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Jonathan Swift wurde am 30. März 1667 als posthumer Sohn eines mit 25 Jahren verstorbenen jungen Rechtsgelehrten in Dublin, Irlands Hauptstadt, geboren.

Sein Vater, Jonathan Swift, war einer der jüngeren Söhne eines Geistlichen in Herfordshire, der seinerseits wieder einer alten Familie aus Yorkshire entstammte, von der es mehrere Mitglieder in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu Ansehen, Titel und hoher Stellung gebracht hatten. Während der Bürgerkriege verfiel die Familie, die von Grund aus royalistisch gesinnt war. Jener Grossvater unseres Autors vor allem, Thomas Swift, der 1658 in seinem 63. Lebensjahre starb und 10 Söhne und 4 Töchter hinterliess, sah sich gezwungen, seine Kinder ganz auf sich selbst zu stellen. Zwei von ihnen sind für uns von Interesse: Der älteste Sohn, Godwin Swift, als derjenige, der unseres Autors Leben am stärksten beeinflusste; und der siebente oder achte, Jonathan Swift, als sein Vater.

Godwin Swift brachte es zu Reichtum und Ansehen. Jonathan Swift heiratete eine mittellose junge Dame aus guter Familie, begann in Dublin eine aussichtsvolle Laufbahn mit grossem Talent, starb aber, bevor er etwas erreichte. Sein posthumer Sohn war daher von jenem Onkel Godwin abhängig; und dieser Abhängigkeit verdanken wir vermutlich seine revolutionäre, aufrührerische Denkungsart, die nur ein Ideal kannte: Freiheit, Unabhängigkeit.

Godwin nämlich geriet in Vermögensverfall, war aber zu eitel, das merken zu lassen. Der Ruf eines Knickers schien ihm eher annehmbar als der eines unglücklichen Spekulanten. Der junge Jonathan, der den knausernden Onkel für reich hielt, begann, ihn zu hassen – ein Hass, der sein Leben lang nicht ebbte. Mit sechs Jahren schickte man ihn in die berühmteste Lateinschule Irlands: Kilkenny Grammar School, mit vierzehn auf die Universität Dublin, wo er fast sieben Jahre blieb. Er war ein schlechter Schüler und nicht ohne Insubordination. Die scholastische Logik (ein paar Namen: Smeglesius, Kellermannus, Burgersdicius) ging ihm nicht nur nicht ein, er weigerte sich auch, sie zu studieren. Er sagte seinem Lehrer offen, er finde, er könne logisch genug auch ohne sie denken. Sein letztes Examen bestand er nur »speciali gratia«, d.h. man liess ihn gehn, weil man ihn los sein wollte. Er war arm, mutlos, ohne Freunde und ohne die Empfehlung guter Schulleistungen. – Da kam die Revolution. Swifts Mutter, eine geborene Erick, lebte bereits in ihrer Heimat, Leicestershire, und Swift ging zu ihr. Sie schickte ihn zu Sir William Temple, dessen Vater mit den irischen Swifts befreundet gewesen, und dessen Frau irgendwie mit ihr verwandt war. Jonathan wurde Temples Amanuensis.

Der damals Einundsechzigjährige genoss eines Rufs, der dem des alten Goethe nicht unähnlich war. Der einst aktiv bedeutende Politiker stand längst ausserhalb des Tagesgezänks: ein Freund von Königen, ein Schöngeist, ein Gelehrter, der nicht wusste, was Ehrgeiz war. Er brachte Swift, ohne sich zunächst weiter mit ihm zu beschäftigen, auf den Weg der Studien, und zwar rein durch sein Beispiel. Nach zwei Jahren konnte Swift in Oxford sein Examen machen. Temple schrieb einen ausgezeichneten Stil, der vergessen liess, wie nichtig der Inhalt war, den er seinen Schriften gab. Und obwohl Swift sich gegen die zeremonielle Feierlichkeit des Lebens auf Moor Park in Surrey aufbäumte, war das Unbehagen, das er dort empfand, ein Stachel, sich irgendwie zur Ebenbürtigkeit zu erheben. Temple gab ihm das Zeugnis, er sei »fleissig und ehrlich«, und sah ihn im übrigen als einen Armen an, arm am Geist und am weltlichen Gut. Swift fand Mitleid. Immerhin hatte Swift es relativ gut, und er verdiente sich sein Leben. Seine Mutter besuchte er oft, stets zu Fuss, und auf diesen Reisen lernte er jene unteren Bevölkerungsschichten kennen, deren Art ihm später so erstaunlich vertraut war. Literarisch bemühte er sich eifrig – er schrieb Pindarische Oden zum Preise Temples, die ihm Drydens berühmtes Urteil eintrugen: er werde nie ein Dichter werden. Wie er sich rächte, sieht man in der »Bücherschlacht«. Alles aber, was Swifts Leben ausmachte, knüpfte sich jetzt allmählich an: selbst seine Krankheit, Schwindelanfälle und Taubheit. Fünf Jahre nach Swifts Aufnahme in Moor Park starb Lady Temple, Dorothy Osborne, bekannt durch ihre Briefe. Eine verwitwete Schwester Temples, Lady Giffard, über die man im Tagebuch Näheres findet, zog ins Haus und brachte eine Gesellschafterin, Frau Johnson, mit, die zwei Töchter hatte. Die ältere war 12 Jahre alt, und Swift befreundete sich mit diesem Kinde, das langsam sein Geschöpf zu werden schien: es ist die berühmte Stella, die Adressatin der Briefe des Tagebuchs. Dann begann Swift vermutlich am »Märchen von einer Tonne« zu arbeiten, und Temple erkannte, wen er bei sich hatte. Swifts Stellung hob sich. Zum erstenmal in seinem Leben kam er mit Königen in Verbindung. Wilhelm III. »lehrte ihn Spargeln auf holländische Art essen« und bot ihm eine Offizierstelle im Heere an. Temple dagegen versprach, ihm bei der Begründung einer geistlichen Laufbahn behilflich zu sein.

Dann kam ein Zerwürfnis mit Temple. Swift ging im Sommer 1694 nach Irland, um die Weihe zu nehmen. Temple bot ihm, um sein Versprechen einzulösen, eine Sekretärstelle am Kanzleigericht in Dublin an; Swift lehnte ab. Der König liess ihn im Stich, und zu seiner Demütigung musste er auch noch erfahren, dass er die Weihe nicht ohne ein Führungszeugnis Temples erhalten könnte. Er zögerte lange, ehe er an Temple schrieb. Schliesslich brachte er zähneknirschend einen demütigen Brief zustande. Temple schrieb freundlich zurück, und Swift erhielt die Weihe und eine kleine Pfarre in einem entlegenen Distrikt des Landes, wo ihn das Exil umgab. Temple andrerseits begann ihn sehr zu vermissen und bat ihn, nach Moor Park zurückzukehren. Swift nahm an, gab seine Pfarre auf und wurde nach kaum zweijähriger Unterbrechung von neuem Temples Vertrauensmann. Man beachte, dass er in sein dreissigstes Lebensjahr ging. Temple starb 1699. Swift erhielt ein kleines Legat und Temples posthume Papiere zur Veröffentlichung. Esther Johnson erbte ein kleines Gut in Irland und ihre Freundin, Frau Dingley, eine kleine Pension. Diese Frau Dingley wurde ihre lebenslange Gefährtin. Swift ging als Kaplan mit dem Grafen von Berkeley nach Irland, wohin Esther und Mrs. Dingley ihm auf seinen Rat folgten. Esther lebte hinfort auf ihrem kleinen Landsitz. Wieder wurde Swift seine Stellung unerträglich. Er bewarb sich um die Dechantei von Derry, die reichste des Landes, und nahm, als alles fehlschlug, die kleine Pfarre von Laracor an, die nicht weit von Dublin, dicht bei Trim, an der Küste liegt.

Inzwischen hatte sich seine ganze Stellung gewandelt. Überall begann man in ihm das Genie zu erkennen, und es begann jener groteske Gegensatz, der sein ganzes Leben kennzeichnet: der Gegensatz äusserlich höchst bescheidener Verhältnisse und eines Verkehrs in den höchsten Kreisen der Welt. Mit den Berkeleys blieb eine Freundschaft bestehn, die um so inniger wurde, als Swift jetzt von ihnen unabhängig war. Eine der Töchter des Grafen, Lady Betty Germaine, wurde seine herzliche Freundin. Seine Pfarre liess er bald durch einen Stellvertreter (Warburton) verwalten, und er selbst wurde Kaplan zweier aufeinander folgender Vizekönige, nämlich des Herzogs von Ormond (1703), der später sein guter Freund war (siehe Tagebuch), und des Grafen von Pembroke. Er war oft in London und wurde dort eine vielgesehene und bekannte Persönlichkeit unter den Männern der Literatur.

Es kommt hinzu, dass seine politische und literarische Tätigkeit begonnen hatte: zwar, wie sein Leben lang, anonym, aber all seinen Freunden kein Geheimnis. 1701 war die »Abhandlung über die Streitigkeiten und Zänkereien in Athen und Rom« erschienen, eine Schrift, die das Whigministerium stützte, obwohl sie im Grunde keineswegs whiggistisch war. Sie brachte ihn mit den leitenden Whigs in Verbindung: Lord Somers, Addison, Steele, Sir Andrew Fountaine, Lord Godolphin, Lord Halifax usw. 1704 folgte »Ein Märchen von einer Tonne«. Dann unter allerlei andren Schriften die »Einwände gegen die Abschaffung des Christentums«. Wie hoch er stieg, zeigt am besten, dass er sich 1707/08 schon Hoffnungen auf den erledigten Bischofssitz von Waterford machen konnte. Es war die erste Entmutigung in der langen Kette von Enttäuschungen, die sein äusseres Leben füllten, als dieser Bischofssitz im Januar 1708 an einen andern vergeben wurde. Im gleichen Jahr begann Swift in Briefen an den Erzbischof von Dublin, Dr. William King, seine für ihn, den selbstlosesten Menschen, so charakteristische Tätigkeit zugunsten der Kirche: er bat um Vollmacht, mit dem Whigministerium in den Fragen unterhandeln zu dürfen, die ihn 1710 von neuem nach London führten, kurz vor dem politischen Umschwung, der Swift auf die Höhe seines Lebens hob: diese Zeit, diese annähernd vier Jahre lernt man in aller Ausführlichkeit aus dem Tagebuch kennen, das in diesem Band der vorliegenden Ausgabe zu erscheinen beginnt. Swift wurde durch die Siegeskraft seines Genies ein paar Jahre hindurch fast allmächtig. Minister machten ihm den Hof, und Bischöfe waren seine Geschöpfe. Aber zugleich beginnt das einzige wirklich grosse innere Erlebnis, beginnt die Tragödie, beginnt das grosse Rätsel seines Lebens.

In Irland sass Stella und harrte mit jeder Post auf einen jener Briefe, die ihr Leben ausmachten, als Swift fort war; und was ihr diese Briefe sein mussten, ihr, die in Swift ihr Leben sah, das wird jeder begreifen, der diese Briefe des Tagebuchs liest. Swift aber lernte in London durch Zufall eine Frau Vanhomrigh kennen, die zwei Töchter besass, deren ältere die berühmte Vanessa war, zu der er in dasselbe Verhältnis trat, in dem er zu Stella gestanden hatte, ehe sie die Gefährtin seines Lebens wurde; er wurde ihr Freund, ihr Berater, ihr Führer in der Welt des Geistes: sie seine eifrige, lernbegierige Schülerin, glänzend begabt und rasch auf allen Pfaden folgend. – Stella, seine kleine MD (MyDear), wie er sie nennt, mit der er in Kindersprache redet, freilich stets wie mit einer geliebten Schwester, beginnt, eifersüchtig zu werden. Swift weist sie fast ärgerlich ab. Und doch entwickelte sich in London etwas, was einer Katastrophe zuzueilen schien.

Swift war in jeder Hinsicht ein Mann von unantastbarer Moral. Er war der geborene Freund – er verlangte unbedingte Gleichstellung: einem grossen Titel stellte er sein Genie und seine Leistung gegenüber; nie erkannte er eine äussere Überlegenheit an, und deshalb verlangte er, sobald der Schein einer solchen vorhanden war, die Beobachtung jeder weltlichen Förmlichkeit ihm gegenüber. Aber da, wo sich die Gleichheit auch äusserlich zeigte, kannte er eine geistige Überlegenheit über die äussere Form, wie sie nur unter wirklichen Freunden möglich ist und wie sie gefährlich wird, sobald sich andre Empfindungen einmischen, denen Hemmnisse entgegenstehen. Weshalb hatte Swift Stella nicht geheiratet? Er schützt seine beschränkten Mittel vor; aber in Wahrheit sah er in ihr wohl nur seine Freundin, und der Zeugnisse für seine sexuelle Kühle sind so viel, dass man kaum an Lord Orrerys und Sheridans Theorie von einer sexuellen Unfähigkeit zu zweifeln vermag. Daher war es von seiner Seite ungefährlich, wenn er mit so vielen Frauen in vertrauten Umgang trat. Er hatte es nie zu bereuen, ausgenommen dieses eine Mal. Vanessa hatte er gelehrt:

Nie kann's der Alltagsform gebühren,
Die grosse Seele wie ein Kind zu führen.

(Cadenus und Vanessa.)

Und diese Lehre führte Vanessa dahin, dem Vierundvierzigjährigen zu erklären, dass ihre Empfindung für ihn keine Freundschaft sei, sondern jene Liebe, die besitzen will. Swift übersah nicht gleich, vor welchem Abgrund er stand. Er hatte sich ein Ideal des Lebens mit Stella gebildet. Sie wohnte in Trim: bei dem dortigen Pfarrer, Dr. Raymond, oder bei Frau Curry, die ihr und Frau Dingley ein paar Zimmer vermietete. Wenn Swift in England war, zogen die beiden Damen in seine Wohnung, und wenn er wiederkam, so kehrten sie nach Trim zurück. Es war – zu Stellas geheimem Kummer – ein rein platonisches Verhältnis: auf Swifts Seite wirkliche Freundschaft: und daran wollte er nichts ändern. Es kam hinzu, dass seine Gesundheit nicht gerade fest, und dass Vanessa jung, schön, geistvoll und reich war. Swift suchte ihre Erklärung hinwegzuspotten. Aber er hatte die Gewalt ihrer Empfindung unterschätzt, und er hatte es schwer zu büssen, dass er nicht sofort jeden Verkehr mit ihr abbrach. Langsam verlor er vor den immer wiederkehrenden Ausbrüchen wirklicher Leidenschaft selber den Boden unter den Füssen. Und als er es merkte, war es zu spät. Als er nach Irland zurückkehrte, um seine Dechantei in Dublin zu beziehen, die ihn der Sorgen enthob, trat nun auch Stella mit dem Verlangen an ihn heran, ihr Verhältnis zu ihm durch eine Heirat zu sanktionieren. Swift war in einer furchtbaren Lage: auf der einen Seite banden ihn herzliche Freundschaft, Dankbarkeit und eine zwanzigjährige Gewohnheit. Auf der andern Seite zog ihn etwas, was auch bei ihm zur kopflosen Leidenschaft zu werden drohte. Es ist nicht wahrscheinlich, dass er je in eine Eheschliessung gewilligt hätte, wenn nicht der Lauf der Dinge diese Lage geschaffen hätte. Vermutlich wollte er einerseits eine moralische Verpflichtung Stella gegenüber einlösen und andrerseits zwischen sich und Vanessa eine unübersteigbare Schranke errichten. Aber wäre nicht jene Theorie von seiner sexuellen Ohnmacht, so wären die Bedingungen, unter denen die Eheschliessung erfolgte, vollkommen unverständlich. Er verlangte von Stella, dass sie niemals Anspruch darauf erheben dürfte, als sein Weib zu leben, und dass kein Mensch, wer es auch sei, von ihrer Heirat erfahren sollte. Stella, die erkannte, dass dies sein letztes Wort war, willigte ein: wusste sie, da sie nichts, gar nichts durch diese Eheschliessung gewann, dass sie Swift nur so dauernd für sich rettete?

Aber dieser Mensch, der mittlerweile in einer ungeheuren Selbstzucht zu Erz geworden war, der die Menschen durchschaute und verachtete, musste erfahren, dass es dunkle Untergründe in seiner eigenen Brust gab, die sich seiner Herrschaft entzogen. Vanessa war ihm nach Irland gefolgt, und er konnte sich nicht enthalten, sie wiederzusehen. Seine Briefe an sie sind kühl, abwehrend; aber ihre Briefe zeigen, dass er sich fortreissen liess, sowie sie ihm persönlich gegenüberstand. Soll man moralische Massstäbe anlegen? Sie zerbrechen wie überall, wo das Leben seine Logik gebraucht.

Dann kam die Katastrophe. Vanessa hörte ein Gerücht von der Heirat mit Esther; sie verlangte nun ihrerseits nochmals die Eheschliessung: ihre Briefe wirken wie ein glühender Fieberhauch. Sie war jetzt 37 Jahre alt, und der Altersunterschied von weit über 20 Jahren wirkte nicht mehr ganz so grotesk. Sie entschloss sich zu einem verhängnisvollen Schritt. Sie schrieb im Frühjahr 1723 an Stella, die ohnehin gleichfalls durch allerlei schon genügend beängstigt war, und fragte kurz an, ob sie mit dem Dechanten Swift verheiratet wäre oder nicht. Stella antwortete bejahend und schickte Swift ohne ein begleitendes Wort Vanessas Anfrage ein. Zugleich verliess sie die Stadt und ging zu dem bewährten Freund Charles Ford nach Wood-Park. Swift kannte sich selbst nicht mehr. Er ritt auf der Stelle nach Celbridge, Vanessas Landsitz, trat stumm, aber mit sturmdrohendem Gesicht in ihr Zimmer, antwortete auf ihre Frage, ob er sich nicht setzen wollte, mit einem kurzen »Nein«, warf ihren Brief an Stella auf den Tisch und ging hinaus, um sofort nach Dublin zurückzureiten. Vanessa verfiel einem Fieber, an dem sie starb; Swift machte zu Pferde eine Reise durch Südirland und liess zwei Monate lang nichts wieder von sich hören. Vanessa hatte ein Testament zugunsten Swifts widerrufen und statt dessen angeordnet, dass das Gedicht »Cadenus und Vanessa«, in dem Swift die Geschichte ihrer Liebe geschildert hatte, und ihr Briefwechsel veröffentlicht werden sollten. Es gelang den Freunden Swifts, die Korrespondenz zu unterdrücken; aber das Gedicht erschien, und Stella sah, an welchem Abgrund sie gestanden hatte.

Dies das zentrale Erlebnis Swifts. Im übrigen war er Dechant geworden und wurde Der Dechant, wie man es im ersten Band dieser Ausgabe gesehn hat. Das Verhältnis zu Stella würde geheilt: der Riss vernarbte. Der alternde Swift hing immer fester an ihr; aber vom Frühjahr 1726 an musste er ihren Tod erwarten, der 1728 erfolgte. Was sie besass, hinterliess sie auf Swifts Rat zu wohltätigen Zwecken.

Dann kam das Dunkel. Die letzten Jahre hatten die Tuchhändlerbriefe und Gulliver gebracht; daneben Broschüren, Balladen usw. in Fülle. Aber der Menschenhass wuchs: das grosse Erlebnis hatte ihm keine Befreiung gebracht. Sein Lebensende zieht sich durch sechzehn lange Jahre hin: im Anfang noch erleuchtet durch Freundschaften: Dr. Sheridan, Charles Ford, Bolingbroke: bis auch diese Lichter erloschen und die Nacht hereinbrach: Swifts Gedächtnis versagte, und schlimme Leidenschaften: Geiz, Laune und masslose Menschenverachtung – das war das letzte Flackern eines Intellekts, der einst Jahrhunderte überschaute. Dann kam die völlige Apathie. 1742 musste er entmündigt werden, und er sprach nur selten noch ein Wort. Es war wie ein ungeheurer Schlaf. Zwei- oder dreimal soll er noch einen Satz geformt haben in diesen letzten Jahren. Einmal sprach ihm jemand an seinem Geburtstag von den Illuminationen, mit denen die Stadt den Geburtstag des Tuchhändlers feierte; da murmelte er vor sich hin: »Das ist alles Unsinn; sie sollten es lieber lassen.« Er starb im Oktober 1745 in seinem 87. Jahre. Seine selbstverfasste Grabinschrift lautet:

Hic depositum est corpus

Jonathan Swift. S.T.P.

Huius ecclesiae Cathedralis decani.
Ubi saeva indignatio
Cor ulterius lacerare nequit.
Abi viabor
et imitare, si poteris,
strenuum pro virili Libertatis vindicem.

Seinen Besitz bestimmte er zum Bau eines Irrenhauses.

Dies das Gerippe; es einigermassen auszufüllen, ist den vier Bänden dieser Ausgabe überlassen. Nur ein paar Worte über den Charakter des Menschen mögen noch folgen. Er war ein Freund von unverbrüchlicher Verlässlichkeit und dabei von einer Selbstlosigkeit, die ans Grandiose grenzte. Ein Drittel seines Einkommens widmete er sein Leben lang wohltätigen Zwecken, selbst, als der Geiz ihn zu beherrschen begann. Von seinem Witz und seinen Geistesgaben legen seine Werke das beste Zeugnis ab. Sein Menschenhass war bis zum Ausbruch seines Wahnsinns rein theoretisch; da allerdings von einer Gewalt, die man begreift, wenn man den vierten Teil seines Gulliver auf sich wirken lässt: und merkwürdigerweise zugleich von einer Gerechtigkeitsliebe ohnegleichen: im ganzen ein Mensch, der zur Herrschaft geboren schien, und weil er nicht herrschte, seinen Betätigungsdrang in eruptiven Schriften entlud.

Für diese beiden letzten Bände der Auswahl aus Swifts Prosawerken ist der Herausgeber vor allem folgenden Vorgängern verpflichtet: Thomas Sheridan, Sir Walter Scott, W. M. Thackeray, W. E. H. Lecky und Frederick Ryland, denen gegenüber er hiermit seine Verpflichtungen anerkennt.

Der Gang dieser Ausgabe, die mit der Biographie schliesst, statt mit ihr zu beginnen, erklärt sich von selber: sie sollte vom Werk zum Menschen führen.

Februar 1909.

F.P.G.


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