Bertha von Suttner
Die Waffen nieder!
Bertha von Suttner

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Viertes Buch.

1866.

Und so war es denn wieder da – dieses größte alles denkbaren Unglücks – und wurde von der Bevölkerung mit dem gewohnten Jubel begrüßt. Die Regimenter marschierten aus (wie würden sie wiederkehren?) und Sieges- und Segenswünsche und schreiende Gassenjungen gaben ihnen das Geleite.

Friedrich war schon vor einiger Zeit nach Böhmen beordert worden – noch ehe der Krieg erklärt war, und gerade als die Dinge so standen, daß ich zuversichtlich hoffen konnte, der unselige, so geringfügige Herzogtümerstreit werde sich gütlich beilegen. Diesmal war mir das herzzerreißende Abschiednehmen erspart geblieben, welches dem direkten »In den Krieg ziehen« des Geliebten vorangeht. Als mir mein Vater triumphierend die Nachricht brachte: »Jetzt geht's los,« war ich schon seit vierzehn Tagen allein. Und seit letzter Zeit war ich auf diese Nachricht schon gefaßt gewesen – wie ein Verbrecher in seiner Zelle auf Verlesung des Todesurteils gefaßt ist.

Ich beugte den Kopf und sagte nichts.

»Sei guten Mut's, Kind. Der Krieg wird nicht lang dauern – über heut' und morgen sind wir in Berlin .... Und so wie er aus Schleswig-Holstein zurückgekommen, so wird dein Mann auch aus diesem Feldzug heimkehren, aber mit viel grünerem Lorbeer bedeckt. Unangenehm mag es ihm zwar sein, da er selbst preußischen Ursprungs ist, gegen Preußen zu ziehen – aber seit er in österreichischen Diensten steht, ist er ja doch mit Leib und Seel' einer von den unsern .... Diese Preußen! Aus dem Bund wollen sie uns hinauswerfen, die arroganten Windbeutel – das werden sie schön bereuen, wenn Schlesien wieder unser ist, und wenn die Habsburger–«

Ich streckte die Hände aus:

»Vater – eine Bitte: laß mich jetzt allein.«

Er mochte glauben, daß ich das Bedürfnis fühlte, mich auszuweinen, und da er ein Feind aller Rührszenen war, so willfahrte er bereitwilligst meinem Wunsch und ging.

Ich aber weinte nicht. Es war mir, als wäre ein betäubender Schlag auf meinen Kopf gefallen. Schwer atmend, starr blickend saß ich eine Zeit regungslos da. Dann ging ich zu meinem Schreibtisch, schlug die roten Hefte auf und trug ein:

»Das Todesurteil ist gesprochen. Hunderttausend Menschen sollen hingerichtet werden. Ob Friedrich auch dabei ist? ... Folglich auch ich ... Wer bin ich, um nicht zu Grunde zu gehen, wie die anderen Hunderttausend? – ich wollt', ich wär schon tot.«

Von Friedrich erhielt ich am selben Tage einige flüchtig geschriebene Zeilen:

»Mein Weib! Sei mutig – hoch das Herz! Wir waren glücklich, das kann uns niemand nehmen, selbst wenn heute, wie für so viele andere, auch für uns das Dekret gefallen wäre: Es ist vorbei. (Derselbe Gedanke, wie ich in meinen roten Heften: die vielen anderen Verurteilten.) Heute geht's dem Feind entgegen. Vielleicht erkenne ich drüben ein paar Kampfgenossen von Düppel und Alsen – vielleicht meinen kleinen Vetter Gottfried ... Wir marschieren nach Liebenau mit der Avantgarde des Grafen Clam-Gallas. Von nun an gibt's zum Schreiben keine Zeit mehr. Erwarte Dir keine Briefe. Höchstens, wenn sich die Gelegenheit bietet, eine Zeile, zum Zeichen, daß ich lebe. Vorher möchte ich noch ein einziges Wort finden, das meine ganze Liebe in sich faßte, um es Dir – falls es das letzte wäre – hier niederzuschreiben. Ich finde nur dieses: »Martha!« Du weißt, was mir das bedeutet.«

Konrad Althaus mußte auch ausrücken. Er war voll Feuer und Kampfeslust und von genügendem Preußenhaß beseelt, um gern hinauszuziehen: dennoch fiel ihm der Abschied schwer. Die Heiratsbewilligung war erst zwei Tage vor dem Marschbefehl eingetroffen. »O, Lilli, Lilli,« sprach er schmerzlich, als er seiner Braut Lebewohl sagte, »warum hast du so lang gezögert, mich zu nehmen? Wer weiß nun, ob ich wiederkomme?«

Meine arme Schwester war selbst von Reue erfüllt. Jetzt erst erwachte leidenschaftliche Liebe für den Langverschmähten. Als er fort war, sank sie weinend in meine Arme.

»O, warum habe ich nicht längst »ja« gesagt! Jetzt wäre ich sein Weib« ...

»Da wäre dir der Abschied nur desto schmerzlicher geworden, meine arme Lilli.«

Sie schüttelte den Kopf. Ich verstand wohl, was in ihrem Innern vorging – vielleicht klarer, als sie es selber verstand: sich trennen müssen bei noch ungestilltem – vielleicht ewig ungestillt bleiben sollendem Liebessehnen; – den Becher von den Lippen weggerissen und möglicherweise zerschellt sehen, ehe man noch einen einzigen Trunk getan – das , mag wohl doppelt quälend sein.

Mein Vater, die Schwestern und Tante Marie übersiedelten jetzt nach Grumitz. Ich ließ mich leicht bereden, samt meinem Söhnchen mitzukommen. So lange Friedrich fort war, schien mir der eigene Herd erstorben – ich hätte es da nicht ausgehalten. Es ist sonderbar: ich fühlte mich so verwitwet, als wäre die Nachricht von dem ausgebrochenen Kriege zugleich die Nachricht von Friedrichs Tod gewesen. Manchmal, mitten in meine dumpfe Trauer, fiel ein lichter Gedanke: »Er lebt und kann ja wiederkommen« – daneben aber stieg wieder die schreckliche Idee auf: er krümmt und windet sich in unerträglichen Schmerzen ... er verschmachtet in einem Graben – schwere Wagen fahren über seine zerschossenen Glieder weg – Mücken und Ameisen wimmeln auf seinen offenen Wunden; die Leute, welche das Schlachtfeld räumen, halten den erstarrt Daliegenden für tot und scharren ihn lebendig mit anderen Toten in die seichte Grube – hier kommt er zu sich und – – –

Mit einem lauten Schrei fuhr ich aus solchen Vorstellungen empor:

»Was hast du nun wieder, Martha?« schalt mein Vater. »Du wirst noch verrückt werden, wenn du so brütest und aufschreist. Beschwörst du dir wieder so dumme Bilder vor die Einbildung? Das ist sündhaft.« ...

Ich hatte nämlich öfters diese meine Ideen laut werden lassen, was meinen Vater höchlichst entrüstete.

»Sündhaft,« fuhr er fort, »und unanständig und unsinnig. Solche Fälle, wie sie deine überspannte Phantasie ausmalt, die kommen mitunter – unter tausend Fällen einmal – bei der Mannschaft – vor, aber einen Stabsoffizier, wie deinen Mann, lassen die anderen nicht liegen. Überhaupt, an solche Grauendinge soll man nicht denken. Es liegt eine Art Frevel, eine Entheiligung des Krieges darin, wenn man statt der Größe des Ganzen die elenden Einzelheiten ins Auge faßt ... an die denkt man nicht.«

»Ja, ja, nicht daran denken«, antwortete ich, »das ist von jeher Menschenbrauch allem Menschenelend gegenüber ... ›Nicht denken‹: darauf ist ohnehin alle Barbarei gestützt.«

Unser Hausarzt, Dr. Bresser, war diesmal nicht in Grumitz; er hatte sich freiwillig dem Sanitätskorps zur Verfügung gestellt und war nach dem Kriegsschauplatz abgegangen. Auch mir war der Gedanke gekommen, sollte ich nicht als Krankenpflegerin mitziehen? ... Ja, wenn ich gewußt hätte, daß ich in die Nähe Friedrichs käme, daß ich bei der Hand wäre, falls er verwundet würde, da hätte ich nicht gezögert; aber für andere? Nein, da gebrach es mir an Kraft, da fehlte der Opfermut. Sterben sehen, röcheln hören – hundert Hilfeflehenden helfen wollen und nicht helfen können – den Schmerz, den Ekel, den Jammer auf mich laden, ohne dabei Friedrich beizustehen – im Gegenteil, dadurch die Chancen, daß wir uns wiederfinden, vermindern, denn die Pflegenden begeben sich auch in vielfache Todesgefahr ... nein, ich tat es nicht. Zudem belehrte mich mein Vater, daß eine Privatperson, wie ich, zur Krankenpflege in den Feldhospitälern gar nicht zugelassen würde – daß dieses Amt nur von Sanitätssoldaten oder höchstens von barmherzigen Schwestern ausgeübt werden dürfe.

»Charpie zupfen«, sagte er, »und Verbandzeug für die patriotischen Hilfsvereine herrichten, das ist das einzige, was ihr für die Verwundeten leisten könnt, und das sollen denn meine Töchter auch fleißig tun – dazu geb' ich meinen Segen.«

Und diese Beschäftigung war es nun auch, welcher meine Schwestern und ich viele Stunden des Tages widmeten. Rosa und Lilli verrichteten ihre Arbeit mit sanft gerührten und dabei fast freudigen Mienen. Wenn die feinen Fädchen sich unter unseren Fingern zu weichen Massen häuften, wenn wir die Leinwandstreifen schön ordentlich übereinander gefaltet, so brachte dies den beiden Mädchen etwas von den Empfindungen des barmherzigen Pflegeamtes: es war ihnen, als linderten sie brennende Schmerzen und verhüteten sie das Verbluten der Wunden; als hörten sie die erleichterten Seufzer und sähen die dankbaren Blicke der Gewarteten. Es war beinahe ein freundliches Bild, welches ihnen da von dem Zustand des »Verwundetseins« vorschwebte. Die beneidenswerten Soldaten, welche, den Gefahren des tobenden Kampfes entronnen, jetzt auf weichen, reinen Betten hingestreckt, da gepflegt und gehätschelt werden, bis zu ihrer Heilung, größtenteils in halb bewußtlosen, köstlich-müden Halbschlummer gelullt, zeitweise wieder zu dem angenehmen Bewußtsein erwachend, daß ihr Leben gerettet, daß sie zu den Ihren heimkehren und noch in fernen Zeiten erzählen können, wie sie in der Schlacht von X ehrenvoll blessiert worden seien.

In dieser naiven Auffassung bestärkte sie denn auch unser Vater:

»Brav, brav, Mädels – heute seid ihr wieder fleißig ... da habt ihr wieder vielen unserer tapferen Verteidiger eine Freude gemacht! Wie das wohl tut, so ein Päckchen Charpie auf der blutenden Wunde – ich weiß was davon zu erzählen: ... Damals, als ich bei Palestro den Schuß ins Bein bekam« – usw. usw.

Ich aber seufzte und sagte nichts. Ich hatte andere Geschichten von Verwundungen vernommen, als die, wie sie mein Vater zu erzählen beliebte; – Geschichten, welche sich zu den gebräuchlichen Veteranenanekdoten verhalten ungefähr wie die Wirklichkeit elenden Hirtenlebens zu den Schäferbildchen von Watteau.

Das rote Kreuz ... ich wußte, durch welches auf das schmerzlichste erschütterte Völkermitleid diese Institution ins Leben gerufen ward. Seiner Zeit hatte ich den darüber in Genf geführten Verhandlungen gefolgt und die Schrift Dunants, welche den Anstoß zu dem Ganzen gegeben, hatte ich gelesen. Ein herzzerreißender Jammerruf, diese Schrift! Der edle Genfer Patrizier war auf das Schlachtfeld von Solferino geeilt, um zu helfen, was er konnte; und das, was er dort gefunden, hat er der Welt erzählt. Zahllose Verwundete, welche fünf, sechs Tage liegen geblieben – ohne Hilfe .... Alle hätte er retten mögen, doch was konnte er, der einzelne, was konnten die anderen, wenigen diesem Massenelend gegenüber tun? Er sah solche, welchen durch einen Tropfen Wasser, durch einen Bissen Brot das Leben hätte erhalten werden können; er sah solche die noch atmend, in fürchterlicher Eile begraben wurden .... Dann sprach er aus, was schon oft erkannt worden, was aber jetzt erst Nachhall fand: daß die Verpflegungs- und Rettungsmittel der Heeresverwaltung den Anforderungen einer Schlacht nicht mehr gewachsen seien. Und das »rote Kreuz« ward geschaffen.

Österreich hatte sich der Genfer Konvention damals noch nicht angeschlossen. Warum? ... Warum wird allem Neuen, wenn es noch so segensreich und einfach ist, Widerstand entgegengesetzt? – Das Gesetz der Trägheit – die Gewalt des heiligen Schlendrians ... »Die Idee ist recht schön, aber unausführbar«, hieß es da – auch meinen Vater hörte ich öfters jene, während der Konferenz von 1863 von verschiedenen Delegierten vorgebrachten Zweifelargumente wiederholen – »unausführbar, und selbst, wenn ausführbar, so doch in mancher Hinsicht sehr unzukömmlich. Die Militärbehörden könnten Privatmitwirkung auf dem Schlachtfelde nicht angemessen finden. Im Kriege müssen die taktischen Zwecke der Menschenfreundlichkeit vorangehen – und wie könnte diese Privatmitwirkung mit genügenden Bürgschaften gegen das Spionenwesen umgeben werden? Und die Auslagen! Kostet der Krieg nicht ohnehin schon genug! Die freiwilligen Krankenwärter würden durch ihre eigenen stofflichen Bedürfnisse dem Proviantamt lästig fallen; oder, wenn sie sich in dem besetzten Lande auch selber verproviantieren, entsteht da nicht eine bedauerliche Konkurrenz für die Heeresverwaltung durch den Ankauf von für die Verwaltung notwendigen Gegenständen und die unmittelbare Erhöhung ihres Preises?«

O diese Behördenweisheit! – So trocken, so gelehrt, so sachlich, ja klugheitstriefend und so – bodenlos dumm.

* * *

Der erste Zusammenstoß unserer in Böhmen befindlichen Truppen mit dem Feinde fand am 25. Juni in Liebenau statt. Diese Nachricht brachte uns mein Vater mit seiner gewohnten triumphierenden Miene:

»Das ist ein prächtiger Anfang!« sagte er. »Man sieht es, der Himmel ist mit uns. Es hat was zu bedeuten, daß die ersten, mit welchen diese Windbeutel zu tun bekommen, die Leute unserer berühmten ›eisernen Brigade‹ waren ... ihr wißt doch: die Brigade Poschacher, welche den Königsberg in Schlesien so tapfer verteidigt hat. Die wird's ihnen gehörig geben! (Die nächsten Nachrichten vom Kriegsschauplatze aber ergaben, daß nach fünfstündigem Gefecht diese in der Avantgarde Clam-Gallas befindliche Brigade sich nach Podol zurückzog. Daß Friedrich dabei war – ich wußte es nicht, und daß in derselben Nacht das verbarrikadierte Podol vom General Horn angegriffen und dort bei hellem Mondschein der Kampf fortgesetzt ward – das hab' ich auch erst später erfahren.) »Aber herrlicher noch als im Norden,« fuhr mein Vater fort, »gestaltet sich der Anfang im Süden. Bei Custozza ist ein Sieg errungen worden, Kinder – so glänzend wie nur einer .... Ich habe es immer gesagt: die Lombardei muß unser werden! ... Freut ihr euch denn nicht? Ich betrachte den Krieg als schon entschieden; denn wenn man mit den Italienern fertig geworden: welche doch ein regelmäßiges und geschultes Heer uns gegenüberstellen, da wird es uns mit den ›Schneidergesellen‹ weiter nicht schwer fallen. Diese Landwehr – es ist eine wahre Frechheit – und es gehört nur die ganze preußische Selbstüberhebung dazu, um damit gegen richtige Armeen ausziehen zu wollen. Da werden die Leute von der Werkstatt, vom Schreibtisch hinweggerufen – sind an keinerlei Strapazen gewöhnt, können also unmöglich als blut- und eisenfeste Soldaten im Felde stehen. Da seht einmal her, was die Wiener Zeitung in einer Originalkorrespondenz unterm 24. Juni schreibt. Das sind doch gute Nachrichten:

»In preußisch Schlesien ist die Rinderpest ausgebrochen und wie man vernimmt in äußerst bedrohlicher Art – «

»Rinderpest« – »bedrohliche Art« – »erfreuliche Nachrichten« sagte ich mit leisem Kopfschütteln. »Hübsche Dinge, über welche man zu Kriegszeiten Vergnügen haben soll ... Es ist nur gut, daß schwarzgelbe Schlagbäume! an der Grenze stehen – da kann die Pest nicht herüber« ...

Aber mein Vater hörte nicht und las das Erfreuliche weiter:

»Unter den preußischen Truppen aus Neiße herrscht das Fieber. Das ungesunde Sumpfland, die schlechte Verpflegung und die miserable Unterkunft der in den umliegenden Ortschaften aufgehäuften Truppen mußten solche Erscheinungen zur Folge haben. Von der Verpflegung der preußischen Soldaten macht sich der Österreicher keinen Begriff. Die Junker glauben dem »Volk« eben alles bieten zu können. Sechs Lot Schweinefleisch für den Mann, der an die forcierten Märsche und sonstigen Strapazen nicht gewöhnt worden, der alles, nur kein abgehärteter Soldat ist.«

»Die Blätter sind überhaupt voll prächtiger Nachrichten. – Vor allem die Berichte vom glorreichen Custozza-Tage – du solltest dir diese Zeitungen aufheben, Martha.«

Und ich habe sie aufgehoben. Das sollte man immer tun; und wenn ein neuer Völkerzwist heranzieht, dann lese man nicht die neuesten Zeitungen, sondern die, welche von vorigem Kriege datieren, und man wird sehen, was all den Prophezeiungen und Prahlereien und auch den Berichten und Nachrichten für Wahrheitswert beizumessen ist. Das ist lehrreich.

Vom nördlichen Kriegsschauplatz.

»Aus dem Hauptquartier der Nord-Armee wird unterm 25. Juni über den Feldzugsplan (!) der Preußen geschrieben: »Nach den neuesten Nachrichten hat die preußische Armee ihr Hauptquartier nach dem östlichen Schlesien verlegt. (Folgt in dem gewöhnlichen taktischen Stile eine längere Aufzählung der vor dem Feinde projektierten Bewegungen und Stellungnahmen, von welchen der Herr Berichterstatter gewiss ein klareres Bild vor Augen hatte, als Moltke und Roon.) Es scheint demnach in der Absicht der Preußen zu liegen, hierdurch dem Vormarsch unserer Armee gegen Berlin durch den eigenen zuvorzukommen, was ihnen jedoch bei den getroffenen Vorkehrungen (welche »unser Spezial-Korrespondent« ebenfalls genauer kennt als Benedek) schwerlich gelingen dürfte. Mit vollstem Vertrauen kann man günstigen Berichten von der Nord-Armee entgegensehen, die, wenn sie auch nicht so schnell, als die Sehnsucht des Volkes sie erwartet, einlaufen, dafür aber um so bedeutender und inhaltsreicher sein werden.«
»Einen hübschen Zwischenfall bei dem Durchmarsch österreichischer Truppen italienischer Nationalität durch München erzählt die Neue Frankfurter Zeitung wie folgt: Unter den durch München gekommenen Truppen befinden sich Linienbatallione, sie wurden, wie die übrigen durch die bayerische Hauptstadt gekommenen Truppen, in einem dem Bahnhof nahegelegenen Wirtschaftsgarten bewirtet. Jedermann konnte sich überzeugen, daß diese Venezianer unter Jubel ihre Kampfeslust gegen die Feinde Österreichs kundgaben. (Vielleicht hätte auch »jedermann« denken können, daß betrunkene Soldaten sich willig für das begeistern, was ihnen zur Begeisterung angeboten wird.) In Würzburg war der Bahnhof angefüllt mit der Mannschaft eines österreichischen Linien-Infanterieregiments. So viel wahrnehmbar, bestand die ganze Mannschaft aus Venezianern. Gleichfalls freundlich aufgenommen (das heißt gleichfalls betrunken), konnten die Leute nicht Ausdruck finden, ihre Freude und ihre Absicht, gegen die Friedensbrecher (von zwei kriegführenden Parteien ist die friedensbrechende stets die andere) zu kämpfen, aufs lebhafteste kundzugeben. Die Evivas nahmen kein Ende.« »Sollte der auf den Bahnhöfen sich herumtreibende, von Soldatengeschrei so erbaute »Herr von jedermann« nicht wissen, daß es nichts Ansteckenderes gibt als Vivat-Rufen: – daß tausend miteinander brüllende Stimmen nicht den Ausdruck von tausend einmütigen Gesinnungen, sondern einfach die Betätigung des natürlichen Nachahmungstriebes bedeuten?)
In Böhmisch-Trübau hat der Feldzeugmeister Ritter von Benedek die drei Bulletins über den Sieg der Süd-Armee der Nord-Armee bekannt gegeben und daran nachstehenden Tagesbefehl geknüpft:
»Im Namen der Nord-Armee habe ich folgendes Telegramm an das Kommando der Süd-Armee abgesendet: »Feldzeugmeister Benedek und die gesamte Nord-Armee dem glorreichen durchlauchtigsten Kommandanten der tapferen Süd-Armee mit freudiger Bewunderung herzlichste Glückwünsche zum neuen ruhmvollen Tage von Custozza. Mit einem neuen glorreichen Siege unserer Waffen ist der Feldzug im Süden eröffnet. Das glorreiche Custozza prangt auf dem Ehrenschild des kaiserlichen Heeres.« Soldaten der Nord-Armee! Mit Jubel werdet ihr die Nachricht begrüßen, mit erhöhter Begeisterung in den Kampf ziehen, daß auch wir sehr bald ruhmvolle Schlachtennamen auf jenes Schild verzeichnen und dem Kaiser auch aus dem Norden einen Sieg melden, nachdem eure Kampfbegierde brennt, den eure Tapferkeit und Hingebung erringen wird mit dem Rufe: Es lebe der Kaiser!
Benedek«

Auf obiges Telegramm ist folgende Antwort aus Verona telegraphisch in Böhmisch-Trübau angelangt:

»Der Süd-Armee und ihres Kommandanten gerührten Dank ihrem geliebten früheren Feldherrn und seiner braven Armee. Überzeugt, daß auch wir bald zu solchen Siegen werden Glück wünschen können.«

›Überzeugt‹ – ›überzeugt‹ ...

»Lacht euch nicht das Herz im Leibe, Kinder, wenn ihr derlei Sachen leset?« rief mein Vater entzückt. »Könnt ihr euch nicht zu genügendem patriotischen Hochgefühle aufschwingen, um angesichts solcher Triumphe eure eigenen Angelegenheiten in den Hintergrund zu drängen – um zu vergessen, du, Martha, daß dein Friedrich, du, Lilli, daß dein Konrad einigen Gefahren ausgesetzt sind? Gefahren, welchen sie wahrscheinlich heil entkommen und denen selbst zu unterliegen – ein Los, das sie mit den besten Söhnen des Vaterlandes teilen – ihnen nur zu Ruhm und Ehre gereicht. Es gibt keinen Soldaten, der mit dem Rufe ›Für das Vaterland!‹ nicht gern stürbe.«

»Wenn einer nach verlorener Schlacht mit zerschmetterten Gliedern auf dem Felde liegen bleibt« – entgegnete ich – »und da ungefunden durch vier oder fünf Tage und Nächte an Durst, Hunger, unter unsäglichen Schmerzen, lebend verfaulend, zu Grunde geht – dabei wissend, daß durch seinen Tod dem besagten Vaterlande nichts geholfen, seinen Lieben aber Verzweiflung gebracht worden – ich möchte wissen, ob er die ganze Zeit über mit jenem Rufe gern stirbt.«

»Du frevelst ... Du sprichst zudem in so grellen Worten – für eine Frau ganz unanständig.«

»Ja, ja, das wahre Wort – die aufgedeckte Wirklichkeit ist frevelhaft, ist schamlos ... Nur die Phrase, die durch tausendfältige Wiederholung sanktionierte Phrase ›anständig‹. Ich aber versichere dich, Vater, daß dieses naturwidrige ›Gern-sterben‹, welches da allen Männern zugemutet wird, so heldenhaft es dem Aussprechenden auch dünken mag – mir klingt es wie gesprochener Totschlag.«

– Unter Friedrichs Papieren – viele Tage später – habe ich einen Brief gefunden, den ich ihm in jenen Tagen nach dem Kriegsschauplatz schickte. Dieser Brief zeigt am deutlichsten, von welchen Gefühlen ich damals erfüllt war.

Grumitz, 28. Juni 1866.

Teurer: Ich lebe nicht.... Stelle dir vor, daß in einem Nebenzimmer die Leute beraten ob ich in den nächsten Tagen gehenkt werden soll oder nicht, während ich draußen auf diese Entscheidung warten muß. In dieser Wartezeit atme ich wohl – aber kann ich das leben nennen? Das Nebenzimmer, in welchem die Frage entschieden werden soll, heißt Böhmen ... Doch nicht, Geliebter, das Bild ist noch nicht ganz zutreffend. Denn wenn es sich nur um mein Leben oder Sterben handelte, so wäre das Bangen nicht so groß. Denn mein Bangen gilt einem viel teureren Leben, als dem eigenen ... Und sogar noch ärgerem als deinem Tode gilt meine Angst – sie gilt Deiner möglichen Todesqual ... O, wäre es doch schon vorüber, vorüber! Kämen doch unsere Siege in rascher Folge – nicht der Siege, sondern des Endes halber!

Ob Dich diese Zeilen erreichen? Und wo und wie? Ob nach einem heißen Schlachttage, ob im Lager, ob vielleicht im Lazarett ... auf jeden Fall tut es Dir wohl, Kunde von Deiner Martha zu erhalten. Wenn ich auch nur Trauriges schreiben kann – was anders als Trauriges kann in einer Zeit empfunden werden, wo die Sonne durch das große schwarze Sargdeckeltuch verfinstert wird, welches »für das Vaterland« aufgehißt worden, damit es auf die Kinder des Landes herabfalle – dennoch bringen Dir meine Zeilen Labung ... denn Du hast mich lieb, Friedrich – ich weiß es, wie lieb, und mein geschriebenes Wort freut und bewegt Dich, wie ein sanftes Streicheln meiner Hand. – Ich bin bei Dir, Friedrich, wisse das: mit jedem Gedanken, mit jedem Atemzug, bei Tag und Nacht. ... Hier in meinem Kreise bewege ich mich und handle und spreche mechanisch; mein eigenstes Ich – das ja Dir gehört – das verläßt Dich keinen Augenblick .... Nur mein Bub' erinnert mich, daß die Welt mir doch noch etwas enthält, was nicht »Du« heißt .... Der gute Kleine – wenn Du wüßtest, wie er nach Dir fragt und sorgt! Wir zwei sprechen miteinander eigentlich von gar nichts anderem, als von »Papa«. Er weiß es wohl, der feinfühlige Knabe, daß dies der Gegenstand ist, von dem mein Herz voll ist, und so klein er ist – Du weißt es ja – ist er schon eine Art Freund seiner Mutter. Ich fange auch schon an, mit ihm zu reden, wie mit einem Vernünftigen, und dafür ist er mir dankbar. Ich meinerseits bin ihm dankbar für die Liebe, die er Dir weiht. Es ist so selten, daß Kinder ihre Stiefeltern gut leiden mögen, freilich ist an Dir auch nichts Stiefväterliches – Du könntest mit einem eigenen Jungen nicht zärtlicher, nicht gütiger sein, Du mein Zärtlicher, Gütiger! Ja, die Güte – die große, weiche, milde – die ist Deines Wesens Grundlage und – wie sagt der Dichter? so wie der Himmel aus einem einzigen großen Saphir sich wölbt, so formt sich eines edlen Menschen Charaktergröße nur aus einer Tugend – der Güte. Mit anderen Worten: ich lieb' Dich, Friedrich! Das ist ja doch immer der Refrain alles dessen, was ich von Dir und Deinen Eigenschaften denke. So vertrauensvoll, so zuversichtlich lieb' ich Dich – ich ruhe in Dir, Friedrich, warm und sanft ... wenn ich Dich habe – versteht sich. Jetzt, da Du mir wieder entrissen bist, ist's mit meiner Ruhe natürlich aus. Ach, wäre der Sturm nur schon vorbei, vorbei – wäret ihr doch in Berlin, um dem König Wilhelm die Friedensbedingungen zu diktieren! Mein Vater ist nämlich fest überzeugt, daß dies des Feldzugs Ende sein wird, und nach allem, was man hört und liest, muß ich es wohl auch glauben. »Sobald, mit Gottes Hilfe, der Feind geschlagen ist« – so lautete ja Benedeks Aufruf – »werden wir ihm auf dem Fuße verfolgen und ihr werdet in Feindesland euch ausrasten und diejenigen Erholungen« und so weiter. Was sind denn das für Erholungen? Heutzutage darf kein Anführer mehr laut und unumwunden sagen: »Ihr dürft plündern, brennen, morden, schänden«, wie dies im Mittelalter Brauch war, um die Horden anzufeuern; – jetzt könnte man ihnen als Lohn höchstens eine freigebige Verteilung von Erbswurst in Aussicht stellen; das wäre aber etwas matt, also heißt es verblümt: »diejenigen Erholungen« und so weiter. Dabei kann sich jeder denken, was er will. Das Prinzip des in »Feindesland« zu findenden Kriegslohnes lebt im Soldatenstil noch fort .... Und wie wird Dir in »Feindesland« zu Mute sein, welches ja eigentlich Dein Stammland ist, wo Deine Freunde und Deine Vettern leben? Wirst Du Dich dadurch »erholen«, daß Du Tante Korneliens hübsche Villa dem Erdboden gleich machst? »Feindesland« – das ist eigentlich auch so ein fossiler Begriff aus jenen Zeiten, wo der Krieg noch unverholen das war, was seine raison d'être vorstellt; ein Raubzug; – und wo das Feindesland dem Streiter als lohnverheißendes Beuteland winkte ....

Ich spreche da mit Dir wie in den schönen Stunden, da Du an meiner Seite warst und wir, nach beendeter Lektüre irgendeines fortschrittlichen Buches, miteinander über die Widersprüche unserer Zeitzustände philosophierten, so einig, so einander verstehend und ergänzend. In meiner Umgebung ist niemand, niemand, mit dem ich über derlei Dinge reden könnte. Doktor Bresser war noch der einzige, mit welchem sich kriegsverdammende Ideen austauschen ließen, und der ist jetzt auch fort – selber in den verurteilten Krieg gezogen – aber um Wunden zu heilen, nicht um sie zu schlagen. Eigentlich auch ein Widersinn, die »Humanität« im Kriege – ein innerer Widerspruch. Das ist ungefähr so, wie die »Aufklärung« im Glauben. Entweder, oder – aber Menschenliebe und Krieg, Vernunft und Dogma, das geht nicht. Der aufrichtige, lodernde Feindeshaß, gepaart mit gänzlicher Verachtung des menschlichen Lebens – das ist des Krieges Lebensnerv, gerade so wie die fraglose Unterdrückung der Vernunft des Glaubens Grundbedingung ist. Aber wir leben in einer Zeit der Vermittlung. Die alten Institutionen und die neuen Ideen wirken gleich mächtig. Da versuchen denn die Leute, welche mit dem Alten nicht ganz brechen wollen, welche das Neue nicht ganz erfassen können, beides miteinander zu verschmelzen und daraus entsteht dieses verlogene, unkonsequente, widerspruchskämpfende, halbhafte Getriebe, unter welchem die wahrheits-, gradheits- und ganzheitsdurstenden Seelen so stöhnen und leiden ....

Ach, was ich da alles zusammenschreibe! Du wirst jetzt kaum – wie in unseren friedlichen Plauderstündchen – zu solch allgemeinen Betrachtungen aufgelegt sein: Du bist von einer grausigen Wirklichkeit umtost, mit der es sich abfinden heißt. Wieviel besser wäre es da, wenn Du sie hinnehmen könntest mit der naiven Auffassung alter Zeiten, da dem Soldaten das Kriegsleben eitel Lust und Wonne war. Und besser wäre es, ich könnte Dir schreiben, wie andere Frauen auch, Briefe von Segenswünschen und zuversichtlichen Siegesverheißungen und Mutanspornungen .... Die Mädchen werden ja gleichfalls zum Patriotismus erzogen, damit sie zu rechter Stunde den Männern zurufen: »Gehet hin und sterbet für euer Vaterland – das ist der ›schönste‹ Tod.« Oder: »Kehret liegend heim, dann wollen wir euch mit unserer Liebe lohnen. Inzwischen werden mir für euch beten. Der Gott der Schlachten, der unsere Heere beschützt, der wird unsere Gebete erhören. Tag und Nacht steigt unser Flehen zum Himmel auf und – gewiß – wir erstürmen uns seine Huld: Ihr kommt wieder – ruhmgekrönt! Wir zittern nicht einmal, denn wir sind eurer Tapferkeit würdige Genossinnen ... Nein, nein! – die Mütter eurer Söhne dürfen nicht feige sein, wenn sie ein neues Geschlecht von Helden heranziehen wollen; und müssen wir auch unser Teuerstes hingeben: für Fürst und Vaterland ist kein Opfer zu groß!«

Das wäre so der richtige Soldatenfrauen-Brief, nicht wahr? Aber nicht ein Brief, wie Du ihn von Deiner Frau zu lesen wünschest – von der Genossin Deines Denkens, von derjenigen, die den Groll gegen alten, blinden Menschenwahn mit Dir teilt .... O, ein Groll, so bitter, so schmerzlich – ich kann Dir's gar nicht sagen! Wenn ich sie mir vorstelle, diese beiden Heere, zusammengesetzt aus einzelnen vernünftigen und zumeist guten und sanften Menschen, – wie sie aufeinander losstürmen, um sich gegenseitig zu vernichten, dabei das unglückliche Land verheerend. wo sie als Spielkarten ihrer Mordpartie die »genommenen« Dörfer hinschleudern ... wenn ich mir das vorstelle, da wollte ich aufschreien: So besinnt euch doch! ... so haltet doch ein!! Und von hunderttausend würden auch neunzigtausend Einzelne sicher gerne einhalten; aber die Waffe, die muß weiter wüten. Doch genug. Du wirst es vorziehen, Nachrichten und Neuigkeiten von Hause zu hören. Nun denn – gesund sind wir alle. Der Vater ist unausgesetzt in höchster Aufregung über die gegenwärtigen Ereignisse. Der Sieg von Custozza erfüllt ihn mit strahlendem Stolz. Es ist, als ob er denselben errungen hätte. Jedenfalls betrachtet er den Glanz dieses Tages als so hell, daß der auf ihn – als Österreicher und als General – fallende Abglanz ihn ganz glücklich macht. Auch Lori, deren Mann, wie Du weißt, bei der Südarmee ist, schrieb mir einen Triumphbrief über dasselbe Custozza. – Friedrich, erinnerst Du Dich, wie eifersüchtig ich während einer Viertelstunde auf die gute Lori war? Und wie ich aus diesem Anfall mit verstärkter Liebe und verstärktem Vertrauen hervorging? ... O hättest Du mich nur damals betrogen – hättest Du mich doch mitunter ein wenig mißhandelt ... da könnte ich Deine jetzige Abwesenheit wohl leichter ertragen – aber einen solchen Gatten im Kugelregen zu wissen! ... Nun weiter mit den Nachrichten: Lori hat mir in Aussicht gestellt, daß sie mit ihrer kleinen Beatrix den Rest ihrer Strohwitwenschaft in Grumitz zubringen werde. Ich konnte nicht nein sagen – doch aufrichtig: mir ist gegenwärtig jede Gesellschaft lästig. Allein, allein will ich sein, mit meiner Sehnsucht nach Dir, deren Umfang ja doch niemand anderes ermessen kann ... Nächste Woche soll Otto seine Ferien antreten. Er jammert in jedem Briefe, daß der Krieg noch vor und nicht erst nach seiner Offiziersernennug begonnen hat. Er hofft zu Gott, daß der Friede nicht noch vor seinem Austritt aus der Akademie – ausbreche. Das Wort »ausbrechen« wird er vielleicht nicht gebraucht haben, aber jedenfalls entspricht es seiner Auffassung, denn der Frieden erscheint ihm jetzt als eine drohende Kalamität. Nun freilich: so werden sie ja groß gezogen. So lange es Kriege gibt, muß man kriegliebende Soldaten heranziehen; und so lange es kriegliebende Soldaten gibt, muß es auch Kriege geben ... Ist das ein ewiger, ausgangsloser Zirkel? Nein, Gott sei Dank! Denn jene Liebe, trotz aller Schuldrillung, nimmt beständig ab. Wir haben in Henry Thomas Buckle den Nachweis dieser Abnahme gefunden, erinnerst Du Dich? Aber ich brauche keine gedruckten Nachweise« – ein Blick in Dein Herz, Friedrich, genügt mir zu dieser Beweisführung ... Weiter mit den Nachrichten: Von unseren in Böhmen begüterten Verwandten und Bekannten erhalten wir allseitig Jammerepisteln. Der Durchmarsch der Truppen – auch wenn sie zum Siege gehen – verwüstet schon das Land und saugt es aus; wie wenn erst noch der Feind vordringen sollte, wenn sich der Kampf in ihrer Gegend dort, wo sie ihre Schlösser, ihre Felder besitzen, abspielen sollte? Alles ist fluchtbereit – die Habseligkeiten gepackt, die Schätze vergraben. Adieu den fröhlichen Reisen in die böhmischen Bäder; adieu dem friedlichen Aufenthalt auf den Landsitzen; adieu den glänzenden Herbstjagden und jedenfalls adieu den gewohnten Einkünften von Pachtung und Industrien. Die Ernten werden zertreten, die Fabriken, wenn nicht in Brand geschossen, so doch der Arbeiter beraubt. »Es ist doch ein wahres Unglück,« schreiben sie, »daß wir just im Grenzland leben – und ein zweites Unglück, daß Benedek nicht schon früher und heftiger die Offensive übernahm, um den Krieg in Preußen auszukämpfen.« Vielleicht könnte man es auch ein Unglück nennen, daß die ganze politische Zänkerei nicht von einem Schiedsgericht geschlichtet worden sei, sondern dem Mordgewühle auf böhmischem oder schlesischem Boden (in Schlesien soll es, glaubwürdigen Reiseberichten zufolge, nämlich auch Menschen und Felder und Fechsungen geben) anheimgestellt wird. Aber das fällt niemandem ein!

Mein kleiner Rudolf sitzt zu meinen Füßen, während ich Dir schreibe. Er läßt Dich umarmen und unseren lieben Puxl grüßen. Das geht uns beiden recht sehr ab, das gute lustige Pintschel – aber andererseits, es hätte seinen Herrn so schwer vermißt und Dir wird es eine Zerstreuung, eine Gesellschaft sein. Grüße ihn von uns beiden, den Puxl – ich schüttle seine ehrliche Pfote und Rudi küßt seine gute schwarze Schnauze.

Und jetzt, für heute leb' wohl, Du mein, alles!«

* * *

»Es ist unerhört! ... Niederlage auf Niederlage! Zuerst das von Clam-Gallas verbarrikadierte Dorf Podol erstürmt – bei Nacht, bei Mond- und Flammenschein genommen – dann Gitschin erobert ... Das Zündnadelgewehr – das verdammte Zündnadelgewehr mähte die Unseren reihenweise nieder. Die beiden großen feindlichen Armeekorps – das vom Kronprinzen und das vom Prinzen Friedrich Karl befehligte – haben sich vereinigt und dringen gegen Münchengrätz vor« ...

So klangen die Schreckensnachrichten, welche mein Vater ebenso heftig jammernd vortrug, wie er jubelnd die Siegesnachrichten von Custozza berichtet hatte. Aber noch schwankte seine Zuversicht nicht:

»Sie sollen nur kommen, alle – alle in unser Böhmen und dort vernichtet werden, bis auf den letzten Mann ... Einen Ausweg, einen Rückzug gibt es dann nicht mehr für sie, wir schließen sie ein, wir umzingeln sie ... Und das entrüstete Landvolk selber wird ihnen den Garaus machen .... Es ist nicht gar so vorteilhaft, als man glauben mag, im Feindesland zu operieren, denn da hat man nicht nur das Heer, sondern die ganze Bevölkerung gegen sich ... Aus den Häusern von TrautenauDer Wahrheit die Ehre: Es hat sich herausgestellt, daß jenes Gerücht ohne Begründung war – die Trautenauer haben dies nicht getan. Schon damals wurde die Falschheit des Gerüchtes erwiesen. Die Verf. hat aber erst später von dieser Rechtfertigung Kenntnis erlangt. – B. v. S. Bemerk. zu der Volksausgabe. gossen die Leute aus den Fenstern siedendes Wasser und Öl auf die Menschen –«

Ich stieß einen dumpfen Laut des Ekels aus.

»Was willst Du?« sagte mein Vater achselzuckend, »es ist freilich grauenhaft – aber das ist der Krieg.«

»Dann behaupte wenigstens nie, daß der Krieg die Menschen veredle! – Gestehe, daß er sie entmenscht, vertigelt, verteufelt: ... Siedendes Öl! ... Ach! ...«

»Gebotene Selbstverteidigung und gerechte Rache, liebe Martha. Glaubst du etwa, ihre Zündnadelgeschosse tun den Unseren wohl? ... Wie das wehrlose Schlachtvieh müssen unsere Truppen dieser mörderischen Waffe unterliegen. Aber wir sind zu zahlreich, zu diszipliniert, zu kampftüchtig, um nicht doch noch über die »Schneidergesellen« zu siegen. Zu Anfang sind gleich ein paar Fehler begangen worden. Das gebe ich zu. Benedek hätte die preußische Grenze überschreiten sollen ... Es steigen mir Zweifel auf, ob diese Feldherrnwahl eine ganz glückliche war ... Hätte man lieber den Erzherzog Albrecht hinauf geschickt, und dem Benedek die Südarmee übergeben ... Aber ich will nicht zu früh verzagen – bis jetzt haben ja eigentlich doch nur vorbereitende Gefechte stattgefunden, welche von den Preußen zu großen Siegen aufgebauscht werden – die Entscheidungsschlachten kommen erst. Jetzt konzentrieren wir uns bei Königgrätz; dort – über hunderttausend Mann stark – erwarten wir den Feind ... dort wird unser nördliches Custozza geschlagen!«

Dort würde auch Friedrich mitkämpfen. Sein letztes, am selben Morgen angelangtes Briefchen trug die Nachricht: »Wir begeben uns nach Königgrätz.«

Ich hatte bisher regelmäßig Kunde erhalten. Obwohl er in seinem ersten Briefe mich darauf vorbereitet hatte, daß er nur wenig werde schreiben können, so hat Friedrich doch jede Gelegenheit benützt, ein paar Worte an mich zu richten. Mit Bleistift, zu Pferd, im Zelt – in flüchtiger, nur mir leserlicher Schrift, so schrieb er die aus seinem Notizbüchelchen herausgerissenen für mich bestimmten Blätter voll. Manche hatte er Gelegenheit abzuschicken, manche gelangten erst später, erst nach dem Feldzug in meine Hände.

Bis zur Stunde habe ich diese Andenken aufbewahrt. Das sind keine sorgfältig stilisierten Kriegsberichte, wie sie Zeitungskorrespondenten ihren Redaktionen, oder Kriegsschriftsteller ihren Verlegern bieten, keine mit Aufwand strategischer Fachkenntnisse entworfene Gefechtsskizzen, und keine mit rhetorischem Schwung ausgeführte Schlachtgemälde, in welchen der Erzähler immer bedacht ist, seine eigene Unerschrockenheit, Heldenhaftigkeit und patriotische Begeisterung durchleuchten zu lassen. Alles dies sind Friedrichs Aufzeichnungen nicht, das weiß ich; was sie aber sind das vermag ich nicht zu bestimmen. Hier folgen einige:

Im Biwak.

»Ohne Zelte ... Es ist ja eine so laue, herrliche Sommernacht – der Himmel, der große gleichgültige, voll flimmernder Sterne .... Die Leute liegen auf dem Boden, erschöpft von den langen, ermüdenden Märschen. Nur für uns Stabsoffiziere wurden ein paar Zelte aufgeschlagen. In dem meinen stehen drei Feldbetten. Die beiden Kameraden schlafen. Ich sitze an dem Tisch, worauf die geleerten Groggläser und eine brennende Kerze stehen. Beim schwachen flackernden Schein der letzteren (es weht von dem offenen Eingang ein Luftzug herein) schreibe ich Dir, mein geliebtes Weib. Auf mein Lager habe ich den Puxl hingelegt ... war der müd' der arme Kerl! Ich bereue fast, ihn mitgenommen zu haben; der ist auch, was die Unseren immer von der preußischen Landwehr behaupten: »an die Strapazen und Entbehrungen eines Feldzugs nicht gewöhnt«. Jetzt schnauft er wohlig und süß – ich glaube, er träumt, wahrscheinlich von seinem Freund und Gönner Rudolf Grafen Dotzky. Und ich träum' von Dir, Martha ... Zwar bin ich wach; aber täuschend, wie ein Traumbild, sehe ich Deine liebe Gestalt in jener halbdunklen Zeltecke auf einem Feldstuhl sitzen .... Welche Sehnsucht ergreift mich, dort hinzugehen und mein Haupt in Deinen Schoß zu legen. Ich tu' es aber nicht, weil ich weiß, daß dann das Bild zerflattern würde ....

Ich trat einen Augenblick hinaus. Die Sterne flimmern gleichgültiger als je. Auf dem Boden huschen verschiedene Schatten: es sind Nachzügler. Viele, viele blieben unterwegs zurück; jetzt haben sie sich, vom Wachtfeuer angezogen, hierher geschleppt. Aber nicht alle – manche liegen noch in einem entfernten Graben oder Kornfeld. Das war aber auch eine Hitze, während dieses forcierten Marsches! Die Sonne brannte, als wollte sie uns das Hirn zum Sieden bringen; dazu der schwere Tornister, das schwerere Gewehr auf den wundgewetzten Schultern ... und doch, es hat keiner gemurrt. Aber hingefallen sind ein paar, und konnten nicht wieder aufstehen. Zwei oder drei erlagen dem Sonnenstich und blieben gleich tot. Ihre Leichen wurden auf einen Ambulanzkarren geladen.

Die Juninacht, so mond- und sterndurchleuchtet, so warm sie auch ist, ist doch entzaubert. Man hört keine Nachtigallen und keine zirpenden Grillen; man atmet keine Rosen- und Jasmingerüche. Die süßen Laute werden durch die schnarrenden und wiehernden Pferde, durch die Stimmen der Leute und das Geräusch der Patrouillenschritte unterdrückt; die süßen Gerüche durch Juchten-Sattelzeug- und sonstige Kasernenausdünstungen überduftet. Aber das ist noch alles nichts: noch hört man nicht festende Raben krächzen, noch riecht man nicht Pulver, Blut und Verwesung. Das alles kommt erst – ad majorem patriae gloriam. Merkwürdig, wie blind die Menschen sind! Anläßlich der einst »zur größeren Ehre Gottes« entflammten Scheiterhaufen brechen sie in Verwünschungen über blinden und grausamen, sinnlosen Fanatismus aus, und für die leichenbesäeten Schlachtfelder der Gegenwart sind sie voll Bewunderung. Die Folterkammern des finsteren Mittelalters flößen ihnen Abscheu ein – Auf ihre Arsenale aber sind sie stolz .... Das Licht brennt herab, die Gestalt in jener Ecke hat sich verflüchtigt – ich will mich auch zur Ruhe legen, neben unseren guten Puxl.«

* * *

»Auf einem Hügel oben, in einer Gruppe von Generälen und hohen Offizieren, mit einem Feldstecher am Auge: das ist die an ästhetischen Eindrücken ergiebigste Situation in einem Kriege. Das wissen auch die Herren Schlachtenbummler und Zeitungsillustratoren: bewaffneten Auges rundschauende Feldherren auf einer Anhöhe werden immer wieder gezeichnet – ebenso oft, wie die an der Spitze ihrer Truppen auf einem möglichst weißen, hochtrabenden Pferde voranstürmenden Führer, welche, den Arm nach einem rauchenden Punkt des Hintergrundes ausgestreckt, den Kopf zu den Nachsprengenden umgewendet, offenbar rufen: »Mir nach, Kinder!«

Von der Hügelstation herab sieht man wahrlich ein Stück Kriegspoesie. Das Bild ist großartig und weit genug entfernt, um wie ein richtiges Gemälde zu wirken, ohne die Schrecken und Ekelhaftigkeiten der Wirklichkeit: kein fließendes Blut, kein Sterberöcheln – nichts als erhaben prächtige Linien- und Farbeneffekte. Diese auf der langgestreckten Straße sich fortschlängelnde Heersäule, dieser unabsehbare Zug von Fußvolkregimentern, von Kavallerieabteilungen und Batterien; dann der Munitionstrain, requirierte Bauernwagen, Packpferde und hinterher noch der Troß. Noch gewaltiger gestaltet sich das Bild, wenn auf der unter dem Hügel ausgebreiteten Landschaft nicht nur die Fortbewegung eines, sondern der Zusammenstoß zweier Heere zu sehen ist. Wie da die blitzenden Klingen, die flatternden Fahnen, die Uniformen aller Art, die sich bäumenden Rosse gleich wildempörten Fluten durcheinander wogen; darüber Dampfwolken, die an manchen Stellen zu dichten, das Bild verhüllenden Schleiern sich ballen, und wenn sie reißen, kämpfende Gruppen enthüllen .... Dazu als Begleitung der durch die Berge rollende Lärm der Geschütze, von welchem jeder Schlag das Wort Tod – Tod – Tod – durch die Lüfte donnert .... Ja, so etwas mag zu Kriegsliedern begeistern!

Auch zu der Verfassung jener zeithistorischen Berichte, welche nach dem Feldzug veröffentlicht werden müssen, bietet die Hügelposition günstige Gelegenheit. Da läßt sich allenfalls mit einiger Richtigkeit erzählen: die Division X. stößt bei N. auf den Feind; – drängt ihn zurück; – erreicht das Gros der Armee; – starke feindliche Abteilungen zeigen sich an der linken Flanke des Korps usw. usw. Aber wer nicht auf dem Hügel durch den Feldstecher schaut, wer selber an der »Aktion« teilnimmt, der kann nie – nie etwas Glaubwürdiges über den Fortgang einer Schlacht erzählen. Er sieht, denkt und fühlt nur das nächste; was er nachher berichtet, ist (?) zu deren Veranschaulichung er sich der alten Klischees bedient. »He, Tilling,« sagte mir heute einer der Generäle, neben denen ich auf dem Hügel stand – »Ist das nicht imposant? Ein Prachtheer, wie? Woran denken Sie eben?« Woran ich dachte? Das konnte ich dem Vorgesetzten nicht gut sagen; ich antwortete also allergehorsamst etwas Unwahres. Allergehorsamlichkeit und Wahrheit haben ohnedies nichts miteinander zu schaffen. Letztere ist ein gar stolzes Wesen: von allem Knechtischen wendet sie sich verächtlich ab.«

* * *

»Das Dorf ist unser – nein, es ist des Feindes – und wieder unser – und abermals des Feindes, aber ein Dorf ist's nicht mehr, sondern ein rauchender Trümmerhaufen.

Die Bewohner (war es nicht eigentlich ihr Dorf?) hatten es schon früher verlassen und waren geflohen. Zum Glück – denn der Kampf in einem bewohnten Orte ist gar etwas Fürchterliches, denn da fallen die Kugeln von Feind und Freund mitten in die Stuben hinein und töten Weiber und Kinder. – Eine Familie war dennoch in dem Orte zurückgeblieben, den wir gestern genommen, verloren, wieder genommen und verloren haben, nämlich ein altes Ehepaar und dessen Tochter – diese im Kindbett. Der Gatte dient in unserem Regiment. Er sagte mir's, als wir uns dem Dorfe näherten: »Dort, Herr Oberstleutnant, in dem Hause mit dem roten Dach, lebt mein Weib mit ihren alten Eltern ... Sie haben nicht fliehen können, die Armen ... mein Weib muß jede Stunde niederkommen, und die Alten sind halb gelähmt um Gotteswillen, Herr Oberstleutnant, kommandieren Sie mich dorthin.« – Der arme Teufel! er kam gerade zurecht, um die Wöchnerin und das Kind sterben zu sehen; eine Bombe war neben dem Bette geplatzt .... Was mit den Alten geschehen, ich weiß es nicht. Vermutlich unter den Trümmern begraben; das Haus war eins der ersten, welches in Brand geschossen wurde. Der Kampf auf offenem Felde ist schaurig genug; aber der Kampf inzwischen menschlicher Wohnungen ist noch zehnmal grausiger. Stürzendes Gebälk, aufschlagende Flammen, erstickender Rauch – vor Angst tollgewordenes Vieh – jede Mauer Festung oder Barrikade, jedes Fenster Schießscharte ... Eine Brustwehr habe ich da gesehen, die war aus Leichen gebildet. Da hatten die Verteidiger alle in der Nähe liegenden Gefallenen aufeinandergeschichtet, um, so geschützt, darüber auf den Angreifer hinwegzuschießen. Diese Mauer vergesse ich wohl im Leben nicht: ... Einer, der als Ziegel diente – zwischen den anderen Leichenziegeln eingepfercht – der lebte noch, bewegte die Arme. – – –

»Lebte noch«: das ist ein Zustand – im Krieg in tausend Varianten vorkommend – der die maßlosesten Leiden in sich birgt. Gäb' es irgend einen Engel der Barmherzigkeit, der über den Schlachtfeldern schwebte, er hätte vollauf zu tun, den armen Wichten – Mensch und Tier – die »noch lebten«, den Gnadenstoß zu geben.«

* * *

»Heute hatten wir ein kleines Kavalleriegefecht auf offenem Felde. Da kam ein preußisches Dragonerregiment im Trab einher, deployierte in Linie und, die Pferde fest im Zügel, den Säbel über dem Kopf, ritten sie in kurzem Galopp gerade auf uns zu. Wir warteten den Angriff nicht ab, sondern sprengten dem Feind entgegen. Kein Schuß wurde gewechselt. Wenige Schritte voneinander brachen beide Reihen in ein donnerndes Hurra aus (Schreien berauscht: das wissen die Indianer und Zulus noch besser als wir), und so stürzten wir aufeinander, Pferd an Pferd und Knie an Knie; die Säbel sausten in die Höhe und kamen auf die Köpfe nieder. Bald waren alle zu dicht in einander geraten, um die Waffen zu gebrauchen; da wurde Brust um Brust gerungen, wobei die scheu und wild gewordenen Pferde schnaufend stürzten, sich bäumten und um sich schlugen. Ich war auch einmal zu Boden und sah – das ist kein angenehmer Anblick – schlagende Pferdehufe eine Linie weit von meiner Schläfe entfernt.«

»Wieder ein Marschtag mit ein oder zwei Gefechten. Ich habe einen großen Kummer erlebt. Es verfolgt mich ein so trauriges Bild ... Unter den vielen Trauerbildern, die mich rings umgeben, sollte dies nicht auffallen, sollte mir nicht so weh tun. Aber ich kann nichts dafür: es geht mir nahe, und ich kann es nicht los werden ... Puxl, unser armes, lebensfrohes, gutes Pintschel – ach, hätte ich ihn doch zu Hause gelassen, bei seinem kleinen Herrn, Rudolf: Er lief uns nach, wie gewöhnlich. Plötzlich stößt er ein jammervolles Geschrei aus ... ein Granatsplitter hat ihm die Vorderbeinchen abgerissen ... Er kam nicht nach – verlassen bleibt er zurück und »lebt noch«; vierundzwanzig und achtundvierzig Stunden vergehen und er lebt noch. – Mein Herrl – mein gutes Herrl, ruft er mir klagend nach, laß den armen Puxl nicht da! und sein kleines Herz bricht ... Was besonders an mir nagt, ist der Gedanke, daß das sterbende treue Geschöpf mich verkennen muß. Er hat es gesehen, daß ich mich umgewendet – daß ich seinen Hilferuf vernommen haben mußte und doch so kalt und hart ihn liegen ließ. Er weiß es ja nicht, der arme Puxl, daß einem zur Attacke vorstürmenden Regiment, aus dessen Reihen die Kameraden fallen und am Wege bleiben, nicht eines gefallenen Hündchens wegen »Halt« kommandiert werden kann? Von einer höheren Pflicht, der ich gehorchte, hat er keinen Begriff, und das arme, so treue Hundeherz klagt mich der Unbarmherzigkeit an ...

Daß man inmitten der »großen Ereignisse« und der Riesenunglücksfälle, welche die Gegenwart erfüllen, über solche Kleinigkeiten sich betrüben kann! würden viele – nicht du, Martha – achselzuckend sagen. Nicht du – ich weiß, dir tritt jetzt auch eine Träne ins Auge um unseren armen Puxl.«

»Was geschieht da? Das Exekutions-Peloton wird aufgestellt. Ward ein Spion gefangen? Einer? ... Diesmal siebzehn. Dort kommen sie schon. In vier Reihen, je zu vier Mann, von einem Karree Soldaten umgeben, schreiten die Verurteilten, gesenkten Kopfes, daher. Dahinter ein Wagen, worin eine Leiche liegt und darauf sitzend, an die Leiche gebunden, der Sohn des Toten, ein zwölfjähriger Knabe – auch verurteilt ...

Ich mag die Hinrichtung nicht sehen und entferne mich. Aber die Schüsse habe ich vernommen ... Hinter der Mauer steigt eine Rauchwolke auf – alle hin, auch der Knabe.« – –

Endlich ein bequemes Nachtquartier in einem kleinen Städtchen! Das arme Nest! ... Vorräte, die den Leuten auf Monate hinaus genügen würden, haben wir ihnen durch Requisition fortgenommen. »Requisition« ... es ist nur gut, wenn man für ein Ding einen hübschen sanktionierten Namen hat. Ich war aber doch froh, das gute Nachtlager und das gute Nachtessen gefunden zu haben. Und – laß Dir erzählen: Schon wollte ich mich zu Bett legen, als mir meine Ordonnanz meldet: ein Mann von unserem Regiment sei da und verlangte dringend, eingelassen zu werden, er bringe mir etwas. »So soll er kommen.« Der Mann trat ein –

Und als er wieder ging, da hatte ich ihn reich beschenkt und ihm beide Hände geschüttelt und ihm versprochen, für sein Weib und Kind zu sorgen, falls ihm etwas geschähe. Denn was er mir gebracht hat, der Brave – das hat mir eine große Freude gemacht und mich von einer Pein befreit, unter der ich seit sechsunddreißig Stunden litt – was er mir gebracht hat: das war mein Puxl. Verwundet zwar – ehrenvoll blessiert – aber noch lebend und so selig, wieder bei seinem Herrn zu sein, an dessen Benehmen er wohl erkannt haben mußte, daß er ihm mit dem Vorwurf der Lieblosigkeit unrecht getan ... Ja, war das eine Wiedersehensszene! Vor allem ein Trunk Wasser. Wie das schmeckte ... das heißt, zehnmal unterbrach er das gierige Trinken, um mir seine Freude vorzubellen. Hierauf habe ich ihm seine Beinstummel verbunden, ihm ein schmackhaftes Souper von Fleisch und Käse vorgesetzt und ihn auf mein Lager gebettet. Wir haben beide gut geschlafen. Des Morgens, als ich erwachte, leckte er mir nochmals dankend die Hand – dann streckte er seine Gliedmaßen, schnaufte tief auf und – hatte aufgehört zu sein. Armer Puxl – es ist besser so!«

* * *

»Was habe ich heute alles gesehen? Wenn ich die Augen schließe, tritt das Geschaute mit furchtbarer Klarheit vor das Gedächtnis: »Nichts als Schmerz und Schreckbilder!« wirst Du sagen. Warum bringen denn andere vom Kriege so frische, fröhliche Eindrücke mit. Je nun, diese anderen verschließen sich gegen den Schmerz und den Schreck – verschweigen sie. Wenn sie schreiben, wenn sie erzählen, so geben sie sich überhaupt keine Mühe, die Erlebnisse nach der Natur zu schildern, sondern sie befleißigen sich, einst gelesene Schilderungen schablonenhaft nachzubilden und diejenigen Empfindungen hervorzukehren, welche als heldenhaft gelten. Wenn sie mitunter auch von Vernichtungsszenen berichten, welche den ärgsten Schmerz und den ärgsten Schreck in sich bergen, in ihrem Tone darf von beiden nichts enthalten sein. Im Gegenteil: je schauerlicher, desto gleichgültiger – je abscheulicher, desto unbefangener. Mißbilligung, Entrüstung, Empörung? Davon schon gar nichts da noch eher ein leiser Anhauch sentimentalen Mitleids, ein paar gerührte Seufzer. – Aber schnell wieder den Kopf in die Höhe, »das Herz zu Gott und die Faust auf den Feind.« Hurra und Trara!

Da siehst Du nun zwei Bilder, die sich mir eingeprägt:

Steile, felsige Anhöhen – katzenbehend hinaufkletternde Jäger; es gilt, die Anhöhe zu »nehmen«; – von oben schießt der Feind herab. Was ich sehe, sind die Gestalten der emporstrebenden Angreifer und einige darunter, die, von feindlichen Geschossen getroffen, plötzlich beide Arme ausstrecken, das Gewehr fallen lassen und, mit dem Kopf nach rückwärts sich überschlagend, die Anhöhe hinabstürzen – stufenweise – von Felsvorsprung zu Felsvorsprung – sich die Glieder zerschmetternd. – Ich sehe einen Reiter in einiger Entfernung schief hinter mir, neben welchem eine Granate platzt. Sein Pferd wirft sich zur Seite und drängt sich an das Hinterteil des meinen – dann schießt es an mir vorbei. Der Mann sitzt noch im Sattel, aber ein Granatsplitter hat ihm den Unterleib auf- und alle Eingeweide herausgerissen. Sein Oberkörper hält mit dem Unterkörper nur noch durch das Rückgrat zusammen – von den Rippen zu den Schenkeln ein einziges großes, blutiges Loch ... Eine kleine Strecke weiter fällt er herab, bleibt mit dem Fuß im Bügel hängen, und das fortrasende Pferd schleift ihn auf dem steinigen Boden nach.« –

* * *

»Auf einem regendurchschwemmten und steilen Stück Weg staut sich eine Abteilung Artillerie. Bis über die Räder versinken die Geschütze in den Schlamm. Nur mit äußerster Anstrengung, schweißtriefend und von den erbarmungslosesten Schlägen angefeuert, kommen die Pferde von der Stelle. Aber eins, schon todmüde, kann nicht mehr. Das Hauen hilft nichts: es wollte ja – es kann nicht, es kann nicht. Sieht denn das der Mann nicht ein, dessen Hiebe auf den Kopf des armen Tieres hageln? Wäre der rohe Wicht der Fuhrmann eines zu irgendwelchem Bau dienenden Steinwagens gewesen, jeder Polizist – ich selber – hätte ihn arretiert. Dieser Kanonier jedoch, der das todbeladene Fuhrwerk vorwärts bringen sollte, der waltete nur seines Amtes. Das konnte aber das Pferd nicht wissen; das geplagte, gutmütige, edle Geschöpf, das sich bis zu seiner äußersten Lebenskraft angestrengt – wie mußte das über solche Härte und über solchen Unverstand in seinem Innern denken? Denken, so wie Tiere denken, nämlich nicht mit Worten und Begriffen, sondern mit Empfindungen, desto heftigere Empfindungen, als sie äußerungsunfähig sind. Nur eine Äußerung gibt es dafür: den Schmerzensschrei. Und es hat geschrien, jenes arme Roß, als es endlich zusammensank – einen Schrei, so langgedehnt und klagend, daß er mir noch im Ohre gellt – daß er mich die folgende Nacht im Traume verfolgt hat. Ein abscheulicher Traum übrigens ... Mir war, als sei ich – – wie soll ich das nur erzählen? – Träume sind so sinnlos, daß die dem Sinn angepaßte Sprache sich schwer zu ihrer Wiedergabe eignet – als sei ich das Kummerbewußtsein eines solchen Artilleriepferdes – nein! nicht eines, sondern von 100 000 – denn rasch hatte ich im Traum die Summe der in einem Feldzug zu Grunde gehenden Pferde berechnet – und da steigerte sich dieser Kummer sofort ins hunderttausendfache ... Die Menschen, die wissen doch, warum ihr Leben der Gefahr ausgesetzt ist, sie kennen das Wohin? das Wozu? – und wir Unglücklichen wissen nichts, um uns ist alles Nacht und Grauen. Die Menschen gehen doch mit Freunden gegen einen Feind, wir aber sind rings von Feinden umgeben ... unsere eigenen Herren, die wir so treu lieben wollten, denen zu dienen wir unsere letzte Kraft aufbieten, die hauen auf uns nieder – die lassen uns hilflos liegen. ... Und was wir nebstbei leiden müssen: Furcht, daß uns der Angstschweiß vom ganzen Körper rinnt; – Durst– denn auch wir haben Fieber – o dieser Durst, dieser Durst von uns armen, blutenden, mißhandelten hunderttausend Pferden! ... Hier erwachte ich und griff nach der Wasserflasche: – ich hatte selber brennenden Fieberdurst.«

»Wieder ein Straßenkampf – in dem Städtchen Saar. Zu dem Lärm des Kampfgeschreies und der Geschütze gesellt sich das Krachen der Balken, das Stürzen der Mauern. Es schlägt eine Granate in ein Haus und der durch das Platzen derselben verursachte Luftdruck ist so gewaltig, daß mehrere Soldaten von den in die Luft geschleuderten Trümmern des Hauses verwundet werden. Über meinen Kopf weg fliegt ein Fenster – noch mit dem Fensterflügel dran. Die Schornsteine stürzen herunter. Gipsbewurf löst sich in Staub und füllt die Luft mit einer erstickenden augenätzenden Wolke. Aus einer Gasse in die andere (wie die Hufe auf dem spitzen Pflaster klappern!) wälzt sich der Kampf und langt auf dem Marktplatz an. In der Mitte des Platzes steht eine hohe steinerne Mariensäule. Die Mutter Gottes hält ihr Kind in einem Arm, den anderen streckt sie segnend aus. Hier wird weiter gerungen. Mann an Mann. Sie hauen auf mich drein – ich haue um mich herum ... Ob ich einen oder mehrere getroffen, ich weiß es nicht: in solchen Augenblicken bleibt einem nicht viel Besinnung. Dennoch haben sich mir wieder zwei Fälle in die Seele photographiert, und ich fürchte, der Marktplatz von Saar wird mir ewig unvergeßlich bleiben:

Ein preußischer Dragoner, stark wie Goliath, reißt einen unserer Offiziere (einen schmucken, schmächtigen Leutnant – wieviel Mädchen schwärmten wohl für ihn?) aus dem Sattel und zerschmettert ihm den Schädel am Fuße der Madonnensäule. Die milde Heilige schaut unbeweglich zu. Ein anderer von den feindlichen Dragonern, ebenso goliathstark, knapp vor mir, faßt meinen Nebenmann an und biegt ihn so kräftig im Sattel nach rückwärts, daß ihm – ich habe es krachen hören – das Rückgrat bricht ...

Auch dazu gab die Madonna ihren steinernen Segen.«

* * *

»Von einer Anhöhe aus bot sich den bewaffneten Augen der Stabsoffiziere heute wieder manch abwechslungsreiches Schauspiel.. Da war zum Beispiel der Einsturz einer Brücke, während über dieselbe ein Train von Wagen sich bewegte. Waren in den letzteren Verwundete? – ich weiß es nicht – das konnte ich nicht erkennen. – Ich sah nur, daß alles – Wagen, Pferde und Menschen – in die an jener Stelle tiefen und reißenden Fluten sank und dort verschwand. Das Ereignis war ein günstiges – sintemalen der Wagentrain den »Schwarzen« gehörte. Ich denke mir nämlich in der eben gespielten Partie »uns« als die weißen Figuren. Die Brücke war nicht zufällig eingestürzt; die Weißen hatten, wissend, daß der Gegner darüber kommen sollte, die Pfeiler abgesägt – ein feiner Zug also.

Ein zweiter Anblick hingegen, den man von derselben Anhöhe aus beobachten konnte, bedeutete einen Schnitzer der Weißen: Unser Regiment Khevenhüller wird in einen Sumpf dirigiert, wo es nicht heraus kann und bis auf wenige niedergeschossen wird. Die Getroffenen fallen hin in den Sumpf ... Hier versinken, ersticken müssen – in Mund und Nase und Augen Schlamm – nicht einmal schreien können! ... Nun ja, zugestanden: es war ein Fehler desjenigen, der die Leute dorthin kommandiert hatte; aber – »irren ist menschlich« und der Verlust ist kein großer – stellt ungefähr einen geschlagenen Bauer vor; ein nächster genialer Zug mit Turm oder Königin, und alles ist wieder gut gemacht. Der Schlamm bleibt zwar in Mund und Augen der Gefallenen, aber das ist ja nebensächlich – das tadelnswerte dabei ist der taktische Fehler; der muß durch eine spätere glückliche Kombination ausgemerzt werden, und dem betreffenden Führer können dann immerhin noch schöne Orden und Beförderungen blühen. Daß neulich unser 18. Jägerbataillon während eines Nachtkampfes durch mehrere Stunden auf unser Regiment König von Preußen schoß, und man erst bei Tagesanbruch den Irrtum bemerkte; daß ein Teil des Regiments Gyulai in einen Teich geführt wurde: das sind auch so kleine Versehen, wie sie eben in der Hitze der Partie auch dem besten Spieler passieren können.«

* * *

»Es ist beschlossen; wenn ich aus diesem Feldzuge zurückkehre, so verlasse ich den Dienst. Alles andere hintangesetzt – wenn man einmal eine Sache mit einem solchen Abscheu zu erfassen gelernt hat, wie der Krieg mir nunmehr einflößt, so wäre es unausgesetzte Lüge, im Dienst dieser Sache zu verharren. – Ehedem bin ich, wie Du weißt, auch schon mit Widerwillen und mit verdammendem Urteil in die Schlacht gezogen, aber erst jetzt hat sich dieser Widerwille so gesteigert, diese Verurteilung so verschärft, daß alle Gründe, welche mich früher bestimmten, bei meinem Berufe auszuharren, aufgehört haben, zu wirken. Die Gesinnungen, welche aus dem Jugendunterricht, vielleicht auch teilweise angeerbt – in meinem Innern noch zu Gunsten des Soldatentums sprachen, sind mir jetzt, während der zuletzt erlebten Greuel ganz verloren gegangen. Ich weiß nicht, sind es die mit Dir gemeinschaftlich gemachten Lektüren, aus welchen hervorging, daß meine Kriegsverachtung nicht vereinzelt ist, sondern von den besten Geistern der Zeit geteilt wird; sind es die mit Dir geführten Gespräche, in welchen ich mich durch Aussprache meiner Ansichten und durch Deine Zustimmung in denselben gestärkt habe; – kurz, mein früheres dumpfes, halbunterdrücktes Gefühl hat sich in eine klare Überzeugung verwandelt – eine Überzeugung, die es mir fortan unmöglich macht, dem Kriegsgott zu fröhnen. Das ist so eine Wandlung, wie sie bei vielen Leuten in Glaubensachen eintritt. Zuerst sind sie etwas zweiflerisch und gleichgültig, sie können aber noch mit einer gewissen Ehrfurcht den Tempelhandlungen beiwohnen. Wenn aber einmal aller Mystizismus abgestreift ist, wenn sie zu der Einsicht gelangen, daß die Zeremonie, der sie da beiwohnen, auf Torheit – auch mitunter grausamer Torheit, wie bei den religiösen Opferschlachtungen – beruht, dann wollen sie nicht mehr neben den anderen Betörten knien, nicht mehr sich und die Welt betrügen, indem sie den nunmehr entgötterten Tempel betreten. So ist es mir mit dem grausamen Marsdienst gegangen. Das Geheimnisvolle, Überirdische, Andachtsschauer Erweckende, welches das Erscheinen dieser Gottheit auf die Menschen hervorzubringen pflegt, welches auch in früherer Zeit noch meinen Sinn umdunkelte, das ist mir jetzt vollständig abhanden gekommen. Die Armeebefehl -Liturgie und die rituellen Heldenphrasen erscheinen mir nicht mehr als inspirierter Urtext; der gewaltige Orgelton der Kanonen, der Weihrauchdampf des Pulvers vermag nicht mehr mich zu entzücken: ganz glaubens- und ehrfurchtslos wohne ich der fürchterlichen Kultushandlung bei und kann dabei nichts anderes mehr sehen, als die Qualen des Opfers, nichts hören, als dessen jammervollen Todesschrei. Und daher kommt es, daß diese Blätter, die ich mit meinen Kriegseindrücken fülle, nichts anderes enthalten, als schmerzlich geschauten Schmerz.«

* * *

Die Schlacht von Königgrätz war geschlagen. Wieder eine Niederlage! Diesmal, wie es scheint, eine entscheidende ... Mein Vater berichtete uns diese Nachricht in einem Tone, als hätte er den Weltuntergang verkündet.

Und kein Brief, keine Depesche von Friedrich! War er verwundet – tot? – Konrad gab seiner Braut Nachricht: er war unversehrt. Die Verlustlisten waren noch nicht angekommen; es hieß nur, bei Königgrätz gab es vierzigtausend Tote und Verwundete. Und die letzte Nachricht, die ich erhalten hatte, lautete: »Wir begeben uns heute nach Königgrätz.«

Am dritten Tage noch immer kein Zeichen. Ich weine und weine stundenlang. Eben weil mein Kummer noch nicht ganz hoffnungslos ist, kann ich weinen; wenn ich wüßte, daß alles vorbei ist, so gäbe es für die Wucht meines Schmerzes keine Tränen mehr. Auch mein Vater ist tiefgedrückt. Und Otto, mein Bruder, tobt vor Rachsucht. Es heißt, daß jetzt in Wien Freiwilligenkorps errichtet werden – diesen will er sich anschließen. Ferner heißt es, Benedek solle seiner Stelle entsetzt und statt seiner der siegreiche Erzherzog Albrecht nach dem Norden berufen werden, dann gäbe es vielleicht doch noch ein Aufraffen, ein Zurückschlagen des übermütigen Feindes, der jetzt uns ganz vernichten wolle, der im Vormarsch auf Wien begriffen sei ... Angst, Wut, Schmerz erfüllt alle Gemüter; der Name »die Preußen« drückt alles aus, was es Hassenwertes gibt. Mein einziger Gedanke ist Friedrich – und keine, keine Nachricht!

Nach einigen Tagen langte ein Brief Doktor Bressers an. Er war in der Umgebung des Schlachtfeldes tätig, um zu helfen, was er helfen konnte. Die Not sei grenzenlos, schrieb er, jeder Einbildungskraft spottend. Er hatte sich einem sächsischen Arzte, Doktor Brauer, angeschlossen, der von seiner Regierung ausgesandt worden war, um nach dem Augenschein über die Lage zu berichten. In zwei Tagen sollte auch eine sächsische Dame ankommen – Frau Simon, eine neue Miß Nightingale – welche seit Ausbruch des Krieges in Dresdner Hospitälern tätig gewesen, und welche sich erboten hatte, die Reise nach den böhmischen Schlachtfeldern anzutreten, um in den umliegenden Hospitälern Hilfe zu leisten. Doktor Brauer und mit ihm Doktor Bresser wollten sich an dem bestimmten Datum, sieben Uhr abends, nach Königinhof, der letzten Station vor Königgrätz, bis wohin die Eisenbahn noch verkehrte, begeben und die mutige Frau daselbst erwarten. Bresser bat uns, womöglich eine Sendung von Verbandzeug und dergleichen nach jener Station zu schicken, damit er sie dort in Empfang nehmen könne. Kaum hatte ich diesen Brief gelesen, war mein Entschluß gefaßt: – Die Kiste mit Verbandszeug würde ich selber bringen. In einem jener Spitäler, welche Frau Simon besuchen wollte, lag möglicherweise Friedrich .... Ich würde mich ihr anschließen und den teuren Kranken finden, pflegen, retten .... Die Idee erfaßte mich mit zwingender Gewalt, so zwingend, daß ich sie für eine magnetische Fernwirkung des sehnenden Wunsches auffaßte, mit dem der Geliebte nach mir rief.

Ohne jemandem aus meiner Familie meinen Vorsatz mitzuteilen – denn ich wäre nur auf allseitigen Widerspruch gestoßen – machte ich mich ein paar Stunden nach Erhalt des Bresserschen Briefes auf den Weg. Ich hatte vorgegeben, daß ich die von dem Doktor verlangten Dinge in Wien selber besorgen und expedieren wolle, und so konnte ich ohne Schwierigkeit von Grumitz fortkommen: von Wien aus würde ich dann meinem Vater schreiben: »Bin nach dem Kriegsschauplatz abgereist.« Wohl stiegen mir Zweifel auf: Meine Unfähigkeit und Unerfahrenheit, mein Abscheu vor Wunden, Blut und Tod; aber diese Zweifel verjagte ich: Was ich tat, ich mußte es tun. Des Gatten Blick flehend und gebietend, war auf mich gerichtet, von seinem Schmerzenslager streckte er die Arme nach mir aus und: »Ich komme, ich komme«, war das einzige, was ich zu denken vermochte.

Ich fand die Stadt Wien in unsäglicher Aufregung und Bestürzung. Verstörte Gesichter ringsumher. Mein Wagen kreuzte sich mit mehreren Wagen, die mit Verwundeten gefüllt waren. Immer spähete ich, ob nicht etwa Friedrich darunter sei ... Aber nein: Sein Sehnsuchtsruf, der an meinen Fibern zerrte, drang von weiter her – von Böhmen. Hätte man ihn zurücktransportiert, so wäre die Nachricht davon gleichzeitig zu uns gelangt.

Ich ließ mich in einen Gasthof führen. Von dort aus besorgte ich meine Einkäufe, expedierte den für Grumitz bestimmten Brief, warf mich in einen möglichst einfachen, strapazenfähigen Reiseanzug und fuhr nach dem Nordbahnhof. Ich wollte den nächstabgehenden Zug benutzen, um rechtzeitig an meine Bestimmung zu gelangen. Es war wie eine fixe Idee, unter deren Herrschaft ich meine Handlungen ausführte.

Auf dem Bahnhof herrschte reges – Leben – oder soll ich »reges Sterben« sagen? Die Halle, die Säle, der Perron; alles voll Verwundeter, viele davon in den letzten Zügen. Und ein massenhaftes Menschengewirre: Krankenpfleger, Sanitätssoldaten, barmherzige Schwestern, Ärzte; Männer und Frauen aus allen Gesellschaftsklassen, die da kamen, um nachzusehen, ob der letzte Transport nicht einen von den Ihren gebracht; oder auch, um unter die Verwundeten Geschenke, Wein, Zigarren usw. zu verteilen. Das Beamten- und das Dienstpersonal überall bemüht, das vordringende Publikum zurückzudrängen. Auch mich wollte man wieder fortschicken:

»Was wollen Sie? ... Platz da! ... Das Überreichen von Eß- und Trinkwaren ist verboten ... wenden Sie sich an das Komitee ... dort werden die Geschenke in Empfang genommen« ...

»Nein, nein«, sagte ich, »ich will abreisen. Wann fährt der nächste Zug?«

Auf diese Frage konnte ich lange keine Auskunft erhalten. Die meisten Abfahrtszüge seien eingestellt, erfuhr ich endlich, da die Linie für ankommende Züge, die eine Ladung Verwundeter nach der anderen brachte, offen bleiben mußte. Passagierzüge gingen heute überhaupt keine mehr ab. Nur einer mit nachgeschickten Reservetruppen, und ein anderer zur ausschließlichen Benutzung des patriotischen Hilfsvereins, der mehrere Ärzte und barmherzige Schwestern und eine Ladung nötigen Materials nach der Umgebung von Königgrätz abführen sollte.

»Und da könnte ich nicht mitfahren?«

»Unmöglich!«

Immer deutlicher und flehender vernahm ich Friedrichs Hilferuf – und nicht kommen können: Es war zum Verzweifeln!

Da erblickte ich am Eingang der Halle Baron S., den Vizevorsteher des patriotischen Hilfsvereins, denselben den ich schon vom Kriegsjahre 59 her kannte. Ich eilte auf ihn zu:

»Um Gottes willen, Baron S., helfen Sie mir! Sie erkennen mich doch?«

»Baronin Tilling, Tochter des General Grafen Althaus – gewiß habe ich die Ehre ... Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Sie expedieren einen Zug nach Böhmen ... lassen Sie mich mitfahren! Mein sterbender Mann verlangt nach mir ... Wenn Sie ein Herz haben – und Sie beweisen ja durch Ihre Tätigkeit, wie schön und edel Ihr Herz ist – so schlagen Sie mir meine Bitte nicht ab!«

Es gab noch allerlei Zweifel und Bedenken, aber schließlich wurde meinem Wunsche willfahrt. Baron S. rief einen der vom Hilfsverein entsendeten Ärzte herbei und empfahl mich, als Mitreisende, seinem Schutz.

Bis zur Abfahrt war noch eine Stunde. Ich wollte den Wartesaal aufsuchen, aber jeder verfügbare Raum war in ein Hospital verwandelt. Wo man hinblickte, überall kauernde, liegende, verbundene, bleiche Gestalten. Ich mochte nicht hinschauen. Das bißchen Energie, das ich besaß, das mußte ich mir auf meine Fahrt und auf deren Ziel aufsparen. Von aller Kraft, allem Mitgefühl, aller Hilfsleistungsfähigkeit, die mir zu Gebote stand, durfte ich hier nichts aufgeben; das gehörte nur ihm – ihm, der mich rief.

Es war indes kein Winkel zu finden, wo mir der Jammeranblick erspart geblieben wäre. Ich hatte mich auf den Perron geflüchtet, und dort mußte ich gerade das ärgste mit ansehen: Die Ankunft eines langen Zuges, dessen sämtliche Waggons mit Verwundeten gefüllt waren, und die Abladung der letzteren. Die leichter Blessierten stiegen selber aus und schleppten sich vorwärts, die meisten mußten aber unterstützt, oder gar getragen werden. Die verfügbaren Tragbahren waren gleich besetzt, und die überzähligen Patienten mußten bis zur Rückkunft der Träger einstweilen auf den Boden gelagert werden. Vor meine Füße, auf dem Platze, wo ich auf einer Kiste saß, legten sie einen hin, der unausgesetzt ein gurgelndes Röcheln ausstieß. Ich beugte mich herab, um ihm ein teilnehmendes Wort zu sagen, aber entsetzt fuhr ich wieder zurück und verbarg mein Gesicht in beide Hände – der Eindruck war zu fürchterlich gewesen. Das war kein menschliches Angesicht mehr – der Unterkiefer weggeschossen, ein Auge herausquellend ... dazu ein erstickender Qualm von Blut- und Unratgeruch .... Ich hätte aufspringen und fliehen mögen, doch ward mir totenübel und mein Kopf fiel an die hinter mir liegende Mauer zurück. »O, ich feiges kraftloses Geschöpf« – schalt ich mich – »was suche ich hier in diesen Jammerstätten, wo ich nichts – nichts helfen kann ... wo ich solchem Ekel unterliege« ... Nur der Gedanke an Friedrich raffte mich wieder empor. Ja, für ihn, auch wenn er in solchem Zustande wäre, wie der Elende zu meinen Füßen, könnte ich alles ertragen – ich würde ihn noch umfangen und küssen, und aller Ekel, alles Grauen versänke in das eine allbesiegende Gefühl – in Liebe – »Friedrich – mein Friedrich, ich komme!« wiederholte ich halblaut diesen einen fixen Gedanken, der mich seit der Ankunft des Bresserschen Briefes erfaßt und nicht mehr losgelassen hatte.

Eine furchtbare Idee durchflog mein Hirn: Wie, wenn dieser – Friedrich wäre? Ich sammelte meine Kräfte und blickte noch einmal hin: Nein, er war es nicht.

* * *

Die bange Wartestunde war doch auch vorübergegangen. Den Röchelnden hatten sie fortgetragen. »Legt ihn dort auf die Bank,« hörte ich den Regimentsarzt befehlen, »den da kann man nicht mehr ins Spital bringen – er ist schon dreiviertel tot.« Und doch – diese Worte mußte er noch verstanden haben, der Dreiviertel-Tote, denn mit einer verzweiflungsvollen Gebärde hob er beide Arme zum Himmel.

Jetzt saß ich im Waggon mit den beiden Ärzten und vier barmherzigen Schwestern. Es war erstickend heiß und der Raum war mit einem Duft von Hospital und Sakristei – Karbol und Weihrauch – erfüllt. Mir war unsäglich übel. Ich lehnte mich in eine Ecke zurück und schloß die Augen.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Das ist so der Augenblick, wo jeder Reisende sich das Ziel vergegenwärtigt, dem er entgegengetragen wird. Öfters schon war ich auf dieser Strecke gefahren, und da winkte mir die Ankunft in einem gästegefüllten Schlosse, in einem fröhlichen Badeorte – auch meine Hochzeitsreise – seliges Andenken – hatte ich auf diesem Wege gemacht, einem glänzenden und liebevollen Empfang in der Hauptstadt »Preußens« (wie hatte letzteres Wort doch seither einen anderen Klang bekommen!) entgegen. – – Und heute? Was war heute unser Ziel? Ein Schlachtfeld und umliegende Lazarette – die Stätten des Todes und der Leiden. Mir schauderte.

»Gnädige Frau,« sagte einer der Ärzte – »ich glaube, Sie sind selber krank .... Sie sehen so bleich und leidend aus.«

Ich blickte auf. Der Sprecher war eine sympatische, jugendliche Erscheinung. Vermutlich war dies die erste praktische Tätigkeit des kaum promovierten Mediziners. Schön von ihm, daß er seine ersten Dienste diesem gefahr- und beschwerdevollen Amte widmete! Ich fühlte mich diesen Menschen, die da neben mir im Waggon saßen, dankbar für die Linderung, welche sie den Leidenden zu bringen im Begriffe standen. Auch den opfermutigen, wirklich »barmherzigen« Schwestern zollte ich im Herzen Bewunderung und Dank. Doch was brachte jeder dieser guten Menschen mit? Ein Lot Hilfe für tausend Zentner Not. Die tapferen Nonnen mußten wohl für alle Menschen jene überwindungskräftige Liebe im Herzen tragen, wie sie mich für meinen Mann erfüllte; so, wie ich sie vorhin empfunden, daß, wenn der furchtbar entstellte und ekelerregende Soldat, der vor meinen Füßen röchelte, mein Gatte gewesen, aller Widerwille entschwunden wäre – so empfanden jene wohl jedem Menschenbruder gegenüber, und zwar durch die Kraft einer höheren Liebe – diejenige zu ihrem erwählten Bräutigam Christus. Aber ach – auch davon brachten die Edeln nur ein Lot! Ein Lot Liebe dorthin wo tausend Zentner Haß gewütet ....

»Nein, Herr Doktor,« antwortete ich auf die teilnehmende Anfrage des jungen Arztes, »ich bin nicht krank, nur ein wenig angegriffen.«

»Ihr Herr Gemahl, so sagte mir Baron S., sei bei Königsgrätz verwundet worden und Sie reisen dahin, ihn zu pflegen,« mischte sich der Stabsarzt in das Gespräch; »wissen Sie, in welcher der umgebenden Ortschaften er liegt?«

Das wußte ich nicht. »Mein Ziel ist Königinhof,« antwortete ich, »dort erwartet mich mein befreundeter Arzt, Doktor Bresser –«

»Den kenne ich ... er war an meiner Seite, als wir vor drei Tagen das Schlachtfeld absuchten.«

»Das Schlachtfeld absuchten« ... wiederholte ich schaudernd – »erzählen Sie –«

»Ja, ja, Herr Doktor, erzählen Sie!« bat eine der Nonnen, »unser Dienst kann uns auch in die Lage bringen, bei solchem Suchen mitzuhelfen.«

Und der Regimentsarzt erzählte. Den Wortlaut seiner Schilderungen kann ich natürlich nicht mehr wiedergeben; auch sprach er nicht in einem Flusse, sondern mit häufigen Unterbrechungen, und gleichsam widerstrebend, nur durch die hartnäckigen Fragen, mit welchen die wißbegierigen Nonnen und ich ihn bestürmten, zum Sprechen gezwungen. Die abgerissenen Erzählungen riefen jedoch eine geschlossene Reihe von Bildern vor mein inneres Auge, die sich dem Gedächtnis so lebhaft eingeprägt haben, daß ich dieselben noch heute an mir vorüberziehen lassen kann. Unter anderen Umständen hätte ich des Doktors Schilderungen nicht so deutlich erfaßt und behalten – man vergißt ja Gehörtes und Gelesenes so leicht – aber das Erzählte machte mir damals fast den Eindruck von Miterlebtem. Ich war in einem Zustand hochgradiger Nervenanspannung und Erregtheit; der fixe Gedanke an Friedrich, der sich meiner bemächtigt hatte, bewirkte, daß ich bei jeder der geschilderten Szenen mir Friedrich als beteiligte Person vorstellte, und so sind sie mir wie selber durchgemachte schmerzliche Erfahrungen im Geiste haften geblieben. In der Folge habe ich die von dem Regimentsarzt mitgeteilten Ereignisse in die roten Hefte eingetragen – so, als hätten sie sich vor meinen eigenen Augen abgespielt.

* * *

Die Ambulance ist hinter einem schützenden Hügelrücken aufgerichtet worden. Drüben tobt die Schlacht. Der Boden zittert, und es zittert die glühende Luft; Dampfwolken steigen auf, die Geschütze brüllen ... Jetzt heißt es, Patrouillen ausschicken, welche sich auf die Kampfplätze begeben, um die Schwerverwundeten aufzulesen und hierherzubringen. Gibt es etwas Heldenhafteres, als solchen Gang mitten in den summenden Kugelregen hinein, an allen Schrecken des Kampfes vorüber, allen Gefahren des Kampfes ausgesetzt – ohne selber dessen wildem Rausche sich hingeben zu dürfen? Rühmlich ist dieses Amt – nach Kriegsbegriffen – nicht. »Bei der Sanität« – da dient doch kein fescher, strammer, schneidiger Junge – da verdreht doch keiner die Köpfe der Mädchen. Und »Feldscheer« – wenn der auch heute nicht mehr so – sondern »Regimentsarzt « heißt, der kann sich doch mit keinem Kavallerieleutnant messen? ...

Der Sanitätskorporal kommandiert seine Leute nach einer Niederung, gegen welche eine Batterie ihr Feuer eröffnet hat. Sie gehen durch den grauen Schleier des Pulverdampfes, und Staub und Erde, da, wo eine Kugel zu ihren Füßen einschlägt, wirbelt vor ihnen auf. Sie sind nur wenige Schritte gegangen, so begegnen sie schon Verwundeten – leichter Verwundeten, die sich entweder einzeln oder paarweise, einander gegenseitig unterstützend, zur Ambulance schleppen. Einer fällt zusammen. Es ist aber nicht seine Wunde, die ihm die Kraft gebrochen – es ist Erschöpfung. »Wir haben zwei Tage nichts gegessen – machten einen forcierten Marsch von zwölf Stunden ... kamen ins Biwak ... zwei Stunden darauf Alarm und Schlacht« ...

Die Patrouille geht weiter. Diese Leute finden selber ihren Weg und können den zusammengebrochenen Kameraden mitnehmen. Die Hilfe muß anderen, noch Hilfsbedürftigeren aufgespart werden.

Auf dem Steingerölle eines Hügelabhanges liegt ein blutiges Knäuel. Es sind ein Dutzend Soldaten. Der Sanitätsunteroffizier bleibt stehen und legt ein paar Verbände an. Aber mitgenommen werden diese Verwundete nicht; erst müssen die geholt werden, die mitten auf dem Gefechtsfelde fielen – vielleicht kann man diese hier beim Rückgang auflesen ...

Und wieder geht die Patrouille weiter, dem Kampfplatz näher. In immer dichteren Scharen wanken Verwundete heran, sich selber oder einander mühsam fortschleppend. Das sind solche, die doch noch gehen können. Unter sie wird der Inhalt der Feldflaschen verteilt, man legt ihnen eine Binde auf quellende Wunden und weist ihnen den Weg nach der Ambulance. Und wieder geht es weiter. An Toten vorüber – an Hügeln von Leichen ... Viele dieser Toten zeigen die Spuren entsetzlichster Agonie. Unnatürlich weit aufgerissene Augen – die Hände in die Erde gebohrt – die Haare des Bartes aufgerichtet – zusammengepreßte Zähne unter krampfhaft geöffneten Lippen – die Beine starr ausgestreckt, so liegen sie da.

Jetzt durch einen Hohlweg. Hier liegen sie aufgeschichtet. Tote und Verwundete untereinander. Letztere begrüßen die Sanitätspatrouille wie rettende Engel und flehen und schreien um Hilfe. Mit gebrochenen Stimmen, weinend, wimmernd, rufen sie nach Rettung, nach einem Schluck Wasser ... Aber ach – die Vorräte sind fast erschöpft, und was können die wenigen Menschen tun? Ein jeder müßte hundert Arme haben, um da retten zu können ... doch jeder tut, was er kann. Da erschallt der langgezogene Ton des Sanitätsrufes. Die Leute stutzen und halten in ihren Handreichungen inne. »Verlaßt uns nicht, verlaßt uns nicht!« flehen die Unglücklichen; doch wieder und wieder ruft das Hornsignal, welches, von allem anderen Getöse unterscheidbar, deutlich in die Weite dringt. Da kommt auch noch ein Adjutant herangesprengt: »Mannschaft von der Sanität?« »Zu Befehl!« erwiderte der Korporal. »Mir nach.«

Offenbar ein verwundeter General ... Da heißt es gehorchen und die anderen verlassen ... »Mut und Geduld, Kameraden, wir kommen wieder.« Die es sagen und die es hören, sie wissen, daß das nicht wahr ist.

Und wieder geht es weiter. – Dem Adjutanten – der, voransprengend, die Richtung weist – im Eilschritt nach. Da gibt es unterwegs kein Aufhalten, ob auch von rechts und links die Weh- und Hilferufe ertönen, ob auch auf die Eilenden selber manche Kugel fällt und einen oder den anderen hinstreckt – nur weiter, nur vorüber. Vorüber an unter dem Schmerz ihrer Wunden sich krümmenden Menschen, welche von über sie hinjagenden Rossen zertreten, oder von über ihre Glieder fahrenden Geschützen zermalmt wurden und welche, die Rettungsmannschaft erblickend, in ihrer Verstümmelung sich ein letztes Mal emporbäumen: vorüber, vorüber!

* * *

Das geht in den roten Heften noch seitenlang so fort. Was der Regimentsarzt von dem Gang einer Sanitätspatrouille über das Schlachtfeld erzählte, das enthält noch viele ähnliche und ärgere Dinge. So die Schilderung jener Augenblicke, da mitten in die Pflegearbeit Kugeln und Granaten fallen, neue Wunden reißend; oder wenn die Zufälligkeiten der Schlacht den Kampf und die Verbandplätze selber knapp an die Ambulancen bringen und das ganze Sanitätspersonal, samt den Ärzten und samt den Kranken, mitten in das Gewühl der ringenden oder fliehenden oder verfolgenden Truppen gerät: wenn scheue, ledige Rosse des Weges gerast kommen und die Tragbahre umstürzen, auf welche man eben einen Schwerverwundeten gebettet, der jetzt zerschmettert zu Boden geschleudert wird ... Oder dieses – das grauenhafteste Bild von allen –: Ein Gehöft, in welchem man hundert Verwundete untergebracht, verbunden und gelabt hat. – Die armen Teufel froh und dankbar, daß ihnen Rettung geworden – und eine Granate, die das Ganze in Brand schießt – eine Minute und das Lazarett steht in Flammen – das Schreien, vielmehr das Geheul, welches aus dieser Stätte der Verzweiflung gellt und welches in seinem wilden Weh alles übrige Getöse übertönt, das wird wohl jenen, die es hörten, ewig unvergeßlich bleiben ... Weh mir! Auch mir, obgleich ich es nicht gehört, bleibt es unvergeßlich – denn während der Regimentsarzt erzählte, war mir wieder, als wäre mein Friedrich dabei, als hörte ich seinen Schrei aus dem brennenden Marterorte heraus ...

»Ihnen wird übel, gnädige Frau,« unterbrach sich der Erzähler – »ich habe da Ihren Nerven wirklich zu viel zugemutet.« –

Aber ich hatte noch nicht genug. Ich versicherte, daß meine vorübergehende Schwäche nur die Folge der Hitze und einer schlechten Nacht sei und wurde nicht müde, den anderen auszuforschen. Es war mir immer noch, als hätte ich nicht genug gehört, als wären von diesen geschilderten Höllenkreisen die letzten und höllischsten noch nicht geschildert worden. Und wenn einmal der Durst nach Gräßlichem erregt ist, so ruht man nicht, bis er nicht mit dem Gräßlichsten gelöscht worden. Und richtig: es gibt noch Schauerlicheres als ein Schlachtfeld während – das ist ein solches nach der Schlacht.

Kein Geschützdonner, kein Fanfarengeschmetter, kein Trommelwirbel mehr, nur leises, schmerzliches Stöhnen und Sterberöcheln. Im zertretenen Erdboden rötlich schimmernde Pfützen, Blutlachen; – alle Feldfrucht zerstört, nur hier und da ein unberührt gebliebenes halmenbedecktes Ackerstück: die sonst lachenden Dörfer und Trümmer in Schutt verwandelt. Die Bäume der Wälder verkohlt und geknickt; die Hecken von Kartätschen zerrissen .... Und auf dieser Wahlstatt Tausende und Tausende von Toten und Sterbenden – hilflos Sterbenden! Keine Blüten noch Blumen sind auf den Wegen und Wiesen zu sehen, sondern Säbel, Bajonette, Tornister, Mäntel, umgestürzte Munitionswagen, in die Luft geflogene Pulverkarren, Geschütze mit gebrochenen Lafetten .... Neben den Kanonen, deren Schlünde von Rauch geschwärzt sind, ist der Boden am blutigsten; dort liegen die meisten und verstümmeltsten Toten und Halbtoten – von Kugeln buchstäblich zerrissen. Und die toten und halbtoten Pferde – solche, die auf den Füßen, welche ihnen geblieben sind, sich aufrichten, um wieder hinzusinken, wieder sich aufstellen und wieder hinfallen, bis sie die Köpfe heben, um ihren schmerzbeladenen Sterberuf hinauszuschreien .... Ein Hohlweg ist mit in den Kot der Straße getretenen Körpern ganz angefüllt. Die Unglücklichen hatten sich wohl hierher geflüchtet, um geborgen zu sein – aber eine Batterie ist über sie hinweggefahren – von Pferdehufen und Rädern sind sie zermalmt .... Viele darunter leben noch – eine breiige, blutige Masse, aber »leben noch«.

Und noch gibt es Höllischeres als alles dies: Es ist das Erscheinen des niederträchtigsten Abschaums der kriegführenden Menschheit – der Schlachtfeld-Hyäne. »Das schleicht herbei, das die Leichenbeute witternde Ungetüm, beugt sich über Tote und noch Lebende herab und reißt ihnen die Kleider vom Leibe. Erbarmungslos. Die Stiefeln werden vom blutenden Bein, die Ringe von der verwundeten Hand gezogen – oder um den Ring zu haben, wird der Finger einfach abgeschnitten; und wenn sich das Opfer wehren will, dann wird es von der Hyäne gemordet oder – um nicht einst wieder erkannt zu werden – sticht sie ihm die Augen aus ....«

Ich schrie laut auf. Bei des Doktors letzten Worten hatte ich die ganze Szene wieder mit angesehen, und die Augen, in welche die Hyäne ihr Messer gebohrt, das waren Friedrichs blaue, sanfte, geliebte Augen ....

»Verzeihen Sie mir, gnädige Frau, aber Sie haben es gewollt ....«

»Ja, ja – ich will alles hören. Was Sie da beschrieben haben, war die Nacht, welche auf die Schlacht folgt – diese Szenen haben sich bei Sternenschein abgespielt –«

»Und bei Fackelschein. Die vom Sieger zum Durchsuchen des Schlachtfeldes ausgeschickten Patrouillen tragen Fackeln und Laternen. Und rote Laternen ragen an Signalstangen empor, um die Orte zu bezeichnen, an welchen fliegende Hospitäler errichtet worden sind.«

»Und der nächste Morgen – wie zeigt der die Wahlstatt?«

»Beinah noch fürchterlicher. Der Gegensatz von dem helllächelnden Tagesgestirn zu der grausigen Menschenarbeit, die es beleuchtet, wirkt doppelt schmerzlich. Des Nachts hatte das ganze Schreckbild etwas Gespensterhaft-Phantastisches, bei Tag ist es einfach – trostlos. Jetzt erst sieht man die Massenhaftigkeit der umherliegenden Leichen: Auf den Straßen, zwischen den Feldern, in den Gräben, hinter Mauertrümmern; überall, überall Tote. Geplündert, mitunter nackt. Ebenso die Verwundeten. Diese, die trotz der nächtlichen Arbeit der Sanitätsmannschaften noch immer in großer Zahl umherliegen, sehen fahl und zerstört aus, grün und gelb, mit stierem, stumpfsinnigem Blick; oder aber unter wütenden Schmerzen sich krümmend, flehen sie jeden an, der in die Nähe kommt, daß er sie töte. Schwärme von Aaskrähen lassen sich auf die Wipfel der Bäume nieder und verkünden mit lautem Gekrächz das lockende Festmahl ... Hungrige Hunde aus den Dörfern kommen herbeigerannt und lecken das Blut der Wunden. Noch sieht man einige Hyänen, welche noch immer hastig weiter arbeiten ... Und jetzt kommt das große Begraben –«

»Wer tut das? – Die Sanität?«

»Wie könnte die zu solcher Massenarbeit ausreichen? Die hat bei den Verwundeten vollauf zu tun.«

»Also kommandierte Truppen?«

»Nein: Herbeigeschafftes oder auch freiwillig heranlaufendes Gesindel: Landstreicher, Leute vom Troß, welche sich bei den Marketenderbuden, bei den Bagagewagen aufhielten, und welche jetzt neben den Bewohnern der Armenhäuser und der Hütten von den Militärgewalten herbeigetrieben werden, um Gräber zu graben – recht große, das heißt – weite Gräber, denn tief werden sie nicht gemacht. Dazu wäre keine Zeit. Da hinein wirft man die toten Körper – kopfüber, kopfunter, wie es gerade kommt. Oder man macht es so: Über einen aus Leichen gebildeten Haufen wirft man ein bis zwei Fuß hohe Erde hinauf: das sieht dann auch aus wie ein Tumulus . Ein paar Tage darauf kommt ein Regen und spült die Hülle von den verwesenden Leichnamen weg – aber was liegt daran? Die flinken und lustigen Totengräber denken nicht so weit. Lustige und flotte Arbeiter sind sie, das muß man ihnen lassen. Es werden da Lieder gepfiffen und allerlei zweideutige Witze gemacht – ja mitunter tanzt eine Hyänenrunde um das offene Grab. Ob in manchen Körpern, die da hinabgeschleudert oder mit Erde verschüttet werden, noch Leben sich regt – darum kümmern sie sich auch nicht. Der Fall ist unvermeidlich, denn Starrkrampf tritt bei Verwundungen häufig auf. Manch zufällig Errettete haben von der Gefahr des Lebendig-begraben-werdens, der sie entronnen, erzählt. Aber wie viele gibt es derer, die nichts erzählen konnten? Wenn man einmal ein paar Fuß Erde über dem Mund liegen hat, so muß man den Mund wohl halten.« ...

O mein Friedrich, mein Friedrich! stöhnte es in meiner Seele.

»Das ist das Bild des nächsten Morgens,« schloß der Regimentsarzt. »Soll ich noch weiter erzählen, was den nächsten Abend geschieht? Da wird –«

»Das will ich Ihnen sagen, Herr Doktor,« unterbrach ich. »In eine von den beiden Hauptstädten der beteiligten Reiche ist die telegraphische Nachricht des glorreichen Sieges angelangt. Da wurde vormittags – während des Hyänentanzes um die Gruben – in den Kirchen »Nun danket alle Gott« gesungen und abends – da stellt die Mutter, oder das Weib eines Lebendigbegrabenen ein paar brennende Kerzen auf den Fenstersims, denn die Stadt wird beleuchtet.«

»Ja, gnädige Frau, diese Komödie wird zu Hause aufgeführt. Indessen auf dem Schlachtfeld selber ist mit dem zweiten Sonnenuntergang die Tragödie noch lange nicht abgespielt. Außer denjenigen, welche in die Lazarette und in die Gräber untergebracht worden, gibt es noch die Ungefundenen. Hinter dichtem Gebüsch, in hohen Ährenfeldern, oder zwischen Bautrümmern verborgen, sind sie den Blicken der Krankenträger und Totengräber entgangen. Für jene Unglücklichen beginnt nun das Martyrium einer mehrere Tage und mehrere Nächte langen Agonie: In der sengenden Hitze des Mittags, in den schwarzen Schauern der Mitternacht, gebettet auf Steinen und Disteln, im scharfen Verwesungsgeruch der naheliegenden Leichen und der eigenen faulenden Wunden, den festenden Geiern zur noch zuckenden Beute ...«

* * *

Das war eine Reise! – Der Regimentsarzt hatte schon lange aufgehört zu sprechen, aber die Auftritte, welche er geschildert, fuhren unausgesetzt fort, vor meinem inneren Auge sich abzuspielen. Um diesem mich verfolgenden Gedankenreigen zu entgehen, schaute ich zum Wagenfenster hinaus und versuchte, im Anblick der Landschaft Zerstreuung zu finden. Aber auch hier boten sich dem Blicke Bilder des Kriegsjammers. Zwar hatte in dieser Gegend keine gewaltsame Verwüstung stattgefunden: Es rauchte da kein zerschossenes Dorf, hier hatte »der Feind« noch nicht gehaust; aber was hier nun wütete, ist vielleicht noch schlimmer: Nämlich die Furcht vor dem Feinde. »Die Preußen kommen! die Preußen kommen!« war die Schreckenslosung auf der ganzen Strecke; und wenn auch im Vorbeifahren diese Worte nicht zu hören waren, ihre Wirkung konnte man vom Wagenfenster aus deutlich erschauen. Überall auf allen Straßen und Wegen fliehende, mit Sack und Pack ihr Heim verlassende Menschen. Ganze Wagenzüge bewegten sich landeinwärts – gefüllt mit Bettzeug, Hausgerät und Vorräten. Alles sichtlich in größter Eile aufgeladen. Auf demselben Karren kleine Schweine, das jüngste Kind und ein paar Kartoffelsäcke, nebenher, zu Fuß, Mann und Weib und die größeren Kinder: – So sah ich eine auswandernde Familie auf einer nahen Straße sich fortbewegen. Wohin gingen die Armen? Das wußten sie wohl selber kaum – nur fort, fort von den »Preußen«. So flieht man das prasselnde Feuer oder die steigende Flut.

Öfters brauste auf den Nebengeleisen ein Zug an uns vorüber: – Verwundete, immer wieder Verwundete; immer wieder die aschfahlen Gesichter, die verbundenen Köpfe, die in der Binde getragenen Arme. Auf den Haltestellen besonders konnte man an diesem Anblick in allen Varianten sich sattsam erlaben. Sämtliche große und kleine Perrons, auf welchen man sonst das wartende Völklein der Reisenden fröhlich umherstehen und -gehen sieht, waren jetzt mit liegenden und kauernden Gestalten gefüllt. Das sind die aus den umgebenden Feld- und Privatlazaretten herbeigeschafften kranken Soldaten, die den nächsten Eisenbahnzug abwarten, der einen neuen Verwundetentransport befördern kann. So müssen sie stundenlang liegen – und wer weiß, wieviel Transportierungen sie schon hinter sich haben? Vom Kampffeld zum Verbandplatz, von da zur Ambulance, von dieser in ein fliegendes Feldhospital, dann in die Ortschaft – jetzt zur Eisenbahn; und von hier steht ihnen noch die Fahrt nach Wien bevor; dort vom Bahnhof zum Spital und von da, nach so langen Leiden, vielleicht zum Regiment zurück, vielleicht zum Friedhof ... Mir ward so leid, so leid, so schrecklich leid um die armen Teufel! – ich hätte zu jedem einzelnen hinknien wollen und ihm Worte des Mitgefühls zuflüstern. Aber der Doktor ließ mich nicht. Wenn wir an einer Station ausstiegen, nahm er mich am Arm und führte mich in das Bureau des Stationschefs. Hierher brachte er mir Wein oder sonst eine Erfrischung.

Die Schwestern walteten auch schon hier ihres barmherzigen Amtes. Sie reichten den Verwundeten an Trank und Speise, was nur aufzutreiben war: Aber öfters gab es nichts, die Vorräte in den Restaurationen waren zumeist erschöpft. Dieses Getriebe auf den Bahnhöfen, namentlich auf den größeren, machte mir einen sinnverwirrenden Eindruck; es schien mir wie »ein böser Traum«. Dieses Hin- und Herrennen, dieses wüste Durcheinander – abmarschbereite Truppen – Flüchtlinge – Krankenträger – Haufen blutender und wimmernder Soldaten – schluchzende, händeringende Frauen –; Geschrei, barsche Kommandorufe – überall Gedränge, nirgends ein freier Durchgang – aufgeschichtetes Gepäck, Kriegsmaterial, Kanonen, abseits Pferde und brüllendes Hornvieh – dazwischen das unausgesetzte Geläute des Telegraphen – durchfahrende Züge, welche mit aus Wien anlangender Reserve vollgefüllt – vielmehr vollgepfropft – sind ... Nicht anders waren diese Soldaten in den Wagen dritter und vierter Klasse – ja in Last- und Viehwaggons – untergebracht, nicht anders wie Schlachtvieh. Und im Grunde genommen, ich konnte den Gedanken nicht unterdrücken, was waren sie denn anderes? Wurden sie nicht auch zur »Schlacht« – wurden sie nicht auf den großen politischen Markt geschleppt, wo mit Kanonenfutter – chair á canon – geschachert wird? Da rollten sie vorbei. Tolles Gebrüll – war es ein Kriegslied? – schallte heraus und übertönte das rasselnde Gepolter der Räder; eine Minute – und der Zug war verschwunden. Mit Windeseile trug er einen Teil seiner Fracht dem sicheren Tode entgegen. Ja – sicherem Tode ... Wenn auch kein einzelner von sich sagen kann, daß er sicher fällt, ein gewisser Prozentsatz von der Gesamtheit muß und wird fallen. Zu Felde ziehende Heere, die sich auf der Heerstraße zu Fuß oder zu Roß fortbewegen: das mag noch eine gewisse antike Poesie an sich haben; aber der moderne Schienenweg, das Symbol der nationenverbindenden Kultur, als Beförderungsmittel der losgelassenen Barbarei: – das ist gar zu widersinnig und abscheulich. Wie falsch klingt da auch das Telegraphengeklingel ... dieses herrliche Siegeszeichen des menschlichen Intellekts, der es fertig gebracht hat, den Gedanken mit Blitzesschnelle von einem Lande zum anderen zu leiten; alle diese neuzeitlichen Erfindungen, welche bestimmt sind, den Verkehr der Völker zu fördern, das Leben zu erleichtern, zu verschönern, zu bereichern: Die werden jetzt von jenem altweltlichen Prinzip mißbraucht, welches die Völker entzweien und das Leben vernichten will. »Seht unsere Eisenbahnen, seht unsere Telegraphen – wir sind zivilisierte Nationen«, prahlen wir den Wilden gegenüber und benutzen diese Dinge zur verhundertfachten Entfaltung unserer Wildheit ...

Daß mich lauter solche Gedanken quälen mußten, während ich an den Stationen auf das Weiterfahren unseres Zuges wartete – das vertiefte und verbitterte noch mein Leid. Ich beneidete fast jene, die da nur in naivem Schmerze die Hände rangen und weinten, die sich nicht im Zorn aufbäumten gegen die ganze Schauerkomödie – die niemanden anklagten, nicht einmal jenen »Herrn der Heerscharen«, von dem sie doch glaubten, daß er es sei, der das hereingebrochene Unglück über sie verhängt ...

Es war spät abends, als ich in Königinhof anlangte. Meine Reisegefährten hatten an einer früheren Station bleiben müssen. Ich war allein – in Furcht und Bangen. Wie, wenn Doktor Bresser verhindert worden wäre, zu kommen? Was sollte ich dann hier beginnen? Zudem war ich von der Fahrt wie gerädert, von den durchgemachten Trauer- und Schauerempfindungen ganz entnervt. Wäre nicht die Sehnsucht nach Friedrich gewesen, so hätte ich mir nur noch den Tod gewünscht. Sich hinlegen können und einschlafen und nie wieder erwachen in einer Welt, in der es so grausam und wahnsinnig zugeht! ... Nur eins nicht: am Leben bleiben und Friedrich unter den Vermißten wissen!

Der Zug hielt. Mühsam und zitternd stieg ich aus und nahm mir mein Handgepäck herab. Ich führte mein Handköfferchen bei mir, mit etwas Wäsche für mich und Charpie und Verbandzeug für den Verwundeten; außerdem eine Reise-Toilettentasche. Die hatte ich so gewohnheitsmäßig mitgenommen, in dem anerzogenen Glauben, daß man gar nicht sein könne, ohne die silbernen Büchsen und Kapseln, die Seifen und Wasser, die Bürsten und Kämme. Reinlichkeit – diese Tugend des Körpers, dasselbe, was Ehrlichkeit für die Seele – diese zweite Natur des Kulturmenschen: wie mußte ich jetzt erst erfahren, daß darauf in solchen Zeiten ganz verzichtet werden muß. Nun ja,– es ist ja nur folgerichtig: der Krieg ist die Verneinung der Kultur, also müssen durch ihn alle Errungenschaften der Kultur wegfallen; ein Rückschlag in die Wildheit ist er, also muß er alles Wilde im Gefolge haben – darunter auch jenes, den Edelmenschen so furchtbar verhaßte Ding: den Schmutz.

Die Kiste mit Material für die Spitäler, die ich in Wien für Doktor Bresser besorgt hatte, war mit den anderen Kisten des Hilfskomitees aufgegeben worden – wer weiß, wann und wo dieselbe abgeliefert wurde? Ich hatte nichts bei mir als meine zwei Stück Handgepäck und ein umgehängtes Geldtäschchen, welches mit einigen Hundertgulden-Noten gefüllt war. Schwankenden Schrittes ging ich über die Schienen nach dem Perron. Dort herrschte, trotz der späten Stunde, dasselbe Gewühle wie auf den anderen Stationen, und immer dasselbe Bild: Verwundete – Verwundete. Nein, nicht dasselbe Bild: ärger noch. Königinhof war ein Ort, der mit diesen Unglücklichen überfüllt war; es gab im ganzen Ort keinen unbelegten Raum, und nun hatte man die Kranken scharenweise zur Eisenbahn gebracht, wo sie, ganz notdürftig verbunden, überall umherlagen, auf der Erde, auf den Steinen ....

Es war eine finstere, mondlose Nacht; der Schauplatz war nur durch drei oder vier an Pfählen befindliche Laternen beleuchtet. Erschöpft und schlaf-, beinahe todesschlafbedürftig, sank ich auf die freie Ecke einer Bank und legte mein Gepäck vor mir auf den Boden.

Ich hatte vorerst nicht den Mut, mich umzusehen, ob unter den vielen Menschen, die hier geschäftig hin und her schossen, auch Doktor Bresser sei. Fast war ich überzeugt, daß ich ihn nicht finden würde. Es gab ja zehn Chancen gegen eine, daß er verhindert worden zu kommen, oder daß er zu einer anderen als zur bezeichneten Stunde hier einträfe; einen regelmäßigen Verkehr gab es ja überhaupt nicht mehr: mein Zug war gewiß viel später eingetroffen, als in der Fahrordnung verzeichnet stand. Ordnung: auch ein Kulturbegriff – mit dem war ja ringsum gleichfalls gebrochen .... Mein Unternehmen erschien mir jetzt als ein wahnwitziges. Dieses vermeintliche Rufen Friedrichs – glaubte ich denn sonst an derlei mystische Dinge? – es entbehrte sicher aller Begründung. Wer weiß – vielleicht war Friedrich auf dem Weg nach Hause – vielleicht auch tot – warum suchte ich ihn hier? Eine andere Stimme begann jetzt nach mir zu rufen, andere Arme breiteten sich mir entgegen: Rudolf, mein Sohn – wie würde er nach der »Mama« gefragt haben und nicht haben einschlafen können, ohne den mütterlichen Gutenachtkuß ... Wohin würde ich mich hier wenden, wenn ich Bresser nicht fände? Und die Hoffnung, ihn zu finden, war mir plötzlich so gering geworden, wie unter Hunderttausenden von Losen die Hoffnung auf einen Haupttreffer. Zum Glück hatte ich mein Täschchen mit dem Gelde – der Besitz von Banknoten bietet immer Auskunftsmittel. Unwillkürlich griff ich an die Stelle, wo das Täschchen hängen sollte ... Großer Gott! Der Riemen, an welchem es befestigt gewesen, abgerissen – das Täschchen fort – verloren! ... Welcher Schlag! Und doch, ich brachte es zu keiner Anklage gegen das Schicksal; ich vermochte nicht, zu jammern: »Zufall, wie hart triffst du mich,« denn in einer Zeit, wo rings das Unglück hagelte, über das eigene Unglückchen klagen, da hätte man vor sich selber sich seiner Selbstsucht schämen müssen. Und zudem: für mich gab es nur eine schreckliche Möglichkeit: Friedrichs Tod – alles Andere war nichts.

Ich musterte alle Anwesenden: kein Doktor Bresser.

Was nun beginnen? An wen mich wenden? Ich hielt einen Vorübergehenden an:

»Wo kann ich den Stationschef finden?«

»Sie meinen den Dirigenten der hiesigen Krankenstation, Stabsarzt S.? Dort steht er.«

Den hatte ich zwar nicht gemeint, aber vielleicht konnte er mir Auskunft über Doktor Bresser geben. Ich näherte mich der bezeichneten Stelle. Der Stabsarzt sprach eben mit einem vor ihm stehenden Herrn:

»Es ist ein Elend«, hörte ich ihn sagen. »Man hat hier und in Turnau Depots für alle Hospitäler des Kriegsschauplatzes errichtet; die Gaben strömen massenhaft zu – Wäsche, Lebensmittel, Verbandzeug so viel man will – aber was damit beginnen? Wie abladen – wie sortieren – wie weitersenden? Es fehlt uns an Händen – wir würden hundert rührige Beamte brauchen –«

Schon wollte ich den Stabsarzt ansprechen, als ich einen Mann auf ihn zueilen sah, in dem ich – o Freude – Doktor Bresser erkannte. In meiner Erregung fiel ich dem alten Hausfreund um den Hals.

»Sie? Sie, Baronin Tilling? Was machen Sie denn hier?«

»Ich bin gekommen, zu helfen, zu helfen ... Ist Friedrich nicht in einem Ihrer Spitäler?«

»Ich habe ihn nicht gesehen.«

War mir diese Nachricht Enttäuschung oder Erleichterung? – Ich weiß es nicht. Er war nicht da ... also entweder tot oder unversehrt... übrigens, Bresser konnte unmöglich alle Verwundeten der Umgebung erkannt haben – ich mußte selber alle Lazarette absuchen.

»Und Frau Simon?« fragte ich weiter.

»Die ist schon seit mehreren Stunden hier ... eine herrliche Frau! Rasch entschlossen, umsichtig ... Jetzt ist sie eben beschäftigt, die hier liegenden Verwundeten in leerstehende Eisenbahnwaggons unterzubringen. Sie hat erfahren, daß in einem nahen Orte – in Horonewos – die Not am größten sei. Dort will sie hinfahren und ich begleite sie.«

»Ich auch Dokter Bresser! Lassen Sie mich mitkommen«...

»Wo denken Sie hin, Baronin Martha? Sie, so zart und verwöhnt – derlei harte, bitterharte Arbeit – – – –«

»Was soll ich sonst hier tun?« unterbrach ich. »Wenn Sie mein Freund sind, Doktor, helfen Sie mir mein Vorhaben ausführen ... ich will ja alles tun, jeden Dienst verrichten ... Stellen Sie mich der Frau Simon als freiwillige Krankenpflegerin vor und nehmen Sie mich mit – aus Barmherzigkeit nehmen Sie mich mit!«

»Wohlan, Ihr Wille geschehe. Da ist die tapfere Frau – kommen Sie« ...

Als mich Doktor Bresser zu Frau Simon geführt und mich derselben als Krankenpflegerin vorstellte, nickte sie mit dem Kopfe, wandte sich aber sogleich wieder ab, um einen Befehl zu erteilen. Ihre Züge konnte ich in dem zweifelhaften Lichte nicht erkennen.

Fünf Minuten später waren wir auf der Fahrt nach Horonewos. Ein Leiterwagen, der eben von dort Verwundete gebracht, diente uns als Fahrgelegenheit. Wir saßen auf dem Stroh, das vielleicht noch blutig war von der vorigen Fracht. Der Soldat, welcher neben dem Kutscher saß, hielt eine Laterne, welche unsteten Schein auf unsere Straße warf. »Böser Traum – böser Traum«; immer mehr und mehr hatte ich den Eindruck, einen solchen durchzumachen. Das Einzige, was mich an die Wirklichkeit meiner Lage mahnte und was mir zugleich eine Beruhigung war, war Doktor Bressers Nähe. Ich hatte meine Hand in die seine gelegt und sein anderer Arm unterstützte mich:

»Lehnen Sie sich an mich, Baronin Martha – armes Kind« sagte er sanft.

Ich lehnte mich an, so gut ich konnte, aber doch: welche Folterlage: Wenn man sein ganzes Leben lang gewohnt war, auf schwellenden Sitzen, sprungfederigen Wagen und weichen Betten zu ruhen, wie schwer fällt es da – zumal nach einer ermüdenden Tagereise in einem schüttelnden Leiterwagen zu sitzen, dessen harter Brettergrund nur mit einer Lage blutfeuchten Strohes gepolstert ist. Und ich war doch unverletzt – wie muß erst denen zu Mute sein, die mit zerschmetterten Gliedern, mit hervorstehenden Knochensplittern auf solchem Fuhrwerk über Stock und Stein gejagt werden?

Bleischwer fielen mir die Lider zu. Ein wehtuendes Schläfrigkeitsgefühl peinigte mich. Bei der Unbequemlichkeit meiner Lage – alle Glieder schmerzten mich – bei der Erregtheit meiner Nerven war ja Schlaf unmöglich; grausamer wirkte das nicht zu bannende Schlafbedürfnis. Gedanken und Bilder, so verworren wie Fieberträume, wirbelten in meinem Hirn. Alle die Schauerszenen, welche der Regimentsarzt erzählt hatte, wiederholten sich vor meinem Geist, teils mit den Worten des Erzählers selbst, teils als die Gesichts- und die Gehörsvorstellungen, welche diese Worte hervorgerufen hatten: ich sah die schaufelnden Totengräber, sah die Hyänen einherschleichen, hörte die verzweifelten Opfer des in Brand geschossenen Lazaretts schreien; und dazwischen fielen, als würden sie laut und in des Regimentsarztes Stimme gesprochen, Worte wie: Aaskrähen, Marketenderbude, Sanitätspatrouille. Das hinderte mich aber nicht daneben auch noch das Gespräch zu vernehmen, welches meine Wagengefährten halblaut miteinander führten: ... »Ein Teil der geschlagenen Armee flüchtete nach Königgrätz«, erzählte Doktor Bresser. »Die Festung aber war verschlossen und von den Wällen wurde auf die Flüchtigen geschossen – namentlich auf die Sachsen, die man in der Dämmerung für Preußen hielt. Hunderte stürzten sich in die Wallgräben und ertranken .... An der Elbe stockte die Flucht und die Verwirrung erreichte den höchsten Grad. Die Brücken waren von Pferden und Kanonen so vollgestopft, daß das Fußvolk keinen Platz mehr fand ... Tausende stürzten sich in die Elbe – auch Verwundete« ...

»Es soll entsetzlich sein in Horonewos«, sagte Frau Simon. »Alles von seinen Bewohnern verlassen – Dorf und Schloß. Sämtliche innere Räume zerstört und doch mit hilflosen Verwundeten angefüllt .... Wie wohl wird den Unglücklichen die Labung tun, die wir ihnen bringen! Aber es wird zu wenig – zu wenig sein!«

»Und zu wenig auch unsere ärztliche Hilfe«, versetzte Doktor Bresser. »Wir müßten unserer Hundert sein, um das Erforderliche tun zu können. Es fehlt an Instrumenten und Medikamenten – und hälfen uns auch diese? Die Überfüllung dieser Ortschaften ist derart, daß der Ausbruch gefährlicher Epidemien droht. Die erste Sorge ist stets die, so viel Verwundete als möglich wegzubefördern, aber ihr Zustand ist zumeist ein so jammervoller, daß kein Gewissen den Transport auf sich nehmen kann ... sie fortschaffen heißt, sie töten; sie dort lassen, heißt den Hospitalbrand herbeiführen – eine schwere Alternative! Was ich in diesen Tagen – seit der Schlacht von Königgrätz, Schauriges und Trauriges gesehen, das übersteigt alle Begriffe. Sie müssen sich auf das Schlimmste gefaßt machen, Frau Simon.«

»Ich habe langjährige Erfahrung und Mut. Je größer das Elend, desto mehr steigt meine Willenskraft.«

»Ich weiß. Dieser Ruf ist Ihnen vorausgegangen. Ich hingegen, wenn ich so viel Elend sehe, fühle allen Mut sinken und es stockt mir das Herz. Hunderte – ja Tausende von Hilfsbedürftigen um Hilfe flehen hören und nicht helfen können – es ist gräßlich! In all diesen um das Schlachtfeld eiligst errichteten Ambulancen fehlte es an Erquickungsmitteln; vor allem: kein Wasser. Die meisten vorhandenen Brunnen sind von den Bewohnern unbrauchbar gemacht worden ... weit und breit kein Stück Brot aufzutreiben .... Alle Räume, die ein Dach tragen: Kirchen, Meierhöfe, Schlösser, Hütten, sind mit Kranken gefüllt – alles, was einem Wagen gleicht, wird mit einer Ladung Verwundeter weggeführt ... Die Straßen bedecken sich nach allen Richtungen mit solchen Höllenkarren – denn wahrlich, was da an Leiden auf Rädern rollt, das ist höllisch. Da liegen sie – Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten – von Blut, Staub und Schmutz, bis zur Unkenntlichkeit entstellte, mit Wunden, für die es keine menschenmögliche Hilfe gibt, Klagetöne, Schreie ausstoßend, die nichts Menschliches haben – und doch: die noch schreien können, sind die Beklagenswertesten nicht ....«

»Da sterben wohl viele unterwegs?«

»Gewiß. Oder wenn sie abgeladen worden – in irgendeinem überfüllten Raum – enden sie still und unbemerkt auf dem ersten besten Bündel Stroh, auf welches sie sich fallen ließen. Manche still – manche aber auch in verzweifeltem Todeskampf tobend und rasend, die haarsträubensten Flüche ausstoßend .... Solche Flüche mußte wohl jener Herr Twinnig aus London gehört haben, der bei der Genfer Konferenz folgenden Vorschlag machte: »Wenn der Zustand eines Verwundeten nicht die geringste Hoffnung der Heilung übrig läßt, wäre es in diesem Falle nicht angemessen, daß man ihm erst den Trost der Religion spende, ihm, so weit es die Umstände gestatten, einen Augenblick der Sammlung lasse und dann seiner Agonie auf die wenigst schmerzliche Weise ein Ende mache? Man verhinderte dadurch, daß er wenige Augenblicke später stirbt, das Fieber im Gehirn und vielleicht die Gotteslästerung auf der Zunge.«

»Wie unchristlich !« rief Frau Simon.

»Was? Das Gnadenstoßgeben?«

»Nein – die Ansicht, daß eine inmitten der unerträglichsten Martern ausgestoßene Lästerung der Seele des Gemarterten gefährlich werden könne ... So ungerecht ist der Gott der Christen nicht und sicher nimmt er jeden gefallenen Krieger in Gnaden auf« ...

»Mohammeds Paradies wird auch jedem Türken zugesichert, der einen Christen erschlagen hat«, entgegnete Bresser. »Glauben Sie mir, geehrte Frau Simon, jene Gottheiten alle, welche als kriegslenkend dargestellt werden und deren Beistand und Segen die Priester und Befehlshaber den Kämpfern als Mordlohn versprechen, die sind alle für Lästerungen gleich taub wie für Bitten. Sehen Sie dort hinauf: jener Stern erster Größe, mit rötlichem Lichte – man sieht ihn nur alle zwei Jahre über unseren Häuptern flimmern – oder vielmehr leuchten, er flimmert nicht – das ist der Planet Mars – das dem Kriegsgott gewidmete Gestirn; jenem Gott, der in der alten Zeit so gefürchtet und geehrt wurde, daß er weit mehr Tempel besaß, als die Göttin der Liebe. Schon in der Schlacht bei Marathon, schon in dem engen Paß der Thermopylen hat jener Stern dem Kampf der Menschen blutfarbig vorgeleuchtet und zu ihm stiegen die Flüche der Gefallenen auf; ihn beschuldigten sie ihres Unglücks, während er ahnungslos und friedlich – damals wie heute – die Sonne umkreiste. Feindliche Gestirne? ... die gibt es nicht. Der Mensch hat keinen anderen Feind, als den Menschen – der aber ist grimmig genug.«

»Und auch keinen anderen Freund«, setzte Bresser nach einer kleinen Pause hinzu. Davon geben Sie selber ein Beispiel, hochherzige Frau, Sie sind –«

»O Doktor!« unterbrach Frau Simon. »Schauen Sie – dort, der Flammenschein, am Horizont ... sicherlich ein brennendes Dorf!«

Ich öffnete die Augen und sah den roten Schein.

»Nein«, sagte Doktor Bresser – »es ist der aufgehende Mond.«

Ich versuchte, eine bequemere Stellung einzunehmen, und setzte mich ein wenig auf. Fortan wollte ich vermeiden, die Augen zu schließen: dieser Zustand des Halbschlafes mit dem Bewußtsein des Nichtschlafens, worin die entsetzlichen Phantasiebilder ihren wilden Reigen aufführten – das war gar so qualvoll ... lieber an dem Gespräche der beiden teilnehmen und mich von den eigenen Gedanken losreißen.

Aber der Mann und die Frau waren verstummt. Sie blickten nach der Stelle, wo nun wirklich das Nachtgestirn emporstieg. Und nach einer Weile fielen meine Augen doch wieder zu. Diesmal war es der Schlaf. In der einen Sekunde, in der ich fühlte, daß ich einschlief, daß die Welt um mich aufhörte zu bestehen, empfand ich solche Wonne des Nichtseins, daß mir selbst der Bruder meines Beglückers – der Tod – ganz willkommen gewesen wäre.

Ich weiß nicht, wie lange Zeit ich in dieser negativ-seligen Existenzentrückung zubrachte – aber plötzlich und gewaltsam wurde ich herausgerissen. Kein Lärm, keine Erschütterung war es, was mich geweckt hatte, sondern ein Qualm unerträglich verpesteter Luft.

»Was ist das?!

Gleichzeitig mit mir riefen auch die anderen diese Frage aus.

Unser Wagen bog um eine Ecke und am Wegrand ward uns die Antwort. Vom Monde hell beleuchtet, ragte da eine weiße Mauer empor, vermutlich eine Kirchhofmauer. Jedenfalls hatte sie als Schutzwehr gedient – am Fuße derselben, aufgeschichtet, lagen zahlreiche Leichen ... Der Verwesungsgeruch, der von diesen toten Körpern aufstieg, war es, der mich aus dem Schlaf gerissen hatte. Als wir vorbeifuhren, hob sich ein dichter Schwarm von Raben und Krähen kreischend von dem Leichenhaufen empor, flatterte eine Zeitlang – wie schwarzes Gewölk, gegen den hellen Himmelhintergrund und ließ sich dann wieder zum Schmause nieder ...

»Friedrich, mein Friedrich!«

»Beruhigen Sie sich, Baronin Martha«, tröstete mich Bresser; »Ihr Mann konnte nicht dabei gewesen sein.«

Der kutschierende Soldat hatte sein Gespann angetrieben, um schneller aus dem Bereiche des mephitischen Dunstes hinwegzukommen: das Fuhrwerk rasselte und stolperte dahin, als wären wir auf wilder Flucht. Ich glaubte, die Pferde gingen durch ... zitternde Angst erfaßte mich. Mit beiden Händen klammerte ich mich an Bressers Arm; aber den Kopf mußte ich zurückwenden, um dorthin, nach jener Mauer zu schauen und – war es das täuschende Licht des Mondes, waren es die Bewegungen der auf ihre Beute zurückgekehrten Vögel? – mir war es, als regte sich diese ganze Schar von Toten, als streckten uns die Leichname die Arme nach, als rüsteten sie sich, uns zu verfolgen ...

Ich wollte schreien, aber die furchtgepreßte Kehle versagte mir den Dienst.

Wieder bog der Wagen um eine Straßenecke.

»Hier sind wir, das ist Horonewos«, hörte ich den Doktor sagen, und er befahl dem Kutscher, zu halten.

»Was beginnen wir mit der Frau«, klagte Frau Simon – »die wird uns eher ein Hindernis sein – statt einer Hilfe.«

Ich raffte mich auf:

»Nein, nein,« sagte ich – »es ist mir jetzt besser ... Ich will Ihnen helfen, so gut ich kann.«

Wir befanden uns inmitten des Ortes, vor dem Tore eines Schlosses. »Hier wollen mir zuerst sehen, was sich tun läßt«, sagte der Doktor. Das Schloß, von seinen Besitzern verlassen, soll vom Keller bis zum Dache mit Verwundeten angefüllt sein.«

Wir stiegen ab. Ich konnte mich kaum auf den Füßen halten, strengte aber meine äußerste Kraft an, um dies nicht merken zu lassen.

»Vorwärts!« sagte Frau Simon. »Haben wir alle unsere Gepäcksachen? Was ich mitführe, wird den Leuten Labung bringen.«

»Auch in meinem Köfferchen befinden sich Stärkungsmittel und Verbandszeug,« sagte ich.

»Und meine Handtasche enthält Instrumente und Arzneien«, fügte Bresser hinzu, dann gab er den uns begleitenden Soldaten die nötigen Befehle: Zwei sollten bei den Pferden bleiben, die übrigen mit uns kommen.

Wir traten unter das Schloßtor. Dumpfe Klagelaute von verschiedenen Seiten .... Alles finster – –

»Licht! Da macht doch vor allem Licht!« schrie Frau Simon.

O weh, alles mögliche hatten wir mitgebracht: Schokolade und Fleischextrakt, Zigarren und Leinwandstreifen – aber an eine Kerze hatte niemand gedacht. Keine Möglichkeit, das Dunkel, das uns und die Unglücklichen umgab, aufzuhellen! Nur eine Schachtel Zündhölzer, welche der Doktor in der Tasche trug, half uns für einige Sekunden die schrecklichen Bilder zu sehen, welche diese Stätte des Elends füllten. Der Fuß glitt auf dem von Blut schlüpfrigen Boden aus, wenn man sich weiter bewegen wollte. Was nun? Zu den hundert Verzweifelten, welche hier stöhnten und seufzten, waren nur noch ein paar Verzweifelnde und Seufzende mehr hinzugekommen: »Was nun, was nun?«

»Ich will das Haus des Pfarrers aufsuchen«, sagte Frau Simon, »oder sonst im Dorfe Beistand holen. Kommen Sie, Doktor, geleiten Sie mich mit Ihren Streichhölzern zum Ausgang zurück; und Sie, Frau Martha, bleiben indessen hier –«

Hier, allein – im Finstern, inmitten dieser wimmernden Leute, in dem erstickenden Geruch? Das war eine Lage! Mir schauderte bis in das Knochenmark. Aber ich widersprach nicht.

»Ja,« sagte ich, – »ich bleibe an dieser Stelle und warte, bis Sie mit Licht zurückkommen.«

»Nein,« rief Bresser, indem er meinen Arm in den seinen schob, »kommen Sie mit – Sie dürfen in diesem Fegefeuer nicht zurückbleiben – unter den vielleicht fiebertollen Menschen.«

Ich war dem Freunde für dieses Vorgehen dankbar und klammerte mich fest an seinen Arm – das Zurückbleiben in diesen Räumen hätte mich vielleicht wahnsinnig gemacht vor Angst .... Ach, ich war doch ein feiges, hilfloses Geschöpf, dem Unglück und dem Schrecken nicht gewachsen, in welche ich mich da begeben hatte .... Warum war ich nicht zu Hause geblieben? Dennoch, wenn ich Friedrich wiederfände? Wer weiß, ob er nicht in diesen dunklen Räumen lag, die wir eben verließen? Ich rief – während des Hinausgehens – öfter seinen Namen, aber das gehoffte und gefürchtete »Hier bin ich, Martha!« ward mir nicht zurückgerufen.

Wir traten wieder ins Freie. Der Wagen stand noch auf derselben Stelle. Doktor Bresser entschied, daß ich wieder aufsteigen sollte. »Frau Simon und ich gehen indessen im Dorfe Hilfe suchen« sagte er, »und Sie bleiben hier.«

Ich fügte mich gern, denn meine Füße konnten mich kaum tragen. Der Doktor half mir aufsteigen und richtete mir mit dem umliegenden Stroh einen Sitz zurecht. Zwei Soldaten blieben bei dem Wagen zurück. Die übrigen wurden von Frau Simon und dem Doktor mitgenommen.

Nach einer halben Stunde ungefähr kam die ganze Expedition zurück. Erfolglos. Der Pfarrhof zerstört, wie alles andere, und leer; sämtliche Häuser Ruinen; nirgends ein Licht aufzutreiben gewesen: – es blieb jetzt nichts anderes übrig, als den Anbruch des Tages abzuwarten. Wieviele von den Unglücklichen, denen unser Kommen schon Hoffnung erweckt hatte und welche unsere Hilfe jetzt noch hätte retten können, würden in dieser Nacht wohl sterben?

War das eine lange, bange Nacht! Obwohl tatsächlich nur noch drei bis vier Stunden bis zu Sonnenaufgang vergingen, wie endlos mußten uns diese Stunden scheinen, deren Verlauf – statt durch die Pendelschläge einer Uhr – durch die ohnmächtigen Hilferufe leidender Menschen markiert war.

Endlich dämmerte der Morgen. Jetzt konnte gehandelt werden. Frau Simon und Doktor Bresser machten sich neuerdings auf den Weg, um vielleicht doch noch einige der versteckten Dorfbewohner aufzustöbern. Es gelang. Aus den Trümmern krochen hier und da ein paar Bauern hervor – zuerst störrisch und mißtrauisch; als jedoch Doktor Bresser sie in ihrer Muttersprache anredete und Frau Simon mit ihrer sanften Stimme ihnen zusetzte, ließen sie sich herbei, ihre Dienste zu leihen. Es hieß vor allem, noch sämtliche anderen versteckten Einwohner auftreiben, damit sie bei der Arbeit behilflich seien: die umherliegenden Toten begraben, die Brunnen instand setzen, um für die Lebenden Wasser zu schöpfen; die auf den Wegen zerstreuten Feldkessel zusammensuchen, um Geschirre zu schaffen; die Tornister der Gestorbenen und Gefallenen ausleeren und die darin befindliche Wäsche für die Verwundeten verwenden. Jetzt kam auch ein preußischer Stabsarzt mit Leuten und Hilfsmitteln an – und so konnte endlich mit einigem Erfolg daran gegangen werden, den Unglücklichen Hilfe zu bringen. Nun war auch für mich der Augenblick gekommen, da ich vielleicht denjenigen finden würde, auf dessen vermeintlichen Ruf ich die unselige Fahrt unternommen; dieser Gedanke peitschte meine gebrochenen Kräfte wieder einigermaßen auf.

Frau Simon begab sich in Begleitung des preußischen Stabsarztes vorerst in das Schloß, wo die meisten Verwundeten lagen. Doktor Bresser wollte die übrigen Räume des Dorfes durchsuchen. Ich zog es vor, mich dem Freunde anzuschließen und ging mit diesem. Daß Friedrich in dem Schlosse nicht lag, hatte der Doktor bereits auf einem früheren Rundgang konstatiert.

Wir hatten kaum hundert Schritte gemacht, als laute Klagerufe an unser Ohr schlugen. Dieselben drangen aus dem offenen Tor der kleinen Dorfkirche. Wir traten ein. Über hundert Menschen lagen auf dem harten Steinboden – schwerverwundet, verstümmelt. Fiebernden und irrenden Blickes schrien und jammerten sie nach Wasser. Schon an der Schwelle war mir zum Umsinken – ich schritt aber dennoch die Reihen durch: Ich suchte ja Friedrich ... Er war nicht da.

Bresser mit seinen Leuten machten sich bei den Armen zu schaffen; ich stützte mich an einen Seitenaltar und blickte mit unnennbarem Schaudern auf das Jammerbild.

Und das war der Tempel des Gottes der ewigen Liebe – das waren die wundertätigen Heiligen, welche da in den Nischen und an den Wänden fromm die Hände falteten und ihre Köpfe unter den goldstrahlenden Glorienschein emporhoben? ...

»O Mutter Gottes, heilige Mutter Gottes ... einen Tropfen Wasser ... erbarme dich!« hörte ich einen armen Soldaten flehen. Das hatte er zu dem buntbemalten, tauben Bilde wohl schon tagelang vergebens gebetet. – O, ihr armen Menschen, ehe ihr nicht dem Gebot der Liebe gehorcht, das ein Gott in eure Herzen gelegt hat, werdet ihr immer vergebens die Liebe Gottes anrufen – so lange unter euch die Grausamkeit nicht überwunden ist, habt ihr von himmlischem Mitleid nichts zu hoffen ...

* * *

Was ich an diesem selben Tage noch alles sehen und erfahren mußte!

Nicht wieder erzählen, das wäre freilich das einfachste und verlockendste. Man schließt die Augen und wendet den Kopf ab, wenn gar zu Grauenhaftes sich ereignet – auch das Gedächtnis hat die Fähigkeit zu solchem Augenschließen. Wenn doch nichts mehr zu helfen ist – was läßt sich an der starren Vergangenheit ändern? – wozu sich und die anderen mit dem Wühlen in Entsetzlichen quälen?

Mehr noch. Nicht nur mein eigenes Gedächtnis will ich anstrengen – meine Auffassungskraft reichte an die Wucht der Geschehnisse gar nicht heran –; ich werde noch hinzufügen, was andere Zeugen jener Szenen – was Frau Simon, Doktor Brauer und der sächsische Feldhospital-Kommandant, Doktor Neundorff (man vergleiche des letztgenannten erschütterndes Buch »Unter dem Roten Kreuz«), berichtet haben.

Wie in Horonewos, so hatte die Hölle noch in vielen anderen der umliegenden Ortschaften ihre Filialen. So war es in Speti, in Hradek, in Problus. So in Pardubitz, wo, als es die ersten Preußen besetzten, ›... über tausend Schwerverwundete, Operierte und Amputierte umherlagen, teils sterbend, teils schon gestorben, Leichen zwischen Verscheidenden und solchen, welche ihr Ende ersehnten. Viele nur in blutigen Hemden, daß man nicht einmal wissen konnte, welches Landes Kinder sie waren. Alle die, welche noch Spuren des Lebens in sich trugen, schreiend nach Wasser und Brot, sich krümmend unter den Schmerzen ihrer Wunden und um den Tod gleichwie um eine Wohltat flehend.‹

»Roßnitz«, so schreibt Doktor Brauer in seinen Briefen, »Roßnitz, dieser Ort, dessen Bild bis in meine Sterbestunde vor meinem Gedächtnisse stehen wird, Roßnitz, wohin ich am 6. Tage nach der mörderischen Schlacht von den Johannitern geschickt wurde und wo das größte Elend, welches sich menschliche Einbildungskraft vorzustellen vermag, noch an diesem Tage herrschte. Ich fand daselbst unseren R. mit 650 Verwundeten, welche in elenden Scheunen und Ställen, ohne Verpflegung, mitten unter Toten und Halbtoten, teilweise seit Tagen in ihrem eigenen Kote liegend. Hier war es, wo ich nach Errichtung des Grabhügels des gefallenen Oberstleutnant v. F. so von Schmerz überwältigt wurde, daß ich eine Stunde lang die heißesten Tränen vergoß und mich trotz des Aufwandes meiner ganzen moralischen Kraft kaum zu fassen vermochte. Obgleich ich als Arzt gewohnt bin, menschliches Elend in allerlei Gestalt zu erblicken und in der Ausübung meines Berufes es lernte, den Jammer der gequälten menschlichen Natur zu ertragen, so entquollen doch in der Tat hier meinen Augen unaufhaltsame Tränen. Hier in Roßnitz war es, wo ich am zweiten Tage, als ich erkannte, daß unsere Kräfte solchem Elend nicht gewachsen seien, den Mut verlor und zu verbinden aufhörte.« – – –

»... In welchem Zustand waren diese 600 Männer (diesmal spricht Doktor Naundorff). Es ist unmöglich, dies mit Wahrheit zu schildern. An den noch immer offenen Wunden saugten Mücken, mit denen sie bedeckt waren; im Fieber funkelnde Blicke irrten forschend umher und suchten nach irgendeiner Hilfe – nach Labung, nach Wasser, nach Brot! Mantel, Hemd, Fleisch und Blut bildeten bei den meisten eine widerliche Mischung. Würmer begannen sich darin zu erzeugen und einzufressen. Ein abscheulicher Geruch erfüllte jeglichen Raum. Alle diese Soldaten lagen auf der nackten Erde, nur wenige fanden etwas Stroh, auf welches sie ihre elenden, verstümmelten Körper betten konnten. Einige, welche nur lehmigen, durchweichten Boden unter sich hatten, sind in dem Schlamme desselben halb versunken; sie vermögen nicht, sich aus ihm emporzuarbeiten; andere liegen in einer Pfütze greulichen Schmutzes, den zu beschreiben jede Feder sich sträuben muß.«

»... In Masloved« – so erzählte Frau Simon – »ein Ort von ungefähr fünfzig Nummern, lagen – acht Tage nach der Schlacht – 700 Verwundete. Nicht sowohl ihr Jammergeschrei als ihre trostlose Verlassenheit drang zum Himmel empor. In einer einzigen Scheune waren allein 60 dieser Unglücklichen aufgeschichtet. Eine jede ihrer Wunden war an sich schon schwer durch den hilflosen Zustand, den Mangel an Pflege und Nahrung waren dieselben hoffnungslos geworden; fast alle waren brandig. Zerschossene Glieder bildeten nur noch faulende Fleischstücke, Gesichter nur noch eine mit Schmutz bedeckte, zerronnene Blutmasse, in welcher eine unförmliche schwarze Öffnung den Mund vorstellte, welchem gräßliche Töne entquollen. Die fortschreitende Verwesung trennte ganz abgestorbene Teile von diesen elenden Körpern. Lebendige liegen neben Toten gebettet, die in Fäulnis überzugehen beginnen und für welche die Würmer sich rüsten.

Diese sechzig Menschen, sowie der größte Teil der übrigen, lagen seit einer Woche auf derselben Stelle. Ihre Wunden waren entweder gar nicht, oder nur in unzureichender Weise verbunden worden; seit dem Tage der Schlacht lagen sie unfähig sich von der Stelle zu bewegen, nur mangelhaft genährt, ohne hinreichendes Wasser. Unter sich ein durch Blut und Unrat verfaulendes Lager, so verbrachten sie acht Tage! Lebendige Leichname, durch deren zuckende Glieder eine vergiftete Blutwelle nur noch träge ihren Umlauf vollendet. Sie hatten noch nicht sterben können, und doch – wie durften sie je erwarten, je wieder lebendig zu werden? Was ist dabei des Staunens werter« – beschloß Frau Simon diesen Bericht – »die unendliche Lebenskraft der menschlichen Natur, welche da erduldet, und noch zu atmen vermag, oder der Mangel an ausreichender Hilfe?«

Das staunenswerteste ist – will mich bedünken – daß Menschen einander in solche Lage bringen, – daß Menschen, die so etwas gesehen, nicht kniend hinsinken und den leidenschaftlichen Eid schwören, gegen den Krieg zu kriegen: daß sie nicht – wenn sie Fürsten sind – das Schwert von sich schleudern oder – wenn sie keine Macht besitzen – nicht fortan ihr ganzes Wirken, in Wort und Schrift, in Denken, Lehren und Handeln dem einen Ziele widmen: Die Waffen nieder!

Frau Simon – sie nannten sie die »Lazarett-Mutter« – war eine Heldin. Wochenlang hatte sie in jenen Gegenden geweilt und alle Drangsale und Gefahren ertragen. Hunderte sind durch sie gerettet worden. Tag und Nacht arbeitete, schaffte, befehligte sie. Bald verrichtete sie die demütigsten Dienste an den Krankenlagern, bald kommandierte sie Transporte oder requirierte Lebensmittel. Wenn sie an einem Orte Hilfe geschafft, so eilte sie ohne Rast an einen anderen; sie ließ aus Dresden eine reiche Sendung kommen und führte dieselbe, trotz allen entgegenstehenden Schwierigkeiten, nach den Punkten, welche der Hilfe bedurften; sie übernahm die Vertretung der patriotischen Vereine auf böhmischem Boden und errang sich da eine Stellung gleich derjenigen, welche Florence Nightingale in der Krim eingenommen.

Und ich? Gebrochen, trostlos, von Schmerz und Ekel überwältigt – nichts habe ich zu helfen vermocht. Schon in der Kirche – unsere erste Etappe – fiel ich auf den Stufen jenes Mariennaltars erschöpft zusammen, und Doktor Bresser hatte alle Mühe, mich wieder aufzurichten. Von dort schleppte ich mich an seiner Seite eine Strecke weiter, und wir kamen in eine solche Scheune, welche ein Bild bot, wie es Frau Simon beschrieben. In der Kirche wenigstens war ein weiter Raum, wo die Unglücklichen nebeneinander lagen, hier aber waren sie auf- und ineinander geschichtet – haufen- und knäuelweise; in die Kirche waren doch Pflegende – vielleicht ein durchmarschierendes Sanitätskorps – gekommen, welche zwar mangelhafte, aber doch einige Hilfe geboten hatten; hier aber waren lauter ganz ungefunden Gebliebene – eine krabbelnde, wimmernde Masse halbverfaulter Menschenreste ... Erstickender Ekel packte mich an der Kehle, bitterster Jammer am Herzen – mir war, als fühlte ich letzteres entzwei brechen – und ich stieß einen gellenden Schrei aus. Dieser Schrei ist das letzte, was mir von jener Szene in Erinnerung geblieben.

Als ich wieder zur Besinnung kam, befand ich mich in einem fahrenden Eisenbahnwagen. Mir gegenüber saß Doktor Bresser. Als er gewahrte, daß ich die Augen geöffnet und erstaunt und forschend um mich schaute, ergriff er meine Hand.

»Ja, ja, Frau Martha,« sagte er, »dies ist ein Coupé zweiter Klasse – Sie träumen nicht. Sie sind hier in Gesellschaft einiger leichtverwundeter Offiziere und Ihres Freundes Bresser, und wir fahren nach Wien.«

So war es. Der Doktor hatte einen Transport Verwundeter von Horonewos nach Königshof gebracht, und von dort war ihm ein anderer Transport zur Beförderung nach Wien anvertraut worden. Mich Ohnmächtige – in der doppelten Bedeutung des Wortes ohnmächtig – hatte er mitgenommen und brachte mich nach Hause. Ich hatte mich auf jenen Stätten des Elends als völlig unnütz und unfähig erwiesen, als ein Hindernis und eine Bürde; Frau Simon war sehr froh, als Doktor Bresser mich fortschaffte. Und ich mußte zugeben, daß es so am besten war. Aber Friedrich? – Ich hatte ihn nicht gefunden. Gott sei Dank – daß ich ihn nicht gefunden: so war noch nicht alle Hoffnung tot: und hätte ich gar den geliebten Mann unter jenen Jammergestalten erkennen müssen – ich wäre wahnsinnig geworden! Vielleicht würde ich zu Hause einen Brief meines Friedrich vorfinden ... Diese Hoffnung – nein, Hoffnung ist zu viel gesagt: der Gedanke an diese bloße Möglichkeit – goß mir einen Balsam in die wunde Seele. Ja wund – wund fühlte ich mein Inneres ... Das Riesenweh, welches ich gesehen, hatte mir so tief ins eigene Herz geschnitten, daß mir war, als sollte es nie mehr ganz geheilt werden können. – Auch wenn ich meinen Friedrich wiederfände, auch wenn mir eine lange Zukunft von Glanz und Liebe beschert würde, könnte ich denn jemals vergessen, daß so viele andere meiner armen Menschenbrüder und Schwestern so unsägliches Unglück tragen müssen? So lange tragen müssen, als sie nicht zur Einsicht kommen, daß dieses Unglück nicht Verhängnis, sondern Verbrechen ist. – –

Ich schlief beinahe während der ganzen Fahrt. Doktor Bresser hatte mir ein leichtes Narkotikum eingegeben, damit ein langer und fester Schlaf meine durch die Erlebnisse von Horonewos so erschütterten Nerven wieder einigermaßen beruhige.

Als wir auf dem Wiener Bahnhof ankamen, stand schon mein Vater da, mich abzuholen. Doktor Bresser, der an alles dachte, hatte nach Grumitz telegraphiert. Ihm selbst wäre es nicht möglich gewesen, mich dahin zu begleiten, da er seine Verwundeten in das Hospital zu bringen hatte und dann unverzüglich wieder nach Böhmen zurückkehren wollte.

Mein Vater umarmte mich schweigend und auch ich fand kein Wort zu sagen. Dann wandte er sich an Doktor Bresser.

»Wie soll ich Ihnen danken? Hätten Sie nicht diese kleine Verrückte in Schutz genommen – –«

Aber der Doktor drückte uns eilig die Hände.

»Ich muß weg,« sagte er, »ich habe Dienst. Kommen Sie glücklich nach Hause. Die junge Frau braucht Schonung, Exzellenz ... ist stark erschüttert worden ... keine Vorwürfe, kein Ausfragen ... schnell ins Bett: ... Orangenblütenwasser ... Ruhe, Adieu!« Und fort war er.

Mein Vater legte meinen Arm in den seinen und führte mich durch das Gedränge dem Ausgang zu. Da stand wieder eine lange Reihe von Ambulanzwagen. Wir mußten eine Strecke zu Fuß gehen, um zu der Stelle zu gelangen, wo unser Wagen wartete.

Die Frage: »Ist mittlerweile Nachricht von Friedrich gekommen?« stieg mir wiederholt zu den Lippen empor, ich fand aber nicht den Mut, sie auszusprechen. Endlich – wir waren schon ein Stück gefahren und mein Vater, war noch immer stumm – brachte ich dieselbe hervor:

»Bis gestern abend nicht,« lautete die Antwort. »Möglich, daß wir heute Nachricht finden. Ich bin nämlich schon gestern, gleich nach Empfang des Telegramms, zur Stadt gefahren. Ach, hast du uns Angst gemacht, du närrisches Ding! Auf die Schlachtfelder fahren, dem grimmigen Feind entgegen – diese Leute sind ja wie die Wilden ... Durch ihre Spitzkugelsiege sind sie ja ganz berauscht ... und überhaupt: disziplinierte Soldaten sind sie ja nicht, diese Landwehrleute – von solchen kann man sich auf die ärgsten Untaten gefaßt machen, und du – eine Frau – läufst da mitten hinein; du – nun der Doktor hat mir verordnet, dir keine Vorwürfe zu machen –«

»Wie geht es meinem Sohne Rudolf?«

»Der schreit und heult nach dir, sucht dich im ganzen Haus, will nicht glauben, daß du weggereist seiest, ohne ihm einen Abschiedkuß zu geben. Und nach den anderen fragst du nicht? nach Lilli, Rosa, Otto, Tante Marie? Du kommst mir überhaupt so teilnahmslos vor –«

»Wie geht es allen? Hat Konrad geschrieben?«

»Gut geht es allen. Von Konrad kam gestern ein Brief – es ist ihm nichts geschehen. Lilli ist selig. Du wirst sehen, von Tilling wird nächstens auch gute Nachricht eintreffen. Leider ist in politischer Hinsicht nichts Gutes zu erwarten. Du hast doch von dem großen Unglück gehört?«

»Welches ... Ich habe in der Zeit gar nichts anderes gesehen als großes Unglück.«

»Ich meine Venetien – unser schönes Venetien fortgeschleudert – dem Intriganten Louis Napoleon auf dem Präsentierteller gereicht! Und das nach solchen glänzenden Siegen, wie wir bei Custozza errungen haben ... Statt unsere Lombardei zurückzunehmen, auch noch unser Venedig hingeben! Freilich, dadurch sind wir die Feinde im Süden los, haben auch den Louis Napoleon für uns und können jetzt mit aller Wucht für Sadowa Rache nehmen, den Preußen aus dem Lande hinauswerfen, ihn verfolgen und uns Schlesien holen. Benedek hat große Fehler begangen, jetzt aber wird der Oberbefehl in die Hände des glorreichen Feldherrn der Südarmee gelegt ... Du antwortest nicht? Nun denn, so will ich dir, immer nach Bressers Verordnung, Ruhe lassen.«

Nach zweistündiger Fahrt kamen wir in Grumitz an.

Als unser Wagen im Schloßhof einfuhr, stürzten uns die Schwestern entgegen.

»Martha, Martha« – riefen beide schon von weitem: »Er ist da!«

Und nochmals – am Wagenschlag:

»Er ist da, Martha!«

»Wer!«

»Friedrich, dein Mann.«

* * *

Ja – so war es. Erst gestern, spät am Abend war Friedrich mit einem Verwundetentransporte von Böhmen nach Wien und von dort hierher gebracht worden. Er hatte eine Kugel in das Bein bekommen, eine Wunde, die ihn augenblicklich dienstunfähig und pflegebedürftig machte, die jedoch gänzlich ungefährlich war.

Aber auch die Freude ist schwer zu ertragen. Die mir von meinen Schwestern so unvorbereitet zugeworfene Nachricht: »Friedrich ist da« wirkte ebenso, wie die Schrecknisse der vergangenen Tage: sie raubte mir die Besinnung.

Man mußte mich aus dem Wagen in das Schloß tragen und zu Bett bringen. Hier verbrachte ich – war es die Nachwirkung des Narkotikums, war es die Heftigkeit des Freudenschlages? – mehrere Stunden in bald schlafender, bald delirierender Bewußtlosigkeit. Als ich zu mir kam und mich in meinem Bette sah, da glaubte ich, daß ich aus einem schweren Traum erwachte und daß ich von Grumitz gar nicht fortgekommen war. Der Brief Bressers, mein Entschluß nach Böhmen abzureisen, meine Erlebnisse dortselbst – die Rückfahrt, die angekündigte Heimkehr Friedrichs: Alles nur geträumt ...

Ich blickte auf. Am Fuße des Bettes stand meine Kammerjungfer.

»Ist mein Bad bereit?« fragte ich, »ich will aufstehen.«

Jetzt stürzte aus einer Ecke des Zimmers Tante Marie hervor:

»Ach Martha, armer Schatz, bist du endlich wach und bei Sinnen – Gott sei Dank! Ja, ja, steh auf – und ja, ja, nimm dein Bad, das wird wohl tun ... wenn man so von Straßen- und Eisenbahnstaub bedeckt ist, wie du –«

»Eisenbahnstaub – was meinst du denn?«

»Schnell, steh' auf – Netti, richten Sie alles vor. Friedrich vergeht schon vor Ungeduld, dich zu sehen.«

»Friedrich, mein Friedrich!!!«

Wie oft hatte ich in den letzten Tagen diesen Namen so schmerzlich ausgerufen – aber jetzt war es ein Jubelruf – denn nunmehr hatte ich verstanden; es war kein Traum; ich war fortgewesen und heimgekehrt und sollte den Gatten wiedersehen!

Eine Viertelstunde später trat ich bei ihm ein. Allein. – Ich hatte mir ausgebeten, daß niemand mit mir komme. Bei unserem Wiederfinden sollte kein Dritter anwesend sein.

»Friedrich!« – »Martha!« Ich war auf das Ruhebett hingestürzt, auf dem er lag und schluchzte an seiner Brust.

* * *

Es war dies das zweitemal im Leben, daß mir der geliebte Gatte aus den Gefahren des Krieges zurückgegeben ward.

O die Seligkeit, ihn wieder zu haben! Wie kam ich, gerade ich dazu, mitten aus der Schmerzensflut, in der so viele untergegangen, an ein sicheres, glückliches Ufer gelangt zu sein? Wohl denen, die in solcher Lage freudig den Blick zum Himmel heben und dem Lenker oben warmen Dank emporsenden; durch diesen Dank, den sie, weil er demütig gesprochen wird, auch für demütig halten, von dem sie gar nicht ahnen, wie anmaßend und selbst überhebend er im Grunde ist, fühlen sie sich entlastet; damit haben sie für den ihnen verliehenen Vorzug, den sie Huld und Gnade nennen, nach ihrer Meinung genügend quittiert. Ich war das nicht imstande. Wenn ich an die Elenden dachte, die ich an jenen Jammerstätten gesehen, und an die beklagenswerten Mütter und Frauen dachte, deren Lieben von demselben Schicksal, das mich begünstigt hatte, in Qual und Tod gestürzt worden –, da konnte ich unmöglich so unbescheiden sein diese Begegnung als eine göttlich beabsichtigte anzunehmen, für die ich berechtigt wäre, zu danken. Mir fiel ein, wie neulich einmal Frau Walter, unsere Haushälterin, mit einem Besen über einen Schrank fuhr, worauf eine Schar zuckerwitternder Ameisen wimmelte – so fegte das Schicksal über die böhmischen Schlachtfelder weg; – die armen schwarzen Arbeiterinnen waren zumeist zerdrückt, getötet, verstreut, nur einige blieben unversehrt. Wäre es wohl von diesen vernünftig und angemessen gewesen, wenn sie der Frau Walter dafür innigen Dank emporgesendet hätten? ... Nein, ich konnte durch die Freude des Wiedersehens, so groß diese auch war, das Weh aus meinem Herzen nicht vollständig bannen – ich konnte nicht und wollte nicht. Zu helfen war ich nicht imstande gewesen; verbinden, pflegen, warten – wie jene barmherzigen Schwestern, wie die tapfere Frau Simon es getan – dazu hatten meine Kräfte nicht gereicht. Aber die Barmherzigkeit, die aus Mitgefühl besteht, die habe ich den armen Mitgeschöpfen doch angedeihen lassen und die durfte ich nicht, in egoistischem Vollvergnügen, ihnen wieder entziehen – ich durfte nicht vergessen.

Aber wenn auch nicht frohlocken und danken – lieben, den Wiedergefundenen hundertfach zärtlich in mein Herz schließen: das durfte ich wohl ....

»O Friedrich, Friedrich!« wiederholte ich unter Tränen und Liebkosungen, »habe ich dich wieder!«

»Und du wolltest mich suchen und pflegen? Wie heldenhaft und wie töricht, Martha!«

»Töricht, ja – das sehe ich ein. Die rufende Stimme, die mich fortzog, war Einbildung, war Aberglaube, denn du riefst mich nicht. Aber heldenhaft? Nein. Wenn du wüßtest, wie feig ich mich dem Elend gegenüber erwies! Ich habe Entsetzliches gesehen, Friedrich, was ich nie vergessen werde. O unsere schöne Welt, wie kann man sie nur so verderben, Friedrich? Eine Welt, in der zwei Wesen einander so lieben können, wie ich und du – in der solches Feuerglück lodern kann, wie unser Einssein – wie mag die nur so töricht sein, die Flammen des tod- und jammerbringenden Hasses zu schüren?«

»Ich habe auch etwas Entsetzliches gesehen, Martha – etwas, das ich nie vergessen kann. Denke dir – auf mich losstürzend, mit gehobener Klinge – es war während eines Kavalleriegefechts bei Sadowa – auf mich losstürzend – Gottfried von Tessow.«

»Tante Korneliens Sohn?«

»Derselbe. Er hat mich zur rechten Zeit erkannt und senkte die bereits hiebbereite Waffe –«

»Da hat er eigentlich gegen seine Pflicht gehandelt, wie? Einen Feind seines Königs und Vaterlandes verschont – unter dem nichtigen Vorwand, daß derselbe ein lieber Freund und Vetter sei ...«

»Das arme Bürschchen! Kaum hatte er den Arm sinken lassen, so sauste ein Säbel über seinen Kopf ... Es war mein Nebenmann, ein junger Offizier der seinen Oberstleutnant schützen wollte und –«

Friedrich hielt inne und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen.

»Getötet?« fragte ich schaudernd.

Er nickte.

»Mama, Mama!« kam es vom Nebenzimmer her und die Tür wurde aufgerissen. Es war meine Schwester Lilli, den kleinen Rudolf an der Hand,

»Verzeih', daß ich euer Wiedersehen-tête-à-tête störe, aber dieser da verlangt gar zu stürmisch nach seiner Mama.«

Ich eilte dem Kind entgegen und preßte es leidenschaftlich an mein Herz. – Ach die arme, arme Tante Kornelie!

* * *

Noch am selben Tag kam der aus Wien telegraphisch gerufene Chirurg im Schlosse an und nahm Friedrichs Wunde in Behandlung. Sechs Wochen äußerste Ruhe – und die Heilung würde eine vollständige sein.

Daß mein Mann den Dienst quittieren würde, das stand nun bei uns beiden fest. Natürlich konnte dies erst nach Beendigung des Krieges ausgeführt werden. Übrigens konnte man den Krieg füglich als beendet betrachten. Nach dem Verzicht auf Venedig war der Konflikt mit Italien beseitigt. Napoleons Freundschaft war gewonnen und man würde imstande sein, mit dem nordischen Sieger einen glimpflichen Frieden abzuschließen. Unser Kaiser selbst wünschte sehnlichst, dem unglücklichen Feldzug ein Ende zu machen und wollte nicht noch seine Hauptstadt einer Belagerung aussetzen. Die preußischen Siege im übrigen Deutschland, so der am 16. Juli stattgefundene Einzug der Preußen in Frankfurt a. M., verliehen dem Gegner einen gewissen Nimbus, der – wie alle Erfolge – auch bei uns zu Lande Bewunderung erzwang und eine Art Glauben weckte, daß es eine geschichtliche Mission sei, welche da von den Preußen mittels gewonnener Schlachten ausgeführt wurde. Das Wort »Waffenstillstand« – »Frieden« war nun einmal gefallen, und da konnte auf dessen Verwirklichung ebenso sicher gerechnet werden, wie man in Zeiten, wo die Drohung des Krieges einmal ausgesprochen, über kurz oder lang auf den Ausbruch des Krieges rechnen muß. Selbst mein Vater gab jetzt zu, daß unter den obwaltenden Umständen ein Aufheben der Feindseligkeiten angemessen wäre; die Armee war geschwächt, die Überlegenheit des Zündnadelgewehrs mußte anerkannt werden und ein Vormarsch der feindlichen Truppen nach der Hauptstadt, die Beschießung Wiens und nebstbei auch die Zerstörung von Grumitz: das waren Eventualitäten, welche auch meinem kampflustigen Herrn Papa nicht sonderlich zulächelten. Sein Vertrauen in die Unbesiegbarkeit der österreichischen Truppen war durch die Tatsachen denn doch stark erschüttert worden; und es ist überhaupt eine Neigung des menschlichen Geistes, von den laufenden Ereignissen anzunehmen, daß sie serienweise auftreten: daß auf Erfolg wieder Erfolg, auf Unglück wieder Unglück folgen müsse. Besser also, in der Unglücksserie innehalten – die Zeit der Genugtuung und der Rache würde schon kommen ...

Rache und immer wieder Rache? Jeder Krieg muß einen Besiegten aufweisen und wenn dieser nur in einem nächsten Krieg Genugtuung finden kann, einem nächsten, der natürlich wieder einen genugtuungheischenden Besiegten schaffen wird – wann nimmt das ein Ende? Wie kann Gerechtigkeit erlangt, wann altes Übel gesühnt werden, wenn als Sühnemittel immer wieder neues Unrecht angewendet wird? Keinem vernünftigen Menschen wird es einfallen, Tintenflecken mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegputzen zu wollen – nur Blut, das soll immer wieder mit Blut ausgewaschen werden!

Die in Grumitz obwaltende Stimmung war allgemein eine düstere. In der Ortschaft herrschte Panik: »Die Preußen kommen, die Preußen kommen« war auch hier – trotz der von mancher Seite gehegten Friedenshoffnungen – immer noch die ausgegebene Angstparole, und die Leute verpackten und vergruben ihre Kostbarkeiten; auch bei uns im Schlosse hatten Tante Marie und Frau Walter dafür gesorgt, daß das Familiensilber in ein geheimes Versteck gebracht werde. Lilli war in steter Sorge um Konrad, von welchem jetzt seit einigen Tagen die Nachrichten ausgeblieben waren; mein Vater fühlte sich in seiner patriotischen Ehre gekränkt und wir beide, Friedrich und ich, trotz des still in unseren Herzen ruhenden Glückes über unsere Wiedervereinigung, waren von dem miterlebten, so heftig mitempfundenen Unglück der Zeit aufs schmerzlichste erschüttert. Und von allen Seiten floß diesem Schmerze immer wieder neue Nahrung zu. In sämtlichen Zeitungsberichten, in allen Briefen aus Verwandten- und Bekanntenkreisen nichts als Klage und Trauer. Da war ein Brief von Tante Kornelie, welche ihr Unglück noch nicht kannte, worin sie in so rührenden Worten von der Furcht sprach, ihr einziges Kind etwa verlieren zu müssen – ein Brief, über den wir Zwei bittere Tränen vergossen. Und wenn wir abends im Kreise beisammen saßen, da gab es nicht heiteres, scherzgewürztes Geplauder, Musik, Kartenspiel und anregende Lektüre, sondern immer nur – gesprochen oder gelesen – Geschichten von Jammer und Tod. Wir lasen nichts anderes als Zeitungen und diese waren mit »Krieg« und nichts als »Krieg« gefüllt und was wir sprachen, bezog sich meist auf die Erfahrungen, welche Friedrich und ich von den böhmischen Schlachtfeldern zurückgebracht hatten. Meine Abreise dahin wurde mir zwar von allen sehr übel genommen, dennoch lauschten sie gespannt, wenn ich von den dortigen, teils selbsterlebten, teils mitgeteilten Ereignissen erzählte. Rosa schwärmte für Frau Simon und schwor, falls der Krieg andauern sollte, sich der sächsischen Samariterin anzuschließen. Dagegen protestierte natürlich unser Vater: »Mit Ausnahme der barmherzigen Schwestern und der Marketenderinnen hat kein Frauenzimmer im Krieg was zu suchen ... ihr seht ja, wie untauglich unsere Martha sich erwiesen hat. Das war ein unverzeihlicher Streich von dir, du tolles Kind – dein Mann sollte dich nachträglich dafür züchtigen.« Friedrich streichelte meine Hand: »Ja, eine Torheit war's – aber eine schöne.« – Wenn ich von den Schrecknissen, die ich selber gesehen, oder die mir meine Reisegefährten mitgeteilt, in gar zu unverhüllter Weise sprach, wurde ich oft von Tante Marie oder von meinem Vater rügend unterbrochen: »Wie kann man so abscheuliche Dinge wiederholen?« Oder: »Schämst du dich nicht, als Frau, als zarte Dame, so häßliche Worte in den Mund zu nehmen?« Als ich gar eines Abends von den Verstümmelten sprach und das Los derer beklagte, die im Namen des Mannesmuts, der Manneszucht und der Mannesehre in den Krieg getrieben, von dort zurückkehren müssen, ihrer Mannheit auf ewig beraubt – –

»Martha! Vor den Mädchen!!!« stöhnte Tante Marie; im Tone der höchsten sittlichen Entrüstung.

Da riß mir die Geduld: »O über eure Prüderie – und o über eure zimperliche Wohlanständigkeit! Geschehen dürfen alle Greuel, aber nennen darf man sie nicht. Von Blut und Unrat sollen die zarten Frauen nichts erfahren und nichts erwähnen, wohl aber die Fahnenbänder sticken, welche das Blutbad überflattern werden; davon dürfen Mädchen nichts wissen, daß ihre Verlobten unfähig gemacht werden können, den Lohn ihrer Liebe zu empfangen, aber diesen Lohn sollen sie zur Kampfesanfeuerung versprechen. Tod und Tötung hat nichts Unsittliches für euch, ihr wohlerzogenen Dämchen – aber bei der bloßen Erwähnung der Dinge, welche die Quellen des fortgepflanzten Lebens sind, müßt ihr errötend wegschauen. Das ist eine grausame Moral, wißt ihr das? Grausam und feig! Dieses Wegschauen – mit dem leiblichen und mit dem geistigen Auge – das ist an dem Beharren so vielen Elends und Unrechts schuld! Wer nur erst den Mut hätte, hinzuschauen, wo Mitgeschöpfe in Leid und Elend schmachten und den Mut hätte, über das Geschaute nachzudenken –«

»Ereifere dich nicht«, unterbrach Tante Marie, »wir können doch nicht, so viel wir auch zuschauen und nachdenken wollten, das Übel von der Erde wegschaffen – dieselbe ist nun einmal ein Jammertal und wird es immer bleiben.«

»Das wird sie nicht«, entgegnete ich und behielt so doch das letzte Wort.

* * *

»Die Gefahr, daß Frieden geschlossen wird, rückt immer näher« klagte eines Tages mein Bruder Otto.

Wir saßen eben wieder um den Familientisch – Friedrich auf seinem Ruhebett daneben – und es hatte jemand aus der Zeitung die Nachricht vorgelesen, daß Benedetti in Böhmen angekommen sei – offenbar mit der Sendung betraut, Friedensvorschläge zu unterbreiten.

Nichts fürchtete mein kleiner – er war zwar schon groß, doch hatte ich die Gewohnheit, ihn so zu nennen – mein kleiner Bruder so sehr, als daß der Krieg ein frühzeitiges Ende nehme und daß es ihm nicht beschieden wäre, den Feind aus dem Land zu jagen. Es war nämlich aus Wiener-Neustadt die Nachricht erfolgt, daß, falls die Feindseligkeiten wieder aufgenommen würden, dann bei der nächsten, am 18. August folgenden Ausmusterung nicht nur die Zöglinge des letzten, sondern auch mehrere des vorletzten Jahrganges sogleich in aktiven Dienst treten dürften. Diese Aussicht versetzte den jungen Helden in Entzücken. Gleich aus der Akademie in den Krieg – welche Wonne! Ähnlich freut sich eine Pensionsschülerin hinaus in die Welt – auf den ersten Ball. Sie hat tanzen gelernt – der Neustädter Schüler lernte schießen und fechten –; sie sehnt sich, unter einem angezündeten Kronleuchter, in festlicher Toilette, bei Orchesterklang, ihre Kunst zu entfalten, und er sehnt sich nicht minder nach der schmucken Uniform und nach dem großen Kanonenkotillon.

Der Vater war über dieses soldatische Feuer seines Lieblings natürlich hoch erfreut:

»Sei ruhig, mein tapferer Junge,« erwiderte er auf Ottos Seufzer über den drohenden Frieden, und klopfte ihm beifällig auf die Schulter, du hast ein langes Leben vor dir. Wenn auch jetzt der Feldzug zu Ende wäre, in den nächsten Jahren muß es doch wieder losgehen.«

Ich sagte nichts. Seit meinem letzten Ausfall gegen Tante Marie hatte ich, auf Friedrichs Weisung, den Vorsatz gefaßt und ausgeführt, die leidigen Streitereien über das Thema Krieg möglichst zu vermeiden. Es konnte ja zu nichts führen, als zu Bitterkeiten; und seitdem ich die Spuren der grausigen Geißel mit eigenen Augen gesehen, hatte sich mein Haß und meine Verachtung des Krieges so vertieft, daß mir jede Verteidigung desselben wie eine persönliche Beleidigung in die Seele schnitt. Mit Friedrich waren wir einig: er würde austreten; und darüber war ich auch im klaren: mein Sohn Rudolf würde in keine militärische Anstalt getan, wo die ganze Erziehung darauf eingerichtet ist – und folgerichtig eingerichtet sein muß – in den Jünglingen die Sehnsucht nach kriegerischen Taten zu wecken. Ich forschte meinen Bruder einmal aus, was denn so die Ansichten seien, welche den Schülern in bezug auf den Krieg beigebracht werden. Aus seinen Antworten ging ungefähr folgendes hervor: Der Krieg wird als ein notwendiges Übel hingestellt (also doch Übel – ein Zugeständnis dem Geiste der Zeit), zugleich aber als der vorzüglichste Erwecker der schönsten menschlichen Tugenden, die da sind: Mut, Entsagungskraft und Opferwilligkeit, als der Spender des größten Ruhmesglanzes und schließlich als der wichtigste Faktor der Kulturentwicklung. Die gewaltigen Eroberer und Gründer der sogenannten Weltreiche – die Alexander, Cäsar, Napoleon – werden als die erhabensten Beispiele menschlicher Größe angeführt und der Bewunderung empfohlen; die Erfolge und Vorteile des Krieges werden auf das lebhafteste herausgestrichen, während man die in seinem Gefolge unabweisbar eintretenden Nachteile – Verrohung, Verarmung, moralische und physische Entartung – gänzlich mit Stillschweigen übergeht. – Nun ja; nach demselben System ward ja auch in meinem – im Mädchenunterricht vorgegangen; dadurch war in meinem kindlichen Gemüt die Bewunderung für die Kriegslorbeeren entstanden, die mich einst beseelte. War ich doch selber von Bedauern erfüllt gewesen, daß mir nicht, wie den Knaben, die Möglichkeit winkt, solche Lorbeeren zu pflücken – konnte ich es nun einem Knaben verargen, daß ihn diese Möglichkeit mit Freude und mit Ungeduld erfüllte?

Und so antwortete ich denn nichts auf Ottos Klageruf, sondern setzte ruhig meine Lektüre fort. Ich las, wie gewöhnlich, eine Zeitung und diese war – auch wie gewöhnlich – mit Berichten vom Kriegsschauplatz gefüllt.

»Da ist eine interessante Korrespondenz eines Arztes, der den Rückzug unserer Truppen mitgemacht hat ... soll ich laut lesen?« fragte ich.

»Den Rückzug?« rief Otto. »Das möchte ich lieber nicht hören. Ja, wenn es die Geschichte vom Rückzug des verfolgten Feindes wäre –«

»Es nimmt mich überhaupt Wunder«, bemerkte Friedrich, »daß jemand etwas von einer mitgemachten Flucht erzählt; das ist eine Kriegsepisode, über welche die Beteiligten zu schweigen pflegen.«

»Ein geordneter Rückzug ist noch keine Flucht«, fiel mein Vater ein. »Da hatten wir einmal im Jahre 49 – es war unter Radetzky –«

Ich kannte die Geschichte und hinderte deren Abrollung, indem ich unterbrach:

»Dieser Bericht war an eine medizinische Wochenschrift eingesendet, daher nicht für militärische Kreise bestimmt. Hört zu.«

Und ohne weiter um Erlaubnis zu fragen, las ich die Stelle vor:

»– – Um vier Uhr fingen unsere Truppen zu retirieren an. Wir Ärzte waren noch vollauf beschäftigt mit dem Verbinden der Verwundeten – deren Zahl einige Hundert – welche noch der Abfertigung harrten. Plötzlich sprengte Kavallerie auf uns heran und stürmte neben und hinter uns über Hügel und Felder – gleichzeitig Artillerie- und Fuhrwesenwagen – gegen Königgrätz zu. Viele Kavalleristen stürzten und wurden von den nachstürmenden Pferden völlig zerstampft. Wagen fielen um und zerdrückten die sich dazwischen drängenden Fußgänger. Wir wurden vom Verbandplatze, der plötzlich verschwand, auseinandergeworfen. Man rief uns zu ›Rettet euch‹. Inmitten dieses Geschreies hörte man noch den Donner der Kanonen und Granatsplitter fielen in unsere Massen. So wurden wir von der Menge fortgedrückt, ohne zu wissen, wohin. Ich hatte mit dem Leben abgeschlossen. Meine alte Mutter ... meine heißgeliebte Braut, lebt wohl!... – Plötzlich hatten wir Wasser vor uns; rechts einen Eisenbahndamm, links einen Hohlweg, vollgestopft mit schwerfälligen Requisitions- und Verwundetenwagen, und hinter uns noch eine unabsehbare Reihe von Reitern. Wir wateten durch das Wasser. Jetzt kam Befehl, die Stränge der Pferde abzuschneiden, die Pferde zu retten und die Wagen zurückzulassen. Auch die Wagen mit den Verwundeten? Ja – auch die. Wir Fußgänger waren der Verzweiflung nahe; wir wateten wiederholt bis über die Knie im Wasser, in der Angst, jeden Augenblick niedergestoßen zu werden und zu ertrinken. Endlich gelangten wir in einen Bahnhof, der wieder ganz verrammelt war. Viele durchbrachen die Verrammlung, die anderen sprangen darüber hinweg – ich lief mit Tausenden Infanteristen hinterher. Jetzt kamen mir zu einem Fluß – durchwateten ihn; dann sprangen wir über Pallisaden, gingen abermals bis an den Hals über einen zweiten Fluß, kletterten über Anhöhen hinauf, sprangen über gefällte Bäume und langten um 1 Uhr nachts in einem Wäldchen an, wo wir vor Erschöpfung und Fieber niedersanken. Um 3 Uhr marschierten wir – – das heißt ein Teil von uns, ein anderer Teil von uns mußte zurückbleiben, da zu sterben – marschierten wir, noch triefend vor Nässe und Kälte, weiter. Die Dörfer alle leer – keine Menschen, keine Lebensmittel, nicht einmal Trinkwasser – die Luft verpestet. Tote auf den zerstampften Getreidefeldern, kohlschwarze Körper, die Augen aus den Höhlen –«

»Genug, genug!« schrien die Mädchen.

»Solche Sachen sollte die Zensur gar nicht erlauben,« bemerke mein Vater. »Es könnte einem die Freude an dem Soldatenleben verleiden –«

»Und besonders die Freude an dem Krieg, das wäre wirklich schade,« schaltete ich halblaut ein.

»Überhaupt«, fuhr er fort, »die Fluchtepisoden sollten diejenigen, welche dabei waren, anständigerweise verschweigen, denn es ist wahrlich keine Ehre, ein allgemeines ›sauve qui peut‹ mitgemacht zu haben. Der Wicht, der mit dem Rufe ›Rettet euch‹ das erste Signal zum Reißaus gibt, sollte sofort niedergeschossen werden. Ein Feiger ruft es und tausend Tapfere werden dadurch demoralisiert und müssen mitlaufen.«

»Gerade so«, entgegnete Friedrich, »wie wenn ein Tapferer ›Vorwärts!‹ ruft, tausend Feige voranstürmen müssen, – und dabei auch wirklich von momentaner Tapferkeit durchglüht werden. Es lassen sich die Menschen überhaupt nicht so scharf in mutige und mutlose trennen, sondern ein jeder hat seine mehr oder minder couragierten, sowie mehr oder minder feigen Augenblicke. Und besonders, wo es sich um Scharen handelt, hängt jeder einzelne von dem Zustand seiner Gefährten ab. Wir sind Herdengeschöpfe und werden von Herdengefühlen beherrscht. Wo ein Schaf hinüberspringt, springen die anderen nach; wo einer »Hurra« schreiend voransprengt, schreien die anderen nachsprengend mit; und wo einer die Flinte ins Korn wirft, um zu laufen, laufen die anderen nach. In dem einen Fall wird die »tapfere Truppe« laut gepriesen, im zweiten wird über ihr Vorgehen – geschwiegen, und es sind doch dieselben Leute. Ja, dieselben Menschen sind es, die je nach der Masseneinwirkung mutig oder mutlos sich gebärden und fühlen. Nicht als anhaftende Eigenschaften sind Tapferkeit und Furcht zu betrachten, vielmehr als Gemütszustände, gerade so wie Fröhlichkeit und Trauer. Ich bin während meines ersten Feldzuges einmal in den Wirbel einer solchen wilden Flucht geraten. In den offiziellen Aufzeichnungen des Generalstabes wurde das Ding zwar als »wohlgeordneter Rückzug« mit einigen Worten abgetan – es war aber eine richtige Deroute. Das tobte und kollerte und raste fort, in namenloser Verwirrung: die Waffen, die Tornister, die Tschakos und die Mäntel wurden weggeschleudert – kein Kommandowort mehr zu hören – keuchend, schreiend, verzweiflungsgepeitscht stoben die aufgelösten Bataillone dahin, der nachsprengende und nachfeuernde Feind hinterher. ... Das ist unter den vielen grausamen Phasen des Krieges die grausamste: wenn die beiden Gegner nicht als Kämpfer, sondern als Jäger und Wild fungieren. Hier kommt für den Jäger die roheste Mordlust, für das Wild die bitterste Todesfurcht zum Vorschein. Gehetzt und furchtgespornt, geraten die Verfolgten in eine Art Delirium; all die anerzogenen Gefühle und Gesinnungen, welche den in den Kampf sich Stürzenden beleben, – Vaterlandsliebe, Ehrgeiz, Tatendurst – die gehen dem Fliehenden verloren. Ihn erfüllt nur noch ein zu ganzer Gewalt entfesselter Trieb, und zwar der heftigste, der ein lebendes Wesen beherrschen kann: der Selbsterhaltungstrieb. Dieser steigert sich – je näher die Gefahr – bis zum höchsten Paroxysmus der Qual. Auch wer solches niemals durchgemacht, kann – wenn anders er die Extasen der Liebeswonnen kennt – sich einen Begriff von jener Schmerzenswut machen. Was für den auf das äußerste aufgestachelten Gattungstrieb der Augenblick der Wollust ist, das ist für den Erhaltungstrieb – gleichgradig, nur auf dem anderen Ende der Skala – der Augenblick, da das erschöpfte Wild unter den Fängen der Meute zusammenbricht.«

»Aber Tilling,« kam es nun wieder in vorwurfsvollem Tone von Tante Marie – »Vor den Mädchen! Worte wie Wol–«

»Und vor einem Jüngling,« fügte mein Vater ebenso vorwurfsvoll hinzu, »vor einem angehenden Soldaten, Worte wie Todesfurcht –«

Friedrich zuckte die Achseln:

»Ich würde raten,« entgegnete er, »aus dem Lexikon vor allem das Wort Natur zu streichen.«

* * *

Friedrichs Genesung machte sichere Fortschritte. Auch die fiebernde Welt draußen schien ihrer Gesundung näher zu kommen: immer öfter und immer lauter ward das Wort Friede gesprochen. Der Vormarsch der Preußen, welche auf ihrem Wege keinen Widerstand mehr fanden, und welche über Brünn – dessen Schlüssel der Bürgermeister dem König Wilhelm überreicht hatte – ruhig gegen Wien zogen, dieser Vormarsch glich eher einem militärischen Spaziergang als einem Kriegszug – und am 26. Juli wurde denn auch richtig zu Nikolsburg ein Waffenstillstand mit Friedenspräliminarien abgeschlossen.

Eine große Freude erlebte mein Vater an der eingelaufenen Nachricht von Admiral Tegethoffs Sieg bei Lissa. Italienische Schiffe in die Luft gesprengt – der »Affundatore« zerstört: welche Genugtuung! Ich konnte mich an dem Entzücken nicht so recht beteiligen. Überhaupt konnte ich nicht recht verstehen, warum diese Seeschlachten noch geliefert wurden. Aber so viel ist gewiß, über das Ereignis brach – nicht nur bei meinem Vater – sondern in allen Wiener Blättern, der hellste Jubel aus. Der Ruhm eines kriegerischen Sieges ist etwas durch jahrtausendelange Tradition zu solcher Größe Aufgebauschtes, daß auf die Kunde eines solchen für das ganze Volk ein Stolzanteil entfällt. Wenn irgendwo ein vaterländischer General einen fremden General geschlagen hat, so wird jedem einzelnen Angehörigen des betreffenden Staates gratuliert, und da jeder hört, daß sich alle anderen freuen – was allerdings erfreulich ist – so freut sich schließlich in der Tat ein jeder. »Herdengefühle« würde das Friedrich genannt haben.

Ein anderes politisches Ereignis jener Tage war, daß sich Österreich nunmehr dem Genfer Vertrage anschloß:

»Nun – bist du jetzt zufrieden?« fragte mein Vater, als er diese Nachricht gelesen: – »siehst du ein, daß der Krieg, den du immer eine Barbarei nennst, mit der fortschreitenden Zivilisation immer humaner wild? Ich bin ja auch für das menschliche Kriegführen: den Verwundeten gebührt die sorgfältigste Pflege und alle mögliche Erleichterung ... Schon aus strategischen Gründen, welche schließlich in Kriegssachen doch das wichtigste sind; durch eine gehörige Behandlung der Kranken können sehr viele in kurzer Zeit wieder kampffähig und in die Reihen zurückversetzt werden.«

»Du hast recht, Papa: wieder brauchbares Material – das ist die Hauptsache ... Aber nach den Dingen, die ich gesehen, kann kein rotes Kreuz ausreichen – und hätte es zehnmal mehr Leute und Mittel, – um das Elend abzuwehren, welches eine Schlacht im Gefolge hat –«

»Abwehren freilich nicht, aber mildern. Was sich nicht verhüten läßt, muß man eben zu mildern trachten.«

»Die Erfahrung lehrt, daß eine ausreichende Milderung nicht möglich ist. Ich wollte daher, der Satz würde umgekehrt: Was sich nicht mildern läßt, soll man verhüten!«

Es fing bei mir an, eine fixe Idee zu werden: Die Kriege müssen aufhören. Und jeder Mensch muß beitragen, was er nur immer kann, auf daß die Menschheit diesem Ziele – sei's auch nur eine Tausendstel Linie – näher rücke. Die Bilder wurde ich nicht mehr los, die ich da oben in Böhmen geschaut. Besonders des Nachts, wenn ich aus festem Schlafe auffuhr, fühlte ich jenes wunde Weh im Herzen, und zugleich im Gewissen eine Pflichtmahnung – als erteilte mir jemand den Befehl: »Verhindere, verhüte, duld' es nicht!« Erst wenn ich vollends wach geworden und mich besann, was ich war, kam mir die Einsicht meiner Ohnmacht: Was soll denn ich verhindern und verhüten können? Da könnte mir einer ebensogut angesichts des flut- und sturmdrohenden Meeres befehlen: Duld' nicht! Schöpfe es aus! – Und mein nächster Gedanke – besonders wenn ich seine Atemzüge hörte – war ein tiefglückliches: »Friedrich hab' ich wieder«, und ich versenkte mich in diese Vorstellung, so lebhaft als nur möglich; da legte ich den Arm um den neben mir liegenden, auch auf die Gefahr, ihn aufzuwecken, und küßte ihn auf den Mund.

Mein Sohn Rudolf hatte eigentlich recht, auf seinen Stiefvater eifersüchtig zu sein – dieses Gefühl war nämlich seit letzter Zeit im Herzen des Kleinen erwacht. Daß ich von Grumitz abgereist war, ohne ihm adieu zu sagen, daß ich bei meiner Rückkunft nicht zuerst ihn zu umarmen verlangt; – daß ich überhaupt fast den ganzen Tag nicht von des Gatten Seite wich – das alles zusammengenommen hatte das arme Bürschchen veranlaßt, mir eines schönen Morgens weinend an den Hals zu sinken, und zu schluchzen:

»Mama, Mama, du hast mich gar nicht mehr lieb!«

»Was sprichst du für Unsinn, Kind?«

»Ja ... nur ... nur Pa–pa ... Ich ... ich will gar nicht ... groß werden, wenn du mich nicht mehr magst ....«

»Nicht mehr mögen? Dich, mein Kleinod!« – Ich küßte und herzte das weinende Kind – »dich, mein einziger Sohn, mein Stolz, meine Zukunftsfreude! Ich habe dich ja so, ich habe dich ja über – nein, nicht über alles, aber so unendlich lieb.«

Nach diesem kleinen Auftritt war mir die Liebe zu meinem Buben wieder lebhafter zum Bewußtsein gekommen. In der letzten Zeit war ich in der Tat von der Angst um Friedrich so sehr eingenommen gewesen, daß der arme Rudolf ein wenig in den Hintergrund gedrängt worden.

Die Pläne, welche wir miteinander, Friedrich und ich, für die Zukunft schmiedeten, waren folgende: nach Beendigung des Krieges Austritt aus dem Militärdienst und Zurückziehung nach einem kleinen, billigen Ort, wo Friedrichs Obersten-Pension und meine Zulage genügen konnten, unseren kleinen Haushalt zu bestreiten. Wir freuten uns auf dieses einsame, selbständige Beisammensein, wie ein paar junge Verliebte. Durch die zuletzt durchgemachten Ereignisse hatten wir wieder so recht gelernt, daß wir uns gegenseitig die Welt bedeuteten. Der kleine Rudolf war übrigens aus dieser Gemeinschaft nicht ausgeschlossen. Seine Erziehung sollte als eine Hauptaufgabe unsere geplante Existenz ausfüllen. Nicht müßig und zwecklos wollten wir die Tage dahinleben; da hatten wir unter anderem eine ganze Liste von Studien aufgestellt, die wir gemeinschaftlich pflegen wollten. Unter den Wissenschaften war es namentlich ein Zweig der Rechtswissenschaft, nämlich das Völkerrecht, dem sich Friedrich ganz besonders zu widmen vornahm. Er beabsichtigte, fern von allen utopistischen und sentimentalen Theorien, die praktische, die reale Seite des Völkerfriedens zu untersuchen. Durch die Lektüre Buckles – zu welcher ich ihm den Anstoß gegeben – durch die Bekanntmachung mit den neuesten naturwissenschaftlichen Errungenschaften, welche ihm durch die Bücher Darwins, Büchners und anderer geoffenbart worden, hatte sich ihm die Überzeugung erschlossen, daß die Welt einer neuen Erkenntnisphase entgegen geht; und diese Erkenntnis in möglichster Fülle sich anzueignen, das schien ihm nunmehr – neben den Freuden der Häuslichkeit – Lebensinhalt genug.

Mein Vater, der von unseren Absichten vorläufig nichts wußte, machte ganz andere Zukunftspläne für uns:

»Du wirst jetzt ein junger Oberst sein, Tilling, und in zehn Jahren bist du sicher General. Bis dahin wird schon wieder ein Krieg ausbrechen und du kannst das Kommando eines ganzen Armeekorps – oder, wer weiß? die Würde eines Generalissimus erlangen, und es wird dir vielleicht das große Glück beschieden, Österreichs Waffen wieder zu ihrem vollen – momentan verdunkelten – Glanz zu verhelfen. Wenn wir einmal das Zündnadelgewehr, oder vielleicht noch ein wirksameres System eingeführt haben, dann werden wir die Herren Preußen schon drunter kriegen.«

»Wer weiß,« meinte ich, »vielleicht wird die Feindschaft mit Preußen aufhören, vielleicht schließen wir einst mit ihnen ein Bündnis –«

Mein Vater zuckte die Achseln:

»Wenn nur die Frauen nicht über Politik reden wollten!« sagte er verächtlich. »Nach dem Vorgefallenen müssen wir die Übermütigen züchtigen, wir müssen den anektierten (so nennen sie's – ich sage »geraubten«) Staaten wieder zu ihrem zertretenen Recht verhelfen, das erfordert unsere Ehre und das Interesse unserer europäischen Machtstellung. Freundschaft – Allianz mit diesen Frevlern? Nimmermehr. Außer sie kämen demütig gekrochen.«

»In diesem Fall,« bemerkte Friedrich, »würde man wohl den Fuß auf ihren Nacken setzen; Bündnisse sucht und schließt man nur mit jenen, die einem imponieren, oder die gegen einen gemeinschaftlichen Feind Schutz leisten können. In der Staatskunst ist Egoismus das oberste Prinzip.«

»Nun ja,« gab mein Vater zurück, »wenn das ego Vaterland heißt, so ist solchem Egoismus doch alles andere unterzuordnen, so ist doch alles erlaubt und geboten, was dem Interesse dieses Ichs dienlich erscheint.«

»Es ist nur zu wünschen,« entgegnete Friedrich, »daß im Verkehr der Gemeinwesen dieselbe erhöhte Gesittung erlangt wird, welche im Verkehr der einzelnen den rohen, faustrechtlichen Ich-Kultus verdrängt hat, und die Einsicht immer mehr Platz greife, daß die eigenen Interessen auch ohne Schädigung der fremden, vielmehr im Verein mit diesen, am wirksamsten zu fördern sind.«

»Was?« fragte mein Vater, die Hand ans Ohr legend.

Natürlich mochte Friedrich seinen langen Satz nicht wiederholen und erläutern – und die Diskussion war zu Ende.

* * *

»Ich komme morgen 1 Uhr nach Grumitz, Konrad.«

Den Jubel kann man sich vorstellen, den diese Depesche bei Lilli hervorrief. So entzückt und freudig wird wohl kein anderer Ankömmling empfangen, wie einer, der aus dem Kriege heimkehrt. Freilich war es in diesem Falle nicht auch, wie es in den betreffenden Balladen und Kupferstichen am liebsten dargestellt wird: »die Heimkehr des Siegers«; aber die menschlichen Gefühle der liebenden Braut ließen sich von den patriotischen nicht beeinträchtigen, uns hätte Vetter Konrad die Stadt Berlin »genommen« – ich glaube, es hätte dies die Herzlichkeit von Lillis Empfang nicht zu steigern vermocht.

Ihm natürlich wäre es lieber gewesen, wenn er mit siegenden Truppen heimgekehrt wäre; wenn er dazu beigetragen hätte, seinem Kaiser die Provinz Schlesien zu erobern. Indessen: überhaupt sich geschlagen zu haben, ist ja für den Soldaten schon eine Ehre, auch wenn er der Geschlagene – ja sogar der Gefallene ist; letzteres ist ganz besonders rühmlich. So erzählte Otto, daß in der Wien-Neustädter Akademie auf einer Ehrentafel die Namen aller jener Zöglinge eingetragen sind, welchen der Vorzug zuteil wurde, vor dem Feinde zu bleiben. »Tué à l'ennemi«, sagt man in Frankreich, und es ist dies dort zu Lande – wie überall – eine, besonders bei den Ahnen, sehr geschätzte Eigenschaft. Je mehr man in seiner Familie Vorfahren aufweisen kann, die in Schlachten – gleichviel ob gewonnenen oder verlorenen – ihr Leben gelassen haben, desto stolzer ist der Enkel darauf, desto mehr Wert kann er auf seinen Namen, desto weniger Wert darf er auf sein Leben legen. Um sich getöteter Ahnen würdig zu zeigen, muß man an der Töterei – an der aktiven und passiven – seine helle Freude haben.

Nun, desto besser, daß, so lange es Kriege gibt, doch auch Leute vorkommen, welche darin Erhebung, Begeisterung, ja sogar Genuß finden. Die Zahl solcher Leute wird jedoch täglich geringer, während die Zahl der Soldaten täglich größer wird ... wohin muß das endlich führen?

Zur Unerträglichkeit.

Und wohin führt diese?

So weit dachte Konrad nicht. Seine Auffassung stimmte noch vortrefflich zu der bekannten Leutnantsarie aus der Weißen Dame: »Ha, welche Lust, Soldat zu sein, ha, welche Lust ....« Wenn man ihn reden hörte, konnte man ihn förmlich um die Expedition beneiden, welche er eben mitgemacht. Mein Bruder Otto war auch von solchem Neide ganz erfüllt. Dieser aus der Blut- und Feuertaufe zurückgekehrte Krieger, der in seiner Husarenuniform von jeher schon so ritterlich ausgesehen und jetzt auch noch mit einer ehrenvollen Schramme über das Kinn geziert war, der mitten im Kugelregen dringewesen, der vielleicht so manchem Feind den Garaus gegeben – der erschien ihm jetzt von einem heldenhaften Nimbus umstrahlt.

»Es war keine glückliche Kampagne, das muß ich zugeben,« sprach Konrad, »dennoch habe ich ein paar herrliche Erinnerungen davon mitgebracht.«

»Erzähle, erzähle,« drängten Lilli und Otto.

»Ich kann da nicht viel Einzelheiten erzählen – das Ganze liegt hinter mir wie ein Taumel ... das Pulver steigt einem ganz sonderbar zu Kopfe. Eigentlich beginnt der Rausch oder das Fieber – das kriegerische Feuer mit einem Wort – schon beim Abmarsch. Zwar ist der Abmarsch vom Liebchen schwer gefallen – es war das eine Stunde, welche das Herz mit weichem Weh erfüllte – aber wenn man einmal draußen ist, mit den Kameraden, dann heißt es: jetzt wird an die höchste Aufgabe gegangen, welche das Leben an den Mann stellen kann, nämlich das geliebte Vaterland zu verteidigen .... Als dann die Spielleute den Radetzky-Marsch intonierten und die seidenen Falten der Fahnen im Winde flatterten: ich muß gestehen, in diesem Augenblick hätt' ich nicht umkehren mögen – auch in den Arm der Liebe nicht .... Da fühlte ich, daß ich dieser Liebe nur dann würdig wäre, wenn ich da draußen an der Seite der Brüder meine Pflicht getan .... Daß wir zum Siege marschierten, bezweifelten wir nicht. Was wußten wir von den abscheulichen Spitzkugeln? Die allein waren an den Niederlagen schuld – ich sag' euch, die schlugen in unsere Reihen ein wie Hagel .... Und auch schlechte Führung hatten wir – der Benedek, ihr werdet sehen, wird noch vor ein Kriegsgericht gestellt ... Attackieren hätten wir sollen ... Wenn ich jemals Feldherr würde – meine Taktik wäre: angreifen, immer angreifen, »das Präveniere spielen«, ins feindliche Land einfallen ... Das ist ja auch nur eine Art, und zwar die schwerere, der Verteidigung:

Muß es sein – komm zuvor, komm zuvor,
Im rücksichtslosen Angriff liegt der Sieg.

sagt der Dichter. – Doch das gehört nicht hierher: mir hatte der Kaiser den Oberbefehl nicht übergeben, also bin ich auch an den taktischen Mißerfolgen unschuldig – die Generäle sollen sehen, wie sie sich mit ihrem obersten Kriegsherrn und wie mit ihrem eigenen Gewissen abfinden – wir Offiziere und Truppen haben unsere Pflicht getan; es hieß sich schlagen und wir haben uns geschlagen. Und das ist ein eigenes Hochgefühl ... Schon die Erwartung, schon diese Spannung, wenn man auf den Feind stößt und wenn es heißt: jetzt geht es los ... Dieses Bewußtsein, daß in dem Augenblicke ein Stück Weltgeschichte sich abspielt – und dann der Stolz, die Freude am eigenen Mut – rechts und links der Tod, der große, geheimnisvolle, dem man männlich trotzt –«

»Ganz wie der arme Gottfried Tessow,« murmelte Friedrich für sich ... »nun ja – es ist ja dieselbe Schule –«

Konrad fuhr mit Eifer fort:

»Das Herz schlägt höher, die Pulse fliegen, es erwacht – und das ist die eigentliche Verzückung – es erwacht die Kampflust, es lodert die Wut – der Feindeshaß – zugleich die brennendste Liebe für das bedrohte Vaterland, und das Voranstürmen, das Dreinhauen wird zur Wonne. Man fühlt sich in eine andere Welt versetzt als die, in der man aufgewachsen, eine Welt, in der alle die gewohnten Gefühle und Anschauungen in ihr Gegenteil verwandelt worden sind: das Leben wird zum Plunder, Töten wird zur Pflicht. Die Ehre, das Heldentum, die großartigste Selbstaufopferung sind allein noch übrig, alle anderen Begriffe sind in dem Gewirre untergegangen. Dazu der Pulverdampf, das Kampfgeschrei ... ich sage euch, es ist ein Zustand, der sich mit nichts anderem vergleichen läßt. Höchstens kann einem dieses selbe Feuer auf der Tiger- oder Löwenjagd durchlodern, wenn man der wildgewordenen Bestie gegenübersteht und –«

»Ja,« unterbrach Friedrich, »der Kampf mit dem toddräuenden Feind, der heiße, sehnende und stolze Wunsch, ihn zu überwinden, erfüllt mit einer eigenen Wollust – pardon, Tante Marie – wie ja alles, was das Leben erhält oder weitergibt, von der Natur durch Freudenlohn gesichert wird. So lange der Mensch von wilden – vier- und zweibeinigen – Angreifern bedroht war und sich nur durch Erlegung derselben das Leben fristen konnte, ward ihm der Kampf zur Wonne. Wenn uns Kulturmenschen im Kriege mitunter noch dieselbe Lust durchrieselt, so ist dies eine angeerbte Reminiszenz. Und damit jetzt, wo es in Europa weder Wilde noch Raubtiere gibt, uns jene Wonne nicht ganz entgehe, haben wir uns künstliche Angreifer geschaffen. Da heißt es: Paß auf: ihr habt blaue Röcke und die dort drüben haben rote Röcke sobald dreimal in die Hände geklatscht wird, verwandeln sich für euch die Rotröcke in Tiger, während für jene ihr Blauröcke zu wilden Bestien werdet. Alle Achtung: Eins, zwei, drei – Sturm geblasen – Attacke getrommelt – jetzt kann's losgehen – freßt euch auf! – Und haben sich zehntausend, oder je nach dem gesteigerten Heeresstand, hunderttausend Kunsttiger unter gegenseitigem Kampfeswonne-Geheul bei Xdorf aufgefressen, so gibt das die »historisch« zu werden bestimmte Xdorfer Schlacht; die Händeklatscher versammeln sich alsdann um einen grünen Kongreßtisch in Xstadt, regeln auf der Karte verschobene Grenzmarken, feilschen über Kontributionsbeträge, unterschreiben ein Papier, welches in die Geschichtsjahrbücher als der Xstädter Frieden eingetragen wird, klatschen abermals dreimal in die Hände und sagen den übriggebliebenen Rot- und Blaujacken: umarmt euch, Menschenbrüder!«

In der Umgebung waren überall Preußen einquartiert, und jetzt sollte auch Grumitz an die Reihe kommen.

Obgleich der Waffenstillstand schon in Kraft und der Friede beinahe gesichert war, so hegte die Bevölkerung noch allgemein Angst und Mißtrauen. Die Idee, daß die Pickelhauben-Tiger sie zerreißen würden, wenn sie könnten, war den Leuten nicht so leicht wegzunehmen; die drei Handschläge von Nikolsburg hatten die Wirkung der drei Handschläge der Kriegserklärung noch nicht aufzuheben vermocht, und nicht ausgereicht, um dem Landvolk in den »Preußen« wieder Menschenbrüder sehen zu machen. Der bloße Name des gegnerischen Volkes bekommt zu Kriegszeiten eine ganze Schar von hassenswerten Nebenbedeutungen – ist nicht mehr der Gattungsname einer augenblicklich bekriegten Nation, er wird synonym mit »Feind« und faßt allen Abscheu in sich, den dieses Wort ausdrückt.

So geschah es, daß die Leute in der Gegend zitterten, wie vor einbrechenden Wölfen, wenn ein preußischer Quartiermeister daherkam, um Unterkunft für einen Truppenteil zu schaffen. Bei manchen äußerte sich neben der Furcht auch der Haß, und diese wähnten, eine patriotische Pflicht zu erfüllen, wenn sie einem Preußen was zu leide taten – wenn sie aus einem Versteck heraus dem »Feind« eine Flintenkugel sandten. Es war dies öfters vorgekommen, und wenn man den Schuldigen faßte, wurde er ohne viel Umstände hingerichtet. Diese Beispiele bewirkten, daß die Leute ihren Haß verbissen und die einquartierten Soldaten ohne Widerstand aufnahmen. Dann gewahrten sie zu ihrem nicht geringen Erstaunen, daß der »Feind« eigentlich aus lauter gutmütigen, freundlichen und ehrlich zahlenden Mitmenschen bestand.

Eines Morgens – es war in den ersten Tagen des August – saß ich im Erker des Bibliothekzimmers und schaute durch die offenen Fenster hinaus. Von hier hatte man einen weiten Fernblick über die Gegend. Mir war's, als sähe ich von weitem einen Reitertrupp, der sich auf der Landstraße nach unserer Richtung bewegte.

»Preußische Einquartierung,« war mein erster Gedanke. Ich setzte ein im Erker stehendes Fernrohr zurecht und schaute nach dem betreffenden Punkt. Richtig: eine Gruppe von ungefähr zehn Reitern mit wehenden schwarz-weißen Fähnlein an den Lanzenspitzen. Darunter ein Fußgeher – im Jagdanzug. Warum ging der so zwischen den Pferden? ... Ein Gefangener? ... Das Glas war nicht scharf genug – ich konnte nicht erkennen, ob der vermeintliche Gefangene nicht etwa einer unserer Forstbeamten war.

Doch es hieß, die Schloßbewohner von dem kommenden Verhängnis in Kenntnis setzen. Ich verließ eilig das Bibliothekzimmer, um meinen Vater und Tante Marie aufzusuchen. Ich fand sie beide im Salon:

»Die Preußen kommen, die Preußen kommen!« meldete ich atemlos. Man ist immer froh, eine wichtige Nachricht als erster mitteilen zu können.

»Hol' sie der Teufel,« war meines Vaters wenig gastliche Äußerung, während Tante Marie das Richtige traf, indem sie sagte:

»Ich will sogleich der Frau Walter Befehle zu den nötigen Vorbereitungen geben.«

»Und wo ist Otto?« fragte ich. »Den muß man benachrichtigen und ihn warnen, daß er nicht etwa seinen Preußenhaß leuchten lasse ... daß er mit den Gästen nicht unhöflich sei.

»Otto ist nicht zu Hause,« antwortete mein Vater, »er ist heute früh auf Rebhühner ausgegangen. Du hättest ihn sehen sollen, wie schmuck ihm der Jagdanzug steht ... das wird ein prächtiger Bursch – an dem habe ich meine Freude.« Indessen wurde es im Hause laut; man hörte hastige Schritte und aufgeregte Stimmen.

»Sie kommen schon, die Windbeutel!« seufzte mein Vater.

Die Tür wurde aufgerissen und Franz, der Kammerdiener, stürzte herein:

»Die Preußen, die Preußen!« rief er in dem Tone, wie man »Feuer, Feuer!« ruft.

»Die werden uns nicht fressen,« bemerkte mein Vater mürrisch.

»Aber sie bringen einen mit,« fuhr der Mann mit zitternder Stimme fort, »einen Grumitzer – ich weiß nicht wer – der auf sie geschossen hat – und wer soll auf solches Pack nicht gern schießen? ... aber der ist verloren.«

Jetzt vernahm man den Laut von Pferdegetrampel mit Stimmengewirr vermengt. Wir traten auf den Flur und schauten durch die nach dem Hof gehenden Fenster. Soeben kamen die Ulanen hereingeritten und in ihrer Mitte – mit trotzigem, bleichem Gesicht – Otto, mein Bruder.

Der Vater stieß einen Schrei aus und eilte die Treppe hinab. Mir stand das Herz still. Was da bevorstand, war entsetzlich. Wenn Otto wirklich auf die preußischen Soldaten geschossen hatte – und das sah ihm sehr ähnlich – ich vermochte den Fall gar nicht auszudenken ....

Dem Vater nachzugehen, fehlte mir der Mut. Trost und Beistand in allen Kümmernissen suchte ich stets nur bei Friedrich. Also raffte ich mich auf, um mich in Friedrichs Zimmer zu begeben. Ehe ich jedoch dahin gelangte, kam mein Vater wieder zurück und Otto hinter ihm. An ihren Mienen sah ich, daß die Gefahr vorüber war.

Das Verhör hatte folgendes ergeben: Der Schuß war zufällig losgegangen. Als die Ulanen herangeritten kamen, wollte Otto sie von der Nähe sehen; er lief querfeldein, stolperte, fiel am Straßengraben nieder und dabei entlud sich sein Gewehr. Im ersten Augenblick war die Aussage des jungen Jägers von den Leuten bezweifelt worden; sie nahmen ihn in ihre Mitte und brachten ihn als ihren Gefangenen in das Schloß. Als sich aber herausstellte, daß der Jüngling der Sohn des Generals Althaus und selber ein Militärzögling sei, ließen sie seine Rechtfertigung gelten. »Der Sohn eines Soldaten und selber angehender Soldat wird auf gegnerische Soldaten wohl im ehrlichen Kampfe, nicht aber zur Zeit der Waffenruhe und nicht meuchlings schießen.« Auf diese Worte meines Vaters hin hatte der preußische Unteroffizier den jungen Menschen freigegeben.

»Und bist du wirklich unschuldig?« fragte ich Otto, »bei deinem Preußenhaß würde es mich nicht wundern, wenn –«

Er schüttelte den Kopf:

»Ich werde hoffentlich im Leben noch genug Gelegenheit haben,« antwortete er, »ein paar solchen draufzuschießen – aber nicht aus dem Hinterhalt – nicht, ohne auch meine Brust ihren Kugeln auszusetzen.«

»Brav, mein Junge!« rief mein Vater, von diesen Worten entzückt.

Ich konnte das Entzücken nicht teilen. Alle diese Phrasen, in welchen mit dem Leben – dem der anderen und dem eigenen – so geringschätzig und prahlerisch herumgeworfen wird, haben mir einen widerlichen Klang. Doch war ich von Herzen froh, daß die Sache so abgelaufen. Wie entsetzlich wäre es doch für meinen armen Vater gewesen, wenn diese Leute den vermeintlichen Missetäter ohne weitere Umstände gleich abgestraft hätten. Da würde der unselige Krieg, von dem unser Haus bisher verschont geblieben, es doch noch ins Unglück gestürzt haben ....

Die betreffende Abteilung war richtig gekommen, Quartier zu machen. Schloß Grumitz war ausersehen, zwei Oberste und sechs Offiziere des preußischen Heeres zu beherbergen. Im Dorf sollte die Mannschaft untergebracht werden. Zwei Mann wurden im Schloßhof als Wache aufgestellt.

Ein paar Stunden nach den Quartiermachern zogen die unfreiwilligen und ungeladenen Gäste schon bei uns ein. Wir waren seit mehreren Tagen auf den Fall vorbereitet gewesen und Frau Walter hatte dafür gesorgt, daß alle Gastzimmer und Betten bereit standen. Auch der Koch hatte genügende Vorräte herbeigeschafft, und der Keller barg eine erkleckliche Anzahl voller Fässer und alter Flaschen: den Herren Preußen sollte es bei uns an nichts fehlen.

* * *

Als sich an diesem Tage die Schloßgesellschaft auf das Zeichen der Tischglocke im Salon versammelte, bot dieser ein glänzendes und lebensfrohes Bild. Die Herren – bis auf Minister »Allerdings«, welcher augenblicklich unser Gast war – sämtlich in Uniform, die Damen in Putz. Seit langer Zeit hatten wir uns zum erstenmal wieder »aufgedonnert«; Lori namentlich – die kokette Lori – welche am selben Tag von Wien gekommen war, hatte auf die Nachricht hin, daß fremde Offiziere anwesend seien, ihre schönste Toilette ausgepackt und sich mit frischen Rosen geschmückt. Gewiß war es darauf abgesehen, dem einen oder dein anderen Vertreter des feindlichen Heeres den Kopf zu verdrehen. Nun, meinethalben mochte sie sämtliche preußische Bataillone erobern – aber Friedrich unbehelligt lassen ... Lilli, die glückliche Braut, trug ein lichtblaues Kleid; Rosa – wahrscheinlich auch sehr froh, wieder einmal jungen Kavalieren sich zeigen zu können – war in rosa Musselin gehüllt; nur ich, in der Ansicht, daß Kriegszeit, auch wenn man niemand zu betrauern hat, immer Trauerzeit sei hatte eine schwarze Toilette angelegt.

Ich erinnere mich noch an den eigentümlichen Eindruck, den es mir machte, als ich an jenem Tag den Salon, in welchem die übrigen schon versammelt waren, betrat. Glanz, Heiterkeit, vornehmer Luxus – die geputzten Frauen, die schmucken Uniformen: welcher Kontrast zu den noch vor so kurzer Zeit gesehenen Bildern von Jammer, Schmutz und Schrecken. Und die Glänzenden, Heiteren, Vornehmen selber sind es ja, welche freiwillig den Jammer in Szene setzen, welche nichts tun wollen, ihn abzuschaffen, welche, im Gegenteil, ihn glorifizieren und mit ihren Goldborten und Sternen den Stolz bekunden, den sie darein setzen, die Träger und Stützen des Jammersystems zu sein!

Mein Eintritt unterbrach die in den verschiedenen Gruppen geführte Unterhaltung, da mir nun unsere preußischen Gäste sämtlich vorgestellt werden mußten; – zumeist vornehm klingende Namen auf – »ow« und auf »witz«; viele »von« und sogar ein Prinz – ein Heinrich, ich weiß nicht der wievielte, aus dem Reuß.

Das also waren unsere Feinde: Vollendete Gentlemen mit den geschliffensten Gesellschaftsformen. Nun freilich: das weiß man ja, wenn heutzutage mit einer benachbarten Nation Krieg geführt wird, so hat man es nicht mit Hunnen und Vandalen zu tun; aber doch: es wäre viel natürlicher, sich den Feind als eine wilde Horde vorzustellen, und es gehört eine gewisse Anstrengung dazu, ihn als ebenbürtigen Kulturbürger aufzufassen. »Gott, der du die Widersacher derer, die dir vertrauen, durch die Kraft deiner Verteidigung zurückwirfst, höre uns, die wir um deine Erbarmnisse flehen, gnädig an, damit wir nach der unterdrückten Wut des Feindes dir in Ewigkeit danken können.« So hatte allsonntäglich der Grumitzer Pfarrer gebetet. Wie mußte da die Gemeinde sich den »wütenden Feind« vorstellen? Gewiß nicht so, wie diese höflichen Edelleute, die jetzt den anwesenden Damen den Arm boten, um sie zu Tisch zu führen ... Überdies hatte Gott diesmal das Gebet der anderen erhört und unsere Wut unterdrückt – der schäumende, mordgierige Feind, der durch die Kraft der göttlichen Verteidigung (wir nannten es zwar Zündnadelgewehr) zurückgeworfen worden, das waren ja wir – O du heiliger Widersinn! ... Das waren so ungefähr meine Gedanken, während wir an der mit Blumen und Fruchtschalen reich geschmückten Tafel uns in bunter Reihe niederließen. Auch das Silber war auf des Hausherrn Befehl aus dem Versteck wieder hervorgeholt. Ich saß zwischen einem stattlichen Obersten auf -ow und einem schlanken Leutnant auf -itz. Lilli selbstverständlich an der Seite ihres Bräutigams; Rosa war von dem prinzlichen Heinrich zu Tisch geführt worden, und der bösen Lori war es doch wieder gelungen, meinen Friedrich zum Nachbar zu haben. Nur zu! Eifersüchtig würde ich doch nicht werden: er war ja »mein« Friedrich, am meinsten ...

Es wurde sehr viel und sehr heiter gesprochen. Die »Preußen« fühlten sich offenbar höchst vergnügt, nach den durchgemachten Strapazen und Entbehrungen wieder einmal an wohlbesetzter Tafel und in guter Gesellschaft zu festen; und das Bewußtsein, daß der überstandene Feldzug ein siegreicher gewesen, trug jedenfalls dazu bei, ihre Stimmung zu heben. Aber auch wir, die Besiegten, ließen von Groll und Beschämung nichts merken und bemühten uns, die möglichst liebenswürdigen Hauswirte zu spielen. Meinem Vater mußte dies zwar – wie ich seine Gesinnung kannte – einige Überwindung kosten, aber er führte seine Rolle mit musterhafter Courtoisie durch. Der Niedergeschlagenste war Otto. Seinem in der letzten Zeit genährten Preußenhaß, seiner Sehnsucht, den Feind aus dem Land zu jagen, ging es sichtlich gegen den Strich, diesem selben Feind nun höflichst Pfeffer und Salz hinüberreichen zu müssen, statt ihn mit dem Bajonett durchbohren zu dürfen. Dem Thema Krieg wurde im Gespräch sorgfältig ausgewichen; die Fremden wurden von uns behandelt, als wären sie unsere Gegend zufällig besuchende Vergnügungsreisende, und sie selbst vermieden es noch ängstlicher, auf die Sachlage – daß sie nämlich als unsere Überwinder hier hausten – anzuspielen. Mein junger Leutnant versuchte sogar recht angelegentlich, mir den Hof zu machen. Er schwor auf Ehre und auf Taille, daß es nirgends so gemütlich sei wie in Österreich, und daß daselbst (mit seitwärts abgeschossenem Zündnadelblick) die reizendstens Frauen der Welt zu finden seien. Ich leugne nicht, daß ich mit dem schmucken Marssohne auch ein wenig kokettierte; es geschah, um der Lori Griesbach und ihrem Nachbar zu zeigen, daß ich gegebenen Falles mich einigermaßen rächen könnte ... aber der da drüben blieb ebenso ruhig – wie ich es im Grunde meines Herzens eigentlich auch war. Vernünftiger und zweckmäßiger wäre es jedenfalls gewesen, wenn mein »schneidiger« Leutnant seine mörderischen Augengeschosse auf die schöne Lori gezielt hätte. Konrad und Lilli, in ihrer Eigenschaft als Verlobte (solche Leute sollte man eigentlich immer hinter Gitter setzen), wechselten ganz auffällig verliebte Blicke und flüsterten und stießen heimlich miteinander ihre Gläser an und was dergleichen Salonturteltauben-Manöver mehr sind. Und, wie mir schien, noch eine dritte Flirtation begann da sich zu entspinnen. Der deutsche Prinz nämlich – Heinrich der soundsovielte – unterhielt sich auf das angelegentlichste mit meiner Schwester Rosa und dabei malte sich in seinen Zügen unverhohlene Verwunderung.

Nach aufgehobener Tafel begab man sich in den Salon zurück, in welchem jetzt der angesteckte Kronleuchter ein festliches Licht verbreitete.

Die Terassentür stand offen. Draußen war die laue Sommernacht von mildem Mondlichte durchflutet. Ich trat hinaus. Das Nachtgestirn warf seine Strahlen funkelnd auf dem in Hintergrunde ausgedehnten Teich ... War das wirklich derselbe Mond, welcher mir vor kurzer Zeit den an eine Kirchhofsmauer gelehnten, von kreischendem Raubgevögel umkreisten Leichenhaufen gezeigt hatte? Und waren das dieselben Leute drinnen – eben öffnete ein preußischer Offizier den Flügel, um ein Mendelssohnsches Lied ohne Worte vorzutragen – waren das dieselben, die vor kurzem noch mit dem Säbel um sich schlugen, um Menschenschädel zu spalten? ...

Nach einer Weile kamen auch Prinz Heinrich und Rosa heraus. Sie sahen mich nicht in meiner dunklen Ecke und gingen an mir vorüber. Jetzt standen sie, an das Geländer gelehnt, nah, sehr nah nebeneinander. Ich glaube sogar, der junge Preuße – der Feind – hielt die Hand meiner Schwester in der seinen. Sie sprachen leise, dennoch drang einiges von des Prinzen Rede zu mir herüber: »Holdseliges Mädchen ... plötzliche, sieghafte Leidenschaft ... Sehnsucht nach häuslichem Glück ... Würfel gefallen ... aus Barmherzigkeit nicht »nein«! ... Flöße ich Ihnen denn Abscheu ein?« Rosa schüttelt verneinend den Kopf. Da führt er ihre Hand an seine Lippen und versuchte, den Arm um ihre Mitte zu schlingen. Sie, die Wohlerzogene, entwindet sich rasch.

Ach, mir wäre es beinah lieber gewesen, wenn mir der sanfte Mondstrahl da einen Liebeskuß beleuchtet hätte ... Nach all den Bildern des Hasses und des bitteren Jammers, die ich vor kurzem hatte schauen müssen, wäre mir jetzt ein Bild von Liebe und süßer Luft wie etwas Vergütung erschienen. –

»Ach – du bist es, Martha!«

Jetzt war Rosa meiner Gewahr geworden – zuerst sehr erschrocken, daß jemand diese Szene belauscht, dann aber beruhigt, daß nur ich es war.

Im höchsten Grade verlegen und bestürzt war jedoch der Prinz. Er trat an mich heran:

»Ich habe Ihrer Schwester soeben meine Hand angeboten, gnädige Frau. Legen Sie gütigst ein Wort für mich ein! Meine Handlungsweise wird Ihnen beiden etwas rasch und kühn erscheinen. Zu einer anderen Zeit würde ich wohl auch überlegter und bescheidener vorgegangen sein – aber in den letzten Wochen habe ich es mir angewöhnt, schnell und keck voranzusprengen – da war kein Zögern und Zagen erlaubt ... und was ich im Kriege geübt, das habe ich jetzt unwillkürlich in der Liebe wieder ausgeführt ... Verzeihen Sie – und seien Sie mir gnädig. Sie schweigen, Komtesse? Verweigern Sie mir Ihre Hand?«

»Meine Schwester kann doch nicht auch so rasch über ihr Schicksal entscheiden,« kam ich Rosa, welche tiefbewegt und abgewandten Hauptes dastand, zu Hilfe. »Ob unser Vater seine Einwilligung zur Heirat mit einem ›Feinde‹ geben, ob Rosa die so plötzlich eingeflößte Neigung auch erwidern wird – wer kann das heute wissen?«

»Ich weiß es,« antwortete sie und reichte dem jungen Manne beide Hände hin. Er aber riß sie stürmisch an sein Herz.

»O, ihr närrischen Kinder!« sagte ich und zog mich leise einige Schritte zurück, bis zur Saaltür, um zu wachen, daß – wenigstens in diesem Augenblick – niemand herauskomme.

* * *

Am folgenden Tag ward die Verlobung gefeiert.

Mein Vater leistete keinen Widerstand. Ich hätte geglaubt, daß sein Preußenhaß es ihm unmöglich machen würde, einen der feindlichen Krieger und Sieger in seine Familie aufzunehmen; aber sei es, daß er die individuelle von der nationalen Frage gänzlich trennte – (ein gebräuchliches Vorgehen: »Ich hasse jene als Nation, nicht als Individuen« hört man häufig beteuern, obschon es keinen Sinn hat, ebensowenig Sinn, als wollte einer sagen: »Ich hasse den Wein als Getränk, aber jeden Tropfen verschlucke ich gern« – doch vernünftig braucht ja eine landläufige Phrase nicht zu sein – im Gegenteil) sei es, daß der Ehrgeiz die Oberhand gewann und eine Verbindung mit dem fürstlichen Hause Reuß ihm schmeichelte; sei es endlich, daß die so romantisch geäußerte, plötzliche Liebe der jungen Leute ihn rührte: kurz, er sprach ein ziemlich freiwilliges Ja. Weniger einverstanden war Tante Marie. »Unmöglich!« war ihr erster Ausruf. »Der Prinz ist ja lutherischer Konfession.« Aber schließlich tröstete sie sich mit der Aussicht, daß Rosa ihren Gatten wahrscheinlich bekehren werde. Im Herzen Ottos grollte es am tiefsten. »Wie, wollt ihr,« sprach er, »wenn wieder Krieg ausbricht, daß ich meinen Schwager aus dem Lande verjage?« Aber auch ihm wurde die famose Theorie von dem Unterschiede zwischen Nation und Individuum erläutert und – zu meinem Staunen, denn ich habe sie nie begriffen – er begriff sie.

Wie schnell und leicht man doch unter freudigen Umständen das durchgemachte Elend vergißt! Zwei Liebespaare – oder, ich kann es kühnlich sagen, drei, denn Friedrich und ich, die Vermählten, schwärmten nicht viel weniger füreinander, als die Verlobten – also so viele Liebespaare in der kleinen Gesellschaft, das ergab doch eine glücksgehobene Stimmung. Schloß Grumitz war in den folgenden paar Tagen eine Stätte der Heiterkeit und Lebenslust. Allmählich fühlte auch ich die Schreckensbilder der vergangenen Wochen aus meinem Gedächtnis entweichen. Nicht ohne Gewissensbiß wurde ich gewahr, wie mein vor kurzer Zeit noch so brennender Mitschmerz in manchen Augenblicken ganz entschwand. – Von der Außenwelt klang wohl noch immer Trauriges herüber: die Klagen der Leute, die in dem Kriege Hab und Gut oder teure Häupter verloren; Nachrichten von drohenden Finanzkatastrophen, von ausbrechenden Seuchen: die Cholera, hieß es, habe sich unter den preußischen Mannschaften gezeigt – sogar in unserem Dorfe wurde ein Fall signalisiert – freilich ein zweifelhafter: »Es wird die Ruhr sein – die tritt ja jeden Sommer auf«, tröstete man sich. Nur immer verjagen – die trüben Gedanken und die bösen Befürchtungen: »Es ist nichts« – »es ist vorbei« – »es wird nichts kommen« – das ist so leichtgedacht. Man braucht nur eine heftig schüttelnde Kopfbewegung zu machen und die unliebsamen Vorstellungen sind verscheucht ...

»Hörst du, Martha,« sagte mir eines Tages die glückliche Braut, »dieser Krieg war freilich etwas Schauderhaftes, aber ich muß ihn doch noch segnen. Wäre ich ohne ihn so maßlos glücklich geworden, wie ich es jetzt bin? Hätte ich Heinrich jemals kennen gelernt? Und er – hätte er jemals eine so liebende Braut gefunden?«

»Nun gut, liebe Rosa, ich will gern diese Auffassung mit dir teilen: – es mögen eure zwei beglückten Herzen gegen die vielen Tausende gebrochen in die Wagschale fallen ...«

»Nicht nur um Einzelsckicksale handelt es sich, Martha. Auch im großen und ganzen bringt der Krieg – für jene, die siegen – einen großen Gewinn, also einem ganzen Volke. Man muß Heinrich darüber reden hören. Er sagt, Preußen stehe jetzt groß da – in dem Heere herrsche allgemeiner Jubel und begeisterte Dankbarkeit und Liebe zu den Feldherren, die es zum Siege geführt ... dadurch ward der deutschen Gesittung, dem Handel, oder sagte er dem deutschen Wohlstand – ich weiß nicht mehr genau ... die historische Mission ... kurz, man muß ihn reden hören.«

»Warum spricht dein Bräutigam nicht lieber von eurer Liebe, statt von politischen und militärischen Dingen?«

»O, wir sprechen von allem – und alles, was er sagt, klingt mir wie Musik ... Ich fühle es ihm so gut nach, daß er stolz und selig ist, diesen Krieg für König und Vaterland mitgefochten –«

»Und sich dabei als Beute ein so verliebtes Bräutchen geholt zu haben,« ergänzte ich.

Dem Vater gefiel sein künftiger Schwiegersohn sehr gut – und wem hätte der prächtige junge Mensch nicht gefallen sollen? Er erteilte ihm jedoch seine Sympathie und seinen Segen unter allerlei Verwahrungen und Vorbehalt:

»Sie sind mir als Mensch und Soldat und als Prinz in jeder Hinsicht schätzenswert, lieber Reuß,« so sagte er zu wiederholten Malen und in verschiedenen Redewendungen, »aber als preußischer Offizier kann ich Sie natürlich nicht leiden und ich behalte mir – trotz aller Familienverbindung – das Recht vor, nicht so sehr zu wünschen, als einen kommenden Krieg, in welchem Österreich die jetzige Überrumpelung tüchtig heimzahlt. Die politische Frage ist von der persönlichen ganz zu trennen. Mein Sohn wird einst – Gott walte, – daß ich's erlebe – gegen das Land Preußen zu Felde ziehen; ich selbst, wenn ich nicht zu alt wäre und wenn mein Kaiser mich dazu beriefe, übernähme gleich ein Kommando, um Wilhelm I. und besonders, um Ihren arroganten Bismarck zu bekriegen. Dies verschlägt nicht, daß ich die militärischen Tugenden der preußischen Armee und die strategische Kunst ihrer Führer anerkenne und daß ich es ganz natürlich finden würde, wenn Sie im nächsten Feldzug, an der Spitze eines Bataillons, unsere Hauptstadt erstürmen wollten und das Haus anzünden ließen, in welchem Ihr Schwiegervater wohnt – kurz –«

»Kurz, die Konfusion der Gefühle ist eine heillose,« unterbrach ich einmal eine solche Rhapsodie – »die Widersprüche und Gegensätze verschlingen einander darin wie die Infusorien in einem faulenden Wassertropfen ... So geht es immer, wenn widerstreitende Begriffe zusammengepfercht werden. Ein Ganzes hassen und seine Teile lieben; – als Mensch so und als Landesangehöriger so denken wollen – das geht nicht: entweder – oder. Da lobe ich mir den Botokudenhäuptling: der empfindet für die Anhänger eines anderen Stammes – von denen er nicht einmal weiß, daß sie »Individuen« sind – weiter nichts, als den Wunsch, sie zu skalpieren.«

»Aber Martha, mein Kind, solche wilde Gefühle passen doch nicht zu dem gesitteten und humaner gewordenen Stand unserem Kultur.«

»Sage lieber, der Stand unserer Kultur paßt nicht zu der aus alten Zeiten uns überkommenen Wildheit. So lange diese – das heißt so lange der Kriegsgeist nicht abgeschüttelt ist, läßt sich unsere vielgepriesene »Humanität« nicht vernünftig vertreten. Denn du wirst doch deine eben gehaltene Rede, in welcher du dem Prinzen Heinrich versicherst, daß du ihn als Schwiegersohn lieben und als Preußen hassen willst, als Mensch hoch schätzen und als Oberleutnant verabscheuen, daß du ihm gern deinen väterlichen Segen gibst und zugleich ihm das Recht einräumst, gelegentlich auf dich zu schießen – verzeih', lieber Vater, aber diese Rede wirst du doch nicht für vernünftig ausgeben?«

»Was sagst du? Ich versteh' kein Wort ...«

Die beliebte Schwerhörigkeit hatte sich wieder rechtzeitig eingestellt.

* * *

Nach wenigen Tagen wurde es wieder still auf Grumitz. Unsere Einquartierung mußte abziehen und auch Konrad wurde zu seinem Regiment befohlen. Lori Griesbach und der Minister waren schon früher abgereist.

Die Hochzeit meiner beiden Schwestern ward auf den Oktober verlegt. Beide sollten am selben Tage in Grumitz getraut werden. Prinz Heinrich wollte den Dienst verlassen; jetzt nach diesem glorreichen Feldzuge, in welchem er sich Beförderung geholt, konnte er dies leicht tun, um sich auf seinen Lorbeeren und auf seinen Besitzungen auszuruhen.

Der Abschied der zwei Liebespaare war ein schmerzlicher und glücklicher zugleich. Man versprach, sich täglich zu schreiben, und die sichere Aussicht auf das nahe Glück ließ das Scheideweh nicht recht aufkommen.

Sichere Aussicht auf Glück? ... Die gibt es eigentlich nie – doch zu Kriegszeiten am allerwenigsten. Da schwebt das Unglück so dicht wie Heuschreckenschwärme in der Luft; und die Chancen, auf einem Fleckchen zu stehen, welches von der niedergehenden Geißel verschont bleibt, sind gar geringe.

Freilich – der Krieg war aus. Das heißt, man hatte erklärt, daß der Frieden geschlossen sei. Ein Wort genügt, die Schrecknisse zu entfesseln, und da meint man wohl auch, ein Wort könne genügen, dieselben sogleich wieder aufzuheben – doch dies vermag kein Machtspruch. Die Feindseligkeiten werden eingestellt, aber die Feindseligkeit dauert fort. Der Samen für künftige Kriege ist gestreut und die Frucht des eben beendigten Krieges entfaltet sich weiter: Elend, Verwilderung, Seuchen. Ja, da half kein Leugnen und Nicht-dran-denken mehr: – die Cholera wütete im Lande.

Es war am Morgen des 8. August. Wir saßen alle um den Frühstückstisch unter der Veranda und lasen unsere eben eingelaufenen Postsachen. Die zwei Bräute fielen über die an sie gerichteten Liebesbriefe her – ich blätterte in den Zeitungen. Aus Wien die Nachricht:

»Die Cholera-Sterbefälle mehren sich bedenklich; nicht nur in den Militär-, auch in den Zivilspitälern sind schon viele Erkrankungen signalisiert, die als echte cholera asiatica bezeichnet werden müssen, und die energischsten Maßregeln werden allenthalben ergriffen, um der Verbreitung der Epidemie zu steuern.«

Ich wollte die Stelle laut vorlesen, als Tante Marie, welche den Brief einer Freundin aus einem Nachbarschlosse in den Händen hielt, erschreckt aufschrie:

»Entsetzlich! Betti schreibt mir, daß in ihrem Hause zwei Personen an der Cholera gestorben sind und jetzt auch ihr Mann erkrankt sei.«

»Exzellenz, der Lehrer wünscht Sie zu sprechen.«

Hinter dem Diener trat auch schon der Gemeldete heran. Er sah bleich und verstört aus:

»Herr Graf, ich zeige ergebenst an, daß ich die Schule schließen muß. Gestern sind zwei Kinder erkrankt und heute – gestorben.«

»Die Cholera?« riefen wir.

»Ich denke wohl ... wir müssen´s beim Namen nennen. Die sogenannte »Ruhr«, welche unter den Soldaten, die hier einquartiert wurden, ausbrach und der schon zwanzig Mann erlegen sind – es war die Cholera. Im Dorf herrscht großer Schrecken, denn der Doktor, der aus der Stadt hierher gekommen, hat unverhohlen gesagt, daß die schreckliche Krankheit nunmehr zweifellos die hiesige Bevölkerung ergriffen hat.«

»Was ist das?« fragte ich aufhorchend – »man hört läuten.«

»Das ist das Sterbeglöckchen, Frau Baronin,« antwortete der Schulmeister. »Es wird wohl wieder jemand in den letzten Zügen liegen ... Der Doktor hat erzählt, daß in der Stadt die Sterbeglocke gar nicht mehr aufhört zu klingen –«

Wir blickten einander alle in der Runde an – stumm und bleich. Hier war er also wieder – der Tod – und jeder von uns sah dessen knöcherne Hand nach dem Haupte eines Teuern ausgestreckt.

»Fliehen wir!« schlug Tante Marie vor.

»Fliehen, wohin?« entgegnete der Lehrer. »Ringsum ist ja das Übel schon verbreitet.«

»Weit, weit weg – über die Grenze –«

»Da wird wohl ein Kordon errichtet werden, über den man nicht hinaus kann.«

»Das wäre ja entsetzlich! Man wird doch die Leute nicht hindern, ein verseuchtes Land zu verlassen?«

»Gewiß – die gesunden Gegenden werden sich gegen Einschleppung verwahren.«

»Was tun, was tun?!« Und Tante Marie rang die Hände.

»Den Willen Gottes abwarten,« antwortete mein Vater mit einem tiefen Seufzer. »Du bist doch sonst so bestimmungsgläubig, Marie – ich verstehe deine Fluchtsehnsucht nicht. Eines jeden Menschen Schicksal erreicht ihn, wo er immer sei ... Aber immerhin – mir wäre es auch lieber, wenn ihr Kinder abreisen würdet – und du Otto, daß du mir kein Obst mehr anrührst.«

»Ich werde sogleich an Bresser telegraphieren,« sagte Friedrich, »daß er uns Desinfektionsmittel sende« ...

Was dann später folgte, ich kann es nicht mehr in seinen Einzelheiten erzählen, denn die Frühstücksepisode war die letzte, die ich zu jener Zeit in die roten Hefte eingetragen. Nur aus dem Gedächtnis kann ich die Ereignisse der nächsten Tage berichten. Furcht und Bangen erfüllte uns alle, alle. Wer könnte zur Zeit der Epidemie nicht zittern, wenn man unter teuern Wesen lebt? Über dem lieben Haupte eines jeden schwebt ja das Damoklesschwert – und auch selber sterben, so furchtbar und so unnütz sterben – wem sollte der Gedanke nicht Grauen einflößen? Der Mut besteht höchstens darin, nicht daran zu denken.

Fliehen? Diese Idee war mir auch gekommen – besonders meinen kleinen Rudolf in Sicherheit zu bringen ...

Mein Vater, trotz allem Fatalismus, bestand auf der Flucht der anderen. Am kommenden Tage sollte die ganze Familie fort. Nur er wollte bleiben, um seine Hausleute und die Einwohnerschaft des Dorfes in der Gefahr nicht zu verlassen. Friedrich erklärte auf das bestimmteste, auch bleiben zu wollen, und da war mein Entschluß gleichfalls gefaßt: von des Gatten Seite würde ich freiwillig nimmer weichen.

Tante Marie mit den beiden Mädchen und mit Otto und Rudolf sollten schleunigst abreisen. Wohin? – das war noch nicht bestimmt – vorläufig nach Ungarn, so weit wie möglich. Die Bräute widersetzten sich durchaus nicht, sondern halfen emsig packen ... Sterben – wenn in naher Zukunft die Erfüllung heißer Liebessehnsucht, das heißt verzehnfachte Lebenswonne winkt, das hieße ja zehnfach sterben.

Die Koffer wurden in den Speisesaal gebracht, damit, unter der Beihilfe aller, die Arbeit schneller von statten gehe. Ich brachte einen Pack von Rudolfs Kleidern auf dem Arm herbei.

»Warum tut das nicht deine Jungfer?« fragte der Vater.

»Ich weiß nicht, wo die Netti steckt ... ich klingelte ihr schon mehreremal und sie kommt nicht ... So bediene ich mich lieber selber –«

»Du verdirbst deine Leute,« sagte mein Vater aufgebracht und er gab einem anwesenden Diener Befehl, das Mädchen überall zu suchen und augenblicklich hierher zu führen.

Nach einer Weile kam der Ausgesandte zurück – mit verstörter Miene.

»Die Netti liegt in ihrem Zimmer ... sie ist ... sie hat ... sie ist ...«

»Kannst du nicht sprechen?« donnerte ihn mein Vater an. »Was ist sie –?«

»– Schon – ganz schwarz.«

Ein Schrei kam aus unser aller Munde. Und so war es denn da – das grause Gespenst – in unserem Hause selber ...

Was nun tun? Konnte man das unglückliche Mädchen hilflos sterben lassen? Aber, wer sich ihr nahte, holte sich fast sicher den Tod – und nicht nur sich – er gab ihn dann wieder den anderen weiter. – Ach, so ein Haus, in welches die Seuche eingezogen, das ist, als wäre es von Räubern umzingelt oder als stände es in Flammen – überall, an allen Ecken und Enden – auf jedem Schritt und Tritt grinst der Tod – –

»Hole augenblicklich den Arzt,« befahl mein Vater zunächst. »Und ihr, Kinder, beschleunigt eure Abfahrt« ...

»Der Herr Doktor ist seit einer Stunde nach der Stadt zurückgefahren,« antwortete der Diener auf meines Vaters Weisung.

»Weh ... mir wird übel!« kam es jetzt von Lilli, welche bis in die Lippen erbleichte und sich an eine Sessellehne anklammerte.

Wir sprangen ihr bei:

»Was hast du? ... Sei nicht töricht ... das ist die Angst ...«

Aber es war nicht die Angst, es war – kein Zweifel: wir mußten die Unglückliche auf ihr Zimmer bringen, wo sie sogleich von heftigen Erbrechungen und den übrigen Symptomen ergriffen wurde – es war an diesem Tage der zweite Cholerafall im Schlosse.

Entsetzlich war es anzusehen, was die arme Schwester litt. Und kein Doktor da! Friedrich war der einzige, der, so gut es ging, das Amt eines solchen versah. Er ordnete das Nötige an: warme Umschläge, Senfteig auf den Magen und an die Beine – Eisstückchen – Champagner. Nichts half. Die für leichte Choleraanfälle ausreichenden Mittel, hier konnten sie nicht retten. Wenigstens gaben sie der Kranken und den Umstehenden den Trost, daß etwas geschah. Nachdem die Anfälle nachgelassen, kamen die Krämpfe an die Reihe – ein Zucken und Zerren der ganzen Gestalt, daß die Knochen krachten. Die Unselige wollte jammern: sie konnte nicht – denn die Stimme versagte ... die Haut wurde bläulich und kalt – der Atem stockte – – Mein Vater rannte händeringend auf und nieder. Einmal stellte ich mich ihm in den Weg:

»Das ist der Krieg, Vater: sagte ich. »Willst du den Krieg nicht verfluchen?«

Er schüttelte mich ab und gab keine Antwort.

Nach zehn Stunden war Lilli tot. – Netti, das Stubenmädchen, war schon früher gestorben – allein auf ihrem Zimmer; wir alle waren um Lilli beschäftigt gewesen und von der Dienerschaft hatte sich niemand in die Nähe der »schon ganz Schwarzen« gewagt ...

* * *

Mittlerweile war Doktor Bresser angekommen. Die telegraphisch verlangten Medikamente brachte er selber. Ich hätte ihm die Hand küssen mögen, als er unerwartet in unsere Mitte trat, um den alten Freunden seine aufopfernden Dienste zu weihen. Er übernahm sofort den Oberbefehl des Hauses. Die zwei Leichen ließ er in eine entfernte Kammer schaffen, sperrte die Zimmer ab, in welchen die Armen gestorben und unterzog uns alle einer kräftigen desinfizierenden Prozedur. Ein intensiver Karbolgeruch erfüllte nunmehr alle Räume, und heute noch, wenn mir dieser Geruch entgegenweht, steigen jene Cholera-Schreckenstage vor meinem Geiste auf.

Die geplante Flucht mußte ein zweites Mal unterbleiben. Schon stand am Tage nach Lillis Tode der Wagen bereit, welcher Tante Marie, Rosa, Otto und meinen Kleinen fortführen sollte, als der Kutscher – von dem unsichtbaren Würger erfaßt, wieder vom Kutschbock absteigen mußte.

»Also will ich euch fahren,« sagte mein Vater, als ihm diese Nachricht gebracht wurde. »Schnell – ist alles bereit?« ...

Rosa trat vor:

»Fahret,« sagte sie – »ich muß bleiben ... ich ... folge der Lilli – –«

Und sie sprach wahr. Bei Tagesanbruch wurde auch diese zweite junge Braut in die – Leichenkammer gebracht.

Natürlich war in dem Schrecken dieses neuen Unglücksfalles die Abreise der anderen nicht ausgeführt worden.

Mitten in meinem Schmerze, meiner tobenden Angst, ergriff mich auch wieder der tiefste Zorn gegen jene Riesentorheit, welche solches Übel freiwillig heraufbeschwört. Mein Vater war, als sie Rosas Leichnam hinausgetragen, in die Knie gefallen, den Kopf an die Mauer ...

Ich trat hin und packte ihn beim Arm:

»Vater,« sagte ich» – »das ist der Krieg«.

Keine Antwort.

»Hörst du, Vater? – Jetzt oder nie: willst du den Krieg verfluchen?«

Er aber raffte sich auf:

»Du erinnerst mich daran ... dieses Unglück will mit Soldatenmut getragen werden ... Nicht ich allein! das ganze Vaterland hat Blut- und Tränenopfer bringen müssen –«

»Was hat denn dem Vaterland dein und deiner Brüder Leid gefrommt? Was frommen ihm die verlorenen Schlachten, was diese beiden geknickten Mädchenleben? – Vater – o tue mir die Liebe: fluche dem Krieg! Sieh her,« ich zog ihn zum Fenster hin – eben wurde auf einem Karren ein schwarzer Sarg in den Hof gerollt: »sieh her – das ist für unsere Lilli – und morgen ein gleicher für unsere Rosa ... und übermorgen vielleicht ein dritter – und warum, warum?!«

»Weil Gott es so gewollt, mein Kind –«

»Gott – immer Gott! ... Daß sich doch alle Torheit, alle Wildheit, alle Gewalttätigkeit der Menschen stets hinter diesem Schilde birgt! Gottes Wille.«

»Lästere nicht, Martha, jetzt läst're nicht, da Gottes strafende Hand so sichtbar –«

Ein Diener kam herbeigerannt:

»Ex'lenz – der Tischler will den Sarg nicht in die Kammer tragen, wo die Komtessen liegen – und niemand traut sich hinein –«

»Auch du nicht, Feigling?«

»Ich kann nicht allein –«

»So werde ich dir helfen – ich will meine Tochter selber ...« Und er schritt zur Tür. »Zurück!« schrie er mich an, da ich ihm folgen wollte. »Du darfst nicht mit – du darfst mir nicht auch noch sterben ... und denke an dein Kind!«

Was tun? Ich schwankte ... Das ist das quälendste in solchen Lagen; nicht einmal zu wissen, wo die Pflicht liegt. Leistet man den Kranken und den Toten die Liebesdienste, zu welchen das Herz drängt, so schleppt man den Keim des Übels wieder weiter und bringt den anderen, den noch verschonten, die Gefahr. Man wollte sich opfern, weiß aber, daß man mit diesem Wagnis auch andere hinzuopfern wagt.

Über solches Dilemma kann nur eines hinaushelfen: mit dem Leben abschließen – nicht nur mit dem eigenen, sondern auch mit demjenigen seiner Teuren – annehmen, daß alle zu Grunde gehen – und eins dem anderen, so lange es geht, in den Leidensstunden beistehen. Rücksicht, Vorsicht – das alles muß aufhören: Zusammen! – an Bord eines untergehenden Schiffes – Rettung gibt es keine – »halten wir uns umfangen, eng, recht eng aneinander – bis zum letzten Augenblick – und: schöne Welt, ade!«

Diese Resignation war über uns alle gekommen; die Fluchtpläne hatte man aufgegeben; jeder ging an jedes Kranken und jedes Toten Lager; sogar Bresser versuchte nicht mehr, uns dieses Verhalten – das einzig menschliche – zu wehren. Seine Nähe, sein energisches, rastloses Schalten gab uns das einzige Sicherheitsgefühl – wenigstens war unser sinkendes Schiff nicht ohne Kapitän.

Ach, diese Choleraseuche in Grumitz! ... Über zwanzig Jahre sind seither vergangen, aber noch schaudert es mir durch Mark und Bein, wenn ich daran zurückdenke. Tränen, Wimmern, herzzerreißende Sterbeszenen – der Karbolgeruch, das Knochenknarren der Krampfbefallenen, die ekelhaften Symptome, das unaufhörliche Geklingel des Totenglöckleins, die Begräbnisse – nein: Verscharrungen – denn in solchen Fällen gibt es keinerlei Trauerpomp; – die ganze Lebensordnung aufgegeben: keine Mahlzeiten – die Köchin war gestorben – kein Schlafengehen des Nachts – hier und da ein stehend eingenommener Bissen, und in den Morgenstunden ein sitzendes Einnicken. Draußen, wie eine Ironie der gleichgültigen Natur, das herrlichste Sommerwetter, fröhlicher Amselschlag, üppiges Farbenglühen der Blumenbeete ... Im Dorfe ununterbrochenes Sterben – die zurückgebliebenen Preußen alle tot. »Ich bin heute dem Totengräber begegnet,« erzählte Franz, der Kammerdiener, wie er mit einem leeren Wagen vom Friedhof zurückfuhr. »Wieder ein paar hinausgeschafft?« habe ich ihn gefragt. »Ja, wieder sechs oder sieben ... alle Tag so ein halb Dutzend, manchmal auch mehr ... es kommt auch vor, daß einer oder der andere im Wagen drin noch a bissl muckst – aber tut nix – nur 'nein in die Gruben mit die Preußen!«

Am folgenden Tag starb der Unmensch selber und ein anderer mußte sein Amt – zur Zeit das angestrengteste im Ort – übernehmen. Die Post brachte nur Trübes; von überall her Nachrichten über das Wüten der Seuche und Liebesbriefe – ewig unbeantwortet bleibende Liebesbriefe – von dem nichts ahnenden Prinzen Heinrich. An Konrad hatte ich, um ihn auf das Fürchterliche vorzubereiten, eine Zeile geschickt: »Lilli sehr krank.« Er konnte nicht augenblicklich kommen – der Dienst hielt ihn zurück. Erst am vierten Tage kam der Unselige ins Haus gestürzt:

»Lilli?« rief er – »ist es wahr?« Unterwegs hatte er das Unglück erfahren.

Wir bejahten.

Er blieb unheimlich still und tränenlos. »Ich habe sie viele Jahre geliebt,« sprach er nur leise vor sich hin. Dann laut:

»Wo liegt sie? – Auf dem Friedhofe? ... Ich will sie besuchen ... lebt wohl ... sie erwartet mich ...«

»Soll ich mitkommen?« frug ihn jemand.

»Nein, ich gehe lieber allein.«

Er ging – und wir sahen ihn nicht wieder. Am Grabe der Braut hat er sich eine Kugel durch den Kopf gejagt.

So endete Konrad Graf Althaus, Oberleutnant im 4. Husarenregiment, im siebenundzwanzigsten Lebensjahre.

Zu einer anderen Zeit hätte die Tragik dieses Vorfalls viel erschütternder gewirkt, aber jetzt: wie viele junge Offiziere hatte der Krieg unmittelbar weggerafft – diesen mittelbar. Und in dem Augenblick, als wir von der Tat erfuhren, war in unserer Mitte ein neues Unglück ausgebrochen, das unsere ganze Herzensangst in Anspruch nahm: Otto – meines armen Vaters angebeteter, einziger Sohn – war von dem Würgeengel gepackt.

Die ganze Nacht und den folgenden Tag dauerte sein Leiden – unter wechselndem Hoffen und Verzagen – um sieben Uhr abends war alles vorbei.

Mein Vater warf sich auf die Leiche mit einem so markerschütternden Schrei, daß es das ganze Haus durchdröhnte. Wir hatten Mühe, ihn von dem Toten fortzureißen. Ach, und dieser Schmerzensjammer, der jetzt folgte: heulende, brüllende, röchelnde Laute der Verzweiflung waren es, die der alte Mann stunden- und stundenlang ausstieß ... Sein Sohn, sein Stolz, sein Otto, sein alles!

Auf diese Ausbrüche folgte plötzlich starre, stumme Apathie. Dem Begräbnis seines Lieblings hatte er nicht beiwohnen können. Er lag auf einem Sofa regungslos und – beinahe schien es – bewußtlos. Bresser ordnete an, daß er entkleidet und zu Bett gebracht werde. Nach einer Stunde schien er sich zu beleben. Tante Marie, Friedrich und ich waren an seiner Seite. Er schaute eine Zeitlang mit fragendem Blick herum, dann setzte er sich auf und versuchte zu sprechen. Doch brachte er kein Wort hervor und rang mit schmerzverzerrtem Gesicht nach Atem. Da begann es ihn zu schütteln und zu werfen, als wäre er von jenen schauerlichen Krämpfen befallen, welche die letzten Symptome der Cholera sind, und doch hatten sich vorher keine der anderen Erscheinungen bei ihm gezeigt. Endlich brachte er ein Wort hervor: »Martha.«

Ich fiel kniend an der Bettseite nieder:

»Vater, mein teurer, armer Vater! ...«

Er erhob seine Hand über meinem Scheitel:

»Dein Wunsch« ... sprach er mühsam – »sei erfüllt ... ich flu– ich verfluch–«

Er konnte nicht weiter reden und sank in die Kissen zurück.

Mittlerweile war Bresser herbeigekommen und gab auf unser ängstliches Fragen Bescheid:

Ein Herzkrampf hatte meinen Vater getötet. –

»Das Fürchterlichste ist,« sagte Tante Marie, nachdem wir ihn begraben, daß er mit einem Fluch auf den Lippen verschied.«

»Laß das gut sein, Tante,« beruhigte ich sie. » Wenn dieser Fluch erst von aller – aller Lippen fiele, so wäre das der Menschheit größter Segen.«

* * *

Das war die Cholerawoche von Grumitz! In einem Zeitraum von sieben Tagen zehn Bewohner des Schlosses dahingerafft: Mein Vater, Lilli, Rosa, Otto, meine Jungfer Netti, die Köchin, der Kutscher und zwei Stalljungen. Im Dorfe starben in derselben Zeit über achtzig Personen.

Wenn man das so trocken hersagt, klingt es wie eine beachtenswerte statistische Notiz; wenn es in einem erzählenden Buche steht – wie ein übertreibendes Phantasiespiel des Autors. Aber es ist weder so trocken wie das eine, noch so schauerromantisch wie das andere, es ist kalte, greifbare, trauerreiche Wirklichkeit.

Nicht Grumitz allein war in unserer Gegend so hart mitgenommen worden. Wer in den Annalen der nachbarlichen Ortschaften und Schlösser nachblättern will, könnte daselbst viele ähnliche Fälle von Massenunglück finden. Da ist zum Beispiel – in der Nähe des Städtchens Hörn – das Schloß Stockern. Von der Familie, die es bewohnte, sind in der Zeit vom 9. bis 13. August 1866, gleichfalls nach Abmarsch der preußischen Einquartierung, vier Mitglieder – der zwanzigjährige Rudolf, dessen Schwestern Emilie und Bertha, Onkel Candid – und außerdem fünf Personen Dienerschaft – der Seuche erlegen. Die jüngste Tochter, Pauline von Engelshofen, blieb verschont. Dieselbe hat sich in der Folge mit einem Baron Suttner vermählt – auch sie erzählt heute noch mit Schaudern von der Cholerawoche in Stockern.

Es war damals eine solche Trauer- und Sterberesignation über mich gekommen, daß ich stündlich erwartete, der Tod – in dessen Zeichen das Land seit zwei Monaten stand – werde nun mich selber und meine anderen dahinraffen. Mein Friedrich – mein Rudolf: ich beweinte sie schon im voraus.– Bei alledem, mitten in meinem Harme, hatte ich doch süße Augenblicke. Das war, wenn ich an meines Gatten Brust gelehnt, von ihm liebend umschlungen, mein Leid an seinem treuen Herzen ausweinen durfte. Wie sanft er da – nicht Trost-, aber Worte des Mitschmerzes und der Liebe zu mir sprach, es wurde mir dabei so warm und weit ums eigne Herz ... Nein, die Welt ist nicht so schlecht – mußte ich unwillkürlich denken – die Welt ist nicht ganz Jammer und Grausamkeit: es lebt in ihr das Mitleid und die Liebe ... freilich erst in einzelnen Seelen, nicht als allgültiges Gesetz und als obwaltender Normalzustand – aber doch vorhanden; und so wie diese Regungen uns zwei durchglühen, mit ihrer milden Rührung selbst diese Schmerzenszeit versüßend – so wie sie noch in vielen anderen, ja in den meisten Seelen wohnen, so werden sie einst zum Durchbruch gelangen und das allgemeine Verlangen der Menschenfamilie beherrschen: die Zukunft gehört der Güte.

Wir verbrachten den Rest des Sommers in der Nähe von Genf. Es war Doktor Bressers Überredungskunst doch gelungen, uns zur Flucht aus der verseuchten Gegend zu bewegen. Anfangs sträubte ich mich dagegen, die Gräber der Meinen so rasch zu verlassen und war überhaupt, wie gesagt, von solcher Todesergebung erfüllt, daß ich ganz apathisch geworden und jeden Fluchtversuch für unnütz hielt; – aber schließlich mußte Bresser dennoch siegen, als er mir vorhielt, daß es meine Mutterpflicht sei, den kleinen Rudolf so gut wie möglich der Gefahr zu entreißen.

Daß wir als Zufluchtsort die Schweiz gewählt, geschah auf Friedrichs Wunsch. Er wollte sich mit den Männern bekannt machen, welche das »Rote Kreuz« ins Leben gerufen und an Ort und Stelle über den Verlauf der stattgehabten Konferenzen, sowie über die weiteren Ziele der Konvention sich unterrichten.

Seinen Abschied vom Militärdienst hatte Friedrich eingereicht, und vorläufig, bis zur Erledigung des Gesuches, einen halbjährigen Urlaub erhalte. Ich war nun reich geworden, sehr reich. Der Tod meines Vaters und meiner drei Geschwister hatte mich in den Besitz von Grumitz und des sämtlichen Familienvermögens gesetzt.

»Sieh her,« sagte ich zu Friedrich, als mir vom Notar die Besitzdokumente übermittelt wurden. »Was würdest du dazu sagen, wenn ich den stattgehabten Krieg nun preisen wollte, wegen dieses durch seine Folgen mir zugefallenen Vorteils?«

»Dann wärst du meine Martha nicht? Doch – ich verstehe, was du sagen willst. Der herzlose Egoismus, der sich über materiellen Gewinn zu freuen vermag, welcher aus dem Verderben anderer sproßt – diese Regung, die der einzelne,, wenn er wirklich niedrig genug ist, sie zu fühlen, doch sorgfältig zu verbergen trachtet – zu der bekennen sich stolz und offen Nationen und Dynastien: Tausende sind unter unsäglichem Leid zu Grunde gegangen – aber wir haben dadurch an Territorium, an Macht gewonnen: dem Himmel sei Dank für den glücklichen Krieg.«

Wir lebten sehr still und zurückgezogen in einer kleinen, am Ufer des Sees gelegenen Villa. Ich war von den durchgemachten Ereignissen so gedrückt, daß ich durchaus mit keinem fremden Menschen Umgang haben wollte. Friedrich respektierte meine Trauer und versuchte gar nicht, das banale Mittel »Zerstreuung« dagegen vorzuschlagen. Ich war es den Grumitzer Gräbern schuldig – das sah mein zartfühlender Gatte wohl ein – ihnen eine Zeitlang in aller Stille nachzuweinen. Die der schönen Welt so rasch und grausam Entrissenen sollten nicht auch noch der Erinnerungsstätte, die sie in meinem trauernden Herzen hatten, ebenso rasch und kalt beraubt werden.

Friedrich selber ging oft in die Stadt, um dort den Zweck seines hiesigen Aufenthaltes, das Studium der Rote-Kreuz-Frage zu betreiben. Von den Ergebnissen dieses Studiums habe ich keine klare Erinnerung mehr; ich führte damals kein Tagebuch, und so ist mir meist wieder entfallen, was mir Friedrich von seinen betreffenden Erfahrungen mitteilte. Nur eines Eindruckes erinnere ich mich deutlich, den mir die ganze Umgebung machte: die Ruhe, die Unbefangenheit, die heitere Geschäftigkeit aller Leute, die ich zufällig sah – als lebte man mitten in friedlichster, gemütlichster Zeit. Fast nirgends ein Echo von dem stattgehabten Krieg, höchstens in anekdotischem Tone, wie wenn derselbe ein interessantes Ereignis mehr abgegeben hätte – weiter nichts – das neben dem übrigen Europaklatsch vorteilhaft Gesprächsstoff lieferte; – als hätte das grausige Kanonendonnern auf den böhmischen Schlachtfeldern nichts Tragischeres an sich als eine neue Wagnersche Oper.

Das Ding gehörte nunmehr der Geschichte an, hatte einige Landkarten-Umänderungen zur Folge – aber dessen Schauerlichkeit war aus dem Bewußtsein geschwunden – in das der Unbeteiligten vielleicht niemals gedrungen ... vergessen, verschmerzt, verwischt. Ebenso die Zeitungen – ich las zumeist französische Blätter: – alles Interesse auf die für 1867 sich vorbereitende Pariser Weltausstellung, auf die Hoffeste in Compiègne, auf literarische Persönlichkeiten (es tauchten ein paar neue vielbestrittene Talente auf: Flaubert, Zola), auf Theaterereignisse: eine neue Oper von Gounod – eine von Offenbach der Hortense Schneider zugedachte Glanzrolle u. dgl. gerichtet. Das kleine pikante Duell, welches die Preußen und Österreicher là-bas en Bohème ausgefochten, das war schon eine etwas verjährte Angelegenheit ... O, was drei Monate zurückliegt oder dreißig Meilen entfernt ist, was nicht im Bereich des Jetzt und des Hier sich abspielt, dort reichen die kurzen Fühlhörnchen des menschlichen Herzens und des menschlichen Gedächtnisses nicht hin.

Gegen Mitte Oktober verließen wir die Schweiz. Wir begaben uns nach Wien zurück, wo die Abwicklung der Verlassenschaftsangelegenheiten meine Anwesenheit erheischte. Nach Erledigung dieser Geschäfte beabsichtigten wir, uns auf längere Zeit in Paris niederzulassen. Friedrich führte im Sinn, der Idee der Friedensliga nach Kräften die Wege zu ebnen, und er war der Ansicht, daß die bevorstehende Weltausstellung die beste Gelegenheit biete, einen Kongreß der Friedensfreunde zu veranstalten; auch hielt er Paris für den geeignetsten Ort, eine internationale Sache wirksam zu vertreten.

»Das Kriegshandwerk habe ich niedergelegt,« sagte er, »und zwar habe ich das aus einer im Kriege selber gewonnenen Überzeugung getan. Für diese Überzeugung nun will ich wirken. Ich trete in den Dienst der Friedensarmee. Freilich noch ein ganz kleines Heer, dessen Streiter keine andere Wehr und Waffen haben als den Rechtsgedanken und die Menschenliebe. Doch alles, was in der Folge groß geworden, hat klein und unscheinbar begonnen.

»Ach,« seufzte ich dagegen, »es ist ein hoffnungsloses Beginnen. Was willst du – einzelner – erreichen, gegen jenes mächtige, jahrtausendalte, von Millionen Menschen verteidigte Bollwerk?«

»Erreichen? Ich? ... Wahrlich, so unvernünftig bin ich nicht, zu hoffen, daß ich persönlich eine Umgestaltung herbeiführen werde. Ich sagte ja nur, daß ich in die Reihen der Friedensarmee eintreten wolle. Habe ich etwa, als ich im Kriegsheer stand, gehofft, daß ich das Vaterland retten, daß ich eine Provinz erobern würde? Nein, der einzelne kann nur dienen. Mehr noch; er muß dienen. Wer von einer Sache durchglüht ist, der kann nicht anders als für sie wirken, als für sie sein Leben einsetzen – wenn er auch weiß, wie wenig dieses Leben an und für sich zum Siege beitragen kann. Er dient, weil er muß: nicht nur der Staat – auch die eigene Überzeugung, wenn sie begeistert ist, legt eine Wehrpflicht auf.«

»Du hast recht. Und wenn endlich Millionen Begeisterter dieser Wehrpflicht genügen, dann muß jenes von seinen Verteidigern verlassene, jahrtausendalte Bollwerk auch zusammenfallen.«

Von Wien aus machte ich eine Pilgerfahrt nach Grumitz – dessen Herrin ich nun geworden. Doch ich betrat gar nicht das Schloß. Nur auf dem Friedhof legte ich vier Kränze nieder und fuhr wieder zurück.

Nachdem meine wichtigsten Geschäfte geordnet waren, schlug Friedrich eine kleine Reise nach Berlin vor, um der beklagenswerten Tante Kornelie einen Besuch zu machen. Ich willigte ein. Für die Dauer unserer Abwesenheit übergab ich meinen kleinen Sohn der Aufsicht Tante Mariens. Letztere war durch die Ereignisse der Grumitzer Cholerawoche unbeschreiblich niedergedrückt. Ihre ganze Liebe, ihr ganzes Lebensinteresse übertrug sie jetzt auf meinen kleinen Rudolf. Ich hoffte auch, daß es sie ein wenig zerstreuen und aufrichten werde, das Kind eine Zeitlang bei sich zu haben.

Am 1. November verließen wir Wien. In Prag unterbrachen wir unsere Reise, um zu übernachten. Tags darauf, statt die Reise nach Berlin fortzusetzen, machten wir eine neue Pilgerfahrt.

»Allerseelentag!« sagte ich, als mein Blick auf das Datum eines mit dem Frühstück in unser Hotelzimmer gebrachten Zeitungsblattes fiel.

»Allerseelen« – wiederholte Friedrich. »Wieviel arme Tote hier auf den nahen Schlachtfeldern, denen nicht einmal dieser Gräber-Ehrentag zugute kommt – weil sie keine Gräber haben ... Wer wird sie besuchen?«

Ich sah ihn eine Weile schweigend an. Dann halblaut:

»Willst du?«

Er nickte. Wir hatten uns verstanden, und eine Stunde später waren wir auf dem Weg nach Chlum und Königgrätz.

* * *

Welch ein Anblick!

Eine Elegie Tiedges kam mir in den Sinn

»Welch ein Anblick! Hierher, Volksregierer!
Hier bei dem verwitternden Gebein
Schwöre, deinem Volk ein sanfter Führer,
Deiner Welt ein Friedensgott zu sein.

Hier schau' her, wenn dich nach Ruhme dürstet,
Zähle diese Schädel, Völkerhirt,
Vor dem Ernste, der dein Haupt, entfürstet,
In die Stille niederlegen wird.

Laß im Traum das Leben dich umwimmern,
Das hier unterging in starres Grauen;
Ist es denn so lockend, sich mit Trümmern
In die Weltgeschichte einzubauen?«

Leider ja, es ist verlockend, so lang die Weltgeschichte – das heißt diejenigen, welche sie schreiben – die Heldenstandbilder aus Kriegstrümmern aufbauen, so lang sie den Titanen des Völkermordes Kränze reichen. Auf den Lorbeerkranz verzichten, dem Ruhme entsagen, wäre edel – meint der Dichter? Erst werde das Ding, auf das zu verzichten so wohltätig erschiene, seines Nimbus entkleidet und kein Ehrgeiziger wird mehr danach greifen.

Es dämmerte schon, als wir in Chlum ankamen und von da, Arm in Arm, in schweigendem Schauer, dem nahen Schlachtfelde zuschritten. Es fiel ein mit ganz kleinen Schneeflocken gemischter Nebel, und die kahlen Äste der Bäume bogen sich unter dem schrill klagenden Pfeifen eines kalten Novemberwindes. Massen von Gräbern und Massengräber rings umher. Aber ein Friedhof? Nein. Da hatte man keine müden Lebenspilger zur Ruhe friedlich hingebettet, da wurden mitten in ihrem jugendlichen Lebensfeuer, in ihrer vollsten Manneskraft strotzende Zukunftsanwärter gewaltsam niedergeworfen und mit Grabeserde überschaufelt. Verschüttet, erstickt, auf ewig stumm gemacht – alle die brechenden Herzen, die blutig zerfetzten Glieder, die bitterlich weinenden Augen – die wilden Verzweiflungsschreie, die vergeblichen Gebete ...

Einsam war es auf diesem Kriegsacker nicht. Viele, viele hatte der Allerseelentag hierhergebracht – aus Freundes- und aus Feindesland – welche gekommen waren, auf der Stätte niederzuknien, wo ihr Liebstes gefallen. Schon der Zug, mit dem wir gekommen, war mit anderen Trauernden gefüllt gewesen – und so hatte ich schon mehrere Stunden lang um mich jammern und klagen gehört. »Drei Söhne – drei Söhne ... einer schöner und besser und lieber als der andere – habe ich bei Sadowa verloren!« erzählte uns ein ganz gebrochen aussehender alter Mann. Noch mehrere andere der Wagengenossen mischten ihre Klagen dazu: um den Bruder, den Gatten, den Vater. – Aber von allen diesen hat mir keiner solchen Eindruck gemacht, wie das tränenlose, dumpfe »Drei Söhne, drei Söhne!« des armen Alten.

Auf dem Felde selbst sah man von allen Seiten, auf allen Wegen schwarze Gestalten, gehen, oder knien – oder mühsam weiter schwanken, mitunter laut aufschluchzend zusammenbrechen. Es waren nur wenig Einzelgräber da, nur wenig inschrifttragende Kreuze oder Steine. Wir bückten uns und entzifferten, so gut das Dämmerlicht es noch gestattete, einige Namen.

Major von Reuß vom 2. preußischen Garderegiment.

»Vielleicht ein Verwandter vom Bräutigam unserer armen Rosa,« bemerkte ich.

Graf Grünne – Verwundet 3. Juli – gestorben 5. Juli ...

Was mag er in den zwei Tagen gelitten haben! ... Ob das wohl ein Sohn des Grafen Grünne war, der vor dem Krieg den bekannten Satz geäußert: »Mit nassen Fetzen werden wir die Preußen verjagen?« Ach wie wahnwitzig und frevlerisch, wie schrill mißtönig klingt doch jedes vor dem Kriege gesprochene Aufreizungswort, wenn man sich's an solcher Stelle wiederholt! Worte: – weiter nichts – Prahlworte, Hohnworte, Drohworte – gesprochen, geschrieben und gedruckt – die nur haben dieses Feld bestellt ...

Wir gehen weiter. Überall mehr oder minder hohe, mehr oder minder breite Erdhügel ... auch da, wo der Boden nicht erhaben ist, auch unter unseren Füßen modern vielleicht Soldatenleichen – – –

Immer dichter rieselt der Nebel:

»Friedrich – setze doch deinen Hut auf: du wirst dich erkälten.«

Friedrich aber blieb unbedeckt – und ich wiederholte meine Mahnung kein zweites Mal.

Unter den Leidtragenden, die hier umherwandelten, befanden sich auch viele Offiziere und Soldaten; wahrscheinlich solche, die den heißen Tag von Königgrätz selber mitgemacht und jetzt an die Stelle gepilgert waren, wo ihre gefallenen Kameraden ruhten.

Jetzt waren wir an den Platz gelangt, wo die meisten Krieger – Freund und Feind nebeneinander – begraben lagen. Der Platz war – wie ein Kirchhof – umfriedigt. Hierher strömte die größte Anzahl der Trauernden, denn auf dieser Stelle war es am wahrscheinlichsten, daß die von ihnen Beweinten da begraben seien. An dieser Umfriedigung knieten und schluchzten die Beraubten, hier hingen sie ihre Kränze und ihre Grablaternen auf.

Ein großer schlanker Mann, von vornehmer jugendlicher Gestalt, in einen Generalsmantel gehüllt, kam auf den Tumulus zu. Die anderen wichen vor der Stelle ehrerbietig zurück, und ich hörte einige Stimmen flüstern:

»Der Kaiser ...«

Ja, es war Franz Joseph. Der Landesherr, der oberste Kriegsherr war es, der da am Allerseelentag gekommen war, für seine toten Landeskinder, für seine gefallenen Krieger ein stilles Gebet zu verrichten. Auch er stand unbedeckten, gebeugten Hauptes da, in schmerzerfüllter Ehrerbietung von der Majestät des Todes. Lange, lange blieb er unbeweglich. – Ich konnte mein Auge nicht von ihm wenden. Was mochten für Gedanken durch seine Seele ziehen – was für Gefühle durch sein Herz, welches doch – das wußte ich – ein gutes und ein weiches Herz war? Es überkam mich, als könnte ich ihm nachfühlen, als könnt ich gleichzeitig mit ihm die Gedanken denken, die seinen gesenkten Kopf durchkreuzten:

... Ihr, meine armen Tapferen ... gestorben ... und wofür? ... Wir haben ja nicht gesiegt ... mein Venedig! Verloren ... so vieles, so vieles verloren ... auch euer junges Leben ... Und ihr habt es so opfermutig hergegeben ... für mich ... O könnte ich es euch zurückgeben! Ich, für mich, habe ja das Opfer nicht begehrt – für euch, für euer Land, ihr meine Landeskinder, seid ihr in diesen Krieg geführt würden ... Und nicht durch mich ... wenn es auch auf meinen Befehl geschehen – hab' ich denn nicht befehlen müssen? Nicht meinetwillen sind die Untertanen da – nein, ihretwillen bin ich auf den Thron berufen ... und jede Stunde wäre ich bereit, für meines Volkes Wohl zu sterben ... O, hätte ich meinem Herzensdrang gefolgt und nimmer »ja« gesagt, wenn sie alle um mich herum riefen: »Krieg, Krieg!«... Doch – konnte ich mich widersetzen? Gott ist mein Zeuge, ich konnte nicht ... Was mich drängte, was mich zwang – ich weiß es selbst nicht mehr genau – nur so viel weiß ich – es war ein unwiderstehlicher Druck von außen – von euch selber, ihr toten Soldaten ... O wie traurig, traurig, traurig – was habt ihr nicht alles gelitten und jetzt liegt ihr hier und auf anderen Wahlstätten – von Kartätschen und Säbelhieben, von Cholera und Typhus hingerafft ... O hätte ich »nein« sagen können ... du hast mich darum gebeten, Elisabeth ... O hätte ich's gesagt! Der Gedanke ist unerträglich, daß ... ach, es ist eine elende, unvollkommene Welt ... zu viel, zu viel des Jammers! ...

Immer noch, während ich so für ihn dachte, haftete mein Auge an seinen Zügen, und jetzt – ja es war »zu viel, zu viel des Jammers« – jetzt bedeckte er sein Gesicht mit beiden Händen und brach in heftiges Weinen aus.

So geschehen am Allerseelentag 1866 auf dem Totenfelde von Sadowa.


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