Bertha von Suttner
Die Waffen nieder!
Bertha von Suttner

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Sechstes Buch.

1870/71.

Vorahnungen? Die gibt es nicht. Paris hätte sonst, als wir an einem sonnigen Nachmittag des März 1870 dort anlangten, mir keinen so heiteren, lustversprechenden Eindruck machen können. Man weiß es heute, was damals in kürzester Frist derselben Stadt für Schrecknisse bevorstanden – aber mich beschlich nicht das mindeste trübe Vorgefühl.

Wir hatten schon im voraus – durch den Agenten John Arthur – dasselbe kleine Palais gemietet, welches wir im letzten Jahre bewohnt, und an der Einfahrt desselben erwartete uns auch unser vorjähriger maître d'hôtel. Als wir, um zu unserer Wohnung zu gelangen, über die elysäischen Felder fuhren – es war eben die Bois-Stunde – da begegneten wir mehreren unserer alten Bekannten und tauschten fröhliche Wiedersehensgrüße. Die vielen kleinen Veilchenkarren, welche um diese Jahreszeit in den Straßen von Paris herumgerollt werden, füllen die Luft mit tausend Frühlingsversprechungen; die Sonnenstrahlen funkelten und spielten regenbogenfarbig in den Springbrunnen des Rundplatzes und hefteten kleine Fünkchen an die Wagenlaternen und das Pferdegeschirr der zahlreichen Gefährte. Unter anderem fuhr auch die schöne Kaiserin in einem à la Daumont bespannten Wagen an uns vorbei und winkte, mich erkennend, einen Gruß mit der Hand.

Es gibt so einzelne Bilder und Szenen, die sich in das Gedächtnis einphotographieren und -phonographieren, samt den sie begleitenden Empfindungen und einigen gleichzeitig gesprochenen Worten. »Schön ist doch dieses Paris!« rief damals Friedrich aus – und meine Empfindung war ein »kindisches Sichfreuen« auf den kommenden Aufenthalt. Hätte ich gewußt, was mir, was dieser ganzen, in Glanz und Heiterkeit getauchten Stadt bevorstand – – –

Diesmal vermieden wir es, uns, wie im verflossenen Jahre, in den Strudel weltlicher Vergnügungen zu werfen. Wir erklärten, keine Balleinladungen annehmen zu wollen und hielten uns von den großen Empfängen fern. Auch das Theater besuchten wir nicht mehr so häufig – nur wenn irgendein Stück besonderes Aufsehen machte – und so kam es, daß wir die meisten Abende allein oder in Gesellschaft weniger Freunde, in unserem Heim verbrachten.

Was unsere Pläne in bezug auf des Kaisers Abrüstungsidee betraf, so kamen wir eigentlich schlecht damit an. Napoleon III. hatte zwar seine Idee nicht ganz aufgegeben, aber der jetzige Moment – hieß es – sei zu deren Ausführung durchaus ungeeignet. In der Umgebung des Thrones war man sich bewußt, daß dieser Thron nicht auf gar festen Füßen stand; eine große Unzufriedenheit kochte und gärte im Volk, und um diese niederzuhalten, wurden alle Polizei- und Zensurmaßregeln verschärft – was nur um so größere Unzufriedenheit zur Folge hatte. Das einzige, so sagten gewisse Leute, was der Dynastie neuen Glanz und Bestand geben könnte, wäre ein glücklicher Feldzug ... Dazu lag freilich keine nahe Aussicht vor, aber von Abrüstung sprechen, wäre ganz und gar gefehlt; dadurch würde ja der ganze Nimbus der Bonaparte zerstört, welcher ja auf dem Ruhmeserbe des großen Napoleon beruhte. Außerdem war uns auch auf unsere Anfragen aus Preußen und Österreich kein ermunternder Bescheid geworden. Man war da in die Ära der Vergrößerung der Wehrmacht (das Wort: »Armee« begann aus der Mode zu kommen) getreten und da fiele das Wort Abrüstung als grober Mißton hinein. Im Gegenteil, um die Segnungen des Friedens zu erhalten, mußte man die »Wehrkraft« nur recht steigern – den Franzosen war nicht zu trauen ... den Russen auch nicht ... den Italienern schon gar nicht; die fielen gleich über Triest und Trient her, wenn sich Gelegenheit dazu böte – kurz, nur schön fleißig das Landwehrsystem pflegen.

»Die Zeit ist nicht reif,« sagte Friedrich, wenn wir solche Mitteilungen erhielten. »Und die Hoffnung, daß ich in Person das Reisen der Zeit beschleunigen könne oder gar die ersehnten Früchte daran sprießen sehe – die muß ich vernünftigerweise wohl aufgeben ... Was ich beitragen kann, ist gar winzig. Aber von der Stunde an, da ich dieses Winzige als meine Pflicht erkannt, ist es mir doch zum Größten geworden – also harre ich aus.«

Wenn auch vorläufig das Entwaffnungsprojekt ins Wasser gefallen war, eine Beruhigung hatte ich doch: es war kein Krieg in Sicht. Die bei Hofe und auch in der Bevölkerung vorhandene Kriegspartei, welche da meinte, daß die »Dynastie in Blut aufgefrischt« werden sollte und daß dem Lande wieder ein Portiönchen Ruhm erwachsen müsse, die mußte auf Angriffspläne und auf den verlockenden »kleinen Feldzug um die Rheingrenze« verzichten. Denn Frankreich besaß keine Verbündeten; im Lande herrschte große Trockenheit, Futtermangel war vorausgegangen, man mußte die Militärpferde verkaufen, nirgends eine schwebende »Frage«, das Rekrutenkontingent ward vom gesetzgebenden Körper herabgesetzt, kurz – so erklärte bei dieser Gelegenheit von der Tribüne herab Ollivier: der Friede Europas ist gesichert.

Gesichert. Ich freute mich über dieses Wort. In allen Zeitungen ward es wiederholt und viele Tausende freuten sich mit mir. Was kann es denn für die meisten Menschen besseres geben, als gesicherten Frieden? Wieviel diese Sicherheit aber wert war, die da am 30. Juni 1870 von einem Staatsmann verkündet worden, das wissen wir heute alle. Und das hätten wir auch schon damals wissen können, daß derlei staatsmännische Versicherungen – welchen das Publikum immer wieder mit gleich naivem Vertrauen lauscht – doch keine, gar keine Bürgschaft enthalten. Die europäische Lage weist keine »schwebende Frage« auf, darum ist der Friede gesichert: – welche schwache Logik! Die Fragen können ja jeden Augenblick herangeschwebt kommen; – erst wenn man für diesen Fall ein anderes Mittel in Bereitschaft hielte, als den Krieg, erst dann wäre man gegen den Krieg gesichert.

Wieder zerstreute sich die Pariser Gesellschaft nach allen Windrichtungen. Wir aber blieben – Geschäfte halber – zurück. Es hatte sich uns nämlich ein außerordentlich vorteilhafter Ankauf geboten. Durch die plötzliche Abreise eines Amerikaners war ein kleines, erst halbvollendetes Hotel in der Avenue de l'Imperatrice feil geworden, und zwar um einen Preis, der nicht viel mehr betrug, als die zur Ausschmückung und Einrichtung des Objektes bereits verwendete Summe. Da wir nun einmal die Absicht hatten, auch in Zukunft einige Monate des Jahres in Paris zu verbringen und da der betreffende Kauf zugleich ein vortreffliches Geschäft war, so schlossen wir den Handel ab. Die Fertigstellung wollten wir selber überwachen und zu diesem Behuf blieben wir in Paris. Die Ausschmückung eines eigenen Nestes ist zudem eine so genußreiche Arbeit, daß wir dafür die Unannehmlichkeit, den Sommer in der Stadt zu bleiben, gern auf uns nahmen.

Übrigens blieb uns auch in geselliger Beziehung noch Ansprache genug. Das Schloß der Prinzessin Mathilde, St. Gratien, ferner Schloß Mouchy, dann Baron Rothschilds Besitzung, Ferrières, und noch mehrere andere Sommersitze unserer Bekannten lagen in der Nähe von Paris, und ein- oder zweimal wöchentlich statteten wir bald da, bald dort einen Besuch ab.

Es war, ich erinnere mich, im Salon der Prinzessin Mathilde, daß ich zum erstenmal von der »Frage« hörte, die zur »schwebenden« werden sollte.

Die Gesellschaft saß – nach dem Gabelfrühstück – auf der Terrasse, mit dem Ausblick nach dem Park. Wer alles da war? Dessen kann ich mich nicht mehr entsinnen – nur zwei der anwesenden Persönlichkeiten sind mir im Gedächtnis geblieben; Taine und Renan. Die geistvolle Herrin von St. Gratien liebte es, sich mit literarischen und wissenschaftlichen Größen zu umgeben.

Die Unterhaltung war eine sehr rege und ich kann mich erinnern, daß es meist Renan war, der das Wort führte, geistsprühend und witzig. Wie man unglaublich häßlich sein kann und dabei doch unglaublichen Zauber ausüben, davon ist der Verfasser des Lebens Jesu ein merkwürdiges Beispiel.

Jetzt fiel das Gespräch auch auf Politik. Für den spanischen Thron werde ein Kandidat gesucht ... Ein Prinz von Hohenzollern solle die Krone erhalten ... Ich hatte kaum hingehorcht, denn was konnte es mir, was konnte es allen hier Gleichgültigeres geben, als der spanische Königsthron und derjenige, der darauf zu sitzen käme? Doch da sagte jemand:

»Ein Hohenzoller? Das wird Frankreich nicht dulden.«

Das Wort schnitt mir in die Seele, denn was heißt dieses »nicht-dulden«? Wenn das im Namen eines Landes gesagt wird, so sieht man im Geiste die dieses Land personifizierende Riesenjungfrauen-Statue mit trotzig zurückgeworfenem Kopfe und mit der Hand am Schwertesknauf.

Doch es wurde bald wieder auf ein anderes Gesprächsthema übergegangen. Wie folgenschwer diese spanische Thronfolge noch werden sollte, das ahnte unter uns noch niemand. Ich auch nicht, natürlich. Mir war nur das anmaßende »das wird Frankreich nicht dulden« als ein Mißton im Gedächtnis haften geblieben und damit zugleich die ganze umgebende Szenerie.

Von nun an sollte die spanische Thronfolge immer lauter und aufdringlicher werden. Täglich wurde der Raum größer, den sie in den Zeitungen und in den Salongesprächen einnahm und ich weiß, daß sie mich in hohem Grade langweilte; diese Hohenzollern-Kandidatur: man konnte bald gar nichts anderes hören. Und mit einer Entrüstung wurde davon gesprochen, als könnte Frankreich nichts Beleidigenderes widerfahren; die meisten durchschauten es als eine von Preußen ausgehende Provokation zum Kriege. Es ist doch klar – hieß es – Frankreich konnte die Sache nicht dulden; wenn also die Hohenzollern darauf bestehen, so ist das die reine Herausforderung. Das verstand ich nicht. Übrigens war ich ohne Sorge. Wir erhielten Briefe aus Berlin, worin uns von wohlunterrichteter Seite mitgeteilt wurde, daß man bei Hofe nicht den mindesten Wert darauf lege, daß die spanische Krone einem Hohenzollern zufalle. Wir beschäftigten uns demnach weit mehr mit unserem Hausbau, als mit der Politik. Aber allmählich wurden wir doch aufmerksam. So wie vor dem Sturm ein gewisses Blätterrascheln durch den Wald geht, so raschelt es vor dem Krieg von gewissen Stimmen durch das Volk. »Nous aurons la guerre, nous aurons la guerre!« das tönte durch die Pariser Luft. Da erfaßte mich unsägliches Bangen. Nicht um die Meinen – denn wir Österreicher waren ja vorläufig aus dem Spiele; im Gegenteil: uns sollte ja möglicherweise »Satisfaktion« geboten werden – die bekannte Sadowa-Rache. Aber wir hatten es verlernt, den Krieg vom nationalen Standpunkt aus zu betrachten, und was er vom menschlichen, vom edelmenschlichen ist – daß weiß man ja. Das drücken folgende Worte aus, die ich einst aus dem Munde Guy de Maupassants gehört:

»Quand je songe seulement à ce mot ›la guerre‹ – il me vient un effacement, comme si l'on me parlait de sorcellerie, d'inquisition,d'une chose lointaine, finie, abominable, contre nature« ...

Als die Nachricht eintraf, daß Prim dem Prinzen Leopold die Krone angetragen, hielt der Herzog von Grammont im Parlament eine mit großem Beifall aufgenommene Rede, ungefähr nachstehenden Inhalts:

»Wir mischen uns nicht in fremde Angelegenheiten, aber – wir glauben nicht, daß die Achtung vor den Rechten eines Nachbarstaates uns verpflichtet, zu dulden, daß eine fremde Macht, indem sie einen ihrer Prinzen auf den Thron Karls V. setzt, zu unserem Schaden das bestehende Gleichgewicht der Kräfte von Europa (O dieses Gleichgewicht – welcher kriegsdurstige Heuchler hat diese hohle Phrase erfunden?) störe und die Interessen, die Ehre Frankreichs in Gefahr bringe.«

Ich kenne ein Märchen von George Sand, genannt Gribouille. Dieser Gribouille hat die Eigenheit, wenn Regen droht, sich aus Furcht vor dem Naßwerden in den Fluß zu stürzen. Wenn ich höre, daß der Krieg angetragen wird, um drohenden Gefahren vorzubeugen, so muß ich immer an Gribouille denken. Wohl hätte ein ganzer Hohenzollernstamm sich auf Karls V. und noch auf verschiedene andere Throne setzen können, ohne Frankreichs Interessen und Frankreichs Ehre nur den tausendsten Teil von dem Schaden zuzufügen, der ihnen aus dem klugen »Das können wir nicht dulden« erwachsen ist.

»Dieser Fall,« fuhr der Redner fort, »wir hegen die feste Zuversicht, wird nicht eintreten. Wir rechnen in dieser Beziehung auf die Weisheit des deutschen und auf die Freundschaft des spanischen Volkes. Sollte es anders kommen – dann, meine Herren, werden wir wissen, stark durch Ihre Unterstützung und die der Nation, unsere Pflicht ohne Schwanken und ohne Schwäche zu tun.« (Stürmisches Bravo.)

Von da ab beginnt die Kriegshetze in der Presse. Besonders ist es Girardin, welcher seine Landsleute nicht genug anfeuern kann, die unerhörte Kühnheit, welche in dieser Thronkandidatur liege, gehörig zu züchtigen. Es wäre gegen alle Würde Frankreichs, wenn es da nicht sein Veto einlegte ... freilich, Preußen wird nicht nachgeben, denn es ist ihm daran gelegen, dem Wahnsinnigen, den Krieg heraufzubeschwören. Durch seine Erfolge von 1866 berauscht, glaubt es, jetzt auch über den Rhein seine Sieges- und Raubzüge machen zu dürfen – aber da sind wir da, Gott sei Dank, solche Gelüste den übermütigen Spitzhelmen zu vertreiben. ... In diesem Tone geht es fort. Napoleon III. zwar, wie wir durch ihm nahestehende Personen erfahren, wünscht nach wie vor die Erhaltung des Friedens; aber in seiner Umgebung finden die meisten, daß ein Krieg jetzt unvermeidlich sei, daß – da man im Volke ohnehin mit der Regierung unzufrieden – das beste, was man tun könne, um sich den Respekt des ruhmsüchtigen Landes zu sichern, ein glücklicher Krieg wäre: »il faut faire grand«.

Nun wird in der Runde bei anderen europäischen Kabinetten über die Angelegenheit angefragt. Jedes erklärt, daß es den Frieden wünsche. In Deutschland wird ein aus Volkskreisen stammendes Manifest veröffentlicht, welches unter anderem auch von Liebknecht unterzeichnet ist, worin es heißt, »der bloße Gedanke an einen deutsch-französischen Krieg sei ein Verbrechen«. Bei dieser Gelegenheit erfahre ich und kann es in mein Friedensprotokoll eintragen: »daß eine Verbindung mit Hunderttausenden von Mitgliedern existiert, welche die Abschaffung aller Vorurteile des Standes und der Nation zum Programmpunkt erhoben hat.«

Benedetti erhält die Mission, den König von Preußen aufzufordern,. daß dieser dem Prinzen Leopold die Annahme der Krone verbiete. König Wilhelm befand sich augenblicklich zur Kur in Ems – Benedetti begibt sich dahin und erhält am 9. Juli eine Audienz.

Wie wird der Ausgang sein? Ich erwarte die Nachricht mit Zittern.

Die Antwort des Königs lautet einfach: daß er einem volljährigen Prinzen nichts verbieten könne.

Diese Antwort versetzte die Kriegspartei in triumphierende Freude: »Also man will es darauf ankommen lassen? ... Man will uns bis aufs äußerste reizen? Das Haupt des Hauses sollte einem Mitglied desselben nichts verbieten und gebieten können? Lächerlich! Das ist offenbar abgemachtes Komplott: die Hohenzollern wollen sich in Spanien festsetzen und dann von Osten und Süden unser Land überfallen. Und das sollten wir abwarten? Die Demütigung sollten wir uns gefallen lassen, daß man unseren Protest nicht beachtet? Nimmermehr: wir wissen, was die Ehre, was der Patriotismus uns gebeut« ...

Immer lauter und lauter, immer unheimlicher rascheln die Sturmesvorboten. Da, am 12. Juli kommt eine Botschaft, die mich mit Entzücken erfüllt: Don Salusto Olozaga zeigt offiziell der französischen Regierung an, daß Prinz Leopold von Hohenzollern, um keinen Vorwand zu einem Krieg zu bieten, auf die Annahme der angebotenen Krone verzichtet.

Nun Gottlob: die ganze »Frage« war ja damit einfach weggeräumt. Die Nachricht wird um 12 Uhr mittags in der Kammer mitgeteilt und Ollivier erklärt, daß dies das Ende des Streites sei. Am selben Tag wurden jedoch (offenbar die Ausführung früherer Befehle) Truppen und Material nach Metz dirigiert und in derselben Sitzung macht Clement Duvernois folgende Interpellation:

»Was haben wir für Bürgschaften, daß Preußen nicht wieder ähnliche Verwickelungen heraufbeschwört, wie diese spanische Kronkandidatur? Dem muß vorgebeugt werden.«

Schon wieder regt sich Gribouille: Es könnte – vielleicht – einmal – ein leiser Regen uns naß zu machen – drohen: also schnell in den Fluß gesprungen: – und abermals wird Benedetti nach Ems geschickt, diesmal den König von Preußen aufzufordern, daß er dem Prinzen Leopold ein- für allemal und für alle Zukunft verbiete, auf die Kandidatur zurückzukommen. Kann wohl auf solches Vorschreiben-wollen einer Handlung, zu welcher der Aufgeforderte nicht einmal befugt ist, etwas anderes erfolgen als ungeduldiges Achselzucken! Das mußten diejenigen doch wissen, welche die Anforderung stellten.

Am 15. Juli wieder eine denkwürdige Sitzung. Ollivier verlangt einen Kredit von fünfhundert Millionen für den Krieg. Thiers stimmt dagegen. Ollivier entgegnet: er nehme die Verantwortung vor der Geschichte auf sich. Der König von Preußen habe sich geweigert, den französischen Botschafter zu empfangen und dies durch eine Note der Regierung angezeigt. Die Linke verlangt diese Note zu sehen. Die Majorität verbietet tumultuarisch und durch Abstimmung die Vorzeigung des (wahrscheinlich gar nicht existierenden) Dokuments. Diese Majorität bewilligt alles, was die Regierung für den Krieg fordert. Solche patriotische Opferwilligkeit, die da ohne Zaudern das Verderben bewilligt, wird natürlich wieder mit den bereitliegenden Phrasenklischees gehörig bewundert.

16. Juli. England macht Versuche, den Krieg zu hindern: Vergebens ... Ja, gäbe es eingesetzte Schiedsgerichte – wie leicht und einfach wäre da ein so geringfügiger Konflikt gehoben.

19. Juli. Der französische Geschäftsträger in Berlin überreicht der preußischen Regierung die Kriegserklärung.

Kriegserklärung. Die vier Silben sprechen sich ganz gelassen aus. Was ist's auch weiter? Der Beginn einer außer-politischen Aktion, und so nebenbei eine halbe Million Todesurteile.

Auch dieses Aktenstück habe ich in die roten Hefte eingetragen. Es lautete:

»Die Regierung Sr. Majestät des Kaisers der Franzosen konnte den Plan, einen preußischen Prinzen auf den spanischen Thron zu erheben, nur als ein Unternehmen gegen die territoriale Sicherheit Frankreichs betrachten und hat sich daher genötigt gesehen, von Sr. Majestät dem Könige von Preußen die Versicherung zu verlangen, daß eine ähnliche Kombination mit seiner Zustimmung nicht wieder vorkommen werde. Da Se. Majestät diese Zustimmung verweigert und im Gegenteil unserem Gesandten erklärt hat, er gedenke sich für dieses Vorkommnis die Möglichkeit vorzubehalten, die Umstände zu befragen, so hat die kaiserliche Regierung in dieser Erklärung des Königs einen Hintergedanken erkennen müssen, welcher für Frankreich und für das europäische Gleichgewicht (da haben wir's schon wieder, das berühmte Gleichgewicht: ›Seht dieses Wandbrett mit den kostbaren Schalen darauf – es schwankt – die Schalen könnten herunterfallen – also schlagen wir hinein ...‹) bedrohlich ist. Diese Erklärung hat einen noch schwereren Charakter erhalten durch die Mitteilung, welche dem Kabinett gemacht wurde, von der Weigerung, den Gesandten des Kaisers zu empfangen und mit ihm neue Auseinandersetzungen einzuleiten (also durch solche Dinge: mehr oder minder freundlichen Verkehr zwischen Regenten und Diplomaten, wird das Schicksal der Völker bestimmt ...). Infolgedessen hat die französische Regierung es für ihre Pflicht (!) gehalten, ohne Verzug an die Verteidigung (ja, ja, Verteidigung – niemals Angriff) ihrer verletzten Würde, ihrer verletzten Interessen zu denken und entschlossen zu diesem Zwecke alle Maßregeln zu ergreifen, welche von der ihr geschaffenen Lage geboten werden, betrachtet sie sich von jetzt an als im Zustand des Krieges mit Preußen.»

Zustand des Krieges ... Bedenkt derjenige, der auf dem grünen Tuch seines Schreibtisches dieses Wort zu Papier bringt, daß er seine Feder in Flammen getaucht hat, in blutige Thränen, in Seuchengift? ...

Also wegen eines für einen vakanten Thron gesuchten Königs und infolge einer zwischen zwei Monarchen gepflogenen Unterhandlung war diesmal der Sturm entfesselt? Sollte Kant doch recht haben mit seinem ersten Definitivartikel zum ewigen Frieden:

»Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein?«

Allerdings fielen durch Verwirklichung dieses Artikels manche Kriegsursachen weg, denn die Geschichte zeigt, wie viele Feldzüge dynastischer Fragen willen unternommen wurden, und alle Einsetzung monarchischer Gewalt beruht ja nur auf glücklicher Kriegführerschaft; indessen: auch Republiken sind kriegerisch. Der Geist ist es, der alte, wilde, der in den Völkern – seien sie nun in dieser oder jener Form regiert – Haß und Rauflust und Siegesehrgeiz anfacht.

Ich erinnere mich, welch eine ganz eigentümliche Stimmung mich selber in jener Zeit erfaßte, da der deutsch-französische Krieg sich vorbereitete und dann losbrach. Diese Gewitterschwüle vorher, dieses gewaltige Sturmwehen nach der Erkältung ... Die ganze Bevölkerung war in Fieber, und wer kann solcher Epidemie sich entziehen? Natürlich – nach altem Brauch – wurde der Beginn des Feldzuges schon als Siegeszug betrachtet, das ist ja so patriotische Pflicht. »A Berlin – á Berlin!» jubelte es durch die Straßen und von den Imperialen der Omnibusse herab; die Marseillaise an allen Ecken und Enden: Le jour de gloire est arrivé! In jeder Theatervorstellung mußte die erste Schauspielerin oder Sängerin – in der Oper war es Marie Saß – im Jeanne d'Arc-Kostüm vor die Rampe treten und fahnenschwingend dieses Kampflied singen, welches vom Publikum stehend angehört, und bisweilen mitgesungen wurde. Auch wir haben das eines Abends mit angesehen, Friedrich und ich, und auch wir mußten von unsern Sitzen uns erheben. »Mußten« nicht aus äußerem Zwang, wir hätten uns in den Hintergrund der Loge zurückziehen können – sondern mußten, weil wir elektrisiert waren.

»Siehst Du, Martha,« erklärte mir Friedrich, »solcher Funke, der da von einem zum anderen springt und diese ganze Menge in einem vereinten und erhöhten Herzschlag erheben macht – das ist Liebe –«

»Meinst Du? Es ist doch ein hassendes Lied:

»Daß ihr unreines Blut
Unsere Furchen tränke –«

»Tut nichts: vereinigter Haß ist auch eine Form von Liebe. Wo sich zwei oder mehrere in einem gemeinsamen Gefühl zusammentun, da lieben sie einander. Laß nur einmal einen höheren Begriff, als den der Nation, nämlich den der Menschheit und der Menschlichkeit, als gemeinsames Ideal aufgefaßt werden, dann –«

»Ach wann wird das sein?« seufzte ich.

»Wann? Das ist sehr relativ. Im Verhältnis zu unserer Existenzdauer – nie; im Verhältnis zu derjenigen unseres Geschlechtes – morgen.«

Wenn ein Krieg ausgebrochen ist, so spalten sich alle Anhänger der neutralen Staaten in zwei Lager; die einen nehmen für diesen, die anderen für jenen Teil Partei: es ist da wie eine große schwebende Wette, bei der jeder mithält.

Wir beide, Friedrich und ich, mit wem sollten wir sympathisieren, wem den Sieg wünschen? Als Österreicher waren wir »patriotisch« vollkommen berechtigt, unsere Überwinder aus dem vorigen Kriege diesmal als Überwundene sehen zu wollen. Ferner ist es auch naturgemäß, daß man jenen, in deren Mitte man lebt, von deren Gefühlen man unwillkürlich angesteckt wird, die größere Sympathie zuwendet – und wir waren ja von Franzosen umgeben. Dennoch: Friedrich war preußischer Abkunft, und waren nicht auch wir die Deutschen, deren Sprache ja die meine ist, stammverwandter als ihre Gegner? Außerdem war die Kriegserklärung nicht von den Franzosen aus so nichtigem Grunde – nein, nicht Grunde, Vorwande – ausgegangen, mußten wir daher nicht einsehen, daß die Sache der Preußen die gerechte war, daß diese nur als Verteidiger und dem Zwang gehorchend in den Kampf zogen? Und war die Einmütigkeit nicht erhebend, mit welcher die vor kurzem noch sich befehdenden Deutschen sich jetzt zusammenscharten? Sehr richtig hatte König Wilhelm in seiner Thronrede vom 19. Juli gesagt:

»Das deutsche und das französische Volk, beide die Segnungen christlicher Gesinnung und steigenden Wohlstandes gleichmäßig genießend, waren zu einem heilsameren Wettkampfe berufen, als zu dem blutigen der Waffen. Doch die Machthaber Frankreichs haben es verstanden, das wohlberechtigte aber reizbare Selbstgefühl unseres großen Nachbarvolkes durch berechnete Mißleitung für persönliche Interessen und Leidenschaften auszubeuten –«

Kaiser Napoleon erließ seinerseits folgende Proklamation:

»Angesichts der anmaßenden Ansprüche Preußens haben wir Einsprache getan. Diese ist verspottet worden. VorgängeDiese Vorgänge wurden 18 Jahre später wie folgt beurteilt. In seinem Werk über den Feldzug von 1870 schreibt General Boulanger: Après avoir obtenu une satisfaction légitime, nous avons voulu imposer une humiliation au roi de Prusse; nous en sommes venus à prendre une attitude diplomatique aggressive, presque inconsciente. La renopciation formelle du Prince Leopold de Hohenzollern nous était acquise, nous avions en outre l'assentiment du roi de Prusse à cette renonciation. La réparation était suffisante car elle demeurait sur le domaine respectif des interêts de la France, des droits de la France et des obligations du chef de la famille Hohenzollern. Nous devions nous en tenir là. Notre gouvernement poussa plus loin. Il voulut un engagement catégorique du roi Guillaume pour l'avenir. En portant si haut ses prétentions il deplaçait l'objet et le terrain du litige. Iles faisait une provocation directe au souverain de la Prusse. folgten, welche Verachtung für uns zeigten. Unser Land ist dadurch tief aufgeregt und augenblicklich erschallt das Kriegsgeschrei von einem Ende Frankreichs zum anderen. Es bleibt uns nichts mehr übrig, als unsere Geschicke dem Lose, welches die Waffen werfen, zu überlassen. Wir bekriegen nicht Deutschland, dessen Unabhängigkeit wir achten. Mir haben die besten Wünsche dafür, daß die Völker, welche das große deutsche Volkstum ausmachen, frei über ihre Geschicke verfügen. Was uns betrifft, so verlangen wir die Ausrichtung eines Standes der Dinge, welcher unsere Sicherheit verbürge und unsere Zukunft sicherstelle. Wir wollen einen dauerhaften Frieden erlangen, begründet auf die wahren Interessen der Völker; wir wollen, daß dieser elende Zustand aufhöre, bei dem alle Nationen ihre Hilfsquellen aufwenden, um sich gegenseitig zu bewaffnen.«

Welche Lektion, welche gewaltige Lektion spricht aus diesem Schriftstück, wenn man es mit den folgenden Ereignissen zusammenhält! Also um Sicherheit, um dauernden Frieden zu erlangen, wurde dieser Feldzug von Frankreich unternommen? Und was ist daraus entstanden? – » L'année terrible« und dauernde – noch immer dauernde – Feindschaft. Nein, nein: – mit Kohle läßt sich nicht weiß färben, mit asa foetida nicht Wohlgeruch verbreiten und mit Krieg nicht Frieden sichern. Dieser »elende Zustand«, auf den Napoleon anspielte, wie hat der seither sich noch verschlimmert! Es war dem Kaiser Ernst, voller Ernst mit dem Plane, eine europäische Abrüstung anzubahnen, ich habe es durch seine nächsten Verwandten mit Bestimmtheit erfahren, aber die Kriegspartei hat ihn gedrängt, gezwungen – und er gab nach ... Dennoch konnte er sich nicht enthalten, in der Kriegsproklamation selber seine Lieblingsidee anklingen zu lassen. Es sollte deren Verwirklichung nur hinausgeschoben sein. »Nach dem Feldzug – nach dem Siege ...« sagte er sich zum Trost. Es ist anders gekommen.

Auf welcher Seite also unsere Sympathien standen? Wenn man dazu gelangt, den Krieg an und für sich zu verabscheuen, wie das bei Friedrich und mir der Fall war, so kann das echte, naive »Passionieren« für den Ausgang eines Feldzuges nicht mehr eintreten; die einzige Empfindung ist eben die: Hätte er nur nie begonnen – dieser Feldzug – und wäre er nur schon aus!

Ich glaubte nicht, daß der gegenwärtige Krieg lange dauern und bedeutende Folgen haben werde. Zwei oder drei gewonnene Schlachten hier oder dort und man würde sicherlich parlamentieren und dem Ding ein Ende machen. Um was schlug man sich denn eigentlich? Um gar nichts. Das Ganze war mehr eine Art Waffenpromenade, von den Franzosen aus ritterlicher Abenteuerlust, von den Deutschen aus tapferer Verteidigungspflicht unternommen; ein paar getauschte Säbelhiebe und die Gegner würden sich wieder die Hände reichen... Törin, die ich war! Als ob die Folgen eines Krieges im Verhältnis zu den Ursachen seines Entstehens blieben. Der Verlauf ist es, der die Folgen bestimmt.

Gern hätten wir Paris verlassen, denn der ganze von der Bevölkerung gezeigte Enthusiasmus berührte uns höchst peinlich. Aber der Weg nach Osten war nunmehr versperrt; auch hielt uns der Bau unseres Hauses zurück – kurz: wir blieben. Geselligen Umgang hatten wir beinahe keinen mehr. Alles was nur konnte, hatte Paris geflohen und unter den obwaltenden Umständen dachte auch unter den Zurückgebliebenen keiner daran, Einladungen auszuteilen. Nur einige unserer Bekannten aus literarischen Kreisen, die noch anwesend waren, suchten wir öfters auf. Gerade in dieser Phase des beginnenden Krieges war es Friedrich interessant, die betreffenden Urteile und Ansichten der hervorragenden Geister kennen zu lernen. Da war ein ganz junger Schriftsteller, der später zu solcher Berühmtheit gelangte, Guy de Maupassant, von dessen Äußerungen, die mir aus der Seele gesprochen waren, ich einige in die roten Hefte eintrug:

»Der Krieg – wenn ich nur an dieses Wort denke, so überkommt mich ein Grauen, als spräche man mir von Hexen, von Inquisition – von einem entfernten, überwundenen, abscheulichen, naturwidrigen Dinge. Der Krieg – sich schlagen! Erwürgen, niedermetzeln! Und wir besitzen heute – zu unserer Zeit mit unserer Kultur, mit dem so ausgedehnten Wissen, auf so hoher Stufe der Entwickelung, auf der wir angelangt zu sein glauben – wir besitzen Schulen, wo man lernt zu töten – auf recht große Entfernung zu töten, eine recht große Anzahl auf einmal.

... Das Wunderbare ist, daß die Völker sich dagegen nicht erheben, daß die ganze Gesellschaft nicht revoltiert bei dem bloßen Worte Krieg.

Jeder, der regiert, ist ebenso verpflichtet, den Krieg zu vermeiden, wie ein Schiffskapitän verpflichtet ist, den Schiffbruch zu vermeiden. Wenn ein Kapitän sein Schiff verloren hat, wird er vor ein Gericht gestellt und verurteilt, falls man erkennt, daß er sich Nachlässigkeit zuschulden kommen ließ. Warum wird die Regierung nach jedem erklärten Kriege nicht gerichtet? Wenn die Völker das verständen, wenn sie sich weigerten, ohne Grund sich töten zu lassen – dann wäre es mit dem Kriege aus.«

Und Erneste Renan ließ sich also vernehmen: »Ist es nicht herzzerreißend, zu denken, daß alles, was wir Männer der Wissenschaft in fünfzig Jahren aufzubauen bestrebt waren, mit einem Schlage zusammengestürzt ist: die Sympathien zwischen Volk und Volk, das gegenseitige Verständnis, das fruchtbare Zusammenarbeiten. Wie tötet ein solcher Krieg die Wahrheitsliebe! Welche Lüge, welche Verleumdung des einen Volkes wird nun nicht aufs neue in den nächsten fünfzig Jahren von dem anderen mit Begierde geglaubt werden und sie für unabsehbare Zeiten voneinander trennen! Welche Verzögerung des europäischen Fortschrittes! In hundert Jahren werden wir nicht wieder aufrichten können, was diese Menschen an einem Tage heruntergerissen haben.«

Ich hatte auch Gelegenheit, einen Brief zu lesen, den Gustave Flaubert in jenen ersten Julitagen, als eben der Krieg ausgebrochen war, an George Sand geschrieben hat. Hier ist er:

»Ich bin verzweifelt über die Dummheit meiner Landsleute. Die unverbesserliche Barbarei der Menschheit erfüllt mich mit tiefer Trauer. Dieser Enthusiasmus, der von keiner Idee beseelt ist, macht, daß ich sterben möchte, um ihn nicht mehr zu sehen. Der gute Franzose will sich schlagen: 1. weil er sich durch Preußen herausgefordert glaubt; 2. weil der natürliche Zustand des Menschen die Wildheit ist; 3. weil der Krieg ein mystisches Element in sich hat, das die Menschen fortreißt. Sind wir wieder zu den Rassekämpfen gekommen? Ich fürchte es ... Die schrecklichen Schlachten, die sich vorbereiten, haben nicht einmal einen Vorwand für sich. Es ist die Lust, sich zu schlagen, um sich zu schlagen. Ich beklage die gesprengten Brücken und Tunnels. All diese menschliche Arbeit, die verloren geht! Sie haben gesehen , daß ein Herr in der Kammer die Plünderung des Großherzogtums Baden vorgeschlagen hat. Ach, daß ich nicht bei den Beduinen sein kann!«

»Ach,« rief ich, als ich diesen Brief zu Ende gelesen, »daß wir nicht fünfhundert Jahre später geboren sind – das wäre doch besser als die Beduinen.«

»So lange werden die Menschen nicht mehr brauchen, um vernünftig zu werden,« entgegnete Friedrich zuversichtlich.

Das wäre jetzt das Stadium der Proklamationen und der Armeebefehle.

Immer wieder die alte Leier und immer wieder das zu Beifall und Begeisterung hingerissene Publikum. Über die in den Manifesten verbürgten Wege wird gejubelt, als wären dieselben bereits erfochten.

Am 28. Juli erließ Napoleon III. vom Hauptquartier in Metz folgende Urkunde. Auch diese habe ich eingetragen – nicht etwa aus geteilter Bewunderung – sondern aus Zorn über das ewig gleich hohle Phrasenwerk.

»Wir verteidigen Ehre und Boden des Vaterlandes. Wir werden siegen. Nichts ist zu viel für die ausharrenden Anstrengungen der Soldaten Afrikas, der Krim, Chinas, Italiens und Mexikos. Noch einmal werdet ihr beweisen, was eine französische Armee vermag, die von Vaterlandsliebe durchglüht ist. Welchen Weg immer wir außerhalb unserer Grenzen einschlagen, wir finden dort die ruhmreichen Spuren unserer Väter. Wir werden uns ihrer würdig zeigen. Von unseren Erfolgen hängt das Schicksal der Freiheit und der Zivilisation ab. Soldaten – tue jeder seine Pflicht und der Gott der Schlachten wird mit uns sein.«

»Le Dieu des armées« durfte natürlich nicht fehlen. Daß die Führer besiegter Heere schon hundertmal dasselbe gesprochen, das hindert die anderen nicht, bei jedem neuen Feldzug wieder dasselbe zu sprechen, und damit dasselbe Vertrauen zu wecken. Gibt es etwas Kürzeres und Schwächeres als das Gedächtnis der Völker?

Am 31. Juli verläßt König Wilhelm Berlin und erläßt nachstehendes Manifest:

»Indem ich heute zur Armee gehe, um mit ihr für die Ehre und für die Erhaltung unserer höchsten Güter zu kämpfen, erlasse ich eine Amnestie für politische Verbrecher. Mein Volk weiß mit mir, daß Friedensbruch und Feindschaft nicht auf unserer Seite waren. Aber herausgefordert, sind wir entschlossen, gleich unseren Vätern und in fester Zuversicht auf Gott den Kampf zu bestehen zur Errettung des Vaterlandes.«

Notwehr, Notwehr: das ist die einzig statthafte Art des Tötens; daher rufen beide Gegner: »Ich wehre mich.« Ist das nicht Widersinn? – Nicht so ganz – denn über beiden waltet eine dritte Macht, die Macht des überkommenen alten Kriegsgeistes. – Nur gegen den sich zu wehren, sollten alle sich verbünden ...

Neben den obigen Manifesten finde ich in meinen roten Heften eine Eintragung, mit dem sonderbaren Titel überschrieben:

» Hätte Ollivier die Tochter Meyerbeers geheiratet, wäre da der Krieg ausgebrochen

Die Sache verhielt sich so. Unter unseren Pariser Bekannten befand sich auch der Literat Alexander Weill, und dieser war es, der obige Frage aufwarf, indem er uns nachstehendes erzählte:

»Meyerbeer suchte einen talentvollen Mann für seine zweite Tochter und seine Wahl fiel auf meinen Freund Emil Ollivier. Ollivier ist Witwer. Er hat in erster Ehe die Tochter Liszts geheiratet, die der berühmte Pianist von der Gräfin d'Agoult (Daniel Stern) hatte, mit der er lange Zeit im ehelichen Verhältnis lebte. Diese Ehe war sehr glücklich und Ollivier hatte den Ruf eines tugendhaften Ehemannes. Er besaß kein Vermögen, aber als Redner und Staatsmann war er schon berühmt. Meyerbeer wollte ihn persönlich kennen lernen und zu diesem Zwecke gab ich – es war im April des Jahres 1864 – einen großen Ball, dem die meisten Zelebritäten der Kunst und der Wissenschaft beiwohnten und wo natürlich Ollivier, der von mir von der Absicht Meyerbeers unterrichtet war, die erste Rolle spielte. Er gefiel Meyerbeer. Die Sache war nicht leicht in Gang zu bringen. Meyerbeer kannte die unabhängige Originalität seiner zweiten Tochter, die nie einen anderen Gatten als den ihrer freien Wahl ehelichen würde. Es wurde verabredet, daß Ollivier nach Baden komme, um dort dem Mädchen zufällig vorgestellt zu werden, als Meyerbeer plötzlich vierzehn Tage nach diesem Ball starb. Ollivier war es – – erinnern Sie sich? – der ihm im Nordbahnhof eine Trauer- und Lobrede hielt. Nun behaupte ich, ja, ich bin dessen sicher: hätte Ollivier die Tochter Meyerbeers geheiratet, der Krieg zwischen Frankreich und Deutschland wäre nicht ausgebrochen! Hier meine plausiblen Beweise. Vorerst hätte Meyerbeer, der das Kaisertum bis zur Verachtung haßte, nie seinem Tochtermann erlaubt, Minister des Kaisers zu werden. Man weiß, daß, wenn Ollivier der Kammer gedroht hätte, eher seine Demission zu geben, als den Krieg zu erklären, dieselbe Kammer nie den Krieg erklärt hätte. Der gegenwärtige Krieg ist das Werk dreier intimer Stuben- und Geheimminister der Kaiserin, mit Namen: Jerome David, Paul de Cassagnac und Duk de Grammont. Die Kaiserin, von dem Papste aufgereizt, dessen religiöse Puppe sie ist, wollte diesen Krieg, an dessen Sieg sie nicht zweifelte, um die Nachfolge ihres Sohnes zu sichern. Sie sagte: »C'est ma guerre à moi et à mon fils!« und die drei obengenannten päpstlichen »Anabaptisten« waren ihre geheimen Werkzeuge, um den Kaiser, der keinen Krieg wollte, und die Kammer durch falsche und verhehlte Depeschen aus Deutschland zum Krieg zu zwingen!«

»Das nennt man Diplomatie!« unterbrach ich schaudernd.

»Hören Sie weiter,« fuhr Alexander Weill fort. »Den 15. Juli sagte mir Ollivier, den ich auf der place de la concorde antraf: ›Der Friede ist gesichert – eher gäbe ich meine Demission.‹ Woher nun kam es, daß derselbe Mann einige Tage später, statt seine Demission zu geben, den Krieg selbst d'un coeur léger, wie er in der Kammer sagte, erklärte?«

»Leichten Herzens!« rief ich mit neuem Schauer.

»Hier liegt ein Geheimnis, das ich aufklären kann. Der Kaiser, für den das Geld nie einen anderen Wert hat, als um Liebe und Freundschaft sich zu erkaufen – er glaubt, wie Jugurtha in Rom, ganz Frankreich wäre feil, die Männer wie die Weiber – hat die Gewohnheit, wenn er einen Minister annimmt, der nicht reich ist, ihn durch ein Geschenk von einer Million Franken näher an sich zu fesseln. Darum allein, der mir dieses Geheimnis entdeckte, lehnte dieses Geschenk ab: timeo Danaos et dona ferentes. Und er allein, nicht gebunden, gab seine Demission. So lange der Kaiser zauderte, erklärte sich Ollivier, mit der goldenen Kette an seinen Meister gefesselt, neutral – eher für den Frieden. Sobald aber der Kaiser von seiner Frau und den drei ultramontanen Anabaptisten überrumpelt ward, erklärte sich auch Ollivier für den Krieg und entseelte sich lebendig mit ›leichtem Herzen‹ und – voller Tasche.«Briefe hervorragender Männer an Alexander Weill. (Zürich. Verlagsmagazin)

* * *

» O Monsieur, o Madame – welches Glück, welche große Nachricht!« Mit diesen Worten stürzten eines Tages Friedrichs Kammerdiener und hinter ihm der Koch in unser Zimmer. Es war am Tage von Wörth.

»Was gibt's?«

»An der Börse ist eine Depesche angeschlagen: wir haben gesiegt. Die Armee des Königs von Preußen ist so gut wie vernichtet ... Die Stadt schmückt sich mit dreifarbigen Fahnen – es soll heute abend illuminiert werden.«

Im Laufe des Nachmittags stellt sich jedoch heraus, daß die Nachricht eine falsche – ein Börsennmanöver – war. Ollivier hält von seinem Balkon aus eine Ansprache an die Menge.

Nun – desto besser. Wenigstens würde man nicht beleuchten müssen. Diese Freudenkundgebungen anläßlich »vernichteter Armeen« – d. h. anläßlich zahlloser zerrissener Leben und gebrochener Herzen – das hätte in mir auch wieder den Flaubertschen Wunsch erweckt: »Ach wär' ich doch bei den Beduinen!«

Am 7. August Unglücksbotschaft. Der Kaiser eilt aus St. Cloud nach dem Kriegsschauplatz. Der Feind ist ins Land gedrungen. Die Blätter können ihrer Entrüstung über die »Invasion« nicht heftig genug Ausdruck geben. Der Ruf » à Berlin!« – deuchte mir – bedeutete doch auch beabsichtigten Einfall – doch daran war nichts Entrüstendes; – daß aber die östlichen Barbaren in das schöne, gottgeliebte Frankreich einzufallen sich unterstanden: das war schier Wildheit, Frevel – dem mußte rasch gesteuert werden.

Der interimistische Kriegsminister erläßt ein Dekret, daß alle rüstigen Bürger von dreißig bis vierzig Jahren, welche der Nationalgarde noch nicht angehören, derselben sofort einverleibt werden müssen. Es bildet sich ein Ministerium der Landesverteidigung. Die bewilligte Kriegsanleihe von fünfhundert wird auf tausend Millionen erhöht. Ganz herzerfrischend ist es, wie opferfähig die Leute über das Geld und das Leben der anderen stets verfügen. Eine kleine finanzielle Unannehmlichkeit macht sich dem Publikum zwar sogleich fühlbar: wenn man Banknoten wechseln will, muß man dem Wechsler zehn Prozent zahlen – es ist nicht so viel Gold vorhanden, als die Bank von Frankreich Noten ausgeben darf.

Und jetzt, deutscherseits Sieg auf Sieg ...

Die Physiognomie der Stadt Paris und ihrer Einwohner verändert sich. Statt der stolzen, prahlerischen, kampfesfrohen Laune tritt Bestürzung und grimmiger Zorn ein. Immer mehr verbreitet sich das Gefühl, daß eine Vandalenhorde über das Land niedergegangen – etwas Schreckhaftes, Unerhörtes, wie etwa eine Heuschreckenwolke oder sonst eine Naturplage. Daß sie mit ihrer Kriegserklärung die Plage selber heraufbeschworen, daß sie dieselbe für unerläßlich hielten, – damit ja nicht etwa ein Hohenzollern in ferner Zukunft auf die Idee kommen könne, um den spanischen Thron zu werben – das hatten sie vergessen. Über den Feind kommen entsetzliche Märchen in Umlauf. »Die Ulanen, die Ulanen«: das hat einen phantastisch-dämonischen Klang, beinahe als hieße es »das wilde Heer«. In der Einbildung der Leute nimmt diese Truppengattung ein teuflisches Wesen an. Wo immer von der deutschen Kavallerie ein kühner Streich ausgeführt wird, wird er den Ulanen zugeschrieben – eine Art Halbmenschen, ohne Sold, darauf angewiesen, von Beute zu leben. Neben den Schauergerüchten entstehen aber auch wieder Triumphgerüchte. Das Erfolglügen gehört mit zu den Chauvinistenpflichten. Natürlich: der Mut muß aufrecht erhalten werden. Das Gebot der Wahrhaftigkeit – wie so viele andere Sittengebote – verliert seine Gültigkeit im Kriege. Aus der Zeitung Le Volontaire diktierte mir Friedrich folgende Stelle für meine roten Hefte:

»Bis zum 16. August haben die Deutschen schon 144 000 Mann verloren, der Rest ist dem Verhungern nahe. Aus Deutschland ziehen die letzten Reserven herbei, »la landwehr et la landsturm«; alte Männer von 60 Jahren mit Feuersteingewehren, an der rechten Seite eine ungeheure Tabaksdose, an der linken eine noch größere Schnapsflasche, im Munde eine lange tönerne Pfeife; keuchend unter der Last des Tornisters, auf welchem die Kaffeemühle und in welchem der Fliedertee nicht fehlen darf, ziehen sie hustend und sich schneuzend vom rechten an das linke Rheinufer, diejenigen verfluchend, welche sie den Umarmungen ihrer Enkel entrissen haben, um sie dem sicheren Tode entgegenzuführen.« – »Was die deutscherseits gebrachten Siegesnachrichten anbelangt – so sind dies die bekannten preußischen Lügen.«

Am 20. August verkündet Graf Palikao in der Kammer, daß drei gegen Bazaine vereinte Armeekorps in die Steinbrüche von Jaumont geworfen wurden. (Sehr gut! Sehr gut!) Zwar weiß niemand, was das für Steinbrüche seien, und wo selbe gelegen sind; und wie sich die drei Armeekorps darin verhalten, das macht sich auch niemand klar; aber von Mund zu Mund geht die frohe Botschaft: »Sie wissen schon? ... In den Steinbrüchen ...« – »Ja, ja, von Jaumont.« Keiner äußert einen Zweifel oder eine Frage: es ist, als ob alle aus der Gegend von Jaumont gebürtig wären und die armeeverschlingenden Steinbrüche so gut kennten, wie ihre Tasche.

Um diese Zeit tauchte auch das Gerücht auf, der König von Preußen sei aus Verzweiflung über den Zustand seines Heeres verrückt geworden.

Man hört nur noch Ungeheuerlichkeiten. Die Aufregung, das Fieber der Bevölkerung nimmt stündlich zu. Der Krieg »là-bas« hat aufgehört, als Waffenspaziergang betrachtet zu werden; man fühlt, daß die losgelassenen Gewalten jetzt Furchtbares über die Welt bringen – es ist nur noch von vernichteten Heeren, von wahnsinnigen Führern, von teuflischen Horden, von Kampf bis aufs Messer die Rede. Ich höre es donnern und grollen – was sich da erhebt, ist der Sturm der Wut und der Verzweiflung. Der Kampf um Bazeilles bei Sedan wird geschildert, als wären dort von den Bayern die unmenschlichsten Greuel verübt worden.

»Glaubst du das,« fragte ich Friedrich, »glaubst du das von den gutmütigen Bayern?«

»Es mag ja sein. Ob Bayer oder Turko, ob Deutscher, Franzose oder Indianer: der sich seines Lebens wehrende und zum Töten ausholende Krieger hat allemal aufgehört, ›menschlich‹ zu sein. Was in ihm geweckt und gewaltsam aufgestachelt worden, ist ja eben die Bestie.«

* * *

Metz gefallen ... So lautete an jenem Tage die zwar noch verfrühte, aber einige Zeit später doch zur Wahrheit gewordene Nachricht, die in der Stadt wie ein einziger großer Schreckensschrei widerhallte.

Mir ist die Nachricht von der Einnahme einer Festung eher eine Erleichterung bringende Botschaft; denn ich denke: das gibt doch eine Entscheidung. Und danach nur – daß die blutige Partie aus sei – nur danach geht mein Sehnen. Aber nein: nichts ist noch entschieden – es sind ja noch mehr Festungen da. Nach einer Niederlage heißt es nur, sich aufraffen und doppelt kräftig entgegenhauen – das Glück der Waffen kann ja wechseln. Jawohl, bald dort, bald hier kann der Vorteil sein; wäre dabei nur nicht auf beiden Seiten der sichere Jammer, der sichere Tod.

Trochu fühlt sich veranlaßt, den Mut der Bevölkerung durch eine neue Proklamation zu heben und beruft sich darin auf einen alten Wahlspruch der Bretagne: »Mit Gottes Hilfe für das Vaterland.« Das klingt mir nicht eben neu – ich muß ähnlichem schon in anderen Proklamationen begegnet sein. Es verfehlt eben seine Wirkung nicht: die Leute sind begeistert. Jetzt heißt es, Paris in eine Festung umwandeln.

Paris Festung? Ich kann den Gedanken nicht fassen. Die Stadt, welche Viktor Hugo »la villelumiére« genannt, welche der Anziehungspunkt der ganzen zivilisierten, reichen, Kunst- und Lebensgenuß suchenden Welt ist, der Ausgangspunkt des Glanzes, der Mode, des Geistes – diese Stadt will sich nun »befestigen«, das heißt sich zum Zielpunkt feindlicher Angriffe, zur Scheibe der Beschießung machen, sich allem Verkehr abschließen und sich der Gefahr aussetzen, in Brand geschossen oder ausgehungert zu werden? Und das tun diese Leute »de gaité de coeur«, mit Opfermut, mit Freudeneifer, als gelte es die Vollbringung des nützlichsten, edelsten Werkes? Mit fieberhafter Hast wird an die Arbeit geschritten. Es müssen Wälle für Aufstellung von Mannschaften gebaut werden und Schießscharten eingeschnitten; ferner vor den Toren Gräben ausgehoben, Zugbrücken angelegt, Deckwerke neu errichtet, Kanäle überbrückt und mit Brustwehren angeschüttet, Pulvermagazine gebaut, und auf der Seine eine Flottille von Kanonenbooten aufgestellt werden. Welches Fieber von Tätigkeit, welcher Aufwand von Anstrengung und Fleiß; welche riesige Kosten von Arbeit und Geld! Wie das alles, für Werke der Gemeinnützigkeit verwendet, erfreulich und erhebend wäre – aber für den Zweck der Schadenzufügung, der Vernichtung – welche nicht einmal Selbstzweck, sondern strategischer Schachzug ist – es ist unfaßlich!

Um einer voraussichtlich langen Belagerung widerstehen zu können, verproviantiert sich die Stadt. Bis jetzt – allen Erfahrungen gemäß – hat es noch keine uneinnehmbaren Festungen gegeben; die Kapitulation ist stets nur eine Frage der Zeit. Und immer wieder werden Festungen errichtet, immer wieder werden sie mit Vorräten versehen, trotz der mathematischen Unmöglichkeit, sich auf die Dauer vor Aushungerung zu schützen.

Die getroffenen Maßregeln sind großartig. Es werden Mühlen eingerichtet und Viehparks angelegt, aber schließlich muß der Augenblick doch kommen, wo das Korn ausgeht und das Fleisch verzehrt ist. Aber so weit denkt man nicht; bis dahin ist der Feind über die Grenze zurückgedrängt oder im Lande vernichtet. Der vaterländischen Armee schließt sich ja das ganze Volk an. Alles meldet sich zum Dienst oder wird dazu herangezogen; so werden zur Besatzung von Paris sämtliche Feuerwehrleute des Landes berufen. In der Provinz mag es unterdessen brennen – was liegt daran? So kleine Unglücksfälle verschwinden, wo es sich um ein National-» desastre« handelt. Am 17. August sind schon 60 000 Pompiers in die Hauptstadt eingerückt. Auch die Matrosen werden einberufen, und täglich bilden sich neue Truppenkörper unter verschiedenen Namen: volontaires, éclaireurs, franctieurs.

* * *

In immer beschleunigterer Bewegung folgten einander nun die Ereignisse. Aber nur noch kriegerische Ereignisse. Alles andere ist aufgehoben. Rings um uns wird nichts anderes mehr gedacht als »mort aux Prussiens«. Ein Sturm des wilden Hasses sammelt sich an; noch ist er nicht losgebrochen, aber man hört ihn rauschen. In allen offiziellen Kundgebungen, in allem Gassenlärm, in allen öffentlichen Vorkehrungen – immer nur das eine Ziel: »mort aux Prussiens«. All' diese Truppen, regelmäßige und unregelmäßige, diese Munitionen, diese nach den Befestigungen drängenden Arbeiter mit ihren Werkzeugen und Karren, diese Waffentransporte; alles was man sieht und was man hört, das deutet in Formen und in Tönen, das blitzt und poltert, das funkelt und tost »mort aux Prussiens«. – Oder mit anderen Worten – dann klingt es freilich wie ein Ruf der Liebe und durchglüht auch weiche Herzen – »pour la patrie!« – aber es ist dennoch dasselbe.

Ich fragte Friedrich:

»Du bist doch preußischer Abstammung – wie berühren dich diese von allen Seiten laut werdenden feindlichen Gesinnungen?«

»Dieselbe Frage hast du schon im Jahre 1866 an mich gerichtet – und damals antwortete ich dir – wie auch heute – daß ich unter diesen Hassesäußerungen nicht als Landesangehöriger, sondern als Mensch leide. Fasse ich die Gesinnungen der Leute hier vom nationalen Standpunkt auf, so kann ich ihnen nur recht geben; sie nennen es la haine sacrée de l'ennemi – und diese Regung bildet einen wichtigen Bestandteil des kriegerischen Patriotismus. In diesem einen Gedanken gehen sie nun auf: ihr Land von dem feindlichen Einfall wieder zu befreien. Daß sie die Einfallenden auch durch ihre Kriegserklärung gerufen – das vergessen sie. Sie haben es ja auch nicht selber getan, sondern ihre Regierung, welcher sie aufs Wort geglaubt, daß sie es tun mußte, und jetzt verlieren sie keine Zeit mit Vorwürfen, mit Erwägungen, wer das Unglück heraufbeschworen; es ist nun einmal da und alle Kraft, alle Begeisterung wird darauf verwendet, es wieder abzuwenden, oder mit sorglosem Opfermut vereint zu Grunde zu gehen. Glaube mir, es liegt viel edle Liebesfähigkeit in uns Menschenkindern, schade nur, daß wir sie in den alten Feindschaftsgeleisen vergeuden ... Und drüben, die gehaßten, die einfallenden, die »rothaarigen, östlichen Barbaren« – was tun die? Sie sind herausgefordert worden und sie dringen in das Land derjenigen ein, welche das ihre zu überfallen drohten: »á Berlin, á Berlin!« Erinnerst du dich noch, wie dieser Ruf die ganze Stadt durchschallte, sogar von den Dächern der Omnibusse herab?«

»Nun marschieren jene ›nach Paris!‹ Warum rechnen ihnen das die »á Berlin« Rufer als Verbrechen an?«

»Weil es keine Logik und keine Gerechtigkeit geben kann in jenem Nationalgefühl, dessen oberster Grundsatz der ist: Wir sind wir – das heißt die ersten, die anderen sind Barbaren. Und jener Vormarsch der Deutschen von Sieg zu Sieg flößt mir Bewunderung ein. Ich bin doch auch Soldat gewesen und weiß, was an dem Begriffe Sieg für ein Zauber haftet, welcher Stolz, welcher Jubel da hineingelegt wird. Ist es doch das Ziel, der Lohn für alle gebrachten Opfer, für den Verzicht auf Ruhe und Glück, für das eingesetzte Leben.«

»Warum bewundern aber die überwundenen Gegner, die ja doch auch Soldaten sind und wissen, welcher Ruhm den Sieg begleitet, warum bewundern die ihre Überwinder nicht? Warum heißt es niemals in einem Schlachtbericht der verlierenden Partei: Der Feind hat einen glorreichen Sieg errungen!?«

»Weil – ich wiederhole es – der Kriegsgeist und der patriotische Egoismus die Verneinung aller Gerechtigkeit ist.«

So kam es – ich sehe es aus allen unseren in den roten Heften eingetragenen Gesprächen aus jenen Tagen – daß wir an gar nichts anderes dachten, denken konnten, als an den Verlauf des gegenwärtigen Völkerduells.

Unser Glück, unser armes Glück – wir hatten es, aber wir durften es nicht genießen. Ja, alles besaßen wir, was uns einen lieblichen Himmel auf Erden schaffen konnte: grenzenlose Liebe, Reichtum, Rang, den herrlich sich entwickelnden Knaben Rudolf, unser Herzenspüppchen Sylvia, Unabhängigkeit, reges Interesse an der Welt des Geistes ... aber das alles war wie hinter einen Vorhang gestellt. Wie durften, wie konnten wir an unseren Freuden uns laben, während um uns alles litt und zitterte, schrie und tobte? Das ist, als wollte man sich recht gütlich tun an Bord eines sturmgepeitschten Schiffes.

»Ein theatralischer Mensch, dieser Trochu,« berichtete mir Friedrich eines Tages – es war am 25. August – »Was wurde heute für ein Effekt-Coup ausgeführt? Darauf verfällst du nimmer.«

»Die Frauen zum Militärdienst einberufen?« riet ich.

»Um Frauen handelt es sich wohl, aber sie sind nicht einberufen – im Gegenteil.«

»Also die Marketenderinnen abgeschafft – oder die barmherzigen Schwestern?«

»Noch immer nicht erraten. Abschaffung ist zwar dabei – und Marketenderinnen, insofern sie den Becher der Lust reichen, und barmherzig – in gewissem Sinn – sind die Abgeschafften auch; kurz – ohne weitere Charade: die Demimonde wird ausgewiesen.«

»Und das hat der Kriegsminister verfügt? Welcher Zusammenhang?« –

»Ich finde auch keinen, aber die Leute sind über die Maßregel entzückt. Einmal sind sie immer froh, wenn etwas geschieht: von jeder neuen Verordnung erwarten sie eine Wendung, wie manche Kranke, die jedes angewandte Mittel als mögliches Heilmittel begrüßen. Wenn das Laster aus der Stadt getrieben ist – meinen die Frommen – wer weiß, ob dann der Himmel nicht wieder seine Huld über die Bewohner ergießt? Und jetzt, da man sich auf die ernste, entbehrungsvolle Zeit der Belagerung vorbereitet, was sollen da die tollen, verschwenderischen Hetären? So erscheint den meisten – die Betroffenen ausgenommen – die Maßregel als eine würdevolle moralische und nebstbei noch eine patriotische, da eine große Anzahl dieser Frauen Fremde sind. Engländerinnen, Südländerinnen, ja sogar Deutsche – vielleicht Spioninnen darunter! Nein, nein, jetzt hat die Stadt nur Platz für ihre eigenen Kinder und nur für ihre tugendhaften Kinder!«

Am 28. August kam es noch schlimmer. Wieder eine Ausweisung: binnen drei Tagen hatten alle Deutsche Paris zu verlassen.

Das Gift, das tödliche, langwirkende, welches in dieser Maßregel lag, davon hatten die Rezeptschreiber wohl keine Ahnung: damit war der Deutschenhaß geweckt. Wie lange dieses Unglück noch über den Krieg hinaus furchtbare Früchte tragen sollte – das weiß ich heute. Von da ab waren Frankreich und Deutschland – diese zwei großen, blühenden, herrlichen Länder nicht mehr zwei Nationen, deren Heere einen ritterlichen Zweikampf ausfochten: in das ganze Volk drang der Haß für das ganze gegnerische Volk. Die Feindschaft ward zu einer Institution erhoben, die sich nicht auf die Dauer des Krieges beschränkt, sondern als »Erbfeindschaft« ihren Bestand unter kommenden Geschlechtern sichert.

Ausgewiesen – binnen drei Tagen die Stadt verlassen müssen –: ich hatte Gelegenheit zu sehen, wie hart, wie unendlich hart dieser Befehl manche brave, harmlose Familie traf. Unter den Geschäftsleuten, welche uns zu der Ausstattung unseres Heims Waren lieferten, befanden sich mehrere Deutsche: ein Wagenfabrikant, ein Tapezierer und ein Kunsttischler. Seit zehn bis zwanzig Jahren in Paris niedergelassen, wo sie einen häuslichen Herd gegründet, wo sie sich durch Heirat mit Parisern verschwägert hatten, wo sie alle ihre geschäftlichen Verbindungen besaßen – und jetzt mußten sie fort, binnen drei Tagen fort, ihr Haus verschließen; alles verlassen, was ihnen lieb und gewohnt war; ihr Vermögen, ihre Kundschaft, ihren Erwerb einbüßen – – Bestürzt kamen die armen Wichte zu uns gerannt und teilten uns das Unglück mit, das sie betroffen; auch die Arbeit, die sie eben für uns zu liefern im Begriffe waren, mußte eingestellt, die Werkstätte geschlossen werden. Händeringend und mit Tränen in den Augen klagten sie uns ihr Leid: »Ich habe einen kranken alten Vater,« sagte der eine, »und meine Frau sieht täglich ihrer Niederkunft entgegen und in drei Tagen müssen wir fort!« – »Ich habe keinen Sou im Hause,« jammerte der andere, »alle meine Kunden, die mir Geld schulden, werden nicht so schnell ihre Verpflichtungen einhalten, und ich selbst kann nun meine Arbeiter, welche Franzosen sind, nicht auszahlen – noch acht Tage und ich hätte eine große Bestellung erledigt, die mich zum wohlhabenden Mann gemacht hätte – und jetzt muß ich alles im Stiche lassen ...«

Und warum, warum war alles das über die Armen hereingebrochen? Weil sie einer Nation angehörten, deren Heer erfolgreich seine Pflicht tat, oder weil, – um in die Ursachenkette weiter zurückzugreifen – weil ein Hohenzollern vielleicht in Zukunft einen angetragenen spanischen Thron anzunehmen sich einfallen lassen könnte ... Nein, auch dieses »weil« ist nicht bei der letzten Ursache angelangt, dasselbe deckt nur den Vorwand, nicht die Ursache zu jenem Kriege. –

Sedan! »Kaiser Napoleon hat seinen Degen übergeben.«

Die Nachricht überwältigte uns. Da war denn richtig eine große, geschichtliche Katastrophe eingetreten. Die französische Armee geschlagen – ihr Führer schwach und matt, so war die Partie denn aus – von Deutschland glänzend gewonnen. »Aus, aus!« jubelte ich; »gebe es schon Leute, die das Recht hätten, sich Weltbürger zu nennen, die könnten heute ihre Fenster beleuchten; gäbe es schon Tempel der Humanität, aus diesem Anlaß müßten Tedeums gesungen werden – die Schlächterei ist aus!«

»Frohlocke nicht zu früh, mein Schatz,« mahnte Friedlich. »Dieser Krieg hat schon lange nicht mehr den Charakter einer auf dem Brette der Schlachtfelder gekämpften Partie – die ganze Nation kämpft mit. Für eine vernichtete Armee werden zehn neue aus dem Boden gestampft.«

»Wäre denn das gerecht? Es sind doch nur deutsche Soldaten ins Land gedrungen, nicht das deutsche Volk – also kann man ihnen nur wieder französische Soldaten gegenüberstellen.«

»Daß du immer wieder an Gerechtigkeit und Vernunft appellierst – du Unvernünftige – einem Rasenden gegenüber. Frankreich rast vor Schmerz und Zorn, und vom Standpunkt der Vaterlandsliebe ist sein Schmerz heilig, sein Zorn gerechtfertigt. Was sie nun auch Verzweifeltes tun – persönliche Ichsucht ist nicht dabei, sondern höchster Opfermut. Wenn nur die Zeit schon da wäre, wo die Tugendkraft, die dem Menschenverbande innewohnt, von der Vernichtungsarbeit ab- und der Beglückungsarbeit zugewendet würde! Aber dieser unselige Krieg hat uns von diesem Ziele wieder ein gutes Stück zurückgeschleudert.«

»Nein, nein – ich hoffe, der Krieg ist jetzt zu Ende.« »Wenn auch (was ich übrigens bezweifle), es sind die Saaten zu künftigen Kriegen gestreut – und wäre es nur die Hassessaat, welche die Ausweisung der Deutschen enthält. So etwas wirkt weit über das lebende Geschlecht hinaus.«

Der 4. September. Wieder ein Gewaltakt, ein Leidenschaftsausbruch – und zugleich wieder ein Heilmittel zur Rettung des Vaterlandes: der Kaiser wird abgesetzt. Frankreich erklärt sich als Republik. Was Napoleon III. und seine Armee getan: es gilt nicht. Fehltritte, Verrat, Feigheit – das alles haben einige Personen – der Kaiser und seine Generäle – verbrochen; das hat nicht Frankreich getan, dafür ist es nicht verantwortlich. Indem der Thron gestürzt ward, hat man die Blätter, worauf Metz und Sedan verzeichnet stehen, einfach aus dem Buche von Frankreichs Geschichte herausgerissen. Jetzt erst wird das Land selber Krieg führen, wenn anders Deutschland es wagt, die verruchte Invasion fortzusetzen ....

»Wie aber, wenn Napoleon gesiegt hätte?« fragte ich, als mir Friedrich obige Mitteilungen gemacht.

»Dann hätten sie seinen Sieg und seinen Ruhm als des Landes Sieg und Ruhm aufgefaßt.«

»Ist das gerecht?«

»Kannst du dir diese Frage denn nicht abgewöhnen?«

Meine Hoffnung, daß die Katastrophe von Sedan den Feldzug zu seinem Ende gebracht, mußte ich bald schwinden sehen. Alles um uns gebärdete sich kriegerischer als je. Die Luft war mit wildem Groll und heißer Rachgier geladen. Groll gegen den Feind und beinahe ebenso gegen die gestürzte Dynastie. Die Schmähreden, die Pamphlete, die jetzt auf Kaiser und Kaiserin und auf die unglücklichen Feldherren regneten, die Verdächtigungen und Verleumdungen, der Schimpf, der Spott –: es war ekelerregend. Da glaubte die rohe Menge die ganze Niederlage vom Lande auf ein paar Menschen abzuwälzen; und nun diese Menschen zu Boden lagen, bewarf man sie mit Kot und Steinen – und jetzt erst würde das Land es zeigen, daß es unüberwindlich sei.

Die Vorbereitungen zur Verschanzung von Paris werden eifrig fortgesetzt. Die Gebäude in dem Gefechtsbereich der Haupt-Enceinte werden geräumt oder gar eingerissen. Die Umgebung wird zur Einöde. Truppen von Menschen ziehen von draußen mit ihrem Haushalt in die Stadt. O diese traurigen Züge von Wagen und Packpferden und beladenen Menschen, die da die Trümmer ihrer aufgestörten Herde durch die Straßen wälzen! Das hatte ich schon einmal in Böhmen gesehen, wo das arme Landvolk vor dem siegenden Feinde floh, und nun mußte ich in der fröhlichen, glänzenden Weltstadt das gleiche Jammerbild erschauen – es waren dieselben ängstlichen, trüben Mienen, dieselbe Mühseligkeit und Hast, dasselbe Weh.

Endlich, gottlob, wieder einmal eine gute Nachricht: Durch englische Vermittelung angeregt, wird in Ferrières eine Zusammenkunft zwischen Jules Favre und Bismarck veranstaltet. Da würde man doch zu einer Einigung, zu einem Friedensschluß gelangen!

Im Gegenteil! Die Kluft wird jetzt erst recht offenbar. Schon seit einiger Zeit wird von den deutschen Zeitungen die Besitznahme von Elsaß-Lothringen befürwortet. Man will das ehemals deutsche Land sich wieder einverleiben. Das historische Argument für den Anspruch auf diese Provinzen zeigt sich nur teilweise haltbar, daneben wird das strategische Argument vorgebracht: »als Bollwerk bei voraussichtlichen, zukünftigen Krisen unentbehrlich.« Und bekanntlich sind ja die strategischen Gründe die hochwichtigsten, unumstößlichsten – daneben darf sich ein ethischer Grund erst in zweiter Linie geltend machen. – Andererseits: die Kriegspartie war von Frankreich verloren worden; war es nicht billig, daß dem Gewinner ein Preis zufiel? Hätten im Falle ihres Erfolges die Franzosen nicht die Rheinprovinzen sich aneignen wollen? Wenn der Ausgang eines Krieges nicht für den einen oder den anderen Teil Gebietserweiterung zur Folge haben soll, wozu wird dann überhaupt Krieg geführt?

Unterdessen läßt das siegreiche Heer im Vormarsche sich nicht abhalten: die Deutschen sind schon vor den Toren von Paris. Die Abtretung Elsaß-Lothringens wird offiziell verlangt. Dagegen erhebt sich der bekannte Ausspruch: »Keinen Zoll unseres Territoriums – keinen Stein unserer Festungen« – ( pas un pouce – pas une pierre).

Ja, ja – tausend Leben – nur keinen Zoll Erde. Das ist der Grundgedanke des patriotischen Geistes. »Man will uns demütigen,« riefen die französischen Patrioten, »eher wird sich das erbitterte Paris unter seinen Trümmern begraben.«

Fort, fort! entscheiden wir jetzt. Wozu ohne Notwendigkeit in einer belagerten fremden Stadt verbleiben, wozu unter Leuten leben, die von keinen anderen als Haß- und Rachegedanken erfüllt sind, die uns mit scheelen Blicken und oft mit geballten Fäusten betrachten, wenn sie uns deutsch reden hören? Freilich ohne Schwierigkeiten konnten wir jetzt nicht mehr aus Paris, aus Frankreich hinaus; man hatte überall Gefechtsgebiete zu passieren, der Eisenbahnverkehr war für Privatreisende häufig verschlossen, unseren Neubau im Stiche lassen, war auch nicht angenehm, aber gleichviel: unseres Bleibens war nicht mehr. – Eigentlich waren wir schon viel zu lange dageblieben, die Erregungen, die ich in letzter Zeit durchgemacht, hatten mich so stark erschüttert, daß meine Nerven darunter litten. Ich wurde häufig von Schüttelfrost und ein paarmal auch von Weinkrämpfen befallen.

Schon waren unsere Koffer verpackt und alles zur Abfahrt bereit, als ich wieder einen Anfall bekam, diesmal so heftig, daß ich ins Bett gebracht werden mußte.

Der herbeigeholte Arzt erklärte, daß ein Nervenfieber oder gar eine Gehirnentzündung im Anzug sei und man vorläufig nicht daran denken dürfe, mich den Strapazen einer Reise auszusetzen. –

Ich lag lange, lange Wochen danieder. Nur eine sehr traumhafte Erinnerung ist mir von dieser ganzen Zeit geblieben. Und sonderbar: eine süße Erinnerung. Ich war doch schwer krank und Trauriges und Schauriges trug in dem Orte meines Aufenthaltes – eine belagerte Stadt – unaufhörlich sich zu, und dennoch, wenn ich daran zurückdenke: es war eigentümlich freudenvolle Zeit. Freuden, ja, so recht intensive Freuden, wie Kinder sie zu empfinden pflegen. Die Gehirnkrankheit, die ich durchgemacht, die fast immerwährende Abwesenheit oder doch nur halbe Anwesenheit des Bewußtseins machte, daß alles Denken und Urteilen, alles Erwägen und Überlegen aus meinem Kopf geschwunden war und nur ein vager Daseinsgenuß zurückblieb, wie solcher – wie gesagt – von Kindern, namentlich von zärtlich gewarteten Kindern, empfunden wird ... An zärtlicher Wartung fehlte es mir nicht. Der Gatte, besorgt und liebend, unermüdlich, war Tag und Nacht um mich. Auch die Kinder brachte er häufig an mein Lager. Was mein Rudolf mir alles vorerzählte! Ich verstand es meist nicht, aber seine liebe Stimme erklang mir wie Musik; und das Zwitschern unserer kleinen Sylvia, unserer Herzenspuppe, wie süß belustigte mich erst das. Da gab es hundert kleine Scherze und Einverständnisse zwischen Friedrich und mir über das Gebaren unserer Tochter ... Worin diese Scherze bestanden, das weiß ich auch nicht mehr; aber ich weiß, daß ich lachte und mich freute – ganz unbändig. Jeder der gewohnten Späße schien mir der Gipfel der Witzigkeit und je öfter wiederholt, desto witziger und köstlicher. Und mit welcher Wonne ich die gereichten Tränkchen schlürfte: da bekam ich täglich zur bestimmten Stunde eine Limonade – so etwas göttertrunkähnliches habe ich während meines ganzen gesunden Lebens nicht gekostet – und allabendlich eine opiumhaltige Arznei, deren sanfteinschläfernde, in bewußten Schlummer wiegende Wirkung mich mit einem Gefühle seliger Ruhe durchrieselte. Dabei wußte ich, daß der geliebte Mann an meiner Seite war, mich hütend und wahrend als seines Herzens teuerster Schatz. Der Krieg, der draußen vor den Toren wütete, von dem wußte ich beinahe nichts mehr; und wenn mir doch zuweilen eine Erinnerung davon aufblitzte, so betrachtete ich das Ding als etwas so fern liegendes, so mich durchaus nicht berührendes, als spielte es sich in China oder auf einem anderen Planeten ab. Meine Welt war hier in diesem Krankenzimmer – in diesem Rekonvaleszentenzimmer vielmehr, denn ich fühlte mich genesen – dem Glück entgegen.

Dem Glücke? Nein. Mit der Genesung kam auch das Verständnis wieder und die Auffassung des Gräßlichen, das uns umgab. Wir waren in einer belagerten, hungernden, frierenden, jammererfüllten Stadt. Der Krieg wütete noch fort.

Inzwischen war der Winter hereingebrochen, eisigkalt. Jetzt erfuhr ich erst, was während meiner langen Bewußtlosigkeit alles vorgefallen. Die Hauptstadt des »Bruderlandes«, Straßburg, die »wunderschöne«, die »echt deutsche«, die »kerndeutsche Stadt« ist beschossen worden; ihre Bibliothek zerstört; im ganzen fielen 193 722 Schüsse – vier oder fünf in der Minute.

Straßburg ist genommen.

– Das Land gerät in wilde Verzweiflung – jene Verzweiflung, welche in Raserei und Wahnsinn ausartet. Man schlägt im Nostradamus nach, um darin Prophezeiungen der jetzigen Ereignisse zu finden, und neue Seher lassen sich mit Weissagungen vernehmen. Ärger noch: Besessene treten auf: es ist wie ein Rückfall in mittelalterliche, höllenfeuer-durchzuckte Geistesnacht ...

»Könnte ich zu den Beduinen!« rief Gustav Flaubert. »Könnte ich in das halbbewußte Traumland meiner Krankheit zurück!« so klagte ich. Jetzt war ich wieder gesund und mußte all das erfahren und erfassen, was Grauenvolles um uns vorging. Da begannen wieder die Eintragungen in die roten Hefte und ich finde folgende Notizen vor:

1. Dezember. Trochu setzt sich auf den Höhen von Champigny fest. 2. Dezember. Hartnäckiges Gefecht um Brie und Champigny. 5. Dezember Die Kälte wird immer strenger. Ach, die zitternden, blutenden, armen Wichte, die draußen im Schnee gebettet – sterben. Auch hier in der Stadt wird furchtbar an Kälte gelitten. Der Verdienst ist auf Null gesunken. Kein Feuerungsmaterial zu beschaffen. Was gäbe mancher drum, wenn er nur ein paar Stückchen Holz da hätte – und wäre es der gewisse Thron von Spanien ...

21. Dezember. Ausfall aus Paris.

25. Dezember. Eine kleine Abteilung preußischer Kavallerie wird aus den Häusern der Ortschaften Trov und Sougé mit Flintenschüssen begrüßt (das ist Patriotenpflicht). General Kraatz befiehlt die Züchtigung dieser Ortschaften (das ist Kommandantenpflicht) und läßt brennen. »Anzünden« lautet das Kommandowort, und die Leute – vermutlich sanfte, gutmütige Burschen – gehorchen (das ist Soldatenpflicht) und legen den Brand an. Die Flammen schlagen zum Himmel und die armen Heimstätten stürzen krachend ein über Mann und Weib und Kind – über fliehende, weinende, brüllende und brennende Menschen und Tiere.

O du fröhliche, o du selige, o du heilige Weihnachtszeit!

* * *

Soll Paris nur ausgehungert werden, oder auch beschossen?

Gegen letztere Annahme sträubt sich das Kulturgewissen. Diese »ville-lumière«, dieser Anziehungspunkt aller Völker, diese glänzende Stätte der Künste – mit ihren unersetzlichen Reichtümern und Schätzen bombardieren wie die erste beste Zitadelle? Nicht denkbar; die ganze neutrale Presse (so erfuhr ich später) protestiert dagegen. Die Presse der Kriegspartei in Berlin hingegen ermuntert dazu: das sei das einzige Mittel, den Krieg zu Ende zu führen und die Seinestadt erobern – welcher Ruhm! Die Proteste übrigens sind es gerade, welche gewisse Kreise in Versailles bestimmen, diese strategische Maßregel – weiter ist ja eine Beschießung doch nichts – zu ergreifen. Und so geschah es, daß ich unterm 28. Dezember mit zitternden Zügen niederschrieb:

»Es ist da ... Wieder ein dumpfer Schlag ... Eine Pause – und wieder –«

Weiter schrieb ich nicht. Aber ich erinnere mich genau der Empfindungen jenes Tages. In dem »Es ist da« lag neben dem Schrecken eine gewisse Befreiung, eine Erleichterung, ein Nachlassen der beinah schon unerträglich gewordenen Nervenanspannung. Was man so lange teils erwartet und befürchtet, teils für menschenunmöglich gehalten – es war nun da.

Wir saßen beim Gabelfrühstück (das heißt, wir aßen Brot und Käse – die Lebensmittel waren schon karg), Friedrich, Rudolf, der Hofmeister und ich, als der erste Schlag erdröhnte. Wir alle erhoben betroffen die Köpfe und wechselten Blicke. Sollte dies? ...

Aber nein – es war vielleicht ein zugefallenes Haustor oder sonst etwas. Nun war ja alles still. Wir nahmen das vorhin unterbrochene Gespräch wieder auf, ohne nur des Gedankens zu erwähnen, welchen jener Ton in uns erweckt hatte. Da – nach drei bis vier Minuten – kam er wieder. Friedrich sprang auf:

»Das ist die Beschießung,« sagte er und eilte ans Fenster.

Ich folgte ihm. Von der Straße drang ein Gemurmel herauf, Gruppen hatten sich gebildet: die Leute standen und horchten oder wechselten erregte Worte. Jetzt kam unser Kammerdiener in das Zimmer gestürzt – zugleich erklang eine neue Salve.

»Oh monsieur et madame – c'est le bombardement!«

Zu der offenen Tür herein drängten nunmehr sämtliche anderen Diener und Dienerinnen bis herab zum Küchenjungen. Bei solchen Katastrophen – Kriegs-, Feuer- oder Wassernot – da fallen alle gesellschaftlichen Schranken, da laufen alle Bedrohten zusammen. Viel mehr als vor dem Gesetze, mehr noch als vor dem Tode – der in seinen Bestattungszeremonien solche Standesunterschiede kennt – fühlen sich alle gleich vor der Gefahr. C'est le bombardementc'est le bombardement! Jeder, der zu uns in das Zimmer herbeigeeilt kam, stieß diesen selben Ruf aus.

Es war entsetzlich – und dennoch, ich erinnere mich genau meiner Empfindung: ein gewisses bewunderndes Erschauern, eine Art Genugtuung, etwas so Gewaltiges zu erleben, mitten drin zu sein in dieser schicksalsschweren Begebenheit und vor der eigenen Lebensgefahr dabei nicht zu erbeben. Die Pulse schlugen mir, ich fühlte etwas wie – wie soll ich's nennen? – Stolz des Mutes.

* * *

Das Ding war übrigens weniger schauervoll, als es im ersten Augenblick geschienen. Keine brennenden Gebäude, keine angstschreienden Menschenhaufen, keinen unaufhörlich die Luft durchschwirrenden Bombenhagel – sondern immer nur dieses dumpfe, ferne, von langen und längeren Zwischenräumen getrennte Rollen. Man fing nach einiger Zeit beinahe an, sich daran zu gewöhnen. Die Pariser wählten als Spaziergangsziel solche Punkte, von welchen aus man die Kanonenmusik besser hören konnte. Hier und da fiel ein Geschoß auf die Straße und platzte, aber wie selten kam einer dazu, zufällig in der Nähe zu sein. Zwar fielen manche tödliche Bomben herab, aber in der Millionenstadt hörte man von diesen Fällen nur so vereinzelt, wie man auch sonst gewohnt ist, unter den Lokalnachrichten seiner Zeitung verschiedene Unglücksfälle zu vernehmen, ohne daß es einem besonders nahe ginge: »Ein Maurer von einem vierstockhohen Gerüst gefallen« oder »eine anständig gekleidete Frauensperson sich über das Brückengeländer in den Fluß gestürzt« u. dgl. m. Der eigentliche Kummer, der eigentliche Schrecken der Bevölkerung, das war nicht das Bombardement: das waren der Hunger, die Kälte, die Not. Aber eine solche Nachricht von einem unheilbringenden Geschoß hat mich tief erschüttert. Dieselbe kam in Form einer schwarzumrandeten Traueranzeige ins Haus:

»Herr und Frau N. geben Nachricht von dem Tode ihrer zwei Kinder François (8 Jahre alt) und Amélie (4 Jahre), welche eine durch das Fenster fliegende Bombe erschlagen hat. Um stille Teilnahme wird gebeten.«

»Stille« Teilnahme! Ich stieß einen lauten Schrei aus, nachdem ich das Blatt überflogen. Ein Gedanke, ein mit Blitzesschnelle vor meinem inneren Auge erscheinendes Bild zeigte mir den ganzen Jammer, der in dieser schlichten Traueranzeige lag ... ich sah unsere beiden Kinder, Rudolf und Sylvia – nein, es war nicht auszudenken!

Die Nachrichten, die man erhält, sind spärlich; alle Postkommunikation natürlich unterbrochen: nur durch Brieftauben und Luftballons wird mit der Außenwelt verkehrt. Die Gerüchte, die allenthalben auftauchen, sind der widersprechendsten Art. Man meldet siegreiche Ausfälle, oder man verbreitet die Kunde, daß der Feind schon im Begriffe sei, Paris zu erstürmen, um es an allen Ecken anzuzünden und dem Erdboden gleich zu machen; oder man versichert, daß, ehe man einen Deutschen in die Mauern dringen ließe, die Kommandanten der Forts sich selber und ganz Paris in die Luft sprengen würden. Es wird erzählt, daß die sämtliche Bevölkerung des Landes, namentlich aus dem Süden ( »le midi se lève«) über die Belagerer im Rücken herfällt, um ihnen den Rückzug abzuschneiden und sie bis auf den letzten Mann zu vernichten.

Neben den falschen Nachrichten gelangen auch einige wahre – deren Richtigkeit sich später bestätigte – bis zu uns. So von einer auf der Straße von Grand Luce dicht an Le Mans ausgebrochenen Panik, wobei Greueltaten sich zutrugen: außer Rand und Band gekommene Soldaten warfen Verwundete aus den bereitstehenden Eisenbahnwaggons, um an deren Stelle Platz zu nehmen.

Von Tag zu Tag wird es schwerer, Lebensmittel zu beschaffen. Die Fleischvorräte sind erschöpft; es gibt schon längst keine Rinder und Schafe mehr in den angelegten Viehparks; bald sind auch alle Pferde verzehrt, und es beginnt die Periode, wo die Hunde und Katzen, die Ratten und Mäuse, schließlich auch die Tiere des jardin des plantes, selbst der so beliebte, arme Elefant als Speise dienen müssen. Brot ist beinah nicht mehr zu erlangen. Stunden- und stundenlang müssen die Leute vor den Bäckerläden in der Reihe harren, um ihre kleine Ration zu bekommen, doch die meisten gehen leer aus. Erschöpfung und Krankheiten machen reiche Todesernte. Während gewöhnlich in der Woche 1100 Menschen starben, weisen die Pariser Sterbelisten jetzt wöchentlich 4–5000 auf. Täglich also ungefähr 400 unnatürliche Todesfälle – das heißt also Morde. Wenn auch der Mörder kein einzelner war, sondern ein unpersönliches Ding, nämlich der Krieg, so sind es darum nicht minder Morde. Wen traf die Verantwortung? Etwa jene parlamentarischen Großsprecher, welche in ihren Hetzreden mit stolzem Pathos erklärten – wie dies Girardin in der Sitzung vom 15. Juli getan – daß sie »die Verantwortung eines Krieges vor der Geschichte auf sich nähmen«? Können denn eines Menschen Schultern stark genug sein, solche Verbrechenslast zu tragen? Gewiß nicht. Es fällt auch niemandem ein, die Prahler nachträglich beim Wort zu nehmen.

Eines Tages, es war um den 20. Januar herum, kam Friedrich, von einem Gang durch die Stadt heimgekehrt, mit erregter Miene in mein Zimmer.

»Nimm dein Eintragebuch zur Hand, meine eifrige Geschichtsschreiberin!« rief er mir zu. »Heute gibt es einen wichtigen Posten.« Und er warf sich in einen Sessel.

»Welches meiner Bücher?« fragte ich. »Das Friedensprotokoll?«

Friedrich schüttelte den Kopf:

»O, mit dem ist's Wohl für lange Zeit vorbei. Der Krieg, der jetzt gefochten wird, ist zu gewaltiger Natur, um nicht kriegerisch fortzuwirken. Auf der Seite der Besiegten hat er einen solchen Vorrat von Haß- und Rachesaaten ausgestreut, daß daraus eine künftige Kampfernte hervorwachsen muß und andererseits hat er für den Sieger solche großartige umwälzende Erfolge zustande gebracht, daß dort eine gleich große Saat von kriegerischem Stolze aufgehen wird.«

»Was ist denn so Bedeutendes geschehen?«

»König Wilhelm wurde in Versailles zum deutschen Kaiser ausgerufen. Es gibt jetzt ein Deutschland – ein einiges Reich – und ein mächtiges Reich. Das gibt einen neuen Abschnitt in der sogenannten Weltgeschichte. Und du kannst dir denken, wie in dem neuen, aus Massenarbeit hervorgegangenen Reiche diese Arbeit hoch in Ehren gehalten sein wird. Die beiden vorgeschrittensten Kulturländer des Festlandes sind es also hinfort, welche den Kriegsgeist pflegen werden – das eine, um den erhaltenen Schlag zurückzugeben: das andere, um die errungene Machtstellung zu bewahren; hier aus Haß, dort aus Liebe; hier aus Vergeltungssucht, dort aus Dankbarkeit – gleichviel: klappe dein Friedensprotokoll nur zu – auf lange Zeit hinaus stehen wir unter dem blutigen und eisernen Zeichen des Mars!«

»Deutscher Kaiser!« rief ich – »das ist wahrlich großartig.« Und ich ließ mir die Einzelheiten dieses Ereignisses erzählen.

»Ich kann doch nicht umhin, Friedrich,« sagte ich, »mich über diese Nachricht zu freuen. So ist die ganze Schlachtarbeit doch nicht verloren gewesen, wenn daraus ein neues großes Reich hervorgegangen.«

»Vom französischen Standpunkt aber doppelt verloren ... Und wir beide hätten wohl das Recht, diesen Krieg nicht einseitig – von der deutschen Seite – zu betrachten. Nicht nur als Menschen, sogar nach engerem, nationalem Begriffe hätten wir das Recht, die Erfolge unserer Feinde und Unterwerfer von 1866 zu beklagen. Und dennoch, ich gebe dir zu, daß die erreichte Vereinigung des zerstückelten Deutschlands eine schöne Sache ist; daß diese Bereitwilligkeit der übrigen deutschen Fürsten, dem greisen Sieger die Kaiserkrone zu reichen, etwas Begeisterndes, Bewundernswertes hat. Es ist nur schade, daß eine solche Vereinigung nicht aus friedlichem, sondern aus kriegerischem Werke hervorgegangen ist. Wie also, wenn Napoleon III. die Herausforderung des 19. Juli nicht abgesendet hätte, wäre da in den Deutschen nicht genug Vaterlandsliebe, nicht genug Volkskraft, nicht genug Einigkeit gelegen, um aus sich heraus dasjenige zu bilden, worauf sie jetzt ihren Nationalstolz setzen werden: »Ein einig Volk von Brüdern?« – Jetzt werden sie jubeln – des Dichters Wunsch ist erfüllt. Daß sie vor kurzen vier Jahren einander in den Haaren gelegen, daß es für Hannoveraner, Sachsen, Frankfurter, Nassauer und so weiter keinen ärgeren Haßbegriff gab als »Preußen« – das wird zum Glück vergessen sein. Dafür aber der Deutschenhaß, hier zu Lande, wie wird der nunmehr gedeihen!«

Mir schauderte.

»Das bloße Wort Haß« begann ich –

»Ist dir verhaßt? Du hast recht. So lange dieses Gefühl nicht recht- und ehrlos gemacht wird, so lange gibt es keine menschliche Menschheit. Der Religionshaß ist überwunden, aber der Völkerhaß bildet noch einen Teil der bürgerlichen Erziehung. Und doch gibt es nur ein veredelndes, ein beglückendes Gefühl hieneden – das ist die Liebe. Nicht wahr, Martha, davon wissen wir etwas zu erzählen?«

Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und blickte zu ihm auf, während er mir zärtlich das Haar aus der Stirn strich.

»Wir wissen,« fuhr er fort, »wie süß es ist, wenn im Herzen so viel Liebe wohnt – füreinander, für unsere Kleinen, für alle Brüder der großen Menschenfamilie, denen man so gern, so gern das drohende Leid ersparen wollte ... Aber sie wollten nicht.«

»Nein, nein Friedrich – so umfassend ist mein Herz doch nicht. Die Hassenden alle kann ich nicht lieben.«

»Aber doch bemitleiden?«

In dieser Weise plauderten wir lange weiter. Ich weiß es noch heute so genau, weil ich damals öfters – neben den kriegerischen Ereignissen – auch Bruchstücke unserer daran geknüpften Gespräche in die roten Hefte eintrug. An jenem Tags haben wir auch wieder einmal von der Zukunft gesprochen: jetzt würde Paris kapitulieren müssen, der Krieg hatte ein Ende – und dann konnten wir wieder mit gutem Gewissen glücklich sein. Da überschauten wir die Gewährleistungen unseres Glücks. In den acht Jahren unserer Ehe nicht ein hartes, nicht ein unfreundliches Wort – so viel miteinander durchgelitten und durchgenossen – so war unsere Liebe, unser Einssein derart befestigt, daß eine Abnahme nicht mehr zu fürchten war. Im Gegenteile! – nur stets inniger würden wir uns aneinander schließen – jedes neue gemeinschaftliche Erlebnis gäbe zugleich ein neues Band ab. Wenn wir erst ein paar weißhaarige alte Leutchen geworden – mit welcher Freude konnten wir da auf die ungetrübte Vergangenheit zurückblicken, welch' goldig-milder Lebensabend lag dann noch vor uns!

Dieses Bild von dem glücklichen alten Pärchen, das wir einst abgeben sollten, hatte ich mir so oft und lebhaft vorgestellt, daß es sich mir ganz deutlich eingeprägt und sogar im Traum sich wiederholte, wie etwas wirklich Geschehenes. Mit verschiedenen Einzelheiten: Friedrich mit einem Samtkäppchen und einer Gartenschere ... ich weiß selber nicht warum, denn niemals hatte er Lust zur Gärtnerei gezeigt, und von einem Hauskäppchen war schon gar nie die Rede gewesen; – ich mit einem sehr kokett gesteckten schwarzen Spitzentuche auf dem silberweißen Haar, und als Umgebung eine von der untergehenden Sommersonne warm erleuchtete Parkpartie; dazu lächelnd getauschte freundliche Blicke und Worte: »Weißt du noch? ... Erinnerst du dich, damals als –«

* * *

Viele der vorangehenden Blätter habe ich mit Schaudern und mit Überwindung geschrieben. Nicht ohne inneres Entsetzen vermochte ich die Auftritte zu schildern, die ich auf meiner Fahrt nach Böhmen und während der Cholerawoche in Grumitz mitgemacht. Ich habe es getan, um einer Pflichtmahnung zu gehorchen. Ein geliebter Mund hat mir einst den feierlichen Befehl erteilt:

»Falls ich früher sterbe, mußt du meine Aufgabe übernehmen, für das Friedenswerk zu wirken.« –

Wäre mir dieses bindende Geheiß nicht geworden, nimmer hätte ich es über mich gebracht, die Schmerzenswunden meiner Erinnerungen so schonungslos aufzureißen. Jetzt bin ich aber bei einem Erlebnis angelangt, das ich berichten, nicht aber schildern will – nicht kann.

Nein, ich kann nicht, kann nicht!

Ich habe es versucht: zehn halbgeschriebene, zerrissene Blätter liegen auf dem Boden neben meinem Schreibtisch – ein Herzkrampf befiel mich – die Gedanken stockten oder kreisten wild in meinem Hirn – – ich mußte die Feder wegwerfen und weinen, bitter, heftig, kläglich weinen, wie ein Kind.

Jetzt, einige Stunden später, nehme ich meine Aufgabe wieder vor. Aber auf die Beschreibunq der Einzelheiten nachstehenden Geschehnisses, auf Mitteilung dessen, was ich dabei empfunden – muß ich verzichten.

Die Tatsache genügt:

Friedrich – mein Einziger! – ward infolge eines bei ihm gefundenen Berliner Briefes der Spionage verdächtigt ... von einer fanatischen Rotte umringt »á mort – á mort le Prussien!« – vor ein Patriotentribunal geschleppt – – am 1. Februar 1871 – – – – standrechtlich erschossen.


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