob der Baron darüber sich grämen mag?

Sie schüttelt bei dieser Frage den Kopf; sie hat ihre eigenen Gedanken dabei.

Sie ist gespannt auf das, was weiter folgen wird.

Gegen drei Uhr in der Nacht hört sie einen Wagen in der Landstraße fahren; er fährt langsam; er kommt näher; funfzig Schritt vom Hause hält er. Wenige Minuten darauf ertönt in der Straße vor dem Hause ein leichtes Händeklatschen. Unmittelbar nachher wird ebenso leise ein Fenster oben im Hause, in dem Zimmer der Französin geöffnet. Dann bleibt lange Alles still, sowohl auf der Straße, wie im Hause.

Es ist eine peinliche Stille für die Frau Walter.

Was mag da geschehen?

Sie muß unwillkürlich an den Baron denken.

Das sind ja Menschen, die nach ihren eigenen Reden aus einem Morde sich nichts machen.

Der kranke Mann liegt allein in seinem Zimmer, kann sich nicht rühren, sich nicht wehren; ein Druck mit der Hand, ein Kissen über das Gesicht geworfen, erstickt ein Hülferufen.

Aber zu welchem Zwecke sollte sie ihn umbringen, wenn sie ihn verlassen will? Ihr Töchterchen wird ja künftig seine Erbin!

Es ist ein Gedanke, der ihr aber sofort alles Blut wieder zum Kopfe treibt.

Durch den Tod des Vaters wird ja das Kind sofort sein Erbe und sie, als Mutter, Herrin über Alles.

Und wie sie das denkt, bekommt sie einen furchtbaren Stich in das Herz, und dann wollen ihr alle Sinne vergehen.

Sie hat einen kurzen, lauten, gellenden Schrei gehört in dem Schlafzimmer des Barons.

Sie stürzt zu dem Zimmer. Es liegt zu ebener Erde, hinten im Hause nach dem Garten zu, der Kranke ist dort geschützt gegen das Geräusch der Landstraße, kann von da bequem in seinem Rollstuhle an die freie Luft gebracht werden. Ueber dem Zimmer ist das Schlafzimmer der Frau Walter; sie kann in diesem jede Bewegung, jeden Laut des Barons hören, sofort ihm ihre Hülfe bringen, wenn er deren bedarf. Sie hat vor einer Viertelstunde ihr Schlafgemach verlassen, aus Neugierde; um in ihrem Wohnzimmer an der Vorderseite des Hauses zu hören, was sich auf der Straße begibt. Der Baron hatte damals ruhig geschlafen.

Sie stürzt zu seinem Zimmer in Schreck und Angst, unter den bittersten Vorwürfen gegen sich selbst über ihre Angst.

Sie wird aufgehalten. Wie sie aus dem Stübchen in den Flur tritt, stößt sie auf die Französin.

Die Dame wird gefolgt von ihrer Zofe, die an der Hand die schlaftrunkene Hortense führt. Alle drei sind in Reisekleidung.

Die Französin sieht ruhig, sogar munter aus. Die Sonne ist eben aufgegangen, sendet ihre ersten Strahlen durch die Fenster in den Flur. Wie eine fröhliche, wie eine wilde Lust zieht es sich durch ihr Gesicht, als sie der Kammerfrau ansichtig wird. Sie hemmt ihren Schritt, stellt sich vor die alte Frau.

»Ah, meine liebe Frau Walter, ich freue mich, daß ich Sie noch sehe. Pflegen Sie mir doch recht sorgsam den armen Baron.«

Damit geht sie zu der Hausthür. In ihrem Gesichte lachte es satanisch, sagte mir die alte Frau.

Diese wollen ihre Füße kaum noch in das Schlafgemach ihres Herrn tragen. Sie findet ihn todt in seinem Bette.

Sie sinkt besinnungslos neben der Leiche nieder.

Sie kommt nur wieder zu sich, um von einer Todesangst befallen zu werden. Die Landstraße ist leer; von dem Wagen nichts mehr zu sehen und zu hören. Die paar Diener im Hause stehen wie erstarrt, können nicht begreifen, was geschehen ist.

Der Herr liegt todt in seinem Bette, verkündet sie ihnen.

Und die Herrin ist fort! sagen sie sich selbst.

Ein Mord! lesen sie dann in den Augen der alten Frau.

Sie sendet Einen von ihnen zu dem Gemeindeamtmann im Dorfe.

Der Beamte erscheint im Landhause, hat gleich einen Arzt mitgebracht, um, wenn durch diesen ein Mord bestätigt werde, sofort Anstalten zur Verfolgung der Flüchtigen zu treffen.

Der Todte wird genau untersucht. Er ist nicht ermordet; keine Spur eines gewaltsamen Todes ist zu finden. Dagegen wird festgestellt, daß ein Herzschlag sein Leben geendet habe.

Ein Herzschlag! Also ein natürlicher Tod! Also doch kein Verbrechen! Aber mußte denn nicht das Herz des kranken, von den langen und schweren Körperleiden verzehrten Mannes aufhören zu schlagen, wenn das freche Weib, die Gefährtin seines Lebens, plötzlich an seinem Lager stand, ihn aus dem Schlafe rüttelte, ihm zurief: Stirb, Elender! Jetzt, Du Mörder, Du Muttermörder, ist Deine Stunde gekommen! Du sollst vor Gott treten, an den Du nicht glauben wolltest! Er wird Dich verfluchen bis in den tiefsten Abgrund der Hölle, und Deine Mutter wird Dich verfluchen und Alle, die Du an ihrem Leben, an ihrer Ehre, an ihrem Glücke gemordet hast! –

Sie war ein entsetzliches Weib. Aber der Strafe des Richters war sie nicht verfallen.

Mußte nicht um desto schwerer die Strafe des Himmels sie treffen? Hatte diese sie nicht schon getroffen, indem sie in die Gewalt jenes Herrn van Roelof sich gegeben hatte, eines Menschen, dessen freche Gemeinheit vor keinem Verbrechen, vor keiner Unthat zurückwich?

Ihr armes Kind that mir leid. Was sollte, konnte aus der lieblichen, freundlichen, fröhlichen Hortense in den verbrecherischen Händen von Menschen werden, deren Leben eine ununterbrochene Kette von Verbrechen war, deren bloße Nähe schon verderben und vergiften mußte?

Ich mußte das Murgthal verlassen, noch an demselben Tage. Die Frau Walter sagte mir beim Abschiede, sie werde nach der Hohenburg zurückkehren.

Ich habe nie wieder Etwas von ihr gehört. In die Gegend der Hohenburg kam ich nicht zurück. Schwere Schicksale verfolgten mich selber. Ich mußte zuletzt mein deutsches Vaterland verlassen, in der Schweiz mir ein Asyl suchen.

Die Französin, Madame Bernard, ihre fröhliche Hortense, der Herr van Roelof – von ihnen sollte mir doch noch eine Nachricht zukommen.



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