Auguste Supper
Das hölzerne Schifflein
Auguste Supper

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Mit mächtiger Schleife umzieht der glasgrüne Fluß ein Gelände, das seit alten Zeiten der Riesenkopf heißt.

In flachen, langgestreckten, teils mit Gras und Heidekraut, teils mit Ginster und Tannenschonungen bestandenen Wellen verläuft oben das Land wie eine gefurchte Stirne. Unten, am Hals, wo die Flußwindungen sich am meisten einander nähern, führt ein sandiger Pfad durch die Heide, auf dem im Sonnenschein die Schmetterlinge spielen und bei Regen die schleimigen Schnecken ihre Spuren lassen.

Abseits von Wegen und Pfaden ragt ein großer grauer Stein in der Einsamkeit. Wenn die Sonne des hohen Sommers darauf liegt, flirrt und flimmert es oft aus ihm, als breche Stolz und Freude aus allen seinen Poren.

Und sollte sich ein Mithrasstein nicht freuen, wenn seine hohe Herrin, seine strahlende Gottheit in mächtigem Bogen über ihn hinzieht? Heilige Feste aus seiner uralten Vergangenheit fallen ihm dann ein, Feste, bei denen er der Mittelpunkt war, wie er jetzt ein Vergessener ist. Wer aber gedenkt nicht gerne in den Zeiten der Kümmerlichkeit ferner Tage des Ruhms und der Ehre!

Auf dem grünen Grund, den der Fluß durchströmt, wenn er die Schleife um den Riesenkopf 8 hinter sich hat, steht ein Dorf. Dunkelbewaldete Hänge schauen darauf herein, und die grünen Flußwellen eilen nicht allzufern daran vorüber. Neu und gleichförmig an breiten Gassen aufgereiht stehen die Häuser, und fremd, verirrt, einsam ragt an freiem Platz die graue alte Kirche mit den beiden mächtigen Silberpappeln vor dem Eingang.

Man sieht, daß dieses Dorf und diese Kirche einander eigentlich nichts angehen, daß sie nicht Kinder eines Zeitenschoßes sind. Und man sieht auch, daß das Dorf nicht, wie es doch sein soll, von innen heraus gewachsen ist. Es haben da nicht die Häuser Junge gekriegt oder Absenker und Auswüchse. Nicht Generationen haben hier gehaust, die von Zeit zu Zeit keinen Raum mehr gehabt und neue Zellen angefügt haben für Nachkommen und Nachkömmlinge.

Nach fertigem Plan, wie aus der Schachtel genommen, steht die Siedlung um die Kirche, und die Ehrwürdige kann in kein rechtes Verhältnis kommen zu solcher Nachbarschaft.

Versunken in Erinnerungen, fremd und stumm steht sie und denkt an das, was einst mit ihr jung war, neben ihr alt wurde und dann verschwand. An die biberschwanzgedeckten Dächer des Nonnenklösterleins, die ihr ehrfürchtig und demütig zu Füßen lagen, an die mächtigen Linden, die, ein stolzes 9 Zwillingspaar, lang vor den emporgeschossenen Silberpappeln vor ihren Toren rauschten, und auch – wer wollte es ihr verargen – an den Glanz und Klang der vergangenen Gottesdienste, da noch nicht der Augustiner die starke und kühne Bauernhand an heiligen Flitter gelegt hatte, um ihn abzureißen, ehe das Heilige darunter ersticke.

Als eine harte, wenn wohl auch notwendige Tat empfand es die Kirche, und sie wußte, daß damit ihre und auch der Menschen sorglose Zeit auf immer zu Ende gegangen und der nackte, schwere, zwingende Lebensernst heraufgezogen war.

Tat so die Kirche fremd und kalt gegen außen, so konnte ihr doch manchmal das hartverwahrte Herz aufgehen, je nachdem ein Mensch bei ihr eintrat. So kam beispielsweise vor langen Jahren ein ganz weißhaariger Stelzfuß zu ihr, von dem einiges gesagt werden muß.

Sein Wagen hatte einen Schaden genommen und mußte ausgebessert werden beim Dorfschmied. Aus Langeweile und weil es in Meßberg nicht viel zu sehen gab, trat der Reisende in die Kirche. Er war lange in keinem Gotteshaus gewesen, und auch heute galt der Besuch nur dem Raum, nicht dem Hausherrn.

Der Stelzfuß, dem die Spuren und Narben eines harten, ja wilden Lebens ins Gesicht geschrieben 10 waren, trat, sein Hütlein in der Hand haltend, in eine vordere Bank, weil ihm das harte Klopfen seines Stelzbeines auf den Fliesen, das in der leeren Kirche lauten Hall gab, zuwider war. Klang es nicht, als wolle es jemand oder etwas herbeirufen? Und es war doch dem verwitterten Alten nicht darum zu tun, in einer Kirche Begegnungen zu haben oder Zwiesprach zu halten.

In die schöngegliederte Wölbung des Schiffs und nach den prächtigen Glasfenstern schaute er, hinter denen die Frühlingssonne stand. Am holzgeschnitzten mächtigen Kruzifixus, der im Chor an einer Kette von der Decke hing, glitt sein Blick in scheuer Flüchtigkeit vorüber.

Dann nahm er einen silbernen Sechsbätzner aus dem Beutel, um ihn beim Fortgehen in die Opferbüchse zu legen. Er drehte die Münze in den Fingern und dachte spottend, um welcher seiner Sünden willen er sie opfern wolle? Das Wort »Sünde« aber war der alten Kirche wie ein Stichwort. Sie fing im selben Augenblick zu reden an.

Stark zitterte dem Manne die Hand. Die Münze entrollte ihm. Er stöberte unter den Bänken mit seinem Stock; aber nur Staub und Moder quoll hervor. Ermüdet, mit unruhig klopfendem Herzen, setzte er sich nochmals in eine Bank. Die Kirche 11 redete und redete. Wie die Uralten es im Brauch haben, fing sie bei ihrer frühesten Kindheit an. Bei den frommen Nönnlein, den klugen Priorinnen. Über Jahrhunderte redete sie hinüber wie über Tage und Stunden. Sie beschrieb jetzt dem Gast die Häuser, die einst um sie und das Klösterlein herstanden, sie nannte Namen von altem, verschollenem Klang, an die kein Mensch mehr dachte.

Auf einmal war einer darunter, bei dem des Lauschenden Blick dunkler wurde. Verwirrt hob er den Kopf, wie ein aus der Ferne Angerufener. Da sah er den Namen, um den es sich handelte, neben sich an der Kirchenwand in roten Sandstein gemeißelt. Taumelnd fast trat er aus der Bank und vor den Stein.

Siehe, da stand geschrieben: »Hier ruht in Gott der Letzte seines Geschlechts: Anselm Veit von Siegeborn. Ihre Werke folgen ihnen nach.«

Regungslos stand der Alte.

Fing nicht die Kirche bei seinem Erstaunen zu lachen an? Erst heimlich und leise, dann hallend und schallend, daß die blanken Pfeifen der Orgel nur so grinsten? Scheu sah der Mann sich um. Und dann tat er etwas Unerhörtes. Etwas, was er nie getan hatte, seit ihm das hölzerne Bein angeschnallt war, und auch vorher nur ein paarmal: er drückte die 12 Hände vors Gesicht, und eine Träne rieselte an den Fingern entlang.

Die Kirche aber raunte: »Siehst du nun, wie das ist, wenn man im öden Alter an seine blühende Jugend denkt! In funkelnden Jahren war der Siegeborn dein treuester Freund, dein liebstes Bruderherz. Um ein Weib kamet ihr auseinander, ihr jähen Hitzköpfe. Jahrelang habt ihr euch dann gehaßt mit jenem grimmigen Haß, der zu Asche gebrannte Liebe ist. Fallen einmal Tränen darein, so wird wieder Liebe daraus . . . Nie hast du einen Menschen geliebt, wie den da unten. Wild, zerfahren wurde dein Leben, als ihr euch getrennt! Nie hörtest du Kunde von ihm, bis deine Jugend hinter allen Bergen lag. Denkst du noch an den Tag, als dein Bein zuschanden ging? Dein Regiment war aufgerieben, dein Leib zerfetzt, deine Seele wund. Der Medikus, der das strömende Blut stillte, gab keinen Pfennig um dein Leben. Eins nur hast du da inbrünstig gedacht: ich will nicht sterben, ehe ich ihm, meinem Kameraden, noch einmal über den Weg gelaufen bin! Heute endlich ist's so weit. Heute kreuzt er deinen Weg und du bist nah am Ziel!«

Der Weißkopf hörte nur noch mit halbem Ohr, was die Kirche weiter erzählte von dem großen Brand, der Dorf und Kloster zerstört und sie einsam in einer fremden Welt zurückgelassen hatte. 13

Seine Gedanken waren bei dem Toten unter der Platte, und plötzlich sah er den Sechsbätzner auf dem Grab des letzten Siegeborn liegen. Scheu hob er das Geldstück auf, das ihm der Tote darbot.

Die Kirche lachte kichernd. »Du hast geflucht, weil ich dir den Batzen abnahm, und ich wollte dir doch nur den Freund dafür herausgeben. Gute Ware für gutes Geld – ich lasse mir nichts schenken.«

Die Münze entrollte zum zweiten Male des Alten Hand. »Es ist mir nicht zu teuer,« murmelte er verstört, »daß ich um einen Sechsbätzner den Siegeborn soll gefunden haben. Wären die Goldgulden nicht vertan, ich wollte wohl einen in den Kasten legen. Schlaf wohl, du! Mich alten Sünder wird man schwerlich in eine Kirche betten. Ich bin auch nicht der Letzte eines Geschlechts. Weit fort von da hat es Junge meines Namens und Junge meines Bluts mit fremden Namen. Wild war die Zeit und heiß das Blut. Wenn einmal wieder einer, der von mir stammt, zu dir kommt, dem kannst du den Sechsbätzner reichen, wie vorhin mir. Es mag leicht ein armer Teufel sein. Und jetzt: fahr wohl! –«

Er klopfte mit dem Stelzbein auf die Grabplatte und humpelte hinaus, wo der Frühlingswind in den jungen Blättern der Silberpappeln raunte. 14

Das ist lange her. Irgendwo in der Gegend ist des Weißkopfs Grab. Sein Stelzfuß und der Ruf seines wilden Lebens war alles, was er seinen fernen Erben unverpfändet zurückließ. Aber sie ließen sich daran genügen. Es war ihnen eine schöne Mär, daß ein kühner Abenteurer ihres Namens, ein tapferer, wenn auch zügelloser Kumpan in der Erde gebettet lag, dort, wo sie ursprünglich herstammten. – –

Nach jenem großen Brand, von dem die graue Kirche wußte, erstand das Dorf Meßberg in seiner jetzigen Gestalt. Die roten Ziegeldächer leuchteten bald durchs Wiesental, als sei etwas von der Feuersglut hineingeknetet. Manchmal dachte vielleicht ein Wanderer, der von den Höhen herüberschaute, es wäre kein Fehler gewesen, wenn auch die Kirche in Asche gesunken wäre; denn wie ein grauer, berußter Fleck lag sie zwischen der frischen Neuheit. Aber die Einsichtigen wünschten das nicht. Sie wußten zu gut, daß ein neues Gotteshaus lange Zeit ist wie eine neue Geige, die nicht singen und den vollen, echten Klang nicht hergeben will, selbst wenn ein Meister sie streicht.

Erst die dahingegangenen Geschlechter, die Scharen der lauschenden Unsichtbaren, die um Altar und Kanzel schweben, die über den Taufstein gleiten und in den Nischen knien, erst sie nehmen der Kirche das 15 Kahle, Leere und Herbe, erst ihr heiliges Schweigen gibt den Unterton zu Predigt und Lied.

Auf dem uralten Klostergrund und zum Teil auch auf den rauchgeschwärzten Steinen der dahingesunkenen Heiligtümer entstand das Pfarrhaus und unweit davon, drüben über den großen, stillen, aneinanderstoßenden Gärten, die Jägermeisterei, oder, wie es später hieß, das Forsthaus.

Man konnte in den Gärten lange nicht graben und hacken, ohne auf Spuren von Einst zu stoßen, und manche Menschen konnten in ihnen nicht in der stillen Sonne liegen oder in den verschlungenen Wegen lustwandeln, ohne Dinge und Klänge zu vernehmen, die nicht zum Heute gehörten, sondern wie ein nachgebliebener Ruch von Vergangenem waren. Freilich, die Lauten, die Stumpfen, die noch nicht zu echter Bewußtheit Erwachten, vernahmen nichts.

Es kamen und gingen die Jahre. Das leuchtende Rot auf den Dächern blaßte ab. Im stattlichen Pfarrhaus und im weitläufigen Forsthaus wechselten die Insassen.

Unter den Pfarrern war einer – nein zwei – die von dem Besonderen wußten. Aber sie waren klug genug, nicht davon zu reden. Sie fühlten, daß man eine hartmäulige Zeit nicht mit schleierzarten 16 Dingen aufzäumt, und taten danach. Es genügte ihnen und war ihre heimliche Freude, daß sie durch jenes unmerkliche Anstreifen von der anderen Seite her beständig an die unausschöpfbare Fülle alles Seins erinnert und so durch die bitterste Fährlichkeit ihres harten Berufs hindurchgesteuert wurden: durch die Fährlichkeit, immer Sicherheit zeigen zu müssen, auch wo oft nur Sehnsucht vorhanden ist.

Auch im Forsthaus kamen und gingen die Männer. Von einem – Jägermeister hießen sie damals noch – erzählte man sich noch viele Jahre nachher allerlei tolle Geschichten. Er soll einst seine ganze große Jagdmeute blau angestrichen haben, weil der regierende Herr die Hunde nicht schön in der Farbe gefunden hatte. Ein andermal ließ er im Kesseltreiben einen zahmen Eber mittreiben, so daß ein hoher Jagdgast darauf zu Schuß kam.

Wild und zügellos in Sitten und Sinnen, führte er dann in das Forsthaus ein wunderschönes, schwarzbraunes Weib ein, von dessen Herkunft niemand etwas Rechtes wußte. Er setzte auch, soviel man erfuhr, keinen Pfarrer ins Brot um der Schwarzhaarigen willen. Wie Einsame auf einer Insel, geschieden von aller Welt und nur heimisch im Wald, lebten die beiden ein Leben, das allen Ärgernis war, weil keiner es kannte. 17

In einer Seuchenzeit, die hart über Meßberg dahinfuhr, starb als erste die Schwarze, und sie nahm ihren neugeborenen Knaben mit ins Grab.

Da irrte der Mann Tage und Nächte durch den Wald, der damals noch von den Hängen herunter bis dicht an Meßberg heran ging.

Es hieß, er habe erst fluchend und dann klagend ihren Namen in die Einsamkeit hineingerufen, und in einer Kluft zwischen Felsen klinge es heute noch, wenn der Sturm von Nordost her brause, wie »Ursa«.

Der Schmerz um das Weib riß des Mannes wilde Seele auf, wie die blitzende Pflugschar den harten Boden. Und auf den gelockerten Schollen fing manches zu keimen an, was keiner vermutet hätte. Jener Jägermeister wurde ein heimlicher Freund der Elenden. Aber nicht derer, die ihre Not schamlos vor sich hertragen, sondern der verschwiegenen, die ihre Bürde lautlos schleppen.

Auch die Heimatlosen und Landfremden, die Stromer und Vaganten, die er einst grimmig gehaßt hatte, weil sie Wild und Wald gefährlich wurden, sie hatten jetzt – so hieß es – eine heimliche Freistatt bei ihm und er helfe ihnen weiter um Gottes willen, als ob sie seine Brüder seien, weil die Ursa aus ihrer Zunft gewesen. 18

Der Wald und das Wild aber wurden ihm Heimat und Freundschaft. Sie waren es auch, die seinen letzten Seufzer hörten an einem Frühlingsabend, als die Schnepfen über die Waldblöße strichen und der Himmel in Glut stand. Auf der Höhe, am Stamme einer einsamen Föhre sitzend, fand man ihn. Um seine bleiche freie Stirn spielte das Haar im lauen Wind, seine Augen standen offen, als schauten sie weit hinaus in fremdes, seliges Land, und seine Züge trugen jenes seltsam stolze, überlegene Lächeln, das nur der Tod auf ein Antlitz prägen kann. Am Föhrenstamm aber lief ein Eichhorn mit gellendem Pfeifen in die Höhe, und in dem rauschenden Wipfel sang ein Vogel ein Lied, das kein Meßberger kannte.

»Wolf und Ursa von Seltstein« steht heute noch auf der verwitterten Platte, die das Doppelgrab deckt. Gestrüpp wuchert darüber und freche Nesseln, die so gern aus den Gräbern der Vergessenen sprossen.

Aber die seltensten Vögel singen den ganzen Sommer über dort ihre fremdartigen Lieder. Und wenn der Schnee auf den breiten Hügel stäubt, fangen heimlich die Christrosen unter dem erfrorenen Gras zu blühen an.

In der Vorstellung der Meßberger und aller am Riesenkopf lebte der alte Jägermeister als eine Art 19 Eulenspiegel. Wenn irgendwo ein toller und verwegener oder auch törichter und lustiger Streich geschah, so sagte man von seinem Urheber: »Er ist ein Kerl wie der Seltstein.« Aber gestorben ist seither niemand mehr so einsam, schön und friedvoll wie jener Jägermeister.

Zwischen Dorf und Forsthaus war, solange man denken konnte, nie, oder doch recht selten, völliges Einvernehmen. Ja, es hatte schon Zeiten grimmigen Hasses gegeben. Die Meßberger konnten das Wildern nicht lassen. Sie sahen kein Unrecht darin, oder gaben doch vor, keines zu sehen. Der Herrgott – sagten sie trotzig – habe den Wald nicht nur für den Fürsten wachsen lassen. Als gar in späteren Jahren redegewandte Aufklärer in das abgeschiedene Dorf kamen, als betriebsame Männer aus fernen Städten den ganzen billigen Abfall und Kehricht aus den Studierstuben herzuschleppten und unter die Bauern verteilten, so daß man auch zu Meßberg erfuhr und durchschaute, daß die Sache mit dem sogenannten Herrgott nur freche Bauernfängerei sei – da schwoll auch vielen von denen der Kamm, die seither noch das Joch Gottes, wenn vielleicht auch unwillig, getragen hatten.

Sie hoben die Stirnen wie zornige Stiere, maulten stündlich von Menschenrechten, und merkten darüber 20 nicht, wie man ihnen ihr stolzestes und schönstes aus den Händen nahm und zerbrach. Das waren dann die, die sich wie Helden vorkamen, wie Vorkämpfer für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, wenn sie des Fürsten Hasen und Rehe in scheußlichen Schlingen fingen und keine Obrigkeit scheuten und anerkannten.

Als diese neue Narrheit am schlimmsten wütete, war zu Meßberg ein Forstmeister, dem der Tod wie ein Werwolf im Nacken hing. Er fühlte wohl, wie das Untier saugte und saugte, und über dem Bemühen, es noch einmal abzuschütteln, überließ er Wald und Wild ihrem Schicksal.

Aber im Pfarrhaus, drüben über den Gärten, hauste ein Gesunder. Hartmut Bauer hieß er. Ein kleiner, fast häßlicher Mann. Im Wald, wenn der Sturm durch die Wipfel brauste, machte er manchmal seine Predigten, als könne er da etwas für sich heraushören. Kein Wunder, daß dann die Meßberger unter seinen Worten die Köpfe beugten und das Gefühl hatten, eine zornige Kraft schüttle sie. Manchmal saß er auch auf der lichten Höhe, wo man den Seltstein gefunden hatte. Die Föhre, an deren Stamm er sich lehnte, war wohl nicht mehr dieselbe, die über dem Toten gerauscht hatte. Aber einsam und wissend stand auch sie auf der Blöße. 21

Des Pfarrers Augen müssen dort oft das gleiche ferne, selige Land erschaut haben wie der Tote, denn sein unschönes Gesicht war dann überloht von hoher und seltsamer Schönheit. Die Predigten, die er dort oben holte, bot er seiner schwarzen Schar unter der Kanzel so dar, wie ein Rosenstrauch seinen Duft in die Lüfte streut, oder wie die Quelle ihr Wasser bietet.

Er hatte erlebt, daß Der, dessen Name jeden Menschenmund versengen müßte, aufglüht im Menschen neben dem dunklen und dumpfen Tier. Er hatte erlebt, daß dieses unaussprechlich süße Licht verborgene Kräfte auflodern, ungeahnten Reichtum hervorbrechen läßt. Er hatte erlebt und durchschaut, daß es dieser Reichtum und diese Kräfte sein müssen, die dem dunklen und dumpfen Tier zu Leib gehen, so, daß es nicht nur für eine Stunde sich knirschend duckt. Darum war sein Predigen wie sein Leben ein immerwährendes Ausschauen nach diesem wunderbaren Licht, ob er nicht irgendwo ein Fünkchen sehe, ein scheues Glimmen, einen heimlichen Schein.

Und wo er solches fand, da schaffte er, oft unter tausend Nöten, Luft und Nahrung für den Gottesfunken; denn seine Seele ahnte, daß ein echter Priester des Allerhöchsten nicht mehr und nicht weniger tun kann als dieses eine. 22

So geschah's, daß durch des Pfarrers heimliche Hilfe in manchen Meßbergern die Glut aufleuchtete, vor der das Tier flieht, so daß der Mensch werden kann. Und diese paar Leute waren es dann, die das Dorf – man weiß nicht wie und wodurch – sauber machten von den übelsten Gesellen. Sie sprachen nicht viel und predigten gar nicht, sie gingen ihrem Tagwerk nach und lebten scheinbar ihr altes Leben.

Aber es muß doch etwas von ihnen ausgestrahlt sein, das den Frechen und Verwilderten unleidlich wurde, so daß sie davor flohen.

Unter Hartmut Bauer wanderten die ersten Meßberger Burschen ab in ferne Städte, wo das Geld, dieser liebste Gott aller Unreifen, seine Altäre haben sollte.

Wenn seine Besten gegangen wären, hätte es der Pfarrer leichter und mit mehr Zuversicht ertragen. Wußte er doch, daß man in den Städten, wo die gefährlichsten Wirbel des Lebens unaufhörlich kreisen und unaufhörlich Opfer in sich schlucken, nur Leute brauchen kann, die Kraft und Licht in sich tragen. Die ungebändigten, fremden Schwätzern verfallenen Halbwüchsigen sah er in einen gähnenden Strudel stürzen. Aber je angstvoller er die Verblendeten halten wollte, je ungestümer drängten sie fort. 23

So konnte der sorgende Mann nichts tun, als den lärmend Abziehenden still nachschauen und hoffen, daß auch dieses scheinbar Sinnlose, dieses wollend und doch willenlos Sich-in-den-Abgrund-Stürzen einen Sinn haben, ja vielleicht eine unbewußte Opfertat sein mußte für ein höheres Ganzes und einen verborgenen Fortschritt.

Hartmut Bauers Gedächtnis blieb zu Meßberg heimlich im Segen als das eines Gerechten. Aber etwas Besonderes wußte niemand von dem Mann und seinen Taten zu sagen. Er war wohl gewesen wie das liebe Brot, von dem es auch kein Rühmens gibt.

Und wieder zog eine Welle im Strom der Zeit vorüber und eine neue grüßte die alten Ufer und trug neue Menschen und neues Geschehen empor.

Ins Meßberger Forsthaus zog ein Forstmeister, der hieß Thomas Auerstein und kam aus dem Baltenland.

Die Meßberger meinten, das liege noch weit hinter Amerika, und sie waren lange Zeit scheu und zurückhaltend mit ihrem Urteil. Seinem Blut nach war der Mann kein völliger Fremdling. Er erzählte selbst, daß Vorfahren von ihm hierzuland gelebt hätten und in die Erde gebettet seien. Aber seine Sprache und sein hoher, sehniger, bei aller Breite schlanker 24 Körperbau, sein glattrasiertes, sonnenbraunes Gesicht, seine blauen, scharfblickenden Augen waren doch ganz anders, als man es zu Meßberg gewohnt war.

Auch die Frauensperson, die dem verwitweten, aber noch nicht alten Mann den Haushalt führte, und die er aus der Ferne mitgebracht hatte, mutete fremd an. Sie hieß Tabea und trug die graumelierten Haare kurzgeschnitten nach Männerart. Au dem schwarzen, knisternden Seidenkleid, in dem sie jeden Sonntag zur Kirche kam, ermaßen die Meßberger sowohl ihre Frömmigkeit, als auch ihre und des Forsthauses Vornehmheit, und sie konnten keine rechte Brücke hinüber finden.

Ein kleines dunkelhaariges Mädchen war dann noch da, das Eva hieß und aussah wie etwa ein Zigeunerkind. Auch angezogen war es so: dünne, meist rote Röcklein, die kaum über die nackten Knie reichten und dazu sehr oft einen Riß hatten, was die Meßberger Kinder mit Schadenfreude, die Mütter mit Mißfallen bemerkten.

Im Gegensatz zu seinen Vorgängern war Thomas Auerstein kein großer Jäger, so viel er im Wald streifte. Vielleicht mochten ihm, der in fernen Forsten Hirsch, Elch, Wolf und Bär gejagt hatte, die paar Hasen und Rehe des Reviers als zu ärmliches Wild erscheinen. Vielleicht aber auch hatte sich, wie das 25 gewiß schon dann und wann gerade einem echten Jäger gegangen ist, etwas in sein Leben geschlichen, was das Angesicht der Welt für ihn verändert hatte, so daß er im gehetzten, scheuen Waldgetier auf einmal etwas anderes sah, als die ihm verfallene Beute. Selten trug Thomas Auerstein Büchse oder Flinte. Einen derben Stock in der gebräunten Faust wanderte er am liebsten durch den Wald und sah nach dem Rechten. Oder was wäre sonst sein Tun dort draußen gewesen? Der kleine schwarzbraune Dachshund, der nicht von seinen Fersen wich, war ein verschwiegener Begleiter. Was auch seine nachtdunklen Augen sahen – er plauderte nichts aus, und von ihm erfuhr kein Meßberger, daß der Forstmeister draußen nicht immer im Dienst war. Daß er manche lautlose Stunde auf irgendeiner einsamen Lichtung oder auch in der blühenden Heide saß oder auf dem Rücken lag und die Sonne, ja oft sogar noch Mond und Sterne über sich hinziehen ließ.

Und ob sich der kleine Hund oft wie in schüchterner Bitte um Vertrauen dicht an seinen Herrn drängte oder dem Versunkenen die Hand leckte – auch er erfuhr nicht, was in Thomas Auersteins Seele vorging in diesen stummen, einsamen Stunden.

So ausdauernd und hingenommen kann keiner in der völligen Einsamkeit liegen, der nicht eine ganz 26 eigene Welt, sei es der Vergangenheit oder der Zukunft, der Erinnerungen oder der Hoffnungen in sich trägt.

Daß es nicht Hoffnungen, nicht Pläne waren, verrieten des Mannes Augen, in denen oft die wache Bewußtheit wie erloschen schien, als sei die Seele fortgezogen.

Dann war Thomas Auerstein in den nordischen weiten Wäldern, die über seiner Kindheit und seinen schönsten Mannesjahren gerauscht hatten. Er sah dann den mächtigen Fluß zwischen breiten, sumpfigen Uferstreifen schwer und träg dem kalten Meere zuwallen. Er sah die ziehenden Wellen glänzen im Abendlicht und hörte das Krächzen und Schrillen, das Pfeifen und Schreien des Sumpf- und Wassergevögels, das im Röhricht nistete oder seine Horste in den ufernahen Wipfeln hatte. Diese vom roten Himmelsschein überlohten Abende mit ihren hunderterlei Stimmen wölbten sich vor dem rückschauenden Mann auf wie ferne heilige Domeshallen, deren tiefe, feierliche Stille die Vogelschreie nicht brachen.

Er spürte wieder, wie dem Kind, dem erwachenden Knaben diese Abende zuerst das Innerste bewegt hatten, daß das große, ehrfürchtige, stummachende Erstaunen über ihn gekommen war, das Erschauern vor dem Schöpfer der Welt. 27

In diesen lohenden Stunden zwischen Waldrand und Fluß kam ihm auch zum erstenmal zum Bewußtsein, wie lärmend und voll Unruhe der Gutshof seines Vaters sei, und daß hundert schreiende Vögel nicht so laut seien wie zwei streitende Knechte.

In diesen Abendstunden wuchs der Plan in ihm, Förster zu werden, statt, wie es des Vaters Wunsch für sein einziges Kind war, den weiten Landbesitz dereinst zu übernehmen und zu bewirtschaften.

Oder spielte, für des Knaben Seele noch fast unbewußt, damals schon das andere mit herein, das später dem Mann so viel zu schaffen machte, ja, das ihn im letzten Grunde von dort oben forttrieb?

Was war es, dieses andere? Wie ließ es sich in Gedanken, in Worte fassen? Unterm Meßberger Himmel, im Meßberger Wald, der über dem Manne jetzt rauschte, wurde es zu einem Ungreifbaren, einem Dunst, der unter den Händen entglitt und zerfloß, und dort oben war es so drückend, so quälend gewesen! Weit ausholen mußte der Mann mit seinen Erinnerungen, seinen suchenden Gedanken, wenn er an diese Sache geriet. Hundert unscheinbare Dinge, hundert untergegangene Gefühle mußte er wieder hervorscharren und zuhauf treiben, wenn er jetzt sich klar werden wollte über das, was einstmals so selbstverständlich, so immer gegenwärtig gewesen war. 28

Ja, so ließ es sich wohl sagen, so stellte es sich jetzt dar: Thomas Auerstein hatte von frühester Jugend an darunter gelitten, Herrenkind zu sein, zur Oberschicht zu gehören in einem Land, in dem die Unterschicht von anderem Blute, anderer Rasse, anderer Sprache war.

Sie litten alle daran, die deutschen Herren; das begriff heute der Mann, wie es einst der Knabe dumpf und dunkel gespürt hatte. Sie trugen wie einen Instinkt in ihrem reingehaltenen Germanenblut das Gefühl in sich, daß Männergemeinschaft, Arbeitsgemeinschaft, staatliche Gemeinschaft ihre Weihe, ihren Wert, ihre Festigkeit nur dort erlangen kann, wo Blutsgemeinschaft den tiefsten Untergrund bildet.

Dieses heimliche Leiden des Herrentums dort oben, das die wenigsten durchschauten und das doch allen im Blut rumorte, es machte manche von den Herren anmaßend, hochfahrend, befehlshaberisch. Sie litten am Herrenkoller und wußten es nicht.

Andere wieder, und zu ihnen gehörte Lorenz Auerstein, der Gutsherr von Biala und Vater von Thomas Auerstein, wurden einsilbig, verschlossen und schrullenhaft. Es war, als trügen ihre Seelen Scheuklappen, so daß sie den freien, unbeirrten Blick verloren und nur noch in einer Richtung sehen konnten. 29

Bei Lorenz Auerstein hieß diese Richtung: Deutschtum und Deutschland. Aber dieses Land und dieses Blut seiner Ahnen liebte er nicht mit freier kindlicher Liebe, sondern er trieb einen Kult damit, der etwas Krankhaftes hatte und der sich auf den heranwachsenden Sohn oft wie ein Zwang legte. Manchmal, wenn der Knabe, der sich mählich zum Jüngling, zum Manne wandelte, seine weite und damals noch weiche Seele auftun wollte für etwas, das ihm den Weg kreuzte, schob es der Vater weg mit hartem oder verächtlichem Wort und nannte es undeutsch.

Wäre der Sohn innerlich nicht so gesund und deutsch gewesen, des Vaters krankes Deutschtum hätte ihm manchen Schaden tun können an der jungen Seele.

So aber wurde nur sein Blick scharf unter all diesen Dingen, und er durchschaute, daß er das meiste davon dem fremden Land mit der fremden Unterschicht auf die Rechnung setzen mußte. Aus solchem Grunde wuchs ihm frühe schon die heimliche Sehnsucht, der versteckte Vorsatz auf, einst nach Deutschland zu ziehen und sich dort ein anderes, innerlich weniger gefährdetes Leben aufzubauen.

Seine Mutter hatte er kaum gekannt. Sie war eine Deutsche aus dem Süden des Reichs gewesen 30 und – wie der Vater noch nach vielen Jahren mit einem merkwürdigen Gemisch von Trauer und Befriedigung sagte – am Heimweh nach Deutschland gestorben. Wie ein Strahlenkranz lag es um diese frühentschwundene Mutter her. Jede Eigenschaft, die eine Frau adeln kann, wußte der Vater, wenn er, der Einsilbige, auf sie zu reden kam, an ihr aufzuzählen, und sein zusammenfassendes Wort lautete: »Sie war eine Deutsche.«

Für den Sohn hatte sie etwas Unwirkliches an sich, etwas Sagenhaftes. Um so mehr, als sie, das einzige Kind eines längstverstorbenen Pfarrpaares, fast keine und nur ganz weitläufige Verwandte in ihrer fernen Heimat hatte, so daß sie wie wurzellos auf dieser Erde erschien. Als Thomas Auerstein auf den hohen Schulen in Deutschland war, suchte er die schwachen Spuren dieser Mutter. Aber was er fand, ließ ihn kalt und fremd und konnte ihm nichts sagen.

Auf der hohen Schule, am letzten Tag seiner letzten Prüfung, kam auch die Kunde zu ihm, daß sein Vater schwer erkrankt sei. Er eilte heim und kam zum Sterben.

Einer jener glühenden Abende war's, die Thomas nicht vergessen konnte. Der Himmel stand in Flammen, der Fluß war wie Blut, und um die Wipfel der 31 Bäume schien die Lohe zu züngeln. Im Hof vor dem langhingestreckten Herrenhaus heulte der Hund kläglich auf, als sein junger Herr achtlos an ihm vorüberschritt, und eine Schar verstörter Leute stob vor ihm auseinander. Schon wollte er durch die Türe treten, da fuhr der Arzt in den Hof. Auf seinem hochräderigen Wagen, den jungen Diener neben sich, kam er daher, ein bartloser schlanker Mann, elegant und fast jugendlich aussehend, solange man ihn nicht scharf betrachtete. Dann aber sah man, daß unter dem hellen, ganz kurz geschnittenen Haar gar manches graue war, und daß viel feine Runen über das gebräunte Gesicht liefen. Mit einem ernsten Blick in den scharfen Augen grüßte er den Sohn des Hauses und zog den Kutschierhandschuh ab, um ihm die Hand zu reichen. Da fiel mit leisem, hellem Klang etwas in die feinen Meerkiesel, die den Hof glitzernd bedeckten. Ein kleiner, goldgefaßter Bernsteinknopf war es aus des Arztes Manschette.

Die Männer bückten sich und suchten. Der Diener stieg vom Wagen, Knechte kamen herbei. Sie suchten alle, suchten und zerwühlten den Kies, und fanden nichts.

Wenn Forstmeister Auerstein mit seinen Erinnerungen bis hieher gekommen war, mußte er ein wenig verweilen und sich wundern. Etwas 32 herzbeklemmend Verwunderliches war es, daß mit diesem kleinen verlorenen Bernsteinknopf ein Mannesschicksal, sein Schicksal anfing.

Hätte damals dieser schwedische Arzt, Baron Leintal, den Knopf nicht verloren, oder hätten ihn die eifrig suchenden Leute gefunden, dann – ja dann!

Der Mann lächelte. Es war ein bitteres Lächeln. Hätte – wäre – würde! – In den Ketten solch niedriger Bedingtheiten hängt die schwere, wuchtige Schicksalswelt und wird so sicher, ach, viel zu sicher getragen.

Des Vaters Sterben war dann eine stille, schlichte Sache. Der Kranke lebte noch einmal auf, als der Sohn sein Pfleger wurde; aber die Freude des Wiedersehens wirkte nur aufpeitschend und nicht auf die Dauer.

Doch hatten sie noch schöne und wahrhaft heilige Stunden zusammen, die beiden Männer, und das Schönste daran war, daß von dem Sterbenden alles wie eine Schale abfiel, was im Leben so oft sein Wesen und seine Art verzerrt und entstellt hatte.

Der nahende Tod war auch hier ein Vereinfacher. Aus dem verwirrten Zeichengewimmel des sich ründenden Lebens suchte er die Wurzeln und Grundzahlen heraus und stellte sie noch einmal klar und leuchtend auf den Plan. 33

Ein streng kirchlicher Mann war der Vater, wie die meisten der anderen Herren, immer gewesen. Nun, da es zum Tode ging, zeigte sich, daß er ein frommer Mann war. Ohne Furcht, ohne Ausflüchte, ohne feige Zerbrochenheit ging er in einem wahrhaft kindlichen Vertrauen und mit wahrhaft männlicher Ruhe der großen Wandlung entgegen.

Und auch von seinem, oft wie durch ein böses Fieber übersteigerten Deutschtum fiel alles Kranke ab. Mit tiefer Einsicht, ja mit prophetischem Blick sprach er von dem weiten Slawenreich und seiner germanischen Oberschicht. Er bestätigte, ohne es zu wissen, in merkwürdigen tragischen Worten des jungen Sohnes Ahnen, daß Herren zu Tyrannen und Knechte zu Sklaven werden müssen, wo keine Blutsgemeinschaft ist, und daß sich beide unter unbegriffenem Stachel winden, bis alles wund und verzerrt ist und der offene Kampf beginnt.

Als der Vater von diesen Dingen sprach, verloren seine Augen den Blick und wurden wie Seheraugen, denen das Sichtbare entschwindet und das zu Schauende aus der Tiefe auftaucht. Von Furchtbarem flüsterte er, und der lauschende Sohn merkte mit tiefster Erschütterung, was alles versteckt und gehütet in dieses schweigsamen Mannes Seele gelebt hatte an bangen Sorgen und zehrender Angst um 34 das Höchste, was er kannte auf dieser ihm nun entschwindenden Erde. Wer so viel und so Herzbeklemmendes zu tragen hatte in aller Verborgenheit, der mochte wohl den anderen oft schrullenhaft erscheinen.

Die letzte Bitte des Vaters an den Sohn, die er mit einem aufflackernden Glanz in den Augen vortrug, war die, ihm auf den Stein zu schreiben: »Hier liegt ein deutscher Mann im Baltenland.«

Friedlich, ja lächelnd ging er hinüber in das andere Land und das nächste Leben.

Die deutschen Herrschaften im weiten Umkreis, die schwedischen und deutschen Honoratioren aus der Stadt kamen geschlossen zum Begräbnis. Zu Wagen, zu Pferd, zu Fuß rückten sie an in hellen Scharen. Der Tag war sonnig, und der Himmel stand in tiefer Bläue über den Wäldern, deren Ränder sich verfärbten.

In der scheidenden Sommerpracht ist das Herz auf Sehnsucht, Wehmut, Heimweh gestimmt. Um die offene Gruft des Abgerufenen standen ergriffene Menschen und zum Teil Menschen, denen es war, als hätten sie an dem Toten etwas versäumt, ihn zu viel allein gelassen, zu wenig verstanden, zu wenig an seinem Wesen teilgenommen.

Sie wußten dabei nicht, daß diese zermürbenden Gefühle um fast jeden Grabesrand hochsteigen, und 35 daß sie die leisen Hammerschläge sind, mit denen der Tod die Kette der Lebendigen sachte wieder zusammengeschmiedet dort, wo er ein Glied herausgenommen hat. Weil nicht das Zerstören, sondern das Erneuern sein liebstes und geduldigstes Tun ist.

Für Thomas Auerstein wäre es nun an der Zeit gewesen, den langgefaßten und vom sterbenden Vater gutgeheißenen Vorsatz auszuführen und nach Deutschland zu gehen.

An einem strahlenden Herbstmorgen, als der überreiche Tau auf den Blumenrabatten neben der Haustüre funkelte, als seien Diamanten ausgestreut, trat der junge Gutserbe aus dem Hause, um sich auf den Weg zu machen zum Sachwalter seines Vaters.

Der leichte Wagen war schon angespannt, ein Knecht hielt die Zügel und wandte den Kopf nach seinem Herrn; da bückte sich dieser über die taufunkelnden Blumen, als wolle er eine abbrechen. Und dann tat er es doch nicht, sondern griff in die Kieselsteine am Rabattenrand und nahm mit einem lauten Ruf etwas empor, das er betrachtete, als hätte er einen Schatz gefunden.

Der kleine, goldgefaßte Bernsteinknopf des Arztes war es, den damals so viele mit heißer Mühe vergeblich gesucht hatten. 36

Heute hatte er dagelegen, offen, lockend, in der Morgensonne funkelnd, als rufe er dringend: »Nimm mich doch, nimm mich doch, hier liegt dein Schicksal.«

Nein, das vom Schicksal hatte er wohl nicht gerufen. Das hatte er wohl absichtlich verschwiegen, hatte harmlos getan, als sei nicht die geringste Gefahr, wenn man ihn aus den Kieseln aufnehme.

Der Forstmeister, der im schweigenden Wald von Meßberg an die vergangenen Dinge dachte, erinnerte sich mit einer fast lächerlichen Genauigkeit an den kleinsten Umstand jener Morgenstunde. Er sah, wie sich das Lettengesicht des Knechts verzog vor heimlichem Ärger, daß nicht er das Kleinod gefunden, er sah, wie das Pferd den schönen Hals bog, als wünsche es auch zu wissen, was hier vorlag, er sah, wie auf einmal, gleich den Bienen, die ein zerbrochenes Honigglas wittern, eine Menge Leute umherstanden, die den Bernsteinknopf sehen wollten, als sei er eine große Merkwürdigkeit.

Die schmutzige, zottelige Magd, die das Schweinefutter zu kochen hatte, sah er unter einer Stalltüre stehen und lachend mit dem Kopf nicken, während zwei Hunde an ihr emporsprangen.

Warum ihm das nur alles so klar und bildhaft in der Seele geblieben war! 37

Er erinnerte sich auch noch, wie er den Knopf in ein Stückchen weißen Papiers wickelte, das er seiner Brieftasche entnahm, und wie ihm dabei das Bild eines Mädchens entglitt und zu Boden fiel, das er bei sich trug seit seinem letzten Semester in Deutschland. Mit der Bildseite nach unten fiel es, und merkwürdig: der Gaul hob den Huf und trat darauf.

Verzerrt wie eine Fratze war das junge Gesicht, als Thomas Auerstein das Bild aufhob und betrachtete, und er wußte nicht, ob er es dachte, oder ob es eine fremde Stimme sagte: Auch dies ist heute zu Ende! Er war nicht traurig darüber, oder doch nur so traurig, wie man einem sonnigen Frühlingstag nachschaut, wenn er verdämmert. Das Mädchenbild und was damit zusammenhing, war nur ein kleines Zwischenspiel gewesen, eine aufblitzende Welle im Strom der letzten frohen, vielbewegten Jahre.

Er fuhr aus dem Hof. Ein paarmal wieherte sein junger Gaul laut aus, als sei es ihm eitel Freude, vor dem leichten Wagen in den sonnigen Tag hineinzutraben.

Zum Sachwalter seines Vaters, einem weißbärtigen, freundlichen Herrn, sollte die Fahrt gehen; aber der kleine Bernsteinknopf in dem weißen Papier in Thomas Auersteins Tasche wollte es anders. Statt an dem alten, ehrwürdigen Haus des Justizrats hielt 38 der Gaul nach flotter Fahrt vor der neuen weißen Villa des Arztes, Baron Leintal, die in einer stillen, vornehmen, etwas abgelegenen Straße lag und im freundlichen Strahl der Morgensonne zwischen den leuchtenden Wipfeln goldblättriger Pappeln hervorglänzte, als sei in ihr eitel Glück zu Hause.

Weißt du noch, Forstmeister, wie ein blondköpfiger Bengel von der Straße herzusprang und sich erbot, den Gaul zu halten. Wie du ihm über das lichte Haar fuhrst und erst nicht glauben wolltest, daß er dem Amt gewachsen sei. Wie er dann die blitzenden Augen hob in Verwunderung und Eifer und vorwurfsvoll sagte: »Ich bin doch ein deutscher Junge!« als ob damit jeder Befähigungsnachweis erbracht sei.

Weißt du das alles noch? Und wie du dann durch die lautlos vor dir aufgehende Türe ins Haus tratest und bei dem ebenso lautlosen Sichwiederschließen dieser Tür einen Augenblick lang das wunderliche und dich beunruhigende Gefühl hattest, du seiest in eine Art Mausefalle geraten, in die man wohl leicht hinein, aber nicht wieder hinaus kommt! –

Nun, damals kam der Besucher wieder hinaus und sah, daß der deutsche Junge das Pferd gut gehalten hatte.

Oder sah er es nicht? – Sah er überhaupt nicht mehr, was um ihn her vorging? War die große 39 Tarnkappe über die Welt geworfen, so daß rings das Nichts, die dunkle Leere war, daraus nur noch ein einziger Stern strahlte?

Warum ließ er seinem Gaul die Zügel und fuhr heim wie im Traum, statt die lange Domstraße hinunter zum Sachwalter, nachdem doch der verhexte Bernsteinknopf seinem Herrn zurückgegeben war?

Drei Töchter hatte der verwitwete schwedische Arzt. Zwei schlanke, hochgewachsene, unschöne, schon gealterte, und eine viel jüngere zierliche, fast kleine.

»Die kleine Leintal« hieß sie in der Stadt, »die Kleine« im Vaterhaus. Nie vorher hatte Thomas Auerstein den Namen gehört. Das echt Schicksalhafte taucht ja meist aus dem Dunkel auf und ist da. Die kleine Leintal wurde Thomas Auersteins Schicksal.

Was hatte er an jenem Tag mit ihr geredet? Im Salon war sie ihm entgegengetreten, die zierliche Gestalt von einem losen, glänzenden Kleid umflossen, das ungebräuchlich, ja ein wenig phantastisch aussah. In ihrem dunklen Haar steckte eine schöne gelbe Rose, ihre großen braunen Augen blickten neugierig, vielleicht sogar keck auf den fremden Gast.

Er hatte sich vorgestellt, hatte seines Kommens Grund angegeben und ihr den eingewickelten Knopf in die sehr kleine Hand gelegt. 40

Sie lachte auf, faltete das Papier auseinander und hielt den Knopf in die Höhe.

»So,« sagte sie in deutscher Sprache, aber mit fremdem Klang, »nun werde ich Vater auch einmal schelten. Er schilt mich oft, wenn ich etwas verliere.«

»So kommt das öfter vor bei Ihnen?« fragte der Gast und konnte den Blick nicht von ihr lassen.

Sie nickte. »Ja, ziemlich oft. Ich bin ein Pechvogel. Meine Schwestern sagen – – – aber nun will ich Vater rufen.«

Sie hatte den Satz nicht ausgesprochen, wie ein Kind, das sich verplappern will und noch zur rechten Zeit abbricht.

Das war alles, was Thomas Auerstein aus ihrem Mund gehört hatte. Dann war der Vater gekommen, und die Kleine blieb verschwunden.

Auf dem Heimweg aber sah der Mann den schimmernden Tag nicht mehr und nicht mehr seinen lustig trabenden Gaul. Wie über einem Welträtsel brütete er über dem unausgesprochenen Satz, und es war ihm in jener Stunde nichts wichtiger, als zu wissen, was wohl die Schwestern von dieser Kleinen sagen könnten.

Der Forstmeister lächelte bei dieser Erinnerung. Aber es war kein freies und frohes Lächeln. Es ging ihm durch den Sinn, wie doch die Natur, oder ein 41 höherer Wille, eine ewige Macht ihren Geschöpfen einen verwirrenden Schleier überbreite in dem Augenblick, wenn die Liebe naht. Oder auch das, was man Liebe zu nennen pflegt.

Wie war's doch, – wie war's doch, Thomas Auerstein? –

Die Vorsätze, die Absichten, die Pläne, die seit des Vaters Tod dem Sohn unablässig Seele und Hirn erfüllt hatten, sie waren mit einem Schlag verschwunden, und etwas anderes füllte ihn völlig aus und hielt ihn fest in der Heimat.

Merkwürdig! Linde Leintal war das erste Mädchen doch nicht, dem er in die Augen blickte! Den Balten auf den hohen Schulen, den Söhnen reicher Gutsherrn machte man es nicht zu schwer in diesem Punkt. Aber es mögen viele durch ein Mannesleben huschen und vorübergleiten – eine krallt sich fest.

Die kleine Leintal wurde für Thomas Auerstein die Eine.

Es war nur der im Abendwind aufschauernde Wald und der kleine, mit den Augen bettelnde Hund um den Forstmeister her, aber seine Lippen kniffen sich doch zusammen, als fürchtete der Mann, es könne ein Laut darübergehen.

Was hilft es, zu schweigen, wenn die Gedanken ungebärdig und heiß durcheinanderwogen! Sie tragen 42 immer wieder die alten Bilder vor die Augen, die alten Klänge an das Ohr, die alten Schmerzen in ein Herz. Was dir geschah, Forstmeister, das geht nicht unter, bis dein letzter Seufzer verhallt!

Jahr um Jahr, seit Baronesse Linda Leintal sein Weib wurde, leugnete sich Thomas Auerstein, daß er einst gespürt, wie nicht echte große Liebe, Liebe, die der seinen gleich und ebenbürtig war, die Kleine in seine Arme getrieben. Er leugnete sich – denn es geht gegen besten Mannesstolz –, daß ihm schon in der Bräutigamszeit manchmal gewesen, als trete ein finsterer Engel heimlich neben ihn und zeige ihm sein bloßes Schwert: »Sieh, damit werde ich dich aus dem Paradiese treiben!«

Wer will solches sehen, solche Sprache verstehen? Der Mann traute seiner heißen Liebesglut zu, sie werde auch das ganze Sein und Wesen der Kleinen in Flammen setzen.

Aber wenn alles auf Erden in Brand geraten kann, so doch nicht ein Herz, in dem das Eis der Ichsucht wohnt. Es brennt nicht und schmilzt nicht, ja es ist, als ob es kälter werde in den Flammen.

Wie bitter litt der Mann, als sich ihm nach und nach aus tausend kleinen und kleinsten Steinchen wie Mosaik das wahre Bild seines jungen Weibes zusammenfügte! Er zermarterte sich das Hirn, das 43 Herz, um andere Erklärungen, andere Ausdeutungen für das zu finden, was er nicht beim rechten Namen nennen wollte.

Nach und nach, als seien seine Augen plötzlich mit höherer Klarheit begabt, kam er hinter alles, auch hinter jenen unausgesprochenen Satz, der ihn damals auf der Heimreise gequält wie ein wichtiges Welträtsel.

Er durchschaute, daß die beiden Schwestern, feine, tüchtige Mädchen, in der Kleinen den bösen selbstischen Geist spürten, der, ohne Pflicht- und Verantwortungsgefühl, in innerlichen und äußerlichen Dingen keine Ordnung, keine Hingabe kannte. Mit verstohlener Sorge, mit einem halb hoffenden und halb angstvollen Zuwarten betrachteten die beiden die junge Ehe der schönen und trotz allem geliebten Schwester.

Manchmal spürte Thomas Auerstein dieses Sorgen, dieses heimliche bange Tasten. Aber er verstand im Überströmen seines ersten Glücks Sinn und Art davon nicht. Später, als die Schäden anfingen, sich an die Oberfläche zu drängen, und die Schwestern in einer rührend unbeholfenen Weise zugleich des Mannes Partei ergreifen und doch auch ihre Kleine nicht allzutief kränken wollten, da war Thomas Auerstein oft von einer bitteren Bewunderung erfüllt für 44 die Alternden, deren verborgene Seelengröße im gleichen Maß vor ihm aufstieg, wie der Nimbus des einst vergötterten Weibes zusammensank.

Sein eleganter, meist kühlfreundlicher Schwiegervater sagte einmal in tiefster Erregung und mit einem jähen Zucken um den glattrasierten, sonst so beherrschten Mund: »Freue dich, Thomas, daß du kein Kind hast! Die Kleine ist nach ihrer Mutter geraten.«

Die schmalen Lippen des Mannes schlossen sich nach diesem Wort, das wie ein Blitzlicht über ein Leben hinstreifte, noch herber und fester als zuvor; aber seit jenem Tag verstanden sich die zwei Männer oft und öfter auch ohne Worte.

Eine der bittersten Stunden seiner Ehe war für Thomas Auerstein jene, als er mit dem jungen Weib von den Gedanken, Erkenntnissen, Schmerzen sprach, die ihn schon in der Jugend unter dem fremden Dienstvolk gequält, und die das Herrsein so schwer machten und einen, wenn auch noch so versteckten, in tiefste Tiefe gebetteten Schimmer von Unrecht darüber breiteten. Jene Stunde, als er zu ihr sprach von der nie ganz schweigenden Sehnsucht, die Scholle zu verkaufen und in das Land zurückzukehren, wohin Blut und Sprache, die Gebeine der Ahnen und alle letzten Wurzeln seines Wesens ihn zogen. 45

Schallend lachte sie auf, die Kleine, als hätte ihr der ergriffene Mann eine Posse erzählt. Einen Phantasten, ja einen Feigling nannte sie ihn, der vor eingebildeten Gefahren und ersonnenen Schwierigkeiten ausweichen wolle, einem Jungen gleich, der im Dunkeln um den Baumstrunk einen Bogen schlägt, weil er da einen stehen sieht mit drohendem Prügel.

Was sie sagte, war kindisch und unreif, aber mit jenem bösen Gift befleckt, das selbstsüchtige Menschen wie der Schlangenzahn ausströmen. Und Thomas Auerstein war von da an zu müde, zu abgetrieben, um dieser Frau fernerhin etwas von seinen Schmerzen zu sagen. Er wagte in bitterem Verzichten nicht mehr, ihrer Ichsucht irgendein Opfer, eine Selbstverleugnung, ein Umlernen, ein Mitgehen zuzumuten.

So wucherte das Unkraut ihrer Seele fort ins Maßlose, und in dem Mann erstarb nach und nach mit der hingemordeten Liebe auch jede Freudigkeit, jeder Mut, das Steuer an seinem Lebensschiff herumzuwerfen und alte Pläne durchzuführen. Er harrte aus auf seinem Posten wie ein vom Schicksal bei der Ablösung Übergangener, ein vom Leben Vergessener.

Der Mann im Meßberger Wald träumte vor sich hin. Die ganze Dumpfheit jener unbeschreiblich lähmenden Jahre stand wieder vor ihm auf. Damals 46 war er gealtert wie im Sturm. Etwas zermürbte und zerbrach in ihm, was niemals wieder nachwuchs. Auch nicht, als dann das kindische, zu keinem Opfer willige und fähige Wesen zuletzt selbst das Opfer werden mußte, das den Mann loskaufte aus der Bahn, auf die er innerlich geraten war.

Aber ehe es so weit war, kam noch jenes über die Maßen Häßliche, jenes Kaum-zu-Glaubende, das der Mann selbst im einsamen Wald und im tiefsten Dunkel nicht aus der Erinnerung heraufholen mochte, weil es ihm immer wieder war wie ein Peitschenschlag ins Gesicht.

Ein furchtbarer Sturm herrschte. Schwer und dunkel jagten die tiefhängenden Wolken am Novemberhimmel. Im Wald zwischen Gutshof und Fluß war ein donnerndes Heulen und Krachen, und vom Fenster seines Zimmers aus sah Thomas Auerstein die breiten Wipfel sich ducken und winden unter den wühlenden, peitschenden Sturmstößen mit jenen merkwürdig klagenden Gebärden, die wie bewußtes Leben und Leiden aussehen.

Da zog es den Freund des Waldes und all seiner Kreaturen hinüber, wie es im Leid einen rechten Freund zum Freunde zieht. Er nahm Mantel und Mütze und trat in das heulende Brausen hinein mit einem seltsamen, streitbaren Kraftgefühl, als könne 47 und müsse er anbinden mit dem Sturm und den wimmernden Bäumen zu Hilfe eilen.

Ein jaulender Stoß entführte ihm die Mütze, gerade dort, wo das weißlich schimmernde Band der Landstraße durch die Bäume zog. Er schaute ihr nach, wie sie im Auf und Ab des Sturmes dahinwirbelte, und fühlte sich plötzlich von einer Last, einer Dumpfheit befreit, als werde das alles mit der Mütze fortgetragen. Da überkam es ihn wie Ahnen, daß der Sturmtag ein guter Tag, der Anfang von einem Neuen, ein Erlöser aus Bann und Acht sei.

Er wandte sich hinein in den krachenden, dröhnenden Wald. Alle Schauer der Gefahr, der lauernden Todesnähe kamen zu ihm her. Aber sie kamen wie Freunde, sie schreckten ihn nicht. Es war, als wollten sie ihm nur zeigen, daß er noch Mut, noch Kraft, noch Willen in sich trage, daß er nicht ganz zermürbt sei an Leib und Seele.

Unbeschreiblich wohl tat ihm das. Als einen unverhofften, nicht mehr erwarteten Ritterschlag nach langer Knechtschaft empfand er es. Die Arme hätte er ausbreiten mögen nach neuem Leben, neuem Schicksal.

Als er wieder aus dem Wald auf die weiße Straße trat, war es fast Nacht. Drüben im Gutshof blinkten die ersten Lichter auf. Da wollte vor diesen Lichtern 48 seine Freude, seine Kraft plötzlich wieder versinken. Der Gedanke drang auf ihn ein: Nicht mehr dort hinein! Nicht zurück in die Schmach und in die Lüge, denn deine Ehe ist Schmach und Lüge!

Ein schrecklicher Schmerz durchwühlte ihn, ein Krampf in der Seele, wie er nie zuvor etwas empfunden. Vor das Nichts gestellt fühlte er sich. Keine Möglichkeit ringsum, kein Weg, kein Ziel. Er schloß die Augen, als sei die Nacht nicht dunkel genug. Er lauschte in das Dröhnen hinein und hörte nur die aufheulenden Stimmen in der eigenen Brust.

Und dann kam ein unsagbar Verborgenes, ein schamhaft Heiliges.

Jawohl, Thomas Auerstein! gebetet hast du damals, gebetet aus tiefer Not, wie die Gemarterten, die peinlich Befragten beten: »Ewiger, laß mich nicht zugrund gehen, laß mich nicht irgendwo wie ein Tier verenden an meiner Scham und meinem Herzeleid.«

Dann wollte der Mann in die Nacht hinaus.

Aber etwas geleitete ihn in sein Haus zurück wie einen auf der Flucht Ergriffenen, der heimgebracht wird. Und die furchtbare Scham wich. Die Schauer des Gebets, die Schauer der durchlebten stolzen Stunde im toddrohenden Wald legten sich wie zu Schutz und Trutz um den Heimkehrenden her. 49

Mit schmollenden Vorwürfen und in kindischer Verstimmung empfing ihn oben an der Treppe sein Weib. Sie hatte sich vor dem Sturm gefürchtet und zürnte dem Mann, der sie allein gelassen hatte. Knechte waren ausgeschickt worden, den Herrn zu suchen, und es war der Keifenden leicht abzuspüren, daß sie das mehr aus Zorn als aus Angst getan hatte.

Aber ob ihm das Gebaren der unerziehbaren Frau wieder einmal härteste Prüfung war, der Mann, der aus einer so hohen Stunde herkam, zwang die Kälte, die in ihm hochsteigen wollte, hinunter. In seiner Seele war ein Schreien, ein Glauben: Es soll alles gut werden von heute an!

Er war wie einer, der sich aus Ratlosigkeit, aus Verzweiflung, aus Sehnsucht nach Unerreichbarem einen Rausch, den Rausch des Vergessens und der Betäubung, der Täuschung antrinkt.

Zu einem Fest wollte er den Abend machen. Aber die Erinnerung an jeden erzwungenen Freudentrank schmeckt bitter wie Galle.

Lang glänzten die Lichter aus dem Zimmer der Gutsherrschaft in jener Nacht. So lang, bis der Sturm winselnd einschlief und eine große, tiefe Stille über die Welt sank.

Thomas Auerstein lag wachend im Bett und lauschte in die Nacht. Er wartete auf die Knechte, 50 die noch nicht zurück waren. Er fühlte keine Angst um sie. Zu genau wußte er, daß sie ihn nicht mit Schmerzen suchten, sondern in der Waldecke bei Spiel und Trunk in der üblen Schenke saßen und sich über die Herrin, vielleicht auch über den Herrn, lustig machten.

Er hörte keinen Laut außer dem leisen Atem des schlafenden Weibes neben sich. So tief und schwer lastete die Stille, daß es ihn vom Lager und ans Fenster trieb. Er tat es auf, um in den Hof zu sehen. Da quoll lautlos eine Wolke Schnees herein. Des ersten, längst erwarteten Schnees in diesem Jahr, der, weich wie Watte, alles einhüllte und jeden Schall verschlang.

Vom Lager der Frau her klang verschlafen die Frage. »Was tust du am Fenster, worauf wartest du?«

Dem Horchenden kam's auf die Lippen, er wußte nicht wie und warum: »Auf etwas Neues, Schönes möchte ich warten.«

Sie schlief schon wieder, als der Mann sich niederlegte und ihr vom ersten Schnee erzählen wollte, und sie hörte auch nicht das Stampfen und Poltern der heimkehrenden Knechte, nicht den gedämpften und doch aufgeregten Lärm, der bald darauf den Hof erfüllte und der Thomas Auerstein in die Kleider schlüpfen und hinuntergehen ließ. Unter dem 51 vorspringenden Dach am neuen Pferdestall standen die Männer, und der schwache Lichtkreis einer Laterne beleuchtete ihre abenteuerlichen, in Schnee gehüllten Gestalten. Sie zeigten einander etwas, oder stritten um etwas, und die harten Laute aus ihren Kehlen klangen wie nach Streit.

Der Schnee dämpfte seinen Schritt, und als der Herr unter sie trat, fuhren sie erschrocken auseinander. Einer aber, Jonas, der Rothaarige, der auf einem Auge blind war, hielt etwas in den Armen, und dieses Etwas rührte sich und fing zu winseln an. Thomas Auerstein glaubte erst, es sei ein junger Hund, den sie irgendwo gefunden oder gestohlen hätten. Aber es war ein Kind.

Jetzt halte an mit deinen Erinnerungen, Forstmeister! Gehe über diesen Augenblick, als du das Köpfchen eines Kindes in einem schmutzigen Kissen erkanntest, nicht flüchtig hinweg! Mach dir dein Erschrecken, deine Verwunderung, deine Verblüffung noch einmal klar; mach dir klar, wie du instinkthaft den Kopf drehtest nach einem weiblichen Wesen, das dem Knecht sein Bündel abnehmen könnte, und wie du die flachshaarige Masa, die Küchenmagd, herzuwinktest, die plötzlich im Hintergrund auftauchte.

Du wundertest dich nicht, du schaltest nicht, daß das Mädchen so mitten in der Nacht unter die 52 Männer trat, du warst wie überrumpelt von Dingen, die du noch gar nicht im Zusammenhang überschauen und dir erklären konntest; du tatest, was du tatest, und redetest, was du redetest, aus den seltsamen, für dich nicht durchsichtigen Umständen heraus, und ahntest nicht, daß nachher jedes deiner Worte und all dein Tun vom eigenen Weib umgeschmiedet werden könnte zu einer furchtbaren Kette von Häßlichkeiten, in der kein Glied fehlte oder versagte.

Im Schnee, nicht weit vom Gutshaus, hatten die Knechte das Bündel gefunden. Ein Mädchen war das Kind. Später, als die trübe Flut, die in den nächsten Tagen und Wochen sein Leben wie mit Schlamm überzog, sich etwas verlaufen hatte, nannte Thomas Auerstein den Findling »Eva«. Weil Eva ihm wie ein Name vorkam, der unsichtbar neben jedem Kissen geschrieben stehe, darauf eines Mädchens Kopf liege.

Der Mann wußte später nie mehr recht, wie die Nacht zu Ende ging; ob er Schlaf suchte und fand, oder nicht. Nur das wußte er, daß er ein paarmal dachte, ob das Findelkindlein in der Mägdekammer das Neue, das Schöne sein könne, das der Sturmtag ohne Worte versprochen hatte?

Er wußte, daß er wie ein märchengläubiges Kind sich eine Geschichte aussann, darin zwei winzige 53 Händelein den eisernen Panzer der Selbstsucht, der Lieblosigkeit von einem Frauenherzen klopften.

Und er wußte, daß er an diese selbsterfundene Geschichte gar nicht glaubte, sondern immer nur sich vorlog, er glaube daran. Er wußte, daß er die hohe Stimmung der Stunde im Wald längst entwichen fühlte, als er sich immer noch daran klammern wollte.

Je mehr es gegen den Morgen ging, je nüchterner wurde alles Licht über den Dingen. Aber wie ein Verzweifelter wehrte er sich dagegen, wieder im alten Elend zu versinken.

Aus diesem erzwungenen Aufschwung heraus mochte er am kommenden Tag anders gewesen sein als sonst. Er mochte eine Gehobenheit zur Schau getragen haben, die etwas Fieberiges, Krankes, Übertriebenes an sich hatte, wie die Leistung eines schlechten Schauspielers.

Die tatsächlichen Geschehnisse jenes Morgens lagen wie ein wirrer Knäuel zusammengeballt in der Erinnerung des Mannes. Wenn er zurückdachte, suchte er nur immer nach einem Schlüssel, nach einer Erklärung für das Unerklärliche, nach einem Sinn in dem Sinnlosen, das kam. Ein Gerücht stand auf – und das eigene Weib schleuderte es sofort dem erstarrenden Mann ins Gesicht –, daß der Findling dieser Nacht Thomas Auersteins Kind, und die ganze 54 Aussetzungsgeschichte von ihm in Szene gesetzt und durchgedacht sei.

So – das ist kurz die Sache.

Forstmeister Auerstein, es sind Jahre darüber hingegangen! Du sitzest jetzt als einsamer Mann am blauen Ried im Meßberger Wald. Der Gutshof, in dem dir die Schmach geschah, liegt in weiter Ferne, und die Erde deckt das junge Weib, das dir deine Liebe, dein Glück, deine Ehre zerpflückte und zerriß mit den Händen eines verzogenen Kindes. Nur dein Hund schnuppert neben dir im Heidekraut, die Sonne spiegelt sich in dem moorigen Tümpel zu deiner Seite, diese Sonne, die schon so viel Menschenleid, so viel Menschenschmach gesehen hat – warum also brennt dir in dieser Stunde noch die Scham im Gesicht?

Nach einem Rattenkönig von Lügen, von Gemeinheiten, die aus einem unbekannten Abgrund emporquollen, nach Szenen, an die der Mann jetzt mit seinen scheuesten Gedanken nicht mehr rühren mochte, kehrte Linda Auerstein, geborene Leintal, zu ihrem Vater, zu ihren Schwestern zurück. – –

Sie wollten sie erst nicht aufnehmen. Sie glaubten an den Mann und führten seine Sache gegen das vor übler Leidenschaft blinde Weib.

Aber als er sich, gelähmt von dem Unglaublichen, so gar nicht rechtfertigte, als er sich dumpf und 55 gleichgültig behandeln ließ wie ein Schuldiger, da lähmte dieses Gebaren den Kampf jener Wohlmeinenden, und die »Kleine« blieb noch einmal Siegerin.

Bis dann der Starke über sie kam, der sie und ihr verwildertes Herz zerbrach.

Sie wollte den Gatten an ihr Bett rufen lassen. Ein Bote kam auf schaumbedecktem Pferd. In der Abenddämmerung war's, und hinten überm schwarzen Wald glühte dann und wann ein flammendes Wetterleuchten auf, ein Wintergewitter, das nie Gutes bringt.

Thomas Auerstein starrte dem Mann ins Gesicht, als hätte er ihn nicht verstanden. Dann lachte er laut auf. »Sie stirbt? Sie ist vielleicht schon tot? Nun, ich bin auch gestorben; ich bin längst tot, sag' ihr das!«

Hat er dem Boten diese Worte ins Gesicht gerufen? Waren es nur Schreie seines Herzens, die nicht laut wurden? Er wußte es heute nicht mehr. Er wußte nur, daß er nicht hinüberritt, daß er in den Forst hinausging und die ganze Nacht draußen war.

Ach diese Nacht! Seine Füße irrten auf hundert Wegen und seine Seele auf tausend! Heute war ihm, als hätte er in jener Nacht die Kraft von vielen Jahren verbracht, als könne sich das, was man Zeit heißt, zusammenballen zu einem wirren, harten 56 Knäuel, der nicht Anfang und nicht Ende hat, so daß Stunden wie Jahrhunderte und Jahrhunderte wie Stunden aussehen.

Als der Morgen aufzog und der Mann nicht weit von der Schenke aus dem Wald auf die Straße trat, war ihm zumut, als hätte er ferne Welten durchstreift und Länder und Meere zwischen sich und die Heimat und sein vergangenes Leben gebracht.

Wie ein Fremdling kam er sich vor, wie ein Namenloser, den keiner kennt, von dem kein Band zum anderen führt.

Im Lauf des Tages kam Botschaft, daß sie gestorben sei. Eine der Schwestern schrieb, ein Herzkrampf habe das junge Leben geendet.

Thomas Auerstein las die Worte, und sie trafen ihn nicht härter, als wenn sie gelautet hätten: es fiel heute nacht ein Stern.

Er ging nicht hinter ihrem Sarg; er schickte keine Botschaft. »Laß die Toten ihre Toten begraben,« zog es ihm durch den Sinn; er aber fühlte sich wie von einer anderen Welt, die mit der Verwirrung dieses Planeten nichts mehr zu tun hat.

Wochenlang war er in dieser Entrücktheit. Oder waren es Monate? Ein Sommertag stieg auf, da sah er den Findling auf den Armen einer Magd, die über den Hof ging. 57

Aufrecht saß das Kind, und es hielt eine rote Rose im Händlein. Die Lieblichkeit des Bildes mußte ihm in die Seele gegangen sein. Er hielt die Magd an und fragte, wie die Kleine gedeihe. In diesem Augenblick waren alle Zusammenhänge wieder da, die Lähmung wich von ihm, er wachte auf.

Und es war, als seien unter der Decke seiner langen Dumpfheit Kräfte in ihm zusammengeströmt wie heimliche Rinnsale, die einen Bach geben.

Das Verleumderische und Gemeine, das sich an ihn herangewagt hatte, trat er rasch genug unter die Füße. Er nahm das lachende Kind mit den großen dunklen Augen der Magd vom Arm und trug es über den Hof, ohne Scheu und mit der ganzen stolzen Sicherheit seines reinen Gewissens. Da war der Bann gebrochen. Wenn nicht für die, deren niedrige Seelen gerne in der Tiefe herumwühlten, so doch für ihn selbst. Von jenem Tage an sorgte er für das Kind als ein Vater. Sein Stolz verbot ihm, es in irgendein Asyl zu geben.

Er lernte es lieben! Er sah es aufwachen aus der geheimnisvollen Dumpfheit oder Gebundenheit, die über kleinen Kindern liegt. Er sah in die dunklen Augen nach und nach ein Etwas kommen, das ihn anzog wie ein inhaltschweres Rätsel. Eine Seele glaubte er erwachen zu sehen, und damit stand auf einmal seine Verantwortung vor ihm. 58

Er hielt Umschau nach einer Pflegerin für das Kind, denn es war ihm klar, daß er es nicht den lässigen Mägden lassen könne, die ein Spielzeug in ihm sahen, ein drolliges Tierlein.

Er fand lange keine. Die frechen Gerüchte wachten noch einmal auf und erschwerten Suchen und Finden.

Aber er ließ nicht locker und gab nicht nach. Da tauchte Tabea auf. Er ahnte, daß die älteste seiner Schwägerinnen die Hand im Spiele habe, und freute sich noch einmal an der vornehmen Treue des alten Mädchens, das ihm helfen wollte. Tabea trug männliche Haartracht und männliches Wesen zur Schau. Aber zu dem Kinde war sie mütterlich, wenn auch in einer etwas kurzen Art. Sie nahm bald schon die Zügel des Hauswesens in die Hand; aber man spürte durch, daß es weniger aus drängender Tüchtigkeit als aus einer leisen, nicht bösartigen Herrschsucht heraus geschah, wie sie oft denen eigen ist, die nach langer Dienstbarkeit ein wenig Luft um sich fühlen. Das frühverwaiste, mittellose Mädchen genoß es auf ihre Art, auf dem reichen Gutshof die oberste Weiblichkeit zu spielen und nach langen Jahren des Herumgestoßenseins eine bleibende Statt gefunden zu haben.

So gingen Jahre hin, und Thomas Auerstein meinte oft, seine Seele sei wieder im Gleichgewicht. 59 Aber eines Tages und dann wieder und wieder pochte eine merkwürdige Angst an sein Herz, das heraufwachsende Kind sei unter den vielen Dienstleuten nicht am rechten Ort. Und zu gleicher Zeit war es wieder da, jenes Gefühl des Abstandes, des innerlichen Geschiedenseins von den Leuten fremden Blutes, das ihm sein Herrsein so drückend erschwerte, so merkwürdig in Unrechtsnähe rückte.

Da machte er endlich Schluß und trat in den Dienst des Reiches. Es war kein leichtes und noch weniger ein leichtsinniges Aufgeben der Heimat. Gehen doch Ketten von der eigenen Scholle zu eines echten Mannes Herzen. Aber bei ihm war's wie Notwehr, und die trägt ihre Rechtfertigung in sich selbst.

Als Thomas Auerstein sich nach Meßberg meldete, wußte er, daß Gebeine seiner Ahnen in der Gegend moderten. Ganz anders als die, die nie in der Ferne, nie unter fremdem Blut gewesen, wertete er diese Tatsache. Von einem Stelzfuß, einem alten Haudegen hatte ihm in seinen Knabenjahren schon der Vater erzählt, von einem Bastel Auerstein, der tausend Taten und Untaten in der weiten Welt getan und dann in den letzten Jahren seines stillgewordenen Lebens sein Wesen in der Meßberger Gegend getrieben hatte und auch in der Nähe gestorben und begraben war. 60

Von der Sippe seiner Mutter aber, des Pfarrtöchterleins, das tausend Tugenden gehabt hatte, schläft einer in der alten Kirche von Meßberg. Mächtig ergriff es den Mann, als er zum erstenmal an einem stillen Abend in das leere Gotteshaus trat, zu dem ihm ein halber Kretin den Schlüssel verschaffte.

Das letzte Sonnenlicht spielte durch den Raum, und jener uralte Geruch nach Weihrauch, Frömmigkeit und gestorbenen Seelen, der gute Kirchen füllt, schlug ihm entgegen und erlöste ihn für eine Stunde von der Unruhe dieser Erde.

So trat er vor den Stein, auf dem geschrieben steht: »Hier ruht in Gott der letzte eines Geschlechts: Anselm Veit von Siegeborn. Ihre Werke folgen ihnen nach.«

Da sah Thomas Auerstein wieder den Stammbaum vor sich, über dem sein Vater gerne brütete und der ihm als Knabe etwas so Wunderbares war mit all den in Kreise eingezeichneten Namen, die er nach und nach auswendig lernte, er wußte nicht wie.

Dieser Anselm Veit von Siegeborn war auch in solch einen Kreis gebannt, und nun stand ein Spätgeborener vor seiner Gruft, und auf dem roten Sandstein der Platte glänzte die Abendsonne. 61

Als der Forstmeister die Daten und Schriftzeichen las, wurde ihm so warm und heimelig, als hätte ihm seine Sippe den Willkomm geboten; nur daß ihm statt Brot und Salz ein letztes Sonnenleuchten gereicht ward. – – –

Forstmeister, der Abend sinkt! Dein Hündlein winselt vor Hunger. Und auch dir knurrt der Magen. Warum denkst du immer und immer wieder diese alten Dinge durch? Warum machst du keinen Strich unter das, was vergangen ist, heiratest wieder, hast Kinder, die deines Blutes sind, und lebst ein neues Leben?

Ja warum? Warum? Vielleicht weil dein schweres, reingehaltenes Blut nicht von vielen Wegen weiß und nur ein einziges Müssen kennt. Warum gibt's Pflanzen, die nur einmal blühen? Du bist wie sie, und all dein Fragen nützt dir nichts.

Du wirst deinem Beruf leben. Er ist schön, wenn auch nicht so reich und schön, wie der Knabe in den nordischen Wäldern es sich träumte. Dort war die Weite und die Fülle. Hier ist die Ordnung und das System. Dort warst du frei und obenauf, hier bist du eingefügt, wie ein Glied in einen Organismus.

Und außer deinem Beruf hast du das Kind, die Eva.

Wie stehst du denn zu ihr? Sie ist die Kleine nicht mehr, die du heimlich mit jener Zärtlichkeit 62 umhegtest, die männliche Männer für kleine Kinder haben. Sie entwächst dir. Wo wächst sie hin? Nie fiel ein Licht auf ihre Herkunft. Wie willst du auf den Weg schließen, den sie nimmt? Es gärt ein fremdes Leben in ihr, das dich oft erschreckt. Und dennoch wagst du nie, es mit Gewalt zu dämpfen. Du hast vor allem, was Wachstum heißt und eigene Art, die hohe Achtung dessen, der losgekommen ist von dumpfem Schulmeistergeist. Nicht umsonst stehst du Jahr um Jahr inmitten der Natur und hältst dich fern von der gespreizten Menschenklugheit, die alles macht und gar nichts werden läßt.

Du fühlst, wie dieses fremde Kind, dieses Mädchen ohne Herkunft deinem eigenen Leben doch nur angeklebt ist, so eng du sie an dich kettest. Wenn sie Vater sagt, hörst du einen Unterton mitschwingen, der dir wie Lüge klingt. Wenn du sie erziehen willst, ist dir wie einem, der im Dunkeln tastet und nach den falschen Dingen greift.

Aber über all dieses hinweg weißt du, daß sie dir lieb ist im tiefsten Herzensgrund. Lieb, wie etwas Schönes, Freudiges, das aus einer Dunkelheit herausgewachsen ist und Licht um sich verbreitet hat.

Oft war dir schon, als müßtest du ihr das Geheimnis ihrer Herkunft sagen. Als sei ihr dies, so jung sie auch noch sei, zum Besten. Ihre fragenden, 63 prüfenden Augen schienen dir manchmal in die Tiefe zu starren auf diesen einen fernen Punkt. Dann kam dir der Gedanke, die Leute in Biala hätten vielleicht dem Kinde von der Sache gesprochen, und es hafte von daher unbewußt und vergessen etwas in der jungen Seele, das ins helle Bewußtsein strebe. Aber Tabea, mit der du darüber sprachst, bestritt es und beschwor dich, der Kleinen zu schonen. Die Kurzhaarige, die sonst so hart und männlich tat, war weich und angstvoll, als sie dich zu schweigen bat, und du spürtest mit leiser Freude, wie sie an dem Mädchen hängt, um das sie sich scheinbar oft nur wenig, vielleicht allzuwenig kümmert.

Ein andermal begriffst du selbst nicht mehr, daß und warum du hattest sprechen wollen. Da erschien dir's grausam, in des Kindes Welt, deren fast grelle Buntheit du oft ahntest, den Schatten hineinzuwerfen. der alles überdunkeln würde.

So blieb es, wie es war, und wenn du nach solchen Stunden des Umherirrens in der Vergangenheit durch den stillen Wald dem Forsthaus zuwandertest, erschien dir dein Leben wie ein Strom, der einmal starkes Gefäll und große Kraft gehabt hatte, nun aber in flachem Bett langsam dahinzieht und vielleicht nach und nach versanden wird, ohne das Meer zu erreichen. 64

Gut war's, daß die Meßberger des Forstmeisters Wanderstecken und nicht seine Seele sahen. Sonst wäre vielleicht manches Wildererblut wärmer geworden als nötig ist. Denn je müder der Hirte sich zeigt, je lebendiger wird die Herde.

*   *   *

Fast zu gleicher Zeit, als Thomas Auerstein ins Forsthaus einzog, kam auch ins nachbarliche Pfarrhaus ein neuer Herr.

Auch er war verwitwet und schon reichlich alt. Viele Jahre war er in der Stadt gewesen. Vielleicht hatten die Seelen, für die er dort zu sorgen hatte, sich seiner Hilfe hochmütig entzogen; denn das Leben der Stadt raunt tagaus tagein das einschmeichelnde Lied von der eigenen Kraft. Auf jeden Fall war Pfarrer Sommer zuletzt darauf verfallen, nur noch für seine eigene Seele zu sorgen, und diese Seele war die eines Gelehrten, eines Büchermenschen.

In der Stadt war er geblieben, so lange er die Bibliotheken und Archive für seine Zwecke und seine Vorbereitungen brauchte. Nach Meßberg zog er, als er daran ging, das Gesammelte und Ausgezogene zu verarbeiten und ein großes kirchengeschichtliches Werk zu schreiben. Sollte ihn jemand im Ernste schelten wollen ob solchen Tuns, so möge der bedenken, 65 daß im Grunde kein Mensch mehr und Besseres für seine Mitmenschen tun kann, als das: daß er selbst das Höchste wird, was er werden kann, und kein Pfund vergräbt.

Eine Schwester führte dem gelehrten Herrn den Haushalt. Sie war klein, rundlich und fröhlich. Selbst längst verwitwet und kinderlos, umgab sie den Bruder, den sie fast kindlich verehrte, mit all der Zärtlichkeit ihres warmen Herzens, die sie in ihrem kurzen Ehestand nicht hatte verströmen können.

Sie hieß Frau Eberhardine Winter, und es war den Meßbergern eine besondere Freude, daß sie nun Winter und Sommer unter einem Dach hatten. Vielleicht wären sie selbst nicht, oder doch nicht so früh auf den Spaß gekommen. Aber die kleine Frau versäumte nicht, jeden Besucher auf das schöne Zusammentreffen hinzuweisen, und wenn sie dann noch dazu erzählte, daß ihre längstverstorbene Mutter mit ihrem Mädchennamen Angelika Lenz geheißen habe, und daß sie bei einem Schuhmacher namens Herbst habe arbeiten lassen – Jakob Herbst beim Stadtbad Nr. 76 – wenn sie diesen schönen Reigen der Jahreszeiten vor den staunenden und lachenden Meßbergern heraufziehen ließ und selbst von Herzen dazu lachte, dann waren damit schon ganz achtbare Fäden zwischen dem Pfarrhaus und Meßberg geknüpft. 66

Frau Winters Mann war Apotheker gewesen. Für die Bauern verband sich mit diesem Beruf der Begriff schweren Reichtums und allerlei nützlichen Wissens von Salben, Tränken und Latwergen, wie sie selbst der Doktor nicht kennt und verschreibt. An der Witwe mußte nach der Meßberger Meinung etwas von solchem Wissen hängen geblieben sein, denn die kleine Frau kannte sich wohl aus in den Gebresten von Mensch und Vieh und dem, was heilsam dafür ist. Wenn sie am Feierabend mit ihrem meist schweigsamen und in Gedanken versunkenen Bruder durch die Felder ging, dann gab es ein beständiges Suchen und Sichbücken, und sie trug dicke Sträuße heilsamer Kräuter heim, in denen für die Meßberger vielleicht so viel oder mehr Ersprießliches beschlossen lag, als in den schweren, wuchtigen Gedanken, die der Pfarrherr im weißhaarigen Kopfe wälzte.

Zwei Söhne hatte Pfarrer Sommer. Aber sie waren vorläufig fürs Dorf noch sagenhaft. Gesehen hatte sie noch niemand. Der eine, jüngere, war auf irgendeiner Schule, wo man lernt, wie Maschinen gemacht werden. Aber nicht Dreschmaschinen, oder Drillmaschinen, oder Nähmaschinen. Wenn die Bauern das meinten, dann lachte Frau Winter nur und winkte mit der kleinen, dicken Hand fast 67 verächtlich ab. Der Neffe – Heinz nannte man ihn und Heinrich war er getauft: Heinrich, Otto, Albrecht, Johannes – dieser Neffe lernte Maschinen bauen, deren Namen man in Meßberg nicht einmal aussprechen konnte und von denen sie selbst, Frau Winter, nicht wußte, wozu man sie brauchte.

Der ältere der Brüder hieß Justus – Justus Gottlieb – und er war Kaufmann in Kolombo. Ein Sagenkranz schlang sich um ihn, bei dem Frau Winter nichts dazu und nichts davon tat. Bei den Wilden sollte er ein Königreich gegründet haben und eine Schwarze als Frau besitzen.

Ganz heimlich hoben solche Gerüchte des neuen Pfarrers Kredit eigentlich mehr als seine Predigten, in denen er allsonntäglich, vielleicht ohne es zu wollen oder zu wissen, die Studien der Woche verarbeitete, so daß die Meßberger oft nicht viel mehr damit anzufangen wußten als mit Nüssen, die nicht zu knacken sind.

Trotzdem aber gingen ihre Seelen nicht ganz leer aus, denn der Pfarrer hatte eine gar gütig klingende, schöne Stimme und einen vornehmen Kopf, den sie gerne ansahen. Auch tat es ihnen wohl, einmal einen Pfarrer zu haben, der von der Stadt kam und so gescheit war, daß man ihn nicht verstehen konnte.

Und eines hatten sie so hoch an dem Manne zu rühmen, daß eigentlich alles andere davor verblaßte. 68 Man wußte im Dorf, daß er mit Sterbenden so beten konnte, daß der Tod wurde wie ein lieber Freund, den man nicht mehr von der Hand, nicht mehr aus der Stube lassen mochte, ja, mit dem man lachend davonging wie zum Fest.

Als ein altes Weiblein vor Frau Winter diese Tugend ihres Bruders erwähnte, fuhr sich diese über die Stirn und schaute auf den schönen geblümten Bodenteppich, auf den kein Meßberger leichten Herzens zu treten wagte. Das Lachen, das sonst immer auf ihrem Gesicht lag, war nicht da, als sie mit Kopfnicken sagte: »Ja, das hat er gelernt, euer Pfarrer, als ihm seine Frau, meine Schwägerin, sechs Wochen lang jeden Tag starb.« Dann hob sie den Kopf und fügte leichteren Tones hinzu: »Wer etwas kann, der hat Lehrgeld bezahlt, das dürfet Ihr glauben, Salome. Wenn aber ein Pfarrer etwas kann, dann hat er dreidoppeltes Lehrgeld bezahlt, so sicher die Katze hier einen Buckel macht.«

Und sie machte einen beträchtlichen Buckel, die graue Katze, die sich eben am Tischfuß rieb.

Das weitere von diesem Pfarrhaus, darin Winter und Sommer daheim waren, soll später zu seiner Zeit gesagt sein. 69

*   *   *

Manchmal steht auf einer Wiese oder auf einem Acker eine fremde Blüte, die keiner gesät hat und keiner kennt. Wer sie findet und davorsteht und keine hürnerne Seele hat, spürt, daß ihre Fremdheit wie ein schützender Ring um sie herliegt, und er hat eine tiefe Scheu, sie zu brechen.

Die kleine Eva im Forsthaus genoß viele Freiheit. Sie ging wie auf der Wildbahn, und die Sonne war ihre Kindsmagd.

Die erste Freundschaft, die ihr leicht entzündliches Herz zu Meßberg schloß, war die mit Haus Georg Lutz, dem Küfer, der im gepflasterten Hof seinem Handwerk nachging.

Die kunstvoll geschichteten Stöße des zugerichteten Faßholzes taten es ihr ebenso an, wie der harte Rhythmus des Schlegelschlags und das feuerrote Gesicht des Mannes mit dem weißen, vollen Haar. Schweigend stand sie lange von ferne. Ihr rotes Kleidchen leuchtete neben dem schwärzlichen Holzstoß, und aus ihrem blassen Gesicht schauten die dunklen Augen neugierig und aufmerksam nach dem arbeitenden Mann. Und dann kam sie herzu und sagte: »Du, Mann, warum ist dein Gesicht so rot?«

Der Küfer hörte schlecht, seit er bei seiner Schwester Hochzeit vor langen Jahren beim Böllerschießen die Ladung zu stark genommen hatte. 70

So ließ er seinen Hammer sinken, starrte dem fremden Kind verwundert in das fragende, gespannte Gesicht und schrie: »Was meinst?« –

Die Kleine, von einem raschen, seltsamen Instinkt geleitet, wiederholte ihre Frage nicht. Sie rief so laut sie konnte: »Dein Gesicht ist schön rot und dein Haar weiß.« –

Der Küfer ließ die Augen durch den Hof gehen, ob nicht irgendwo jemand lache. Dann lachte er selbst, und seine kleinen Äuglein glitzerten. »Das freut mich, Schwarze, wenn ich dir gefalle.«

Das Kind schüttelte den Kopf, daß die Haare flogen. »Ich heiße nicht Schwarze. Ich heiße Eva. Wie heißt du!« –

»Ich bin der Hansjörg, der Küfer, wenn du's wissen willst.«

»Hast du Kinder?«

Der Mann machte eine wegwerfende Bewegung mit der schwieligen Hand. »Kein Weib!«

»Aber Kinder doch?« –

Der Küfer sah verdutzt auf das gespannte Gesicht der Kleinen.

»Wenn ich doch kein Weib habe, kann ich auch keine Kinder haben.«

»Warum denn nicht?«

Auf dem roten Gesicht stieg es empor wie 71 ärgerliche Hilflosigkeit, wie ein ungutes In-die-Enge-Getriebensein.

Der Mann hob den Hammer und fing wieder sein Klopfen und Klöpfeln an rund um das Faß, als hätte er plötzlich große Eile. Die Kleine, wie sein Trabant, kreiste hinter ihm und rief ihm Fragen zu, die er nicht oder verkehrt beantwortete.

Das war der Beginn der Freundschaft, die durch Jahre hinging und standhielt, obgleich der Küfer ein Säufer war.

Ein anderer Freund wurde Johannes Straub, »der äußere Bauer«, wie ihn die Meßberger nannten. Er stammte aus einem jener Geschlechter, die unter Hartmut Bauer das heilige Licht gefunden und gepflegt hatten, und er war ein würdiger Enkel seiner Ahnen.

Sein stattliches neues Anwesen lag am Ausgang des Dorfes; in weiter Runde breiteten sich seine Äcker und Wiesen umher, und draußen am Flußufer hatte er einen jungen Obstgarten, der seine Freude war. Dort traf der schweigsame ältliche Mann zum erstenmal das Kind des neuen Forstmeisters. Sie saß im Schatten der Pflaumenbäume am Ufer und ließ ihre nackten Füßlein ins Wasser hängen.

Der Bauer erschrak, denn der Fluß ging zurzeit hoch, und seine Wellen hatten jene gelbe, bösartige Farbe, die kein Kundiger an ihm liebte. »Was tust 72 du da? Warum läßt man dich so allein laufen?« rief er der Kleinen zu.

Sie blieb sitzen und zog die Füße nicht aus der Flut. Ein bitterböser Blick aus den dunklen Augen traf den Mann, dessen Sprache sie schwer verstand. »Wärst du still gewesen,« rief sie, und ihre Stimme klang wie erstickt, »eben hat er kommen wollen.«

»Wer hat kommen wollen?«

»Der Nix, der Wassernix. Ich will hier warten, bis er mich hinunterholt. Er hat mich schon am Fuß gepackt; da kamst du und hast alles verdorben.«

Dem Mann war des Kindes Rede nicht so seltsam, wie manche denken könnten. Nur der ortsfremde, harte Klang der Worte, nicht aber ihr Sinn erstaunte ihn. Schon zu oft hatte er, wenn er einsam in einer Feierstunde in seinem Baumgarten war, am Ufer sitzend über den Fluß hingeblickt und das ewige Spiel der ziehenden Wasser betrachtet. Und weil ihm das Sichtbare allerorten die Hülle war für ein Unsichtbares, so witterte seine Seele hinter dem geheimnisvollen, nie rastenden Leben der Wellen manchmal ein wollendes Wesen, wenn er ihm auch keinen Namen gab.

Der Name nur, den die Kleine sagte, war ihm zu heidnisch; an ihm nahm er Anstoß. »Steh auf!« rief er befehlend, »es ist leicht ein Unglück geschehen.« 73

Unwillig, und doch von der gebietenden Rede gezwungen, stand das Mädchen auf. Ihr rotes Röcklein war beschmutzt, und von gelbem Schmutz überzogen die nackten Beine.

Und doch, wie sie so vor ihm stand, zierlich, fremd, scheu und ganz anders als die Meßberger Kinder, da gefiel sie dem Bauern, wie ihm wohl ein bunter seltener Vogel gefiel, der durch seinen Baumgarten flog. Und, wie bei einem solchen, hatte er heimliche Angst, den schönen Gast zu scheuchen, und er sprach mit der Kleinen anders, zarter, vorsichtiger, als er eigentlich wollte.

Wo sie hereingekommen sei in den umfriedeten Garten, fragte er.

Sie nahm ihn an der Hand, führte ihn an den Heckenzaun und zeigte ihm eifrig die Lücke, die da zwischen Weißdorn und Hagbuchen war; ein enger Schlupf, den sich vielleicht ein Wild, vielleicht ein jagender Hund gebohrt hatte, und durch den die geschmeidige Kleine ohne viel Beschwer ihren Weg nahm.

Aber mitten in ihrem Geplauder richtete sie immer wieder den aufmerksam prüfenden, fast mißtrauischen Blick auf den Mann, und der hatte ein Gefühl, als schaue ihm dieses Kind durch Herz und Nieren. Merkwürdig war ihm das und völlig neu. Er wurde 74 daran gewahr, daß man zu Meßberg untereinander herumging mit ganz vermummten, nie gelüfteten Seelen.

In dem jungen Gras bei den Vergißmeinnicht saßen die zwei dann am Flußufer. Die Kleine erzählte, daß in jedem Fluß ein Nix wohne, der seinen schimmernden Palast in der Tiefe habe. Ein seltsames Leben strömte beim Sprechen durch das Kind, eine Kraft, die keinen Widerspruch duldete und vor der man nur lauschend verstummen konnte.

Johannes Straub nickte mit dem grauen Kopf und machte keinen Versuch, den Strom zu unterbrechen. Die graugelben Wellen im Fluß zogen vorüber, schäumten auf und sanken nieder, und die Vergißmeinnicht zitterten im Wind.

Als dann die Kleine fertig war mit ihren glitzernden Märchen, die sie ganz selbstvergessen, wie zu sich selber, erzählte, als sie die unruhigen, mageren, schmutzigen Händlein zwischen die Knie legte und dabei den Kopf drehte, wie eine Meise, die horcht, ob ihr irgendwoher Antwort komme, da war es dem schwerbeweglichen Mann, als klopfe jemand an sein Inneres: »Johannes, nun ist an dir die Reihe!«

Bedächtig, fast unbehilflich, fing er zu erzählen an von dem Fluß. Was der alles schon angestellt habe seit Menschengedenken. Und im Reden wurden seine 75 dunkelüberbuschten Augen, die auf die wandernden Wellen schauten, ganz finster und feindselig, denn es war fast nur Düsteres und Schweres, was er von den Wassern zu berichten wußte.

So die Geschichte von der Sägmühle.

Da hatte im vorigen Jahrhundert drüben am anderen Ufer eine Sägmühle gestanden. Es wohnte ein Mann darin und seine Tochter, die war schön.

»War keine Mutter dabei?« fragte die Kleine.

»Von einer Mutter weiß ich nichts.«

»Dann ist's wie bei Vater und mir,« meinte nachdenklich das Kind.

»Daß's Gott verhüt'!« entfuhr es dem Mann erschrocken und schneller, als er sonst zu reden gewohnt war.

Die dunklen Augen der Kleinen bohrten sich in den seinen fest. »Sag weiter!«

Aber Johannes Straub war aus dem Konzept gebracht. Es kam ihm mit wunderlichem Erschrecken zum Bewußtsein, daß er da etwas zu erzählen im Begriff war, was für ein Kind nicht taugte. Er preßte die bartlosen Lippen fest und hart zusammen und ließ die dunkle Geschichte inwendig an sich vorüberziehen.

Da war dieser Sägmüller, der große Lump und Betrüger und Faulenzer, der das Seine mit Prassen 76 vertan hatte und dann die Tochter zwang, ihre Schönheit feilzubieten.

Da war der Sägknecht, der die Tochter lieb hatte und ehrlich zum Weibe wollte und doch das Geld nicht aufbringen konnte, das der Alte verlangte.

Und da war die Tochter, deren Sinnen und Trachten nach den Herrlichkeiten der Welt stand, und die doch insgeheim an dem Knecht hing, an dem starken und treuen Menschen, der das Lotterwesen in der Mühle mit seiner Manneskraft noch so zusammenhielt, daß nicht alles in Stücke ging. Und da war der Fluß, der das Treiben mit ansah und mit Gurgeln und Murren talab zog, ein drohendes Blinken in den Wellen.

Johannes Straub hatte über seinem Sinnieren die Kleine vergessen, die neben ihm in den Vergißmeinnicht saß. Sein harter Blick hing drüben am anderen Ufer, und seine Seele ging den Gerichtswegen Gottes nach.

Er hörte den Föhn über die Hänge brausen, der den Schnee aus allen Schründen leckte und tausend und abertausend gurgelnde Rinnsale zum Fluß leitete, so daß der anschwoll, trüb, reißend und bösartig wurde und in seinen weiten Windungen wie eine gereizte Natter zischend einherschoß. 77

In des Bauern Augen kam ein Flimmern, als er daran gedachte. Denn so gelassen, ja schwerfällig seine stille Seele sonst war – wenn sie der Fährte Gottes auf schreckenerregenden Wegen folgte, wurde sie emporgerissen zu zitternder Leidenschaft.

Es kam die Frühlingsnacht, in der kein Stern über der finsteren Erde stand. Nur Heulen und Dröhnen in den Wäldern, und von der Gegend am Riesenkopf her das donnernde Strömen und Brausen der Wasser.

Kein Mensch weiß die Stunde, wann es geschah. Aber am trüben Morgen, als die Meßberger, vom Sturm fast umgeweht, hinausgingen, nach ihren Flußwiesen und ‑äckern zu sehen, da schossen Balken und Geräte auf den Wellen dahin, und von der Sägemühle fand man, als die Wasser sich verzogen hatten, nur noch die Grundmauern.

Es hieß dann, der Sägknecht habe mit Willen den wütenden Fluß hereingelassen, damit ein Ende werde. Aber wer will da etwas Sicheres sagen! Der Tote, den man in den Weiden fand, hatte ein stilles und zur Ruhe gekommenes Gesicht und sah nicht aus, als hätte er ein so furchtbares Zorn- oder Rachewerk hinter sich.

Den Sägmüller und seine Tochter aber barg man nach Tagen erst, und da war auf den zerstörten Hüllen 78 kein Zeichen mehr zu lesen, als das der Verwesung, das keinerlei Auskunft gibt.

Zwei ersoffene schwarze Katzen trug der Fluß weit das Tal hinunter bis zu jenem einsamen Stein im Gelände, den man heute noch den Katzenstein nennt. Dort fand man die Tiere, ineinandergekrallt in der letzten Angst, im schlammigen Sand der verlaufenden Wasser. –

Eine kleine Hand legte sich auf Johannes Straubs Arm. »Sag doch weiter!«

Der Bauer schüttelte den Kopf. »Du verstehst das nicht.«

Da flackerten die dunklen Augen auf, wurden lauernd und unkindlich.

»Ist die Tochter eine gewesen, wie die Lona in Biala?«

»Was war's mit der?« –

»Die war ein liederliches Weib.«

»Was weißt denn du von liederlichen Weibern?«

»Sie hat ihr Kind in den Fluß geworfen.«

In Johannes Straub wuchs ein schreckhaftes Erstaunen empor. Eine Angst, in der Kleinen mit dem roten Röckchen wohne etwas Widerwärtiges, Unsauberes, über das er sich selbst nicht recht klar war. Aber als er jetzt von der Seite auf sie niedersah, hatten ihre Augen wieder den reinen, kindlichen 79 Glanz. Sie hielt die Händlein gefaltet um die angezogenen Knie gelegt und fragte: »Glaubst du, daß es der Nix in seinen Palast geholt hat?«

Der Mann nickte nur. Er war hinter seinen eigenen, noch nicht ganz geklärten Gedanken her und verstand die Frage nicht.

Sie schüttelte den Kopf, daß die schwarzen Haare flogen. »Nein, nicht! nein, nicht! Hurenkinder mag er nicht.« Zornig sagte sie es, und sie stieß erregt mit den Füßen ins Gras.

Da erwachte der Bauer. Der Unwille gab ihm Worte. »Du Äfflein, was hast du für Reden! Sieht niemand nach dir, daß du so verlottert bist! Geh heim und laß dich waschen!« – Er wußte nicht, warum er das sagte; er sah nur mit einemmal den Schmutz an dem fremden Kind.

Verwundert sah sie ihn an. Dann stand sie langsam, fast mühselig auf. Ein Zögern war in ihr, ein ungläubiges, noch hoffendes Zaudern, als müsse der scheuchenden Rede ein lockender Ruf folgen.

Aber das Gesicht des Mannes blieb unwillig. »Die Tür ist offen,« sagte er kurz, »du brauchst nicht durch die Hecke zu schlüpfen.«

Wie finsterer Trotz kam es da über das Kind. »Wenn ich doch dableiben will! Wenn es mir doch da gefällt!« 80

Der Mann stand auch auf. Es ging bei ihm schwer und langsam, und als er hochkam, taumelte er ein wenig. Da lachte die Kleine hell auf und rief: »Man meint, du habest getrunken, wie der Schweinehirt in Biala.« Und ihr jäher Trotz war verflogen.

»Geh!« rief Johannes Straub, »du gefällst mir nicht.«

Da sah sie an sich hinunter und fuhr wie säubernd mit der Hand über ihr rotes Röckchen. Dann zog sie ein Tüchlein aus der Tasche, spuckte hinein und wusch sich das Gesicht.

Es lag ein so demütiger, guter Wille in ihrem Tun, daß in dem Manne der Unmut zerschmolz. Er sah wieder ohne es zu wissen, den feinen, fremden Reiz, der über dem Gestältlein webte, und er murrte, indem er sich zum Gehen wandte: »Kannst ja bleiben, meinetwegen. Aber so nah ans Wasser sitzest du mir nicht wieder!«

Da schlich sie wie ein Kätzlein an ihn her und drückte einen Kuß auf seine hängende, schwielige Hand, so daß er erschrak über das närrische Tun. –

Auf seinem Heimweg durch die leeren Wiesen fuhr er ein paarmal mit der geküßten Hand über das Wams, als müsse er etwas wegwischen. Eine Unruhe, ein aufgeschrecktes, bekümmertes Gefühl hatte er in sich um dieses Kind, das aus dem 81 herrenhaften Hause stammte und doch fast wie eine Wilde war. »Das Hexlein« nannte er es in seinem grübelnden Sinn, und es lag zugleich ein heimliches Streicheln und ein Zurückstoßen in diesem Namen.

Es war ein Band angeknüpft zwischen den zweien, das nicht mehr riß. Wenn einer hätte nachgraben können, so recht tief, und dieses Band bloßlegen, daß man seine Art und Beschaffenheit sah, es hätte sich herausgestellt, daß Johannes Straub, der Bauer mit der stillen, auf das höchste Licht gerichteten Seele, in dem fremden Kind das jähe Blinken, Aufzucken, Vorübergleiten dieses Lichtes wahrnahm, wie er es noch nie in irgendeinem Menschen seiner bekannten Welt wahrgenommen hatte.

Aber niemand, selbst der Bauer nicht, ja, er vielleicht am wenigsten, wußte dies. Ihm war's zum Verwundern und fast wie ein Anstoß, daß er immer die heimliche Freude hatte, wenn er das Mädchen aus dem Forsthaus die Straße herabkommen und den Kopf nach seinem Hause drehen sah. Selten ging sie vorüber. In Stall und Scheune war sie wie daheim. Sie gab den Kühen und Ochsen neue, seltsame Namen, die man in Meßberg nie gehört hatte, und nahm die Ferkel liebkosend in den Schoß.

Den Ratten, die hinter den Schweineställen nisteten, verstand sie ganz leise zu pfeifen, und in 82 den Schwalbennestern im Gebälk der Ställe kannte sie die Zahl und das Alter der Jungen. Sie trat in die Stände zu den schweren Gäulen und sprach mit ihnen wie mit Menschen, und sie legte ohne Furcht ihre kleine Hand, ja ihre bräunliche Wange an die Pferdeköpfe.

Johannes Straub stand da manche heimliche Angst aus und manchen heimlichen Unwillen. Aber wenn er den Mund auftun und dem Mädchen sagen wollte, daß man das liebe Vieh in seinem Wert lassen könne, ohne es deshalb zu behandeln wie seinesgleichen, so fand er die Worte nicht und fand nicht den Mut. Denn alles, was das Kind tat, tat es so, als ob es so sein müsse, und es war so wenig dagegen zu sagen, wie gegen den Wind, der auf dem Scheunendach die Ziegel lüpfte und die Wetterfahne drehte.

Aber bei all dem tiefen Zutrauen, das das Mädchen gegen den Bauern an den Tag legte, blieb das stumme Prüfen und Suchen in dem Blick ihrer dunklen Augen, dieses nie rastende Auf-der-Hut-sein, das oft etwas Lauerndes hatte, und das sich niemals einlullen oder ablenken ließ.

Immer wieder, wenn Johannes Straub, der Kinderlose, den jungen, unruhigen Gast in Stall und Scheune herumhuschen sah und in ein Gespräch 83 mit ihm kam, erschreckte und verwirrte es ihn, daß in der Kleinen neben der unbewußten Wahrhaftigkeit des Kindseins noch etwas anderes wohnte: ein scheues, geducktes Wissendsein, das da und dort durchbrach, und das dabei so seltsam verschieden war von der Frechheit oder Schamlosigkeit, die man unter Meßberger Kindern finden konnte.

Der Bauer hatte einen Knecht und eine Magd. Dazu eine Bäuerin, die seit vielen Jahren in der großen sonnigen Eckstube, deren Fenster gegen die Felder gingen, im Bette lag.

Kein Doktor wußte recht, was ihr fehlte. Es war, als sei, nachdem sie dreimal ein totes Kind, zwei Knaben und ein Mädchen, geboren hatte, alle Kraft, aller Wille, alle Freude zu leben aus ihrem armen Körper gewichen.

Sie litt nicht und sie klagte nicht. Aber wie ein Vogel, der in ein schweres Wetter kam, konnte sie die Schwingen nicht mehr heben.

Die Jahre gingen, und sie lag und lag. Ihr Gesicht wurde weiß und weiß ihr Haar. Sie bekam schmale, scharfe, schöne Züge. Die Schwäche, die Ohnmacht, die Dumpfheit lag wie ein Schleier darüber. Aber einmal an jedem Tag hob sich der Schleier. Das war, wenn nach getanem Tagwerk der Bauer zur Feierstunde in ihre Stube und an ihr Lager kam. 84 Dann saß der Mann mit gefalteten Händen und schaute still auf sein Weib. Und unter diesem stillen Blick zerfloß die Dumpfheit der langen einsamen Tagesstunden. Auf dem weißen Gesicht glühte wie von innen her ein geheimnisvoller Schimmer auf, und in die müden Augen kam ein Glanz.

Früher hatten die zwei in diesen Stunden noch von des Tages Arbeit gesprochen. Die Frau hatte ihre Seele hergezwungen zu den Dingen, für die ihr müder Leib die Kraft nicht mehr besaß.

Aber nach und nach ließen sie das mühselige und nutzlose Unterfangen. Am Bette des Weibes war nur noch Feierabend. Feierabend von allem Irdischen, Feierabend von Freud und Leid, Feierabend auch von allem Begehren und Wünschen.

Dafür erwachte an diesem stillen Lager jede Sehnsucht, die aus den Erdendunkelheiten hinausstrebt. In ihrer Sprache, die erst hart und dürftig war, mit den Jahren aber freier und blühender wurde, sprachen die zwei Menschen von dem, das droben ist, da Christus ist; von Jerusalem, der hochgebauten Stadt, von den Strömen des Lebens im Paradiese Gottes. So führten sie ein doppeltes Leben. Das eine für den Mann mit harter Arbeit, für die Frau mit müder Schwäche angefüllt, das andere für beide von fernherstrahlendem Glanz übergossen und von 85 jenem geheimnisvollen Frieden Gottes erhellt, der höher ist als alle Vernunft und alle Vernünftigen.

Johannes Straubs Knecht war ein hagerer, nicht mehr junger Mensch mit knochigem, kleinem Kopf, der auf ungewöhnlich langem, dünnem Halse saß. Das glattrasierte, bläuliche Kinn sprang vor, der breite Mund lag tief und hatte eingefallene Lippen; die braunen, lebhaft glänzenden Augen schauten unruhig, oft unsicher; die niedere, faltige Stirn wuchtete über das schmale Gesicht herein und gab ihm einen unfreien Ausdruck, der manchmal fast an etwas Tierisches erinnerte, wenn auch mehr durch eine seltsame Hilflosigkeit, als durch Roheit oder Niedrigkeit.

Schon manches Jahr diente dieser unschöne Mensch bei seinem Bauern, und in Meßberg hieß er »Straubs Semme«. Simon war er getauft und eines armen, alten Weibes Sohn, von der die meisten im Dorf nicht genau wußten, ob sie je einen Mann gehabt habe. Sie lebte kärglich von Taglöhnerarbeit, von Bettelsuppen und von ihres Sohnes nicht allzuheißer Liebe, die ziemlich mühselig durch die Jahre fortglostete, nie recht brennen wollte, aber doch auch nie ganz erlosch.

Daneben hexte sie noch ein wenig, wenn die Gelegenheit günstig war. Früher – so hieß es – hatte sie dieses unheimliche Gewerbe stärker betrieben. 86 Damals hatte sie weitherum in der Gegend ihre Kundschaft, der sie, man weiß nicht um welchen Lohn und auf welche Weise, ihre dunklen Kräfte lieh in allerlei Not und zu allerlei Vorhaben. Dazumal trug sie, die Genofeva getauft war, den Namen: »Jerusalemshexe«, denn unter ihren geheimnisvollen Taten war das die bekannteste, daß sie alljährlich nach Jerusalem fuhr, ohne Schiff und Eisenbahn.

Nun war ihr Ruhm längst erloschen und fast vergessen. Mau nannte sie nur noch »Fev«, und sie hexte nicht mehr öfter, als gerade nötig war, um nicht bei lebendigem Leibe von den Lebendigen vergessen zu werden. Dieses Los, das kaum die Stärksten mit Lächeln ertragen können, stand vor der schwachen Alten mit so grinsendem Drohen, daß sie dadurch immer von Zeit zu Zeit zu einem Bockssprung aufgestachelt wurde, auch da, wo sie an sich viel lieber mit ihren müden, trippelnden Altweiberschritten des Wegs gegangen wäre.

Ihrem Sohn Semme zulieb, das wußte Meßberg, hexte sie noch. Ihr Werk war es, das durchschauten alle Kundigen, daß Johannes Straub den Semme so viele Jahre behielt. Der Bauer hätte Angst um sein schönes, gesundes Vieh haben müssen, wenn er den Knecht weggeschickt hätte. 87

Sogar nach jener dunklen Sache, als man die Christiane draußen im Molchsee zwischen den schwarzen Föhren ertrunken gefunden hatte, durfte Semme in seiner Stelle bleiben. Und man wußte doch, daß das Mädchen zwei Jahre lang mit dem Knecht gegangen war!

Wie war die Lebenslustige ins Wasser gekommen? Daß der Semme, als man ihm davon sagte, wie ein Tier aufheulte und von jenem Tage an verfiel, wie einer, der Gift im Leibe hat, das sprach eher für als gegen seine Schuld.

Aber der Bauer tat ihn nicht von sich. Ja, er, der Wortkarge, sprach für ihn! Dahinter steckte die Hexerei der Fev.

An diesem Semme ging das Kind aus dem Forsthaus vom ersten Tag an scheu vorüber. Die Augen des Gemiedenen blickten oft hinter ihr her wie hinter etwas Unbegriffenem. Manchmal sagte die Kleine mit abgewandtem Gesicht dem Knecht ein befehlendes Wort. Dann gehorchte er verwundert und benommen, denn sie war ihm zuerst wie eine Herrin. Aber heimlich keimte in ihm ein Sichwehren gegen diese Nichtachtung auf. Die Hilflosigkeit in den braunen Augen färbte sich manchmal zu dumpfem Haß um, zu Haß, dieser Waffe der Waffenlosen, die schärfer wird, je länger sie in der Scheide bleibt. 88

Manchmal versuchte er, sich gegen die Kleine und ihr feindliches Wesen aufzubäumen. Er wies sie fort, wenn sie sich auf dem Hof zeigte, oder versuchte doch, sie fortzuweisen.

Da hetzte sie einmal mit gellendem Wort einfach den Hund auf ihn, den ihre flinken Finger von der Kette lösten.

Das Tier, verwirrt und bestürzt über das seltsame Ansinnen, fing ein wütendes Jammern, Bellen, Heulen an und tanzte in tollen Sprüngen im Hof, wie hin und her gerissen vom Zwiespalt seiner aufgepeitschten Gefühle.

Hellauf lachte erst das Kind. Dann wurde es plötzlich ernst. Es zuckte ihm durch den Sinn, daß der Hund leide. Sie pfiff und legte den Winselnden fest und ging aus dem Hof, ohne zurückzusehen.

Johannes Straubs Magd hieß Anastasia. Man nannte sie Stasel und vergaß, daß sie anders getauft war. Sie war breithüftig, derb und über die erste Jugend hinüber. Schlecht und recht führte sie das einfache Hauswesen. Dabei hielt sie unverdrossen Umschau, ob kein Freier sich zeige. Ein paar Jahre lang hatte sie uneingestanden, vielleicht unbewußt, gehofft, die Frau mit dem weißen Gesicht und dem weißen Haar werde bald aus dem weißen Bett und der sonnigen Stube verschwinden und ihr den Platz der Bäuerin räumen. 89

Aber dann begriff ihr schwerfälliger Sinn, daß der Tod, auch wenn er käme, die zwei nicht auseinanderreißen würde. Von da an lag für sie um den Bauern eine seltsame Hoheit her. Er war jetzt erst wirklich ihr Herr geworden, vor dem auch ihre langsam wandernden Gedanken sich duckten, die vorher oft frech um ihn her gespielt hatten.

Und vor der kranken Frau hatte sie eine heimliche Scheu, wie vor einem Bild in der Kirche. Sie sprach wenig mit ihr, weil sie keine Worte fand, die ihr für diese Stille gefallen wollten.

Über die Sonne, die durch die vielen Fenster glitzerte, oder über den Regen, der an den Scheiben herabweinte, sagte sie manchmal etwas Schüchternes, das ihr in den Sinn kam. Oder wenn sie das Lager richtete und die weißen Kissen schüttelte, fragte sie, ob das Nachtlichtlein, das auf dem Wasser im Glase schwamm, auch all die dunklen Stunden hindurch gebrannt habe. Und wenn es die Frau mit einem müden Wort bejahte, dann langten die Hände der Stasel behutsamer zu, und ihrer Seele wurde fast bang wie vor etwas Unbegreiflichem, weil da ein Mensch war, der die ganze lange, ihrer derben Gesundheit so fremde Nacht vom eigenen Zusehen kannte.

Wie ein großer Dämpfer auf alles Grelle und Laute in Haus, Hof und Menschen war die Stube 90 der kranken Bäuerin. Die vom Leben in müder Erschöpfung Gelöste wirkte stärker als einst die Gesunde auf das Leben um sie her, und die Kraftlose hatte ihre Kraft verdoppelt.

An die grobschlächtige, rauhe, dabei aber durch allerlei ungreifbare Dinge gebändigte Stasel schmiegte sich manchmal das Mädchen aus dem Forsthaus. Aufmerksam, ein Suchen oder Nachdenken im dunkeln Blick, betrachtete sie das rotbackige, breite, einfache Gesicht, die volle, kräftige Gestalt. Es mußte etwas daran sein, was sie bestrickte oder ihr Vertrauen abgewann, denn sie drückte sich oft an die faltenreichen Röcke der Breithüftigen.

Wenn es am frühen Winterabend ans Melken ging, wenn das Licht der Stallaterne zwischen den dunklen, niederen Balken schimmerte und die leeren Schwalbennester still und fahl da droben hingen, wenn die frische Streu unter den tretenden Hufen knisterte, wenn das Kauen der Tiere und das leise Zischen der Milch, die schäumend aus den Strichen in den Eimer floß, durch das warme Halbdunkel klang, wenn der Knecht Semme mit dem dünnen, unter dem Futterbündel gebogenen Hals, Unverständliches brummend, zu den Kühen trat und die Stasel zusammengekauert auf dem Melkeimer saß, dann lehnte das Kind oft reglos, seine großen Augen 91 weit aufgerissen, am Türpfosten und hatte ein Gesicht, das wie zerquält aussah vom Nachsinnen.

War der Knecht fort, dann fragte sie wohl plötzlich Dinge, die wie aus weiter Ferne herkamen und für die das hockende Weib an dem vollen Euter oft nur ein scheues Kopfschütteln hatte, weil ihr dumpfer Sinn fühlte, daß dies nicht Kinderfragen seien. Meist waren es Dinge, die um das Werden und Herkommen des Lebens herlagen, um das geheimnisvolle Dunkel, das den Beginn des irdischen Seins verhüllt und das frühe quält die, die heißen Blutes und dabei grübelnden Sinnes sind.

In ihrer Bedrängnis redete die Stasel dann oft etwas, mit dem das fast gierig lauschende Kind nichts anzufangen wußte und das ihm die Wirrnis in der jungen Seele noch quälender und undurchdringlicher machte.

An einem Frühlingsabend nahm der Bauer die Kleine mit zu seinem Weib. Er verwunderte sich über sich selber, daß er dies tat: aber das Verlangen danach hatte ihn gar stark ergriffen, als er das Hexlein, das, wie fast immer, ein flatteriges rotes Kleidchen trug, im Hof an einer Wagendeichsel turnen sah. »Sieh,« hatte etwas in ihm gerufen, »hier ist ein Kind, das keine Mutter hat, und droben liegt eine Mutter, die kein Kind hat – könnte man die zwei nicht zusammenbringen?« 92

Es war das erstemal, daß die Kleine das Wohnhaus betrat. Sie hatte sich seither wie ein Spatz nur im Hof, in der Scheune und in den Ställen herumgetrieben, hierhin flatternd und dahin und wieder verschwindend, wie es ihr gefiel.

Neugier, Erwartung und das alte scheue Mißtrauen stiegen in ihrem großen Blick auf, als der Bauer sie mit der schweren Hand an der Schulter nahm und ihr den Vorschlag machte.

Dann säuberte sie mit einer seltsamen, zögernden Sorgfalt ihre Schuhe am Strohwisch und stieg hinter dem Mann die geölte, steile Treppe empor.

Oben war ein langer, schmaler Flur mit vielen braunen Türen. Rehgehörne und eine ganze Reihe kleiner, hellgerahmter Bilder hingen an den grüngetünchten Wänden. Vergilbt und stockfleckig waren diese Bilder, und sie sahen aus wie Blätter aus einem alten Buch.

Die Kleine reckte sich auf den Zehen und sah auf dem ersten Bild ein Rudel Hunde und eine Frau, die aus dem Fenster eines hohen Hauses kopfüber herunterstürzte.

Ein leiser Schreckensruf entfuhr ihr. Der Bauer wandte sich. »Die Königin Isebel ist's, die Jehu aus dem Fenster stürzen läßt, daß sie die Hunde fressen auf dem Acker Jesreels.« 93

Des Kindes Gesicht war bleich und vor Schrecken ganz entstellt.

»Was hat sie ihm getan?«

Hart und streng war des Mannes Mund, seine Stimme klang anders als sonst. »Ihm hat sie nichts getan. Aber ihre Hurerei und Zauberei hat Israel verderbet. Eine Gottverfluchte war sie.«

Die Kleine fragte nicht weiter. In das dunkle Netz der quälenden Rätsel war eine neue Masche gekommen.

Auf die Rehgehörne fiel ihr Blick. Da war vertrauter Boden. »Bist du Jäger?« fragte sie.

»Früher einmal – schon lange nicht mehr.«

Prüfend musterte sie die bescheidenen Trophäen. »Warum hast du nie einen Elch geschossen, wie mein Vater?«

Der Mund des Bauern verzog sich zu einem kleinen Lächeln. Sein ganzes Gesicht sah dadurch aus, als laufe ein Sonnenstrahl darüber. »Mir tut's ein Rehböcklein, ich trachte nicht nach hohen Dingen.«

Sie ließ den Blick nicht von den Gehörnen. »Es ist kein einziger tüchtiger Bock darunter, du hast kein Glück gehabt,« sagte sie mitleidig.

Der Bauer nickte. Sein Lächeln war verflogen. »Nein, kein Glück.« Dann nahm er ihr Händlein. »Komm, sie hört uns und wird unruhig.« 94

Bis zur letzten Türe schritten sie den Gang hinunter. Dort mündete von einem Fenster nach dem Hofe her ein Seitengang, der voller Helle war.

An der Türe horchten sie ein wenig und traten ohne zu klopfen ein.

Eine Menge Licht kam den beiden entgegen. Draußen verglühte der Frühlingshimmel nach einem leuchtenden Tag, und helle Ströme brachen durch die vielen Fenster, fluteten in dem weiten, niederen Raum auseinander und überdeckten alles mit rotgoldenem Glanz. Dem Kinde entfuhr ein entzückter Laut, ein naturhafter Freudenlaut, wie er wohl in dieser stillen Stube noch nie erklungen war.

Die Frau im Bett drehte den Kopf nach der Tür. Sie hatte heute einen schlechten Tag gehabt. Ihre Stirne, ihr Haar war mit einem weißen Tuch fest umwunden; farblos, streng, rein waren die scharfen Züge; groß, tiefliegend, reglos die Augen, die nach dem Kinde starrten.

Die Kleine blieb stehen wie festgebannt. Es war, als ob ihr überraschter, ungläubiger Blick scheu, zögernd, furchtsam rückwärts gehe, wie vor etwas Unheimlichem oder Unfaßbarem. Langsam, zitternd fast, griff ihr mageres braunes Händlein in den Rock, und sie zog, wie in tiefer Scham oder tiefer Angst, die roten Falten empor und über ihr Gesicht. 95

Eine Weile sank bange Stille über die Stube. Den Bauern erschreckte dumpf der Gedanke, er habe etwas nicht recht gemacht. Dann lachte er leise auf und drückte dem Kind das Händlein herunter. »Du, Bärbel, du! Geh hin und grüße die Frau!«

Die Nüchternheit des verweisenden Wortes scheuchte einen Bann. Wie im Trotz stand die Kleine. »Ich heiße nicht Bärbel.«

Die Frau richtete sich ein wenig auf. »Wie heißt du denn?« – Ihre Stimme hatte fast keinen Klang, schleichend, tonlos, mühselig kam sie daher.

Das Kind wandte den Blick von ihr und sah in unbewußter Bitte an dem Bauern in die Höhe. Es war, als ob sie sich zu etwas Vertrautem flüchten müsse, um wieder Boden unter die Füße zu bekommen.

»Sag' du ihr's,« flüsterte sie.

Der Mann schritt neben das Bett und setzte sich dort auf seinen Stuhl. Er winkte der Kleinen; aber sie rührte sich nicht vom Platz.

»Es ist die Eva vom Forsthaus; das Hexlein, von dem ich dir schon gesagt habe,« erklärte er seinem Weib.

Sie streckte die durchsichtige Hand ein wenig aus. »Komm her! Du hast einen schönen Namen! Heißest wie die Menschenmutter im Paradies, von der wir alle kommen.« 96

Es war, als hätte das Kind auf einmal alle Scheu vergessen. Ihre Augen glänzten auf. »Erzähle das!« sagte sie fast befehlend und trat neben den Bauern ans Bett.

Ein schönes, geruhiges Lächeln glitt über der Kranken Gesicht. »Nun,« sagte sie frischer als zuvor, »es ist die uralte Geschichte, deine Mutter wird sie dir erzählt haben.«

Das Kind machte eine merkwürdige, fast wegwerfende Bewegung mit der Hand. »Die ist doch gestorben.«

»Wie lange denn schon?«

»Ich weiß nicht – hundert Jahre, glaube ich.«

Der Bauer schüttelte mißbilligend den Kopf. »Lüg' doch nicht!«

Die Kleine schaute ihm verwundert ins Gesicht. »Ich lüge ganz gewiß nicht, du kannst mir's glauben; auf Ehre und Seligkeit!« Sie sprach dringlich, und ihre Augen flackerten, dabei lehnte sie sich näher an das Bett, so daß die abgezehrten Hände der Frau ihr rotes Röcklein heimlich streicheln konnten.

»Wie alt bist du?« fragte die kranke Stimme.

Ein Nachsinnen kam in das bräunliche Gesicht, ein unruhiges Suchen. Dann brach es hervor: »Einmal bin ich fünf gewesen« – sie spreizte die mageren Finger ihrer rechten Hand und schien sie mühselig 97 zu zählen – »aber von heute weiß ich's nicht. Ich will Fräulein Tabea fragen, die wird es vielleicht wissen.«

»Wer ist Fräulein Tabea?«

»Nun, das ist doch Fräulein Tabea bei uns daheim, die über mich befehlen darf und über alles, nur nicht über den Vater.« Während die Kleine das sagte, war es deutlich zu sehen, wie sie selbst sich alles innerlich erst klarmachen und zurechtlegen mußte, ehe sie Bescheid geben konnte. Langsam, hart, fremd war ihre Sprache. Über den Bauern und sein Weib kam eine leise Befangenheit. Sie spürten, daß jede an das Kind gerichtete Frage irgendwohin führen konnte, wo Fremde nichts zu suchen hatten.

»Du wirst wohl sechs Jahre alt sein und heuer in die Schule müssen,« sagte der Bauer obenhin, um aus der Gefahr wegzukommen.

Sie schüttelte den zerzausten Kopf und schaute feindselig drein. »Ich weiß noch nicht, ob ich hingehe. Sie hauen einen da. Und manche haben Läuse.«

Eine kurze Weile preßte sie den Mund fest zusammen, dann drängte sie sich mit einer seltsamen, ernsten Eindringlichkeit ganz nahe an das Bett. Jenes heimliche Flehen: ›Verlache mich nicht und schilt mich nicht!‹ das so oft, von den Erwachsenen unbeachtet, über Kindergesichter gleitet, ehe sich eine 98 Frage aus dem Innersten losringt, es erschien und zerschmolz auch auf ihrem Gesicht, als sie leise fragte: »Gehen die Läuse noch an dich?«

Es war, als sei ein bitterernstes Wort gefallen. Weder die Kranke noch der Mann lachten. Der Glanz in der weiten Stube blaßte ab, das erste Tasten der Dämmerung ging durch den Raum.

Bangend, eintönig sagte das Kind in die Stille hinein: »Der Schweinehirt in Biala sagt: Wer bald stirbt, an den gehen die Läuse nicht mehr.«

Es war, als ob von der auslöschenden Abendröte ein Schimmer auf dem Gesicht der Frau hängen geblieben wäre. Leuchtend sah es aus, und es leuchteten die Augen, die sich von dem Kind nach dem verglühenden Himmel wandten. Eine Hoheit, fremd und erschütternd, lag über dem Antlitz, aus dem das Leiden alles weggemeißelt hatte, was die edle Reinheit stören konnte. »Kind,« sagte die erloschene Stimme, »deine Augen sehen gut; ich sterbe bald, so Gott es will.«

Langsam, wie unter einem Zwang, legten sich die Hände der Kleinen ineinander; ihr Blick wich nicht von der Frau. »Du bist sehr schön«, sagte sie leise und voll Nachdruck, »sehr schön bist du. Muß man sterben, wenn man ganz schön ist?«

Da legte sich des Bauern rauhe Hand auf den Kindermund: »Schweig du.« 99

»Laß sie reden,« raunte die Frau, »sie ist ein Kind.«

Vorwurfsvoll schaute die Kleine auf den Mann. »Hörst du: du sollst mich reden lassen! Aber ich will jetzt nicht mehr reden.«

Die Frau tastete nach ihren Händlein und streichelte sie. Dann ließ sie auch dies, und es war eine Ruhe, eine Unbewegtheit in der Stube, als sei das letzte Leben erloschen. Dunkel kroch der Abend aus den Ecken, graue Schleier legten sich über das weiße Bett, und zuletzt war nichts mehr da, als der mit den Binden umwundene Kopf der erdgelösten Frau, in dem alles leise Licht in der Stube sich zusammenzuziehen schien.

Schwer über das Bett gelehnt stand das Kind. Sie wußte nichts mehr von sich, sie war nur noch saugendes, hungriges Schauen. Sie sah hinüber in eine ferne Welt unbeschreiblicher Schönheit, der man auf dieser Erdenseite entgegenreifen muß durch Schönheit. Ein hohes, heiliges Wissen wuchs ihr zu aus der Nacht heraus, ein Wissen von jener Sorte, das man nicht fragt: woher kommst du? und das trotz seines dunklen Ursprungs zu einem schimmernden Licht auf dem Wege wird.

Der Lärm heimkehrender Gespanne im Hof zerstörte den Bann. Der Hund an der Kette fing sein tolles Bellen an, die Stimmen des Semme und 100 der Taglöhner ließen sich hören, und die Betglocke, von hastigen Bubenhänden zu hastig geläutet, schwang darüber hin.

Der Bauer rückte seinen Stuhl. Es war ihm, als hätte er geschlafen und geträumt, so hingenommen und vor sich selbst hinausgestellt hatte er sich gefühlt. Er legte dem Kind die Hand auf den Kopf. »Horch! es läutet; du wirst heim müssen, sonst suchen sie dich.«

Sie richtete sich langsam auf. Ihr schmales, dunkles Gestältlein stand so fremd in der Stube, in der sonst um diese Stunde zwei diesseitsmüde Menschen ihre schweren Worte miteinander wechselten.

Lange sprach sie nichts. Dann sagte sie, wie noch benommen von etwas, das sie erlebt hatte: »Wenn du bald stirbst, könntest du wohl die Türe nicht ganz zumachen! Ich möchte hineinsehen, dort, wo man ganz schön ist.«

Vielleicht hörten Mann und Frau die tiefe, unbewußte, ewige Menschensehnsucht aus der Kinderrede. Ein Seufzer klang aus dem Bett. »Ich werde wohl müssen! Alle machen die Türe ganz zu.«

»Ja,« bestätigte der Bauer und seine Stimme klang rauh, »so will es Gott.«

»Wem hat er es gesagt?« fragte nach einer kleinen, beklommenen Stille das Kind. 101

Die beiden wußten keine Antwort oder gaben wenigstens keine.

Im Hof rief eine grelle und hörbar unwillige Stimme: »Eva!«

Die Kleine stand unbeweglich aufrecht. Über ihr ganzes dunkles Gestältlein schien Trotz und Widerstand gebreitet.

»Hörst du, eure Magd sucht dich!« mahnte der Bauer.

Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Lassen soll sie mich! Wem hat es Gott gesagt, das mit der Türe?« – – Es klang unkindlich, fast drohend oder gewalttätig, und man mußte gute Ohren haben, um den Unterton der Angst herauszuhören, einer Angst, davon zu müssen und das Beste dahinten zu lassen.

Die Kranke hatte diese guten Ohren. »Geh nur,« sagte sie mütterlich zusprechend, »wenn du größer bist, wirst du das alles wissen.«

»Eva,« klang es noch greller, noch unwilliger im Hof.

Da hob ein seltsamer schmerzlicher und zorniger Seufzer des Kindes Brust, und ohne Gruß, huschend und flink, entschwand sie durch die Türe, durch die der Ölgeruch der Flurlampe in die Krankenstube strömte. 102

Das war die erste Begegnung zwischen einer Mutter, die kein Kind hatte, und einem Kind, das keine Mutter hatte.

Wie viele nachher noch kamen und was dabei gesprochen wurde, das steht vielleicht in jenem besonders wichtigen Buch geschrieben, darin aufgezeichnet wird, was Menschen einander sind und wie sie sich gegenseitig vorwärts helfen, fernen Zielen zu.

Wenn Eva künftig mit der Stasel von der Bäuerin sprach, nannte sie sie nie anders als »Die Schöne«. Ein flimmerndes Märlein erzählte sie der Magd, von einem glänzenden Goldschein, den die Schöne um den Kopf habe wie einen Strahlenkranz.

Schüchtern nur widersprach oder zweifelte die Stasel; denn auch ihren derben Sinnen war es immer, als liege etwas Besonderes um den weißen Kopf aus den weißen Kissen her. Aber schon diese schüchternen Widerreden oder Zweifelsreden brachten die Kleine in Harnisch, so daß sie zornigen Blickes erklärte: »Ich habe es doch gesehen, du dumme Stasel!«

Dann schwieg die Gescholtene und spürte eine merkwürdige, halb von Grauen überschattete Freude, deren Grund sie nicht durchschaute. –  –

Eva Auerstein aus dem Forsthaus ging mit den Meßberger Kindern in die Schule. Sie verlor ihre 103 fremde Sprache bis auf einen letzten unverwischbaren Klang, und ihr fremdes Wesen wurde zu etwas Gewohntem und Selbstverständlichem. Ein paarmal gingen die Läuse an sie, dann schnitt man ihr die Haare dicht am Kopfe ab, und spottend nannten die Kinder sie: Adam.

Das erstemal kam sie in Wut und spie denen ins Gesicht, die ihr nahten. Dann trug sie den Spott mit herrischem Stolz und setzte etwas darein, wild und frech zu tun, wie die Buben. Das schaffte ihr Hochachtung und ergebene Anhängerschaft, über die sie verfügen konnte, wie sie wollte.

Sie war eine launische, befehlshaberische Herrin im lauten Spiel; aber je tyrannischer sie sich gebärdete, je williger gehorchten ihr die Meßberger, deren verhocktes Blut es nicht zu viel eigenem Willen brachte, höchstens zu jenem beharrenden Eigensinn, der unter dem Trägheitsgesetz steht und den die rasche Klugheit des Mädchens zu umgehen wußte, wie einen Steinblock im Weg, mit dem man auch nicht rechtet und unterhandelt.

Unter der Leitung der Eva, die immer noch meist ein rotes Kleid trug, wie es ihre bräunliche Haut, ihre dunklen Augen und Haare fast forderten, durchstreiften die jungen Horden Wälder und Heide. Sie bauten sich Hütten und Zelte, Burgen und 104 Königsschlösser an Waldsaum und Flußufer, sie angelten mit gebogenen Nadeln und stellten Fallen aus Dachziegeln, sie jagten den Schmetterlingen nach und pirschten auf Käfer, Schlangen und Eidechsen; sie streckten ihre Hände, oder doch ihre Begehrlichkeit nach allem Lebendigen aus, als sei es für sie und um ihretwillen erschaffen, und sie brüllten und grölten oft in die warme, stille, blaue Sommerluft hinaus ohne Sinn und Zweck und Absicht, aus reiner heißer, wilder Freude am Leben. Aber über einem wachte die Herrin Eva wie eine Richterin: lebendige Beute ließ sie nicht quälen und töten, und schmähender, grimmiger Verachtung oder jäher Rache war sicher, wer sich gegen dieses Gebot verging. Dafür bevölkerte die Herrin Luft und Land mit fremdem Getier, wie es zuvor kein Meßberger gekannt oder geahnt hatte.

Sie zeigte ihrer Gefolgschaft in der engen Bergschlucht den Drachen, wie er züngelnd, schwer, stinkend und rauchend an den feuchten Steinwänden herunterhing, den Schatz bewachend, der in den Klüften lag. Den Elch mit den breiten Schaufeln, den Ur mit dem mächtigen Nacken sah sie unter den Bäumen, den Adler, den nacktköpfigen Geier hoch über den Wipfeln. Die Feueraugen großer Eulen leuchteten ihr aus sterbenden Baumstümpfen, und zwischen 105 Felsgeröll sah sie die blauen Schlangen mit schimmernden Krönlein.

Sie war nicht neidisch und behielt diese Dinge nicht für sich allein. Mit deutenden Fingern und glänzenden Augen zeigte sie alles ihrer Schar, und ihre flüsternde Stimme und Sprache ward in der Erregung wieder fremd und voll der harten, seltsamen Laute, die sie dereinst aus dem fernen Lande mitgebracht und scheinbar längst vergessen hatte.

Mund und Nase sperrten die Meßberger auf, und die Schwerfälligsten unter ihnen, die, die ihrer stumpfen Sinne am wenigsten Meister waren, die sahen und hörten oft am raschesten, was da zu hören und zu sehen sein sollte. Mit diesen paar Auserwählten tat sich Eva inniger zusammen; doch nicht so, daß sie ihnen gegenüber eines ihrer Herrenrechte aufgegeben hätte, oder daß sie sich durch besondere Treue an diese kleine Schar gebunden hielt. Sie verstieß und zog zu sich heran nach Laune und Wohlgefallen, und ihre besten Freunde hielt sie unter härtestem Zwang.

Manchmal wachte in der Schar der Wunsch auf, unter der Führung Evas in den weitläufigen geheimnisvollen Garten des Forsthauses einzudringen, den dichte, von Baumwipfeln überragte Hecken neidisch rings umgaben und in dem die Amseln sangen 106 wie nirgends sonst. Aber unerbittlich lehnte das Mädchen ab, und je aufdringlicher die anderen wollten, je abweisender wurde sie. »Erlaubt es dein Vater nicht?« fragte wohl eine Stimme aus der Schar mit jenem hämischen Klang, der aus heißen Seelen Feuer schlägt.

Hochmütig flackerten Evas dunkle Augen auf, »Nicht darum!« Mehr sagte sie nicht; hätte vielleicht auch nicht sagen können, was wie ein dumpfes Gefühl in ihr lebte: daß die Lärmenden nicht hineinpaßten in den verträumten und verwilderten Garten, in dem die verwitterten Grabsteine alter Priorinnen, die Fliesen und Dachziegel des hingeschwundenen Klösterleins zwischen den Buchshecken lagen oder unter breitausladenden alten Bäumen zu grünbemoosten Hügeln aufgeschichtet waren.

Das aber wehrte das Mädchen den Meßbergern nicht, daß sie mit heißer Mühe und unter mancher Verwundung durch die alte dichte, stachlige Hecke zu schauen versuchten und die Dinge sahen, von denen Eva erzählte, daß sie drinnen seien.

Auf diese Weise sahen sie die lustwandelnden Nonnen, die in Büchern lasen und Blumen aus dem Rasen pflückten, und unter denen eine war, die ein so welkes, sonnverbranntes Gesicht hatte wie Fräulein Tabea. Diese Nonnen kamen nach und nach 107 allen einmal vor die Augen, bald deutlicher und bald verschwommener, bald nur flüchtig, bald für lange. Wer sie heute nicht gesehen hatte, der sah sie morgen, und wer sie morgen nicht erblickte, dem schärften Scham, Ärger, Neid den Blick, so daß sie doch übermorgen an ihm vorüberschwebten.

Nur ein kleines, bleiches Mädchen mit krankhaft dickem Hals, aber einer schönen, klugen Stirne sah nie etwas. Ein Waisenkind war sie, dessen Eltern sich schon in jungen Jahren die Lungen aus der Brust gehustet hatten. Sie trieb sich bei ihrer Großmutter herum, hatte dort Kost und Schlafstelle, und in Meßberg galt es dafür, daß sie gut untergebracht sei. Das wußte niemand, daß auch ein sattes Kind beständig hungrig sein, und daß man für die Nacht ein Bett und doch nirgends eine Heimat haben kann.

Wie ihr Schatten war die kleine Hanne hinter Eva Auerstein her. Sie ließ nicht von ihr; aber sie hielt auch nie recht stand, wenn Eva mit ihr richtig und gründlich anbandeln wollte. Sie war vielleicht die Gehorsamste unter der Gefolgschaft; aber sie wich immer aus, wenn einer der herrischen Befehle an ein einzelnes erging. Ergeben und doch selbständig, treu und doch nicht gefesselt, untertan und doch nicht untertänig stand sie hinter ihrer dunkelhaarigen Königin, eine einzelne, auch wenn sie im Schwarm mitging. 108

Ob Eva sie liebte, war schwer zu entscheiden. Oft schien es eher, als sei sie ihr lästig oder zuwider. Die zuwartenden hellen Augen der Hanne waren unbequem; eine Kühle ging aus von ihrem bleichen Gesicht, wenn in Eva die Hitze loderte. Aber wenn es galt, aus der Fülle der Meinungen einen Rat oder Vorschlag herauszuschälen, da brachte Eva oft mit einem raschen Ruf alle andern zum Schweigen und fragte die Hanne. Und wenn alle etwas lobten und nur Hanne hielt sich zurück, so blieb in Evas Seele ein Stachel, dessen schmerzendes Dasein sie dann irgendwie die Waise entgelten ließ, vielleicht ohne es zu wollen.

Diese Hanne, die durch die Hecke am Garten niemals etwas sah, war die einzige, die im Frühling mit Eva einstmals hineindurfte.

Die Welt war weit und still an jenem Tag, wie sie manchmal ist, wenn heimlich die ersten Veilchen sprießen und das Leben aus den Schollen drängend ans Licht will.

Ohne Lärm, wie in Versunkenheit gingen auf den sonnigen Äckern die Gespanne; die Wiesen waren von unten her durchschimmert von frischem Grün, und der Fluß zog still und glitzernd zwischen den Erlen.

Beim Veilchensuchen an der Hecke von Johannes Straubs Obstgarten trafen die zwei Mädchen 109 zusammen. Lose in ihren aufgenommenen Rock gesammelt, trug Eva die Blumen; Hanne hatte ihre Beute zu einem dichten, blau und weißen Strauß gepreßt, den sie mit heißen Fingern mühselig zusammenhielt.

Sie verglichen ihre Schätze und stritten ein wenig, dann streute Hanne ihre Blumen zu den andern in Evas Rock.

»Komm,« sagte darauf diese kurz, »du darfst in meinen Garten.«

Ungläubig schaute das bleiche Kind auf; aber sie sagte nichts; sie schritt nur emsig in ihren schweren Schuhen neben der heute barfüßigen, viel größeren Genossin her, die den Kopf trug wie eine, die eine Gnade erteilt hat.

An einer von innen verriegelten Pforte am Garten blieben sie stehen. »Warte hier,« sagte Eva, »ich werde sehen, ob mein Vater nicht drin ist, und dich dann hereinlassen.«

Sie enteilte ins nahe Haus, und die einsame Hanne stand scheu auf dem sonnigen Weg. Das Abenteuerliche lag ihr nicht; es machte sie beklommen und ängstlich. Als ein Abenteuer aber empfand sie es, daß sie in diesen Garten eintreten sollte, der allen Kindern wie ein verbotenes, geheimnisvolles Paradies war; vor dem die hohe, gestrenge Gestalt 110 des Forstmeisters und die fremde Tabea mit dem Männerhaar Wache hielten.

Scheue Blicke warf sie gegen das Haus, ob an den Fenstern nichts Drohendes sichtbar werde, und als wollte sie sich kleiner machen, drückte sie sich hart an die Gartenpforte.

Da wurde diese von innen rasch geöffnet, so daß Hanne taumelnd, fast stürzend, hinein gelangte in das fremde Land.

Aber Eva, die sonst über jeden Streich schallend lachte, drückte erschrocken die Hand auf den Mund, als fürchte sie, der Genossin könnte ein Laut entfahren, hier, wo doch die Stille daheim war, die nur die singenden Vögel brechen durften.

Mit einer Sorglichkeit, die ihr sonst fremd war, verriegelte sie die Pforte wieder und nahm Hanne führend an der Hand. An einer Steinbank vorüber, auf der jetzt die gesammelten Veilchen lagen, ging es durch buchsgefaßte, feuchte, noch leere Gemüsebeete in das Buschwerk hinein.

Dunkle Eiben und rötlich schimmernde Mahonien standen mit niederen Föhren zusammen in düsteren, nie gelichteten Gruppen. Das noch kahle, aber schon vom drängenden Grün schimmernde Gehänge alter Lärchen wiegte sich in lautlosem Rhythmus darüber im Frühlingswind. 111

An Fichten und Tannen wucherte das dürre Geschling der Waldrebe und der kletternde Efeu empor, die ersten Windröschen und die noch dichtgerollten Spiralen der Farne drängten zwischen faulenden Nadeln und altem Laub aus der moderig riechenden Erde.

Schmale, fast verwachsene, von Flechten grüngefärbte Wege gingen durcheinander, und für Hanne war es zum Erstaunen, wie flink und sicher Eva in der Wildnis ausschritt.

Auf einer Lichtung machten sie Halt. Ein schwerer steinerner Tisch stand da, auf seinem plumpen Schaft und mit der graugrünen Färbung fast anzusehen wie ein aus der dunklen Erde gewachsener Riesenpilz. Das Busch und Baumwerk umschattete den Platz, daß es kühl und feucht war inmitten des sonnigen Frühlingstags, als sei ein Stück trotzigen Winters hier zurückgeblieben. Es war, als ob Eva von der frostigen Kühle nichts spüre. Sie schritt auf die halbzerbrochene Bank zu, die sich an den Stamm eines efeuumwachsenen Baumes schmiegte, und setzte sich, daß ihre nackten Füße baumelten.

»Komm,« rief sie herrisch, aber doch mit verhaltener Stimme, »hier darfst du sitzen.«

Aber die andere stand ohne Regung. Wie von eisigem Frost durchschauert sah sie aus. Ein 112 bläulicher Schatten lag über ihrem Gesicht, an dem dicken Hals klopften schwer die geschwollenen Adern, und die sonst so ruhigen Augen hatten einen stechenden Blick. Auf einmal stöhnte sie auf, wie erwachend, und wandte sich fliehend in plumper Hast auf den engen Weg zurück.

Erstaunt sah Eva ihr nach. Langsam, wie in Verwirrung, glitt sie von ihrem Sitz. Dann schaute sie sich verwundert um, bekam einen scheuen, ja schreckensvollen Ausdruck ins bewegliche Gesicht und eilte hinter der Genossin her, daß ihr Röcklein flatterte.

Draußen, wo die Sonne schien, zwischen den Buchsgängen im Gemüseland, standen die Mädchen. Überflutend von tiefer, vielleicht feindseliger Erregung war beider Blick, als er jetzt ineinandertraf. Beide atmeten schwer, und es war doch nur ein kurzer Lauf gewesen.

»Hast du etwas gesehen?« stieß Eva hervor.

Da fing die Bleiche zu zittern und dann heftig zu weinen an, und sie weinte halblaut und schluchzend in ihre Schürze hinein und ging davon, ohne zu antworten.

Am Tag darauf fehlte sie in der Schule, und es hieß, sie liege krank.

Eva Auerstein schlich um das Häuslein von Hannes Großmutter, und getraute sich nicht hinein. Zuletzt 113 faßte sie sich ein Herz und rief an das Fenster hinauf: »Hanne!«

Aber es kam keine Stimme noch Antwort, nur die gelbweiße Katze strich um das Geländer der niederen Staffel, und hinter der Stalltüre klirrte die Kette der Kuh.

Wochenlang dauerte die Krankheit; aber sie hatte keinen Namen, und die Großmutter holte den Doktor nicht.

Wenn jemand nach Hanne fragte, so hieß der Bescheid: sie hat das Frieren. Und am Frieren ist ja noch keiner gestorben. Erst die Lindigkeit der Maienluft und der Duft blühender Wiesen und Hecken machten der Kranken das eisige Blut wieder warm. Da kam sie herausgekrochen auf die sonnige Hausstaffel.

Die Katze strich um sie her und rieb den Buckel an dem schmächtigen Gestältlein. Die Spatzen badeten im warmen, weißen Straßenstaub und balgten sich vor den stillen großen Augen des Kindes. Aber als zum erstenmal Eva Auerstein in die Nähe kam, trat in diese Augen ein Erschrecken, eine Erinnerung, die nicht gut war für die Genesende. »Geh,« sagte sie dringend und angstvoll, »geh, ich fürchte mich!«

Aus der Freundschaft war ein scheues Sichfliehen geworden. Ein unsichtbarer, schwerer, dunkler Stein 114 lag zwischen den beiden, den ihre Kinderhände nicht zu berühren wagten und nicht fortschaffen konnten.

Ein eisiger Schatten gaukelte zwischen ihnen, dessen Kälte sie auseinanderscheuchte, ohne daß sie sich Rechenschaft darüber geben konnten, warum alles so geworden sei, und es dauerte lange, bis sie sich einigermaßen wieder zueinanderfanden.

Wer will errechnen, wie lang und wie reich Kindheitsjahre sind! In vier ihrer Wochen geht mehr und Erstaunlicheres hinein, als in ein späteres Jahrzehnt. Sie haben ihr besonderes Längen- und Tiefen- und Breitenmaß, denn bei all ihren leuchtenden Stunden schimmert noch die Zeitlosigkeit mit, die weite Ewigkeit, aus der sie hergekommen und die den alternden Wanderern über die Erde zurücktritt, weil diese zählend und rechnend ihre Stunden und Tage ineinanderfügen, so daß kein Spalt und kein Spältlein bleibt, durch das der ewige Glanz hindurchschimmern könnte.

Wie lang und wie reich war zum Beispiel jener wunderbare Sommer, in dem Tag um Tag die Sonne leuchtend emporkam, über die fernen Baumwipfel stieg und mit goldenen Fingern nach Evas Bett und nach dem schlafenden bräunlichen, von den verwirrten Haaren umkräuselten Gesicht tastete.

Taten sich dann die dunklen Augen langsam auf, so war in ihnen noch etwas von dem fremden Ufer, 115 dem unbekannten Leben, das drüben im Traumland die Seele umfängt, und sie schauten blicklos, fast verstört in die helle Stube.

Aber von dem Morgenglanz, der durch die Fenster strömte, schlüpfte jenes Fremde scheu und rasch zurück, wie ein Tierlein, das vor einem Feind in die Höhle huscht, darin es daheim ist. Dafür traten nun keck und lockend, grüßend und winkend und mit einem Mund voll klingender Versprechungen die Freuden, die Hoffnungen des aufsteigenden Tages heran, und sie ruhten nicht, ehe sich der dunkelhaarige Kopf aus den Kissen hob.

Aber manchmal, und seit der Schulzeit nicht gar so selten, traten auch schreckende Gestalten herzu: Grinsende Drohungen, peinliche Erwartungen, quälende Erinnerungen, mürrische Gewißheiten. Sie tanzten einen üblen Reigen, und ihr Schatten dämpfte das Morgenlicht.

An solchen Tagen ließ sich Eva geduldig wie ein Lamm und ohne jedes Ächzen die wirren Haare bürsten und flechten. Sie wehrte sich gegen kein Kleid, das Tabea verordnete, sie fand die Milch nicht zu heiß, sie ordnete ihre Bücher und Hefte mit stiller, peinlicher Sorgfalt.

Aus der gestrengen Tabea Behauptung, das dies alles wohl wieder von einem schlechten Gewissen 116 herkomme, gab Eva keine Antwort und konnte keine geben; denn sie kannte sich lange nicht aus in den vieltönenden Stimmen, die ihr in der Luft erklangen, so stark, so hell und vielgestaltig, wie sie nur in denen aufklingen, die diese Erde wie Gäste und leichtfüßige Wanderer betreten und sich nicht von ihr einfangen und in den dumpfen Sack stecken lassen.

Mit der Schule stand Eva in einem seltsamen Verhältnis. Sie war ihr nicht das Unabänderliche und mit zwingender Macht Ausgestattete, als das sie über den andern stand. Vielmehr trug Eva das starke und bis zum letzten Schultag nicht weichende Gefühl in sich, daß es ihr eigener, jederzeit widerruflicher Wille und Entschluß sei, mitzutun und sich den Gebräuchen und Ordnungen zu fügen. Vielleicht war sie aus dieser inneren Freiheit, aus diesem stolzen Vorbehalt her die lebendige, mitgehende Schülerin, die sie in den meisten Stunden war, und vielleicht lernte sie gerne und leicht, weil sie alles aus freiem Willen zu tun meinte. Wie das beste Pferd, das dem Zügel am liebsten gehorcht, diesen am wenigsten spüren darf.

Als die Weisheit der dörflichen Schule nicht mehr genügte, trat Tabea in die Lücke und unterrichtete Eva noch zu Hause in streng eingehaltenen Stunden. Diese Nebenschule war es, die Eva als Zwang 117 empfand, als eine Vergewaltigung, gegen die Auflehnung am Platze sei.

Aber die Kurzhaarige hatte sich in einem harten, oft geknechteten Leben die Zähigkeit geholt, einem stürmischen Sinn starr zu begegnen. Der Forstmeister trat auf ihre Seite, und Eva glich lange dem bockenden Füllen, auf das man den ersten Zaum legt.

Aber an ihrem jungen, schwanken Wesen zerbrach nichts unter diesem Zwang, und bald nachher nahm sie es mit Gelassenheit hin, daß sie nun mehr als früher unter Tabeas Regiment stand. Ja, es keimte mit der Zeit etwas auf in dem erwachenden Kind, eine Anteilnahme an dem menschlichen Geschick der Kurzhaarigen, ein Sichbegegnen auf nicht feindlichem, nicht gefährlichem Boden, so daß das Verhältnis zwischen den beiden sich unvermerkt entspannte, wenn es auch kein inniges wurde, weil die Kühle, die geradlinige Nüchternheit der Baltin das nicht zuließ.

Dieses innige Verhältnis, ohne das ein heißblütiges junges Menschenwesen nicht leben kann und wenn es an den unmöglichsten Orten danach suchen und den merkwürdigsten Gegenstand dafür wählen müßte – Eva fand es in jenem wunderschönen Sommer bei der alten Fev.

Über den Zaun hinüber fing es an, als das Weib Unkraut jätete im Pfarrgarten. 118

Dort blühten in den Rabatten die hohen Rittersporn, der weithin leuchtende Gartenmohn, die frommen Lilienstengel, die nach Unschuld aussahen und nach Schuld dufteten, oder doch nach einem heißen, fremden Begehren. Dort hing der Jasmin in blütenschweren Zweigen über eine freundliche Laube, und die holden Knospen der Moosrosen standen arglos neben dem blauen Eisenhut, dessen Gift für den Kundigen den Zaubermantel ausbreitet und Raum, Zeit und Erdenschwere versinken macht.

Zwischen diesem Sommerprangen kniete das verkrümmte Weib mit dem Altersschnee auf dem Scheitel. Das verwaschene Tuch auf ihrem Haar war zurückgesunken, Schweißperlen standen auf dem braunen, runzelvollen Gesicht, und die zitternden Finger rauften das spärliche Unkraut, das in dem sorglich gehaltenen Garten aufkommen konnte.

Es war kein notwendiges Amt, das die Alte versah. Mitleid hatte es ihr angewiesen. Aber sie war mit einer Vertiefung und einem Eifer dabei, als hänge Großes an ihrem Tun. Sie genoß jene Gnade, die den Jüngsten und den Ältesten dieser Erde zuteil wird: daß noch nichts oder nichts mehr für sie da ist, was mit fremder Wichtigkeit die Wichtigkeit der eigenen Dinge erdrücken könnte. 119

Wie schon oft, sah an jenem Tag Eva aus dem kühlen, tief beschatteten, auch im Sommersonnenglanz noch feuchten und dämmerigen Garten des Forsthauses hinüber nach dem so ganz anderen, auf Licht und freundliche Nützlichkeit angelegten Pfarrgarten. Es war dann immer eine Sehnsucht in ihr, ein merkwürdiges Heimwehgefühl, für das sie nicht Namen, nicht Grund, nicht Ursache wußte, und das nicht gestillt war, wenn sie durch die ihr bekannte Lücke am Zaun in den Pfarrgarten schlüpfte.

Auch wenn sie drüben stand auf den sonnigen Wegen zwischen den lachenden Blumen, war diese Sehnsucht noch da, ja da glühte sie erst recht auf und wurde oft so stark, daß der Kleinen die Tränen kamen vor einem Schmerz, den sie nicht verstand.

Lange und in großer Versunkenheit sah sie an jenem Tag der Fev auf die runzeligen Hände, die da an der Erde wühlten. Dann machte sie einen tastenden Versuch, mit dem Weib in ein Gespräch zu kommen. »Du,« sagte sie leise.

Aber die Alte achtete ihrer nicht, oder tat wenigstens nicht dergleichen. Da streckte Eva die Hand und den braunen Arm durch den Zaun. »Du, gib mir eine Lilie!«

Nun drehte das Weib den Kopf und besah sich den Zaungast. »Nix, nix,« sagte sie kurz, »die Lilien gehören Pfarrers.« 120

Da wurde es wieder still, und die Alte versenkte sich eifriger als zuvor in ihre Arbeit.

Eva scharrte mit dem nackten Fuß in der feuchten Erde; aber ihre Gedanken waren woanders. Auf einmal straffte sie sich, als sei sie zu einem Entschluß gekommen. »Du,« fragte sie fast gebieterisch, »ist das wahr, daß du hexen kannst?«

Die Alte schaute rasch auf. In ihren Augen war ein seltsames Leuchten. »Wer sagt's?«

»Alle sagen's. Schreiners Hansjörg hat dich sehen zum Schornstein hinausfahren auf einem Besenstiel, und Stefans Hedwig hat in deinem Holzstall eine goldene Maus mit einem silbernen Schwanz gesehen.«

Das Weib nickte mit dem Kopf. Aufgelebt, ja fast aufgeblüht sah sie plötzlich aus. Ihre Worte hatten einen harschen und hochmütigen Klang, als sie sagte: »Schreiners Hansjörg soll bei Nacht daheimbleiben, dann sieht er nichts, und Stefans Hedwig gehört einem hoffärtigen Pack, sonst müßte sie Kätterle oder Bärbele getauft sein. Wenn die Leute den rechten Sinn nicht haben, dann ist auch kein Verlaß, daß sie die Mäuse recht sehen.«

Groß und saugend hingen Evas Augen an dem Weib. Sie zwängte ihren nackten Fuß durch die Zaunlatten, als wolle sie möglichst nahe herkommen. Die Antwort genügte ihr nicht. 121

»Sag doch, ob du hexen kannst!«

Die Fev richtete sich langsam von der Erde auf. Sie war so verkrümmt, daß sie kaum größer war als das Kind. Ihre Augen suchten in Evas bräunlichem Gesicht. »Ich kann dir's nicht sagen,« flüsterte sie geheimnisvoll, »du kannst nicht glauben.«

»An was merkst du das?« fragte ebenso flüsternd und geheimnisvoll Eva. Die Alte machte ihr einen Luftstrich übers Gesicht und sagte: »Es schaut ein Teufelein aus dir.«

»Jetzt?« fragte rasch, aber eher neugierig als erschrocken, die Kleine, und sie zog blitzschnell ein Spiegelein aus der Tasche, ein rundes, talergroßes Ding, das ihr der Küfer Lutz vom Faßmarkt aus der Stadt gebracht hatte in treuer Freundschaft. Sie hielt sich's vors Gesicht, erst ganz dicht und dann von weitem, und prüfte und suchte, wie vielleicht ein Junge suchen mag, dem jemand sagte, der erste Bart beginne zu sprossen.

Die Alte schüttelte den Kopf. »Du bist recht dumm! Bei Tag zeigt sich kein Teufel im Glas. Aber bei Nacht, da schneidet er Fratzen. So hat Lehnfrieds Christine in Zainingen drüben, die gar sauber, aber auch recht eitel war, bei Nacht in ihrem Spiegel einen Teufel gesehen und ist drüber hintersinnig geworden.« 122

»Was ist das: hintersinnig?« fragte die Kleine und ließ ihr Spiegelein sinken.

Das Weib rieb sich die Erde von den Händen. »Das ist's: wenn eine das Lachen verlernt und keine frohe Stunde mehr hat und wie gestorben ist bei lebendigem Leib.«

Eva steckte ihr Spiegelein in die Tasche. Ein tiefes Nachsinnen lag auf ihrem Gesicht. »Hast du das Teufelein bei mir gesehen?«

Die Alte nickte.

»Mußt du nun auch hintersinnig werden?«

»Ich nicht. Ich hab' etwas, was mich fest macht.«

»Wenn du aber nichts hättest?«

»Dann schon.«

Wieder lag tiefes Nachsinnen über dem braunen Gesicht Evas.

»Müssen die andern hintersinnig werden, wenn sie mein Teufelein sehen?«

»Schätz' wohl. Aber es guckt nicht immer aus dir.«

»Wann guckt es aus mir?«

»Wenn du den rechten Glauben nicht hast.«

»Was ist das: der rechte Glauben?«

Der eingefallene Mund der Alten verzog sich zu einer Grimasse, und all die Runzeln des schweißfeuchten Gesichtes zuckten, als sollte ein Lächeln werden. 123

»Frag deinen Vater oder den Pfarrer! Was kann denn ich wissen!«

Einen Augenblick schaute Eva ratlos und hilflos drein. Wieder war da eine der unlösbaren und undurchschauten Verwicklungen des Lebens, die den Tag zu verdüstern drohten, so oft sie am Horizont auftauchten. Aber sie schüttelte sich innerlich, sie schob diese unguten, dunklen Dinge weg und suchte abseits davon auf andern Wegen vorbei zu kommen.

»Sage mir, wie man hext!« bat sie unvermittelt.

Das Weib gab lange keine Antwort. Ihre Blicke musterten wie in ernster Prüfung das zierliche Kind.

»Zu was möchtest du denn hexen können?« erkundigte sie sich dann.

Eva besann sich. Sie hatte ins allgemeine hinein den Wunsch gehabt zu hexen, und war nun überrascht, daß diese Frage auftauchte.

Dann sagte sie langsam und wie aus guter Überlegung heraus: »Ich möchte Hanne gesundhexen können und daß ihr Kropf vergeht und daß sie nicht die Schwindsucht bekommt, wie Stasel sagt.«

»Sonst nichts?« fragte die Alte.

»Ich möchte auch machen können, daß der Küfer Lutz ein Kind hat zum Spielen, und daß man sieht – daß die Stasel sieht,« verbesserte sie sich, »wie um den Kopf von Johannes Straubs Weib ein heller Glanz her ist.« 124

»Sonst nichts?« klang noch einmal die Frage.

»Und daß der Semme, dein Sohn, nicht mehr so häßlich ist und nicht mehr ein Gesicht hat wie ein – wie ein –« sie stockte und suchte – »wie einer, der einem Vogel gleich sieht.«

Die Alte schaute in sichtlicher Überraschung auf. »Einem Vogel sieht er gleich, sagst du?«

Eva nickte. »Einem Vogel in meinem Bilderbuch, ich kann dir's zeigen.«

Das Weib brach einen Stengel Eisenhut. »Da,« sagte sie, »leg das unter dein Kopfkissen. Aber sehen darf es niemand. Wenn es dürr und welk ist, wirfst du es ins Wasser und läßt es unter einer Brücke durchschwimmen. Dann kannst du hexen, wenn du alt genug bist. Jetzt bist du noch zu klein und zu jung.«

Die braune Kinderhand griff nach dem Blütenstengel. Eine scheue Andacht lag auf Evas Gesicht.

»Werde ich dann alles hexen können?« fragte sie leise.

Das Weib zeigte wieder das grinsende Lächeln. »Alles kann kein Mensch hexen. Die einen hexen Gutes, die andern Schlechtes. Der Stengel, den du hast, ist fürs Gute. Wenn du hättest Schlechtes hexen wollen, hätte ich dir müssen dort die weiße Lilie geben.« 125

In des Kindes Gesicht trat ein merkwürdiger Ausdruck. Nach der weißen Lilie sah sie und dann auf die blauen Blüten in ihrer Hand. Es war, als ob sie vergleichen, abwägen, abschätzen wolle und als ob die Wahl sie quäle.

»Die weiße Lilie ist viel schöner,« meinte sie dann zögernd und unschlüssig.

»Kannst sie noch haben« – sagte das Weib wie ein Versucher.

»Dazu? –«

»Nein, dazu nicht. Hab' ich dir nicht gesagt: entweder – oder.«

»Was kann ich mit der Lilie hexen?«

»Das mußt du wissen, was du Schlechtes willst.«

Eva sann sichtlich angestrengt nach; ihre dunklen Augenbrauen rückten zusammen. »Daß Fräulein Tabea mir nichts mehr befehlen darf,« sagte sie dann entschlossen.

Das Weib machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. »Da braucht's die Lilie nicht, das geht noch da her,« und sie deutete auf den Eisenhut.

Eva drehte den Kopf, als müsse sie sich irgendwo Rats erholen, und ihr suchender Blick fiel auf jene Baumgruppe, in deren dunkelfeuchter Mitte sich Hanne dazumal das eisige Frieren geholt hatte. 126

Da sagte sie scheu: »Sehen möchte ich, was man nicht sieht.«

Mürrisch entgegnete die Alte: »Das hast du doch schon vorhin gewünscht, das ist noch nichts Schlechtes.«

Eifrig verteidigte sich das Kind. »Ich meine nicht das Schöne von vorhin, nicht den Glanz um der Bäuerin Kopf! Den habe ich doch gesehen! Ich meine das, was ich nicht sehe, was nur die Hanne gesehen hat, das, von dem man das Frieren bekommt.«

»Ach was,« entgegnete abweisend das Weib, »das ist alles nichts Schlechtes! Weißt du nichts Schlechtes, zu was willst du denn die Lilie?«

»Jetzt weiß ich's,« rief, wie von plötzlicher Erleuchtung gepackt, die Kleine, »ich will wissen, wo die Kinder herkommen.«

Betroffen schaute die Alte drein, dann bückte sie sich langsam nach dem weißen Lilienstengel und brach ihn ab.

Als sie sich aufrichtete, lag ein unguter, harter Zug auf ihrem Gesicht. »Da,« sagte sie kurz, dem Kind den Stengel hinreichend, »gib mir den andern.«

Eines Augenblicks Länge zögerte Eva, dann reichte sie die blauen Blumen durch den Zaun und nahm die Lilie. Jubelnd ging sie davon, und Fev beugte sich wieder nieder zur Erde, um Unkraut zu jäten. 127

Aber sie hob jetzt oft den Kopf und murmelte dann und wann vor sich hin. Einmal klang's: »Einem Vogel, sagte sie, einem Vogel sieht er gleich –«

Von diesem Tage an waren Eva und die alte Fev Freundinnen. Wo sie sich trafen, redeten sie zusammen, und es gab kein Erlebnis, das das Kind nicht vor die Alte hingebreitet hätte. Nur von dem Lilienstengel und seiner heimlichen Kraft war lange nicht die Rede.

Einmal aber, als es schon dunkelte und Eva am niederen Häuslein der Alten durchs offene Fenster schaute, winkte die Fev, sie möge hereinkommen. Sie folgte mit schlechtem Gewissen, denn Tabea wollte nicht, daß sie sich in all den fremden Stuben herumdrücke.

Ein merkwürdiger Geruch war in dieser Stube, auch wenn die kleinen Fenster offenstanden. Es roch nach Ruß und Leder und Pferdestall, nach Lampenöl, Schweiß und Zichorie.

Schnuppernd blieb Eva auf der Schwelle stehen und sagte: »Der Semme ist da.«

Das Weib räumte den Kaffeetopf und das Brot vom Tisch. »Schon wieder fort ist er,« sagte sie, »aber er tut dir nichts, auch wenn er da ist.«

»Weißt du,« erklärte das Kind, »ich mag ihn nicht gern sehen. Magst du ihn gern sehen? Er ist nicht schön.« 128

»Schön ist er nicht,« sagte trocken das Weib.

Eva, die barfuß war, wie fast immer, trat unhörbar in die Stube. »Warum ist er nicht schön?« fragte sie dicht hinter der Alten, so daß diese erschrocken zusammenfuhr.

»Weiß ich's? Vielleicht weil sein Vater – –« Sie brach ab und fragte: »Hast du damals den Lilienstengel unter einer Brücke durchschwimmen lassen?«

Eva erinnerte sich nicht sogleich, was gemeint sei. Dann sagte sie zornig: »Tabea hat ihn unter meinem Kissen weggenommen.«

»O du!« entgegnete das Weib ärgerlich, »habe ich dir nicht gesagt, sehen dürfe ihn niemand.«

»Sie hat ihn gerochen, als sie mir Gute Nacht sagte und betete. Mitten im Beten hat sie ihn gerochen.«

»Nun ja,« murrte die Alte, »hättest du den blauen Stengel behalten, den hätte sie nicht gerochen, auch nicht beim Beten.«

Niedergeschlagen stand Eva. Es sah aus, als komme ihr erst nach und nach zum Bewußtsein, was sie vergeudet habe.

»Werde ich es jetzt nie wissen?« fragte sie gedrückt.

Mit ihrer Schürze fegte die Fev Brosamen und Kaffeespuren vom Tisch. »Was wirst du nie wissen?«

»Ich sagte dir's doch! Das von den Kindern – wo die herkommen.« 129

Klatschend schlug das Weib mit der Schürze auf den Tisch. »Kannst's nicht erwarten, daß du's weißt, und ist doch die Welt am schönsten, ehe man gescheit wird.« – –

Eva schlich zur Bank und setzte sich, daß die Füße baumelten. Die braunen, nicht ganz sauberen Hände hielt sie im Schoß gefaltet, und so sah sie sich um in der Stube, die ihr immer aufs neue schön und merkwürdig vorkam, so oft sie schon dagewesen war.

Es lief ein dunkler Balken durch die niedere, verrußte Decke der Stube, und an diesem Balken waren mit roter Farbe Vögel gemalt, wie es sonst keine auf der Welt gab. Diese Vögel saßen auf blauen Blumen, wie sie in keinem Garten wuchsen, und da und dort hing noch eine Traube dazwischen, oder ein Apfel von ganz fremder, besonderer Sorte. Nicht satt sehen konnte sich das Kind an diesen Herrlichkeiten, und schon um des einen Deckenbalkens willen wäre ihr die Stube wichtig gewesen. Aber es gab noch andere Dinge da. So die zwei ausgestopften Tauben, die sich schnäbelten, und eine weitere Taube, die von der Decke hing und mit vieler Kunst von Semme aus einem leeren Gänseei und zusammengeklebtem Gefieder gemacht war. Der Kopf bestand aus Brotteig, der einen silberschimmernden Überzug erhalten hatte und nun mit den gelben Augen 130 aus gläsernen Stecknadelköpfen fast drohend auf Eva herniedersah.

Wenn Fev in freundlicher Stimmung war, dann gab sie, dem kleinen Gast zu Ehren, dieser Taube einen gelinden Stoß, so daß sie an ihrem Faden zu schwingen anfing und dadurch einen fast unheimlichen Schein des Lebens annahm, der Eva immer von neuem in tiefe Verwunderung, ja oft in ein heimliches Grauen versetzte, weil ihr dabei so recht zum Bewußtsein kam, daß die Fev eine Hexe war.

Auch ein weißes Schränklein stand in der Stube, beschmiert und beschmutzt von breiten Fingerabdrücken und all den Spuren langen Gebrauchs. Es trug Malereien, die aber bis auf kümmerliche Reste abgesprungen waren, und diese Reste zeigten verschlungene, unentwirrbare Formen, von denen die Fev sagte, das sei Hexenschrift, die Eva vielleicht einst werde lesen können, wenn sie alt genug sei.

Das Kind nagte mit seinen Gedanken herum an diesen wunderlichen Zeichen, die so ganz anders waren als die Schriftzeichen, die sie in der Schule kennen gelernt hatte, und ein brennendes Verlangen quälte sie manchmal, jetzt schon einzudringen in diese Welt, die ihr für später verheißen war.

In dem Schränklein standen Schüsseln und Töpfe, der Brotlaib lag darin und das Flachsgarn, das 131 Fev im Winter gesponnen hatte. Dann waren ein paar ledergebundene Bücher da, deren altersfleckige Blätter wie weiche, faserige Lappen aussahen, die von ledernen Spangen mühselig zusammengehalten wurden.

Ob es Hexenbücher seien, hatte Eva gefragt, als sie sie zum erstenmal sah. Aber die Fev schüttelte den grauen Kopf. »Was denkst du! Zum Hexen brauche ich keine Bücher. Wenn man so alt ist, wie ich, kann man's auswendig.«

Gebetbücher waren es, und in einem gab es Bilder: Jerusalem, die Stadt mit den goldenen Zinnen und Toren, hoch in den Bergen, und das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, mit der Siegesfahne.

Diese Bilder anzusehen wurde Eva nicht satt. Ihre Augen weiteten sich und leuchteten, und es tat sich vor ihr eine Ferne auf, ein Land der Schönheit, zu dem die beiden Bilder der geheimnisvolle Schlüssel waren.

Die Fev aber erzählte, wie sie schon oft in Jerusalem gewesen sei. Da gibt es einen Weg in der Stadt, der führt einen hohen Berg hinauf. Rechts und links stehen Häuser, die haben keine Fenster, und ihre Mauern sind grau wie lauter Elend.

Diesen Weg ist der Heiland gegangen, dazumal, als sie ihn zum Kreuze führten. Dort hat auf einer 132 Hausschwelle der Simon von Cyrene gesessen, der sich zuerst weigerte, dem Herrn das Kreuz abzunehmen und es erst tat, als ihn Kriegsknechte dazu zwangen, weil Jesus zusammengebrochen war. Darum muß er jetzt als der ewige Jude heimatlos über die Erde wandern, und ein paarmal ist er auch schon durch Meßberg gekommen.

Aber das sind alte Geschichten, die die Fev eigentlich gar nicht erzählen wollte, weil doch jedes Kind sie weiß. Nur das wollte sie erzählen, was ihr passiert ist, als sie kürzlich wieder einmal in Jerusalem war und die Straße mit den grauen Elendshäusern hinaufging.

Da saß auf einem dieser Häuser ein kleines graues Vögelein, das sang immerzu einen merkwürdigen Sang. Nur so ganz leise tat's, wie: O–je, o–je, o–weh, o–weh!«

Die Fev, die neben Eva auf der Bank saß, ahmte des Vögeleins leises, flötendes Singen nach, auf eine ganz kunstvolle Weise, daß es klang, als rufe irgendwo ein fremder, scheuer, kleiner Vogel.

Dann erzählte sie weiter. Das Vögelein wollte nicht aufhören, auch nicht, als die Fev es durch Händeklatschen zu scheuchen suchte. Leute gab es keine in der steilen Gasse. Die waren alle schon viele hundert Jahre tot. Alle damals auf einen Schlag gestorben, 133 als droben auf dem Berg der Heiland das Haupt neigte und verschied.

»Alle?« fragte das Kind.

»Alle!« entgegnete hart die Alte.

Aber das Vögelein, das war nicht gestorben, das stammte noch von damals her, und es war um des Heilands Kreuz geflogen.

»Woher weißt du das?«

»Sei doch still! Kannst du nicht warten?«

Als das Scheuchen und das Händeklatschen nicht helfen wollte, dachte die Fev: der Gescheiteste gibt nach! Und sie setzte sich auf die Schwelle von dem Haus, auf dem das Vögelein saß, und beschloß zu warten, wie lange das Tierlein so fortmachen werde mit Singen oder wie man das heißen soll.

Wie sie nun dasaß, merkte sie mit einem Male, daß es an derselben Stelle war, wo der Simon von Cyrene gesessen hatte.

»An was merktest du das?«

»Wenn du dein Maul nicht hältst, erzähle ich nicht weiter,« erklärte das Weib.

Dann ging auch schon ein Türlein auf in ihrem Kopf, daß sie auf einmal verstand, was der Vogel sang und alles. – »Alles,« wiederholte sie und nickte schwer, mit dem Ausdruck herben Ernstes im verrunzelten Gesicht. 134

Eva wagte nicht mehr zu unterbrechen. Aber in heißem Verlangen hingen ihre Augen an des Weibes Lippen.

Und diese erzählte weiter; aber in einem andern, fast feierlichen Ton. Sie verstand, daß das Vögelein seit jenem Tag, da der Herr am Kreuz in bittern Qualen schrie, sein schönes, lustiges Singen verlernt hatte, und nun nichts mehr konnte, als das leise, klagende »O–je, O–weh!« Einen andern Namen hatte es seither bekommen; es hieß jetzt »der Jammervogel« und hatte früher »Freudenvogel« geheißen. Der Simon von Cyrene hatte es in einem Käfig gehalten. Aber an dem Tag, da der Herr mit dem Kreuz vorüberkam, war aus Versehen das Türlein am Käfig offengeblieben, und so hatte das Vögelein die Freiheit gefunden. Nun fliegt es immerfort durch die Welt und kann nicht sterben, wie sein Herr. Wo aber bald Jammer einkehren wird bei einem Menschen oder in einem Haus oder in einer Gemeinde, da bleibt es und singt: »O–je, o–weh,« bis gekommen ist, was kommen soll. – –

Das Kind und die Alte saßen nebeneinander in tiefer, trauervoller Versunkenheit. Der warme Wind kam zum Fenster herein und ein ferner heller Amselruf. 135

Dann fragte Eva leise: »Für wen hat das Vögelein gesungen, damals, als du vorbeikamst und dich hinsetztest? Es waren doch alle Leute tot.«

Das Weib sah sie von der Seite an. »Bin ich niemand? Ich war nicht tot. Mir hat's gegolten.«

»Was für ein Jammer ist zu dir gekommen?«

»Jammer genug,« murmelte die Alte; »dem Semme seine Christiane ist bald darauf tot im Molchsee gelegen.«

Ein leises Grauen lief dem Kind übers Herz. Von dieser Sache hatte sie schon gehört. Die Stasel hatte davon gesprochen, und auch die Buben und Mädchen in der Schule. Es war etwas dabei, das man nicht sagen durfte, etwas ganz Schweres, Schwarzes, Unheimliches, das einem die Kehle zuschnürte.

Wie um diesem Unheimlichen mit Gewalt zu entgehen, stieß das Kind jetzt hervor: »Wer hat's getan?«

Das Weib sank ganz in sich zusammen und antwortete nicht. Ihre alten runzeligen Hände legten sich ineinander wie zum Gebet, ihr graues Gesicht hatte etwas Steinernes, Erstarrtes.

In die lange Stille hinein sagte endlich Eva leise und verwundert: »Fev, du legst ja deine Hände zusammen.« 136

Das Weiblein schien wie aus einem Schlaf zu erwachen. »Ja, warum soll ich sie denn nicht zusammenlegen?«

»Sie sagen, wer eine Hexe ist, legt nie die Hände zusammen.«

Die Alte lachte kurz auf. »Was wissen denn die! Horch doch nicht auf die Meßberger Narren.«

Wieder war's eine Zeitlang still, so daß man das Raunen des Abendwindes in dem Baum vor dem Fenster hörte.

»Warst du seither wieder in Jerusalem?«

Die Fev schüttelte den Kopf. »Damals war's zum letztenmal.«

»Gehst du auch nicht mehr hin?«

»Wenn ich dir doch sage: es war zum letztenmal.«

Leise seufzte das Kind. »Wenn du mich doch einmal mitgenommen hättest!«

»Zu zweit darf man da nicht kommen.«

»Warum nicht?«

»Was weiß denn ich! Meinst du, ich müsse alles wissen?«

»Fev,« begann nach einer Weile Eva wieder, »woher hast du's damals gewußt?«

»Was?«

»Daß du dort saßest, wo der Simon von Cyrene 137 gesessen hat, und daß das Vögelein um des Heilands Kreuz flog?«

Die Alte reckte sich ein wenig auf. Ihre Augen gingen über das Kind. »Das ist das Teufelein, das du in dir hast, das immer aus dir fragt. Kannst du nicht glauben, was ich dir sage?«

Erschreckt duckte sich Eva, ein Zug von Ratlosigkeit trat auf ihr braunes Gesicht. »Wenn es doch das Teufelein ist!« sagte sie dann fast kläglich.

Das Weib schüttelte ungeduldig an ihrer Schürze. »Ach was, auch einem Teufel kann man das Maul verbieten. Was meinst du, wie oft ich es meinem schon verboten habe!«

»Hast du auch einen?« fragte die Kleine erfreut.

»Will's meinen,« bestätigte das Weib, und es klang fast stolz, »alle rechten Leute haben einen.«

Mit großen Augen schaute Eva durchs Fenster in das Spiel der Blätter. Ein neues wichtiges Stück Welterkennen ging in ihr auf, und das Teufelein in ihr, das nicht glauben wollte, war das erste, das Beifall nickte.

»Erzähle noch mehr von Jerusalem,« sagte sie nach langem Schweigen.

»Da ist nicht viel Gutes zu sagen,« entgegnete abweisend die Fev. »Wie ich da vor dem Haus auf der Schwelle saß und das Jammervögelein singen 138 hörte, da sah ich auf dem Weg im Staub die Spur von des Herrn Jesu Fuß.«

»Von beiden Füßen doch,« fiel Eva berichtigend ein.

»Nur von einem sieht man sie noch,« entgegnete das Weib mit einer merkwürdigen Härte in der Stimme; »über die andere ist ein Wagen gefahren. Aber jetzt bist ganz still und läßt mich erzählen, oder machst, daß du weiter kommst. – Also, die Spur habe ich gesehen, und es hat mich gelüstet, daß ich ihr nachging den Berg hinauf. Aber nichts war's. Kein Kreuz da droben und nichts. Bin ganz falsch gelaufen. Alles leer. Alles leer, wie drüben auf dem Eckberg, wo nichts steht als ein Wacholderbusch, und noch ein anderer, der verdorrt ist. Kein Mensch ist mir begegnet, daß ich einen hätte fragen können um den Weg, oder was denn los sei. Nacht ist's geworden. Kommst nicht mehr heim, hab' ich gedacht. Nie mehr kommst heim. Setzst dich hin, hab' ich gedacht. Mitten in lauter Steine. Und ich sitze hin, wo ich gerade steh. Mitten in lauter Steine. Und so schlaf ich ein. In meinem Bett bin ich aufgewacht. So –«

Das Weib hatte vor sich hingemurmelt, wie eine, die mit sich selber spricht, und ihr grauer Kopf hatte dazu gewackelt und genickt. 139

Eva glitt von der Bank. »Ist's aus?«

»Ist dir's nicht genug, du Gänslein, du dummes?«

Mit einem Ruck hob das Mädchen die Hand. Ein angestrengtes, erschrecktes Lauschen lag in Haltung, Augen und Gesicht. »Horch doch!«

Ein leiser, seltsam klagender Vogellaut kam aus dem Baum vor dem Fenster. »O – je! O – weh!«

Auch das Weib stand jetzt auf. »Das ist er,« sagte sie, »das ist der Jammervogel. So – also der ist auch wieder da!«

Und sie horchten beide in den Abend hinaus, und unaufhörlich erklang der wehmütige Ruf.

»Wem gilt's jetzt?« murmelte nach langer Zeit versonnen das Weib. »Gilt's dir, oder mir, oder Meßberg?«

Auf ihren bloßen Füßen lief Eva geräuschlos zum Fenster und starrte nach dem Baum. Aber schon hingen die Schleier der Dämmerung über dem Gezweig, und das dichte Blätterwerk barg den traurigen Sänger. Da klatschte das Kind in die Hände, und man hörte, wie der Vogel schwirrend sich flüchtete. Aber alsbald klang sein Ruf wieder klagend aus weiterer Ferne, und die Fev sagte fast zornig: »Du meinst wohl, man könne ihn scheuchen, du Allergescheiteste! Soll ich dir sagen, wie es einem gegangen ist, der ihn hat scheuchen wollen?« 140

»Wie ist's dem gegangen?«

»Der hat – und es ist drüben in Reinbach des Ochsenwirts Knecht gewesen – der hat nach dem Vogel mit Steinen geworfen. Immerzu mit Steinen geworfen. Wenn der Vogel ein Stück weiter ist, dann ist der Schorsch nach und alsfort mit Steinen drauf. Und es wird drüber dunkel. So – wie's jetzt draußen ist. Und immer dunkler. Der Schorsch merkt's nicht. Immer dem Jammervogel nach. Er sieht die Steine auf dem Weg nicht mehr; aber wenn er auf den Boden greift, hat er einen. Und immer drauf auf den Vogel. Dann sieht er den auch nicht mehr; aber er hört ihn. Er ist wie wild, und immer tut's vor ihm: O – je, o – weh! Und dann und dann – – um Gottes Barmherzigkeit willen – – dann tritt der Schorsch ins Leere und stürzt und schreit – und schreit, daß ich's hör' in meinem Bett.« –

Jäh, mit einem kreischenden Laut schweigt das Weib und fällt auf die Bank zurück wie in Entsetzen.

Das bräunliche Gesicht der Eva ist erbleicht. Mit geweiteten Augen fragt sie: »Tot?« –

Mit zittrigen Händen streift Fev über ihren Schoß und sieht nicht auf. »Man hat ihn gefunden in seinem Blut unter Müllers Steinbruch. Gelebt hat er noch und nach mir verlangt. Denn er war mein Schatz, und es ist lang her.« 141

In das versunkene Schweigen der Alten hinein fragt Eva fast stimmlos. »Und dann –?«

»Dann hat er mir erzählt, wie alles gekommen ist mit dem Vogel. Aber dazumal hab' ich noch nicht gewußt, daß es der Jammervogel ist, denn ich war noch nicht in Jerusalem gewesen.«

»Und dann?«

»Dann hab' ich ihm gesagt, daß sein Schrei zu mir gekommen ist in der Nacht, und wie ich jetzt das Kind heißen solle, wenn es da sei?«

»Welches Kind?«

Es ist, als höre die Fev nicht. Abwesend spricht sie weiter. »Wenn es ein Bub ist, sagt er, soll er Simon heißen, nach meinem Vater. Ist es aber ein Mädchen, dann laß sie Katharina taufen nach meiner Mutter. Und sie sollen dir kein Leids tun und dich nicht verschimpfieren, denn ich sei an allem schuldig. Ja, das hat er gesagt: er sei schuldig, uns mich sollen sie nicht verschimpfieren. Ja. Und dann hat er den letzten Schnaufer getan – – Ja – –« Es ist tiefe Stille. Der Wind fährt in die Stube, daß die Taube an ihrem Faden zu schwingen anfängt.

Die Fev hebt den Kopf. »Bist du noch da? Mach, daß du heimkommst! Das Betläuten wird gleich anheben.« 142

Die Kleine rührt sich nicht. Schwere, dunkel Rätsel drücken ihr das Herz, ja die Glieder wie mit eisernen Klammern zusammen.

Draußen klingt aus großer Nähe der klagende Ruf: »O – je, o – weh!«

»Fev,« schreit da plötzlich das Kind auf und klammert sich an die Alte in tiefer Angst.

Des Weibes Hände streicheln zitternd der Kleinen Hand. »Sei still, sei still! Es ist vorbei. Es geht alles vorbei!« – –

*   *   *

Zu Evas Freunden zählte bald auch Frau Winter im Pfarrhaus.

Es gab erst ein eingehendes Prüfen herüber und hinüber, ehe diese Freundschaft anfing. Das fast immer barfüßige und meist aufsichtslose Kind aus dem Forsthaus flößte der an strenge Ordnung und altmodische Zucht gewöhnten Apothekerin nicht viel gutes Zutrauen ein. Sie schüttelte oft im stillen den Kopf und konnte nur mit Mißbilligung und innerlichem Tadel an den Forstmeister und diese Tabea denken, die nach ihrer Ansicht ihre Pflichten der Kleinen gegenüber so lässig taten.

Vom Küchenfenster aus, das gegen die Gärten hinausging, beobachtete die Frau manchmal heimlich das Treiben Evas, und es war ihr selbst nicht 143 klar und kam ihr nicht zum Bewußtsein, daß ihre Augen eine Freude und ein Fest hatten, auch wenn ihr Verstand oft nur zu schelten fand.

Wie sie turnte und kletterte, die Kleine, wie sie Purzelbäume schlug und auf der Schaukel stand, wie sie sich im Gras wälzte und auf den Gartenwegen tanzte – das alles sahen Frau Winters Augen mit verstohlenem Glitzern, indes sie ernsthaft dachte, daß ein Mädchen im Alter der Eva stricken sollte und etwas Rechtes treiben. Ihre Gedanken suchten dann die tote Mutter, und Fräulein Tabea spielte daneben die Rolle des Mietlings, dem die Schafe nicht eigen sind.

Und Eva sah Frau Winter mit jener heimlichen Scheu an, mit der sie das ganze Pfarrhaus betrachtete. Hier war für sie eine Luft und ein Boden, der Zwang und Zurückhaltung, Stillsein und Ernstsein verlangte und bedeutete. Das schwarze Seidenkleid Tabeas, das »Kirchenkleid«, war der Kleinen unbewußt das Symbol für alles, was mit dem Pfarrhaus zusammenhing. Nur der Garten, dieser helle, sonnige, luftige, blumenreiche Garten, war nicht wie das Seidenkleid.

An einem Sommermorgen in der Heuvakanz flog ihr der Ball in den Pfarrgarten. Mit finsteren Augen sah sie ihm nach. Fast unheimlich war ihr 144 dieser Ball, in dem ein eigener Wille zu wohnen schien, der ihn immer wieder hinlenkte, wo ihn die Herrin nicht haben wollte.

Rot leuchtete er drüben aus den gelbgrünen, festen Salatköpfen, die in Reih' und Glied im Beet standen.

Damals fand Eva mit etlicher Nachhilfe die Lücke im Lattenzaun, durch die sie künftig so manchesmal zu schlüpfen pflegte.

Scheu lief sie auf dem fremden Boden nach ihrem Eigentum. Und plötzlich, wie aus der Erde gewachsen, war Frau Winter da.

Eva strich sich die Haare aus dem Gesicht, wie sie immer tat, wenn sie befangen war, dann wies sie nach dem Ball im Salat.

»Ja, ja,« sagte die Frau mit ihrem freundlichen Lächeln, »er ist dir durchgegangen. Als ich klein war, ging meiner auch immer durch.«

Die Vorstellung, daß die Frau aus dem Pfarrhaus einst klein gewesen war und mit einem Ball gespielt hatte, wirkte befreiend auf Eva. Sie nahm ihren Flüchtling vom Boden auf und drehte ihn in den Händen. »War er auch rot?« fragte sie interessiert.

Die Frau lachte. »Rote und blaue und grüne und bunte habe ich gehabt. Fast jede Woche habe ich 145 einen verloren, und wenn ein Mensch im Städtchen einen Ball fand, so hieß es: der gehört Professors Dine, und das war ich.«

Eva kam näher herzu. »Dine heißt du? – heißen Sie?« verbesserte sie sich erschrocken.

Die Frau lachte hell auf. »Kannst ruhig du zu mir sagen; man sagt ja sogar zum lieben Herrgott du; da kann's nicht so ganz gegen allen Respekt sein. Ob ich Dine heiße? Ja, so haben sie mich daheim immer genannt, und mein seliger Mann, der Apotheker Winter, hat ›Dinchen‹ zu mir gesagt, denn er war so viel, viel größer als ich –« sie deutete mit der Hand hoch über sich hinaus – »und er war am Rhein zu Hause. Aber getauft bin ich Eberhardine, nach meinem Vater, der Eberhard geheißen hat.«

In Eva quoll bei der Rede der Frau eine Fülle von Neugier und warmem Zutrauen empor. Wohlig war ihr auf einmal zumut, wie dem Kätzchen, das an der Ofenwand hinstreicht.

»Und deine Mutter,« fragte sie, »wie hat deine Mutter geheißen?«

Frau Winter roch an den herrlichen Rosen, neben denen sie stand. Ihr freundliches Gesicht verschwand ganz in der Fülle der Blüten. Und aus den Rosen heraus klang's: »Angelika hat sie geheißen, meine 146 Mutter. Ist das nicht schön? Weißt du, was es bedeutet?«

»Schön ist's schon. Aber was es bedeutet, weiß ich nicht,« gestand Eva.

Da tauchte der Kopf wieder aus den Rosen auf. »Einen Engel bedeutet es und aber auch noch ein Kräutlein, heißt auf deutsch Engelwurz und ist gut und heilsam für viele Schäden. Ist das nicht ein schöner Name für eine Mutter?«

Evas Augen waren groß und dunkel. »Ich habe keine Mutter,« sagte sie mit einem seltsamen, fast abweisenden Ausdruck.

Ein Schatten lief über Frau Winters Gesicht, als ziehe eine Wolke über ihre ganze Freudigkeit. »Ist ja wahr,« murmelte sie, »du hast keine Mutter, du weißt das alles nicht.« Und auch in ihr quoll jetzt, nur aus anderm Grunde und in anderer Art als in dem Kind, eine wohlige Zärtlichkeit auf.

»Warum besuchst du mich nie?« fragte sie.

Eva sah auf ihre erdbeschmutzten Füße. Es war, als müsse sie sich besinnen, oder als zögere sie, mit der Antwort herauszurücken.

»Bei dir darf man nicht spielen,« sagte sie dann tastend.

»So – wer hat dir das weisgemacht?« rief die Frau. 147

Eva warf ihren Ball von einer Hand in die andere und tat gleichgültig und sicher und war doch voller Unruhe.

»Weil du im Pfarrhaus bist,« stieß sie hervor.

»Das Pfarrhaus, nun ja, das ist ein Haus wie andere auch.«

»Aber keine Kinder sind bei euch.«

»Gerade darum sollst du kommen.«

»Der Herr Pfarrer wird bös.«

»Der Herr Pfarrer ist in seinem Zimmer.«

Eindringlicher wurde Rede und Gegenrede, so wie zwei Ringer stärker aufeinanderdringen im Kampfverlauf.

»Ich habe schmutzige Füße.«

»Die kannst du putzen.«

»Fräulein Tabea erlaubt's nicht.«

»Fräulein Tabea erlaubt's schon.«

»Aber der Vater.«

»Der Vater erlaubt's sicher auch.«

Der Ball tanzt schneller in des Kindes Händen; man sieht, wie sie sich wehrt gegen das, nach was sie's doch gelüstet. Auf einmal steht sie ganz still und schaut mit dunklem Blick auf die Frau.

»Bei euch hat's Geister.«

Es ist einen Augenblick, als habe dieser letzte Stoß den Gegner außer Kampf gesetzt. Frau Winter sieht 148 fast verdutzt in das bräunliche Gesicht. Sie lacht ein wenig; aber nicht so hell hinaus, wie es ihre Art sonst ist, denn sie spürt, daß es der Kleinen nicht nach Lachen ist und daß hier alles eher am Platze ist als ein billiger Spott.

»Wer erzählt dir denn solche Sachen?« fragt sie und legt die Hand auf des Kindes zerzausten Kopf.

Da kehrt Eva der Frau voll das Gesicht zu. In ihren großen, sprechenden Augen liegt ein eigentümlicher Ernst, als sie sagt: »Erzählt hat's mir niemand; ich meine nur.«

Frau Winter streichelte freundlich die wirren Haare. »Solche Dinge mußt du nicht meinen; da wird dir nur dein Herzlein schwer davon. Bei uns im Pfarrhaus ist's ganz schön und heimelig und alles in bester Ordnung. Wenn du kommst, wirst du's ja sehen.«

So fing es an, und es wurde eine schöne Freundschaft, wenn auch nicht zu leugnen ist, daß Eva lieber und öfter zur alten Fev ging als zur Frau Winter, schon weil Fev nie vom Stricken und Nähen redete, und dann auch, weil im Pfarrhaus keine Taube an einem Faden tanzte und kein Schränkchen voller Schmutz und Hexenschrift in der Stube stand. 149

*   *   *

Einmal, im November, als vom Fluß herüber die grauen, kalten Nebel kamen und die kurzen, dunklen Tage nie so ganz aus den Schatten der Nächte heraustraten, als im Dorf alle Haustüren und Fenster sorglich geschlossen waren und die Menschen nur scheu über die Gassen und in die Stalltüren schlüpften, als der Himmel voll Schnee hing und doch kein Flöckchen herunterkommen mochte in den tiefen, nassen Schmutz der Meßberger Gassen, da rief Frau Winter Eva von der Straße herauf.

In ihrem wollenen, fast zu langen Kleid, der Mütze aus Hasenfell, den dicken Strümpfen und derben Schuhen sah das Kind der Eva vom Sommer kaum mehr ähnlich. Viel älter schien sie geworden, spießbürgerlicher, tugendsamer. Es war nicht zu leugnen, daß sie so der Apothekerin einesteils besser gefiel und andernteils doch vorkam wie verkleidet und maskiert.

Der große weiße Kachelofen in der vielfenstrigen Wohnstube strahlte eine sanfte Wärme aus. Seine messingenen Türen und Knäufe blitzten, und in der Röhre zischten die Bratäpfel. Auf dem runden Tisch in der Stubenmitte stand Kaffeegeschirr und eine Schale voll silberschimmernder, großer Disteln, wie sie draußen am Eckberg in herrlicher Fülle wuchsen.

Die beiden Kommoden zwischen den Fenstern, die Eva schon bei ihrem ersten Besuch »Die Zwillinge« 150 getauft und nie anders genannt hatte, trugen weiße Decken, die im Sommer nicht dagewesen waren, und auch das große, tafelförmige, spiegelblanke Klavier war jetzt zugedeckt.

Das Kind brachte einen Hauch von Kälte und Frische in die Stube, als sie jetzt unter die Tür trat, die sie zu schließen vergaß. Ihre raschen Augen durchflogen verwundert den weiten Raum. »Warum hast du die Zwillinge zugedeckt und das Klavier?« rief sie mit heller Stimme.

Frau Winter, die in einem weiten, alten Stuhl vor ihrem Nähtisch am Fenster saß, nahm die Brille ab, die sie zu ihrer feinen Strickarbeit getragen hatte.

»Möchtest du nicht erst guten Tag sagen?« fragte sie, »und möchtest du nicht auch die Tür zumachen?«

Ein Schatten lief über Evas Gesicht. »Guten Tag,« sagte sie leise und eher ärgerlich als beschämt, und sie zog rasch und unsanft die Türe ins Schloß.

»Gott grüß dich, Eva,« sagte die Frau herzlich und streckte die Hand aus, »du bist sehr lange nicht dagewesen.«

Langsam kam Eva herzu. Ihre Blicke gingen im Zimmer hin und her.

»Warum ist's bei euch so hell? Warum freust du dich so?« 151

Frau Winter lachte. »Viel zu fragen hast du heute. Ich will dir eins nach dem andern sagen. Komm nur näher! Die Zwillinge und das Klavier sind zugedeckt, weil das Ofenheizen Staub macht. Hell ist es bei uns, weil viel Weißes und eine große Freude im Zimmer ist. Und die große Freude ist da, weil Besuch kommt.«

Eva zog die Kappe vom Kopf, daß die Haare nach allen Richtungen standen. »Besuch? – Da meinst du aber nicht mich?« –

Klingend lachte die Frau. »Nein, diesmal meine ich nicht das Försterskind – ein Pfarrerskind ist im Anmarsch.«

Die Pelzkappe flog aufs Sofa. Eine tiefe Verwunderung stand auf Evas Gesicht. »Ja, habt denn ihr Kinder?«

»Du weißt doch, daß wir zwei Söhne haben.«

»Söhne sind doch keine Kinder,« meinte die Kleine gedehnt und enttäuscht.

Die Frau entrüstete sich. »Das wäre noch schöner, wenn unser Justus und unser Heinz keine Kinder wären! Solange sie leben, sind die ihres Vaters Kinder und« – sie setzte es leise hinzu – »ein wenig auch die meinen.«

»Warum nur ein wenig?«

»Nun, weil ich nicht ihre leibliche Mutter bin.« 152

»Was ist das: ihre leibliche Mutter?«

Die Frau schaute in Evas Gesicht und erschrak fast vor dem heißen Suchen in den aufgerissenen Augen. Die so einfache Frage bäumte sich auf zu etwas Drohendem, Gefährlichem.

»Kindchen,« klang es unfrei, »die rechte Mutter muß einen geboren haben; man muß Fleisch und Blut sein von ihrem Fleisch und Blut. Mein Bruder hat früher eine Frau gehabt, die war die leibliche Mutter seiner Söhne. Verstehst du es jetzt?« – Als die Frau das sagte, war es ihr, als umklinge sie ein höhnisches Lachen: wie einfältig redest du doch, machst Worte und sagst nichts!

Eva wandte langsam den Blick und schaute durchs Fenster. Schwer und zögernd nickte sie mit dem Kopf. Nicht um zu sagen, daß sie verstehe, sondern weil sie fühlte, daß man von ihr verlangte, daß sie verstehe. Aber immerhin empfand sie Frau Winters Worte anders als die verwirrenden Worte der Stasel oder der Fev in solchen Dingen. Freundlich kamen sie daher und wie mit reinen Kleidern angetan, und gaben sie auch keine völlige Klarheit und Gewißheit, so breiteten sie doch einen traulichen Schimmer über die unerkannten Dinge, so daß diese nichts Quälendes mehr an sich hatten.

Die Frau strich der Kleinen die Haare glatt. »Du wirst dich doch mitfreuen, Eva, wenn unser 153 Heinz kommt! So lange ist er nicht daheim gewesen. Meßberg kennt er noch gar nicht. Da gibt es viel zu zeigen und zu erzählen. Dabei kannst du mir helfen. Jeden Tag kann er jetzt dastehen. Auf seiner Schule ist er bald fertig. Mächtig geschickt und gescheit muß er sein, unser Kleiner.« Die Worte quollen der Frau aus dem mütterlichen Herzen. Man spürte, wie sie sich freute und wie sie das Kind in den Strom dieser Freude hineinziehen wollte.

Aber Eva stand prüfend und nachdenklich neben draußen. »Warum ist er so lange nicht daheim gewesen?« fragte sie kühl.

Ein Schatten zog über das Gesicht der Frau. Es war, als besinne sie sich auf die rechte Antwort. »Weißt du,« sagte sie, »unsere zwei sind merkwürdige Jungen. Von jeher war ihnen die Nähe grau und die Ferne golden. Damit er bald in die Fremde gehen kann, wie sein Bruder, unser Justus, hat sich Heinz kaum die Zeit genommen, manchmal heimzukommen. Und dann« – sie stockte und suchte – »mein Bruder und seine Jungen – nun ja – ein wenig anders sind sie halt – ein Mensch ist so und der andere so – aber sie haben sich lieb.«

In sich versunken, horchte die Kleine. Man sah, wie sie bemüht war, sich ein Bild von diesen Pfarrerssöhnen zu machen, die da am Horizont auftauchten 154 und von denen seither nie jemand zu ihr gesprochen hatte. Die Frau fühlte ein leises Unbehagen. Hatte sie das Richtige gesagt über die Jungen? Hatte sie ungewollt etwas an ihnen verzeichnet? Sie fing zu erzählen an, so eifrig, als wolle sie unbequeme Dinge wegreden.

»Als unser Heinz noch klein war, sagte er einmal, als der volle Mond am Himmel stand: Tante Dine, da hinauf gehe ich, wenn ich groß bin. Ich erklärte ihm, daß ein Mensch von der Erde aus das nicht tun könne. Da müsse man gestorben sein und fliegen können, wie die Engel. Aber da fing er fürchterlich zu schreien an und sagte, er wolle niemals sterben, das habe er schon lange mit Justus ausgemacht. Damals hat mein Bruder die zwei die unsterblichen Brüder genannt, und so haben sie lange geheißen.«

»Heißen sie jetzt nicht mehr so?« fragte Eva.

Die Frau schüttelte den Kopf. »Ach nein, jetzt wissen sie ja längst, daß auch sie einmal sterben müssen. Aber damals, da haben sie das um keinen Preis geglaubt, weil sie noch so viel vorhatten. Wir haben in der Stadt an der Eisenbahn gewohnt, wo Tag und Nacht die Züge vorüberdonnerten. Da kannten sie jeden Zug nach seiner Nummer und jede Lokomotive nach ihrem Namen. Immer auf Reisen waren ihr Sinn und ihre Gedanken. Zuerst wollten sie Lokomotivheizer werden, weil man da immer 155 fahren darf und sich nicht zu waschen braucht. Später hat dann die Losung geheißen: Weltreisender. Aber dazu braucht man Geld, und das haben Pfarrersbuben nicht. Zuletzt ist Justus Kaufmann geworden und Heinz Maschinenbauer. Ich sage das so hin; aber es lag viel dazwischen. Mancher Streit und manche Sorge und viel Eigensinn bei den beiden, und viel – – aber das ist ja alles vorbei. Du mußt nicht meinen, die zwei hätten den Kopf nur voll Unfug gehabt. Sie waren ganz tüchtige Kerls, die bald wußten, was sie wollten. Und ihr Vater, mein Bruder, hat auch nicht immer – aber so ist es halt auf der Welt, und wenn du einmal älter bist, verstehst du das alles – –«

»Wann kommt er?« fragte Eva so kurz und sachlich, daß sich die plaudernde Frau wie zurechtgewiesen fühlte.

»Das weiß man nicht genau,« sagte sie fast ärgerlich, »er schreibt das nie – in allem will er seine Freiheit haben – so ist er. Ich hätte ihn gern abgeholt mit Hirschwirts Kutsche. Einen Koffer hat er doch auch. Vielleicht bringt er dir etwas mit. Eine Puppe – was meinst du?«

»Weiß er, daß ich da bin?« fragte Eva.

Die Frau stutzte einen Augenblick. Geschrieben hatte sie dem Neffen vielleicht nie von dem kleinen 156 Mädchen im Forsthaus. Wahrscheinlich würde er nichts von ihr wissen. Aber den Rückzug mochte sie nicht antreten. »Heinz ist sehr klug,« sagte sie, »er kann sich immer alles so ausdenken, wie es gerade ist.«

»Ach,« meinte Eva, »dann weiß er doch auch, daß ich mir aus einer Puppe nichts mache. Ich möchte ein hölzernes Schiff, das ich bei Straubs Garten im Wasser schwimmen lassen kann.«

Die Frau legte ihr Strickzeug wieder weg, das sie eben erst aufgenommen hatte. »Ja, wenn das so ist – ja dann – ein Schiff – aber das ist doch nichts, daß du am Wasser spielst. Dort draußen ist's tief, mancher ist ertrunken.«

Eva strich sich mit einer raschen Bewegung die Haare aus der Stirne. »Ich weiß. Der Sägmüller und seine Tochter und ihr Knecht, der sie hat heiraten wollen, und zwei schwarze Katzen. Johannes Straub hat mir das nicht sagen wollen. Aber die Stasel und die Fev sagen mir alles. Die Hanne hat auch schon den ertrunkenen Sägknecht am Wasser stehen sehen – so ist er dagestanden,« – sie senkte den Kopf tief und drückte die Hand vor die Augen – »aber da hat die Hanne weggeguckt, weil sie sonst wieder das Frieren bekommt.«

Verwundert, fast hilflos schaute die Frau auf die Kleine. Die alten, nie ganz schlummernden 157 Vorwürfe gegen den Forstmeister und dieses Fräulein Tabea zogen ihr wieder einmal stärker durch den Sinn. »Kindchen,« sagte sie, »wenn der Heinz ein hölzernes Schiff für dich hat, soll mir's recht sein; wenn er aber keines hat, ist mir's lieber. Denn du gehörst nicht ans Wasser. Überhaupt sollte man dich nicht so auf der Wildbahn laufen lassen.«

Eva griff nach ihrer Mütze. Das war der Ton nicht, den sie liebte. Ihre braunen Finger wühlten in dem Hasenfell. »Du läßt mir's sagen, wenn er da ist,« klang es halb bittend, halb fordernd von ihren Lippen. Dann war sie draußen.

*   *   *

Die weite Schleife des Flusses, die sich um den Riesenkopf wand, war wie eine graue Nebelschlange. Über das stille Land zogen die Rabenscharen; das Rauschen ihrer Schwingen drang aus der Höhe und dann und wann ein Krächzen, das vielleicht ein Kommando war. An den Hecken raschelte das dürre Laub, und die Pfaffenhütchen leuchteten in stolzer Pracht. Die letzten Pilze moderten an der feuchten Erde, und wenn die Sonne die schweren, grauen Nebel niederzwang, glänzte die müde Welt auf, als zucke ihr neue Hoffnung durchs Herz.

Aber der kurze Schein verblaßte mit dem Nahen des frühen Abends, und wieder lagerte ringsum die sterbensbereite Stille. 158

In Meßberg war eingeschafft, und das weite, hügelige Feld leer. Da und dort ging noch ein Gespann; die Schollen, unter denen die Samenkörner schlummerten, glänzten dunkel und waren vom silbrigen Gewebe der Spinnen schimmernd überzogen.

Auf der weiten, nassen Heide am Riesenhals ragte grau und glanzlos der uralte Stein. Die strahlenden Tage seiner hohen Gottheit waren dahin. Das müde, bleiche Leuchten, das dann und wann noch vom Himmel floß, war nur ein Abschiednehmen, kein Feiern mehr. Zwei winzige Vögel zirpten, knicksten und wippten mit den Schwänzchen, dort, wo einst Opferbrand und ‑gabe gelegen hatten.

Aber auch die beiden Zaunkönige zogen jetzt schimpfend vom Stein ab, denn auf dem glatten, nassen, vom Heidekraut fast überwucherten Weg kamen zwei von jenen großen Geschöpfen daher, die nach ihren Erfahrungen unter allen Kreaturen am meisten zu fürchten sind.

Hintereinander schritten sie. Voraus, mit emsigem Zeigen und Reden, die barhäuptige Eva, der die feuchten Haare ums Gesicht hingen, und ihr nach ein ebenfalls barhäuptiger junger, schweigender Mann von hoher Gestalt, in dessen dunkelblondem, kurzgeschnittenem Haar der Nebel in kleinen, nassen Perlen hing. 159

Die Züge des Fremdlings waren klar und klug; um den noch bartlosen Mund lief ein Ausdruck von leiser Härte, der aber durch den offenen Blick der dunkelgrauen Augen gemildert war. Die breite Stirn ließ ahnen, daß Gedanken dahinter arbeiteten und ein zielbewußter Wille. Die starke Nase trug eine leichte weiße Narbe, wie von einem Schnitt oder Hieb; dichte, dunkle Brauen beschatteten in klarem Bogen die Augen.

Einen grauen, ziemlich vertragenen Anzug und schwarze, glänzende Ledergamaschen trug der Mann oder der Jüngling; seine Halsbinde war auf eine besondere, eigensinnige Art gebunden, in der Rechten trug er einen dünnen, offenbar selbstgeschnittenen Stock, mit dem er dann und wann einen Hieb in die Luft oder nach dem dürren Stengel einer wilden Möhre, einer verblühten Wegwarte tat.

Einmal pfiff er kurz, wie wenn man einem Hund pfeift. »Kleine, wohin führst du mich? Ich habe nicht so viel Zeit übrig!«

Eva stand und schaute zurück. Ihre Augen blickten bittend. »Wir sind gleich da – dort ist der Stein.« Und sie lief wieder voraus in heißem Eifer.

Jetzt legte sie dem Opferstein die kleine Hand an die Flanke. »Hier,« sagte sie, gegen den Heranschreitenden blickend, »hier hat Hanne die blaue Schlange gesehen.« 160

Der Fremdling besah sich den Stein. Erst ziemlich gleichgültig, dann aufmerksam und genau. Seine scharfen Augen entdeckten die Spuren der fast verschwundenen uralten Schrift und all der Zeichen, die selten ein Wanderer erblickte, und die unter dem Nagen der Flechten langsam zerfielen und verschwanden.

Er sagte nichts über das, was er sah. Es mochte ihm vor dem Kind nicht der Mühe wert sein. Was würde diese Kleine aus dem Dorf, die ihm von ungefähr begegnet war, und die er in Wanderlaune angesprochen hatte, von alten Inschriften wissen wollen? Die blaue Schlange, die wohl eine Blindschleiche sein mochte, und von der sie ihm sofort erzählt hatte, war ihr wichtiger. Um ihretwillen war sie allein auf die nasse, einsame Heide hinausgelaufen. Ein schönes Leben hatten diese Kinder, die man laufen ließ, wohin sie mochten!

Er nickte Eva zu. Etwas herablassend, etwas väterlich. Seine Jugend stand dabei auf seinem sonngebräunten Gesicht. »Das glaube ich gerne, daß hier eine blaue Schlange haust. Schade, daß Hanne nicht da ist, um uns ihr Versteck zu zeigen. Ist Hanne deine Freundin? Läuft sie auch allein in die Heide hinaus?«

Mit einem oft geübten Schwung hatte sich Eva auf den Stein gesetzt. Jetzt rückte sie zur Seite, 161 um dem Fremden Platz zu machen. Einträchtig, wie ein ungleiches Geschwisterpaar, saßen sie oben und schauten über die von Tauperlen behängte Heide hin, auf der leichte Nebel vom Flusse her landeinwärts wanderten.

Eva schüttelte den Kopf. Etwas wie Eifersucht lag darin, oder wie Hochmut, der Hanne nicht die gleichen Rechte gönnte.

»Sie darf nicht. Ihre Großmutter läßt sie ja nicht. Seit sie krank war, darf sie nichts mehr.«

Der Fremdling blickte von der Seite auf seine Begleiterin. Es war, als schätze er ab, wohin dieses, unter der zerzausten Hülle offenbar doch nicht verwahrloste Kind wohl gehören könne.

»Aber du darfst?« sagte er dann vorsichtig tastend, »dich läßt man überall hinlaufen?«

Vielleicht spürte Eva etwas Tadelndes aus den Worten. Wie Trotz stieg es in ihr empor. Dann lachte sie. »Vater ist im Wald, und Tabea meint, ich sei nach der Schule im Pfarrhaus.«

»Ja, warum bist du denn nicht im Pfarrhaus?«

»Er ist doch immer noch nicht gekommen.«

»Wer ist nicht gekommen?«

»Der Heinz von der Schule – ihr Kleiner. Sie warten immer auf ihn, jeden Tag, und er kommt nicht.« 162

Mit einer übermütigen Gebärde schlug der Fremdling auf seine Ledergamaschen, daß es klatschte. »Warum geht der Kerl nicht her?« rief er. »Vielleicht hat er ein schlechtes Zeugnis und mag es nicht zeigen.«

Eva schaute erschrocken zu ihm auf. Dann schüttelte sie den Kopf. Es war eine so merkwürdig altkluge, eine so tadelnde oder mißbilligende Gebärde, daß der junge Wanderer neben ihr plötzlich hell hinauslachte.

Da reckte sie sich auf. Aus ihren dunklen Augen blitzte die Entrüstung. »Was ist da zu lachen! Der Heinz hat kein schlechtes Zeugnis. Klug ist der, vielleicht klüger als du!« Sie achtete in ihrem Zorn nicht auf die Anrede, die ihr wie etwas Gewohntes entschlüpfte.

In dem Zurechtgewiesenen spukte seine Jugend. Mit dem Stöckchen fuchtelte er in der Luft. »Weißt du, das glaube ich einfach nicht, daß der Heinz klüger ist als ich. Pfarrersbuben sind nie klug. Schlingel sind sie. Bei mir daheim heißt ein Sprichwort: Pfarrers Kinder und Müllers Vieh geraten selten oder nie. Bei diesem Heinz ist's sicher auch nicht anders.«

Das bräunliche Gesicht des Kindes zuckte seltsam. Man sah ihr höchste Erregung an. Ihre derben Schuhe klopften gegen den Stein. Ein paarmal öffnete und schloß sich ihr Mund, ehe sie eine 163 Gegenrede fand. Dann brach es fast stammelnd aus ihr heraus: »Du sollst nicht solche Sachen sagen. Wenn du doch den Heinz gar nicht kennst.«

»Kennst du ihn denn?« fragte rasch der Fremdling.

Sie schüttelte ihre Haare zurück. Alle die Worte, die Frau Winter vor wenigen Tagen zu ihr gesprochen, kamen jetzt zu ihr her, als seien es ihre eigenen Gedanken. Ihre dunklen Augen schauten über die Heide hin. Sie log nicht. Sie erzählte nur. »Ich kenne ihn, ja wohl. Als er ganz klein war, hat er einmal auf den Mond gehen wollen. Und weil man das nur kann, wenn man gestorben ist, hat er fürchterlich geschrien. Mit dem Justus, das ist sein Bruder, hat er ausgemacht, daß sie nicht sterben wollten. Der Herr Pfarrer hat sie darum die unsterblichen Brüder genannt. Aber jetzt wissen sie, daß man sterben muß.« Sie stockte ein wenig. Ihre Augen, die nicht von der grauen Ferne wichen, suchten etwas, dann sprach sie langsam, unsicher weiter: »Sie wissen viel. Sie sind sehr klug. Die Nähe kommt ihnen immer grau vor und die Ferne golden. Lokomotivheizer haben sie werden wollen, weil man sich da nicht waschen muß und immer Eisenbahn fahren darf. Und auch Weltreisender. Aber da muß man viel Geld haben. Der Heinz kann sich alles ausdenken. Daß ich da bin, weiß 164 er auch, und er bringt mir keine Puppe mit, weil ich mir da nichts draus mache.«

Immer langsamer, nachdenklicher hatte sie gesprochen. Plötzlich wandte sie jäh das Gesicht dem Fremdling zu und sah ihn mit aufgerissenen Augen an. »Siehst du was?« klang es fast angstvoll.

»Was soll ich sehen?« fragte er überrascht.

Sie näherte ihm ihr Gesicht mit den starrenden Augen: »Siehst du nichts?«

Wieder fragte er, und diesmal beunruhigt: »Was soll ich denn sehen?«

Sie atmete tief auf. »Also du siehst kein Teufelein in meinen Augen? – Gewiß nicht?« –

Wie entspannt lachte der Wanderer. »Ich sehe keines. Es muß weggeschlüpft sein. Hast du eines?«

Sie nickte schwer mit dem Kopf. »Ja, und wer es sieht, der wird hintersinnig. Ich bin froh, daß du es nicht gesehen hast. Wenn es nur der Heinz auch nicht sieht. Weißt du, was das ist: hintersinnig?«

Über des Mannes Gesicht glitt etwas Dunkles, das für einen Augenblick die helle Jugend zudeckte. »Denken kann ich mir's,« sagte er und blickte auf das nasse Heidekraut, »es ist, wie wenn ein schwerer Stein sich einem aufs Herz legen wollte, immer fester, immer drückender, bis es zerspringen muß.« 165

Sie schwiegen beide. Wie leiser Tropfenfall klang es um sie her, wie Knistern an der feuchten Erde.

»Seit wann hast du denn das Teufelein?« fragte jetzt der Fremde, ohne aufzusehen.

Sie zog ihr Röcklein über den Knien glatt. Ruhig, sachlich klang ihre Stimme. »Das weiß ich nicht. Tabea weiß es vielleicht; aber ich frag sie nicht. Sie will nicht haben, daß ich die Fev besuche. Sie sagt, die Fev sei gar keine Hexe, nur schmutzig. Aber ich weiß ganz gewiß, daß sie doch eine Hexe ist. Und ich könnte auch hexen, wenn Tabea beim Beten nichts gerochen hätte.«

Sorglos sprach sie. Sie sah das verwunderte, ein wenig hilflose Gesicht ihres Zuhörers nicht. Nach dem fernen Fluß deutete sie jetzt. »Dort unter der Brücke hätte ich die Blumen durchschwimmen lassen. Tabea ist schuldig.«

»Wer ist Tabea?« fragte der Fremdling, der sich an etwas halten wollte in dem undurchdringlichen Gewirr dieser Reden.

Die Kleine sah ihm flüchtig ins Gesicht: »Nun, das ist doch Tabea, die über mich befehlen darf.«

»Und Vater und Mutter?« –

Sie baumelte mit den Füßen. »Vater ist immer im Wald, weil er Forstmeister ist. Eine Mutter habe ich nicht; die ist schon lange gestorben.« 166

Wieder war es eine Zeitlang ganz still, dann sagte der Wanderer: »So passen wir gut zusammen; meine Mutter ist auch schon lange gestorben.«

Ein Rabenzug strich über ihre Köpfe hin und in den Nebel hinein; sie sahen ihm beide nach und redeten nicht.

»Wer darf über dich befehlen?« fragte dann die Kleine.

Sein schlanker, kräftiger Körper straffte sich. Mit dem Stöckchen klopfte er die Gamaschen. »Bald bin ich mein eigener Herr,« sagte er stolzen Blicks und mehr zu sich, als zu dem Kind, »dann geht es nach Ceylon. Weißt du, wo die Insel Ceylon liegt?« Er fragte es und dachte dabei, daß es töricht sei, diese Kleine das zu fragen.

Sie nickte mit dem Kopf. Langsam hob sie die braune Hand und deutete nach dem Horizont, an dem über die nasse, nebelige Erde hinweg jetzt ein greller, goldener Schimmer aufzuleuchten begann von der unsichtbar niedergehenden Sonne.

Er lachte nicht und sagte nichts. Seine Augen hingen an dem fernen, unerwarteten Glanz, der auf einmal eine goldene Lohe über die Heide goß. Wie ein Schauer ging es ihm durchs Herz, er wußte nicht, warum.

Langsam glitt er vom Stein. »Ich muß jetzt weiter. Sie warten daheim schon lange auf mich. 167 Vielleicht kommt der Kleine vom Pfarrhaus jetzt doch auch bald. Aber mitbringen wird er dir nichts, das weiß ich sicher.«

Auch Eva glitt von ihrem Sitz. Es zuckte um ihren Mund. Hochmütig warf sie den Kopf zurück. »Mir ist's einerlei. Ich mache mir nichts aus dem Heinz. Und überhaupt: wenn ich's dem Semme befehle, der kann mir gut ein hölzernes Schiff machen.«

»Ist Semme dein Freund?« fragte der Fremdling.

Sie lachte schrill auf. »Der ist doch häßlich. Wie ein Vogel sieht er aus.«

»Kann man dein Freund nicht sein, wenn man häßlich ist?«

Sie schüttelte stumm den Kopf und schaute ins Weite.

Leise fragte der Wanderer: »Bin ich auch häßlich?«

Sie blickte ihm erstaunt ins Gesicht. Da wurde seine Stirne rot und die schmale Narbe auf der Nase sichtbarer. Und plötzlich wandte er unter ihrem klaren Blick die Augen weg und lachte auf, wie richtige Jungen lachen, wenn sie eine quälende Verlegenheit zu verbergen haben.

»Komm,« sagte er, »es wird bald dunkel; man wird dich schelten, wenn du so lange fortbleibst.« 168

Sie schritten den Weg zurück, der Landstraße zu, diesmal der Fremdling voraus. Über dem Dorf war der kurze Abendschein wieder verblaßt. Grau, wie unter dünnen Schleiern, ragten die Giebel. Der Nebel hängte sich stärker in die Haare der Schreitenden. Dunkel glänzten die nassen Radspuren auf der ausgefahrenen Straße, auf die sie nun hinaustraten. Schwarzfleckige Blätter raschelten von den großen Birnbäumen zur Erde und legten sich zwischen ihren rotflammenden Geschwistern zum Sterben zurecht. Seite an Seite schritten die zwei, die sich vor einer Stunde noch fremd gewesen waren.

Sie kamen dem Dorf nahe. Mit einem Ruck blieb Eva stehen. Ihre Augen brannten, als sie den Kopf zu dem Wanderer hob. Leidenschaftlich klang ihre verhaltene Stimme. »Warum gehst du so weit fort? Warum geht ihr alle so weit fort? Pfarrers Justus und Heinz und du auch? Warum muß ich immer allein dableiben?«

Überrascht schaute der Mann auf sie nieder. »Du bist doch nicht allein. Es sind doch Kinder genug im Dorf.«

Sie schlug in die Luft mit einer Gebärde des Unwillens. »Ach die – – ich mag sie nicht! Nur die Hanne mag ich. Aber die fürchte ich. Die sieht immer Sachen. Bleib' du bei mir!« 169

Wie harter Ernst, wie Leid fast sprang es dem Manne aus des Kindes Flehen entgegen. Er blieb stehen. »Über den Winter bleib ich da.«

»Ist er lang, der Winter?« klang es dringlich.

»Das weiß ich noch nicht. Er kann lang sein, er kann auch kurz sein.«

»Laß ihn doch lang sein, daß du lange da bist.«

»Ja, wo meinst du denn, daß ich sei?« fragte er lachend.

Sie stutzte. Hilflos ging ihr Blick über sein Gesicht. »Wo ist dein Haus?«

»Das muß erst gebaut werden auf der Insel Ceylon.« Es schwang in die Antwort etwas mit, was nicht Scherz war, eher ein heimliches stolzes Träumen in Künftiges hinein.

»In Meßberg, meine ich.«

»Da habe ich keines.«

»Dann komm mit mir heim! Wir haben ein großes Haus und viele Stuben. Du darfst in meinem Bett schlafen, dann schlafe ich auf dem Bären. Ich habe oft auf dem Bären geschlafen, als ich noch so klein war« – sie machte eine deutende Bewegung, die eine unmögliche Kleinheit anzeigte – »ich schlafe gern da; viel lieber als im Bett.« Ihre Augen glänzten im Eifer und in der Begierde, zu überreden.

»Habt ihr denn einen Bären?« 170

»Ja. Aber leben tut er nicht mehr. Als es einmal sehr kalt war im Winter, ist er nach Biala gekommen. Sie haben ihn totgeschossen. In meiner Stube vor meinem Bett liegt er jetzt. Früher lag er in Vaters Stube. Aber Vater fürchtet sich vor ihm und hat ihn mir geschenkt. Ich fürchte mich kein bißchen. Ich greife ihm ins Maul.« Großsprecherisch, in heißer Erregung kamen die Worte daher, und der Fremdling spürte, wie das alles nur Bemühen um ihn, nur ein heimliches Locken und Haltenwollen war.

Es zuckte ihm durch den Kopf, daß er ein Unrecht begehe und viel argloses Vertrauen täusche.

»Höre,« sagte er unvermittelt, »daß du es weißt: ich bin Pfarrers Heinz.«

Es war, als sei ein Blitz vor dem Mädchen in die Erde gefahren. Unter einer jähen Blutwelle wurde ihr Gesicht dunkel, die Augen blickleer. Ein stöhnender Laut entrang sich ihr, dann flog sie wie gehetzt den Weg zurück, in die sinkende Dämmerung hinein.

Der Heimkehrende sah ihr erst nach, dann tat er ein paar Schritte, dann rief er laut ihrer Spur nach: »Kleine!« Aber alle Pfade verliefen leer in die Ferne.

Stiller, als er sich ausgedacht, hielt er seinen Einzug daheim. Von seinem Abenteuer fiel ein Schatten über die Stunde her. Er redete nicht 171s davon. Vor dem Zubettgehen las der Vater nach alter Sitte ein Schriftwort. »Wer ärgert dieser Geringsten eines – – –«

*   *   *

Heinz Sommer genoß das Daheimsein.

Das, was jahrelang zwischen ihm und dem Vater gestanden: das Ringen um Selbstentscheidung, um den eigenen selbstgewählten Weg, dieser bald heimliche, bald offene Kampf, den der Vater gelassen und ruhig, der Sohn oft heißen Blutes und gereizt geführt hatte, er war mehr und mehr am Einschlafen und wurde von hüben und drüben vergessen, seit Heinz in ernstlicher Arbeit den Beweis führte, daß er den Willen und die Kraft hatte, ein rechtes Ziel zu erreichen.

Zum Arzt hatte ihn der Vater bestimmt, weil das Blut vieler Ahnen auf diesen Weg wies. Aber den Sohn lockte die Welt der Zahlen, der Formen und Formeln, das Geheimnis der ineinanderspielenden Kräfte, die in der Mechanik in den Dienst der Menschen gezwungen werden und die zum Dank dafür menschliches Wollen und menschliches Können in immer schwindelerregendere Höhe peitschen. Hier war er zu Hause, hier war ihm wohl, auch wenn er vorläufig nichts als Rätsel um sich getürmt sah. Er fühlte Stufen vor seinen Füßen, die zu erklettern ihm keine Mühe zu groß schien, weil er einen fernen Gipfel ahnte. 172

Frau Winter genoß die Waffenruhe zwischen Vater und Sohn aufs innigste. Sie, die Mittlerin, hatte früher so manchen Stoß von hüben und von drüben aufgefangen, und nun sah sie die veränderte Lage mit einer fast unvorsichtigen Freude, wie ein Schiffer, der, von einer sichtbaren Klippe losgekommen, an die unsichtbaren nicht mehr denkt.

Auf ihren Wunsch hatte Heinz im Forsthaus Besuch gemacht. Sie wunderte sich seiner Bereitwilligkeit und ahnte nicht, daß etwas in dem Neffen ihrem Wunsch vorgearbeitet hatte.

Eva war nicht zu sehen gewesen. Heinz fragte nicht nach ihr. Ein Geheimnis, eine leise, nicht zu berührende Beziehung bestand zwischen ihm und dem Mädchen. Das freute ihn und ärgerte ihn.

Tante Dine sandte Botschaft ins Forsthaus, die Kleine möge doch herüberkommen. Sie kam nicht.

Frau Winter sprach Worte der Entrüstung über die Erziehung dort drüben. Heinz lachte nur. Er hielt nicht viel von Erziehung.

Mit dem Forstmeister verstand er sich merkwürdig rasch. Sie wanderten schon bald miteinander durch die stillen Waldungen, die sich jenseits des Flusses von Höhe zu Höhe schwangen und durch deren Lichtungen man hinabsah auf den von grünen Wellen umspülten Riesenkopf, auf die braun gewordene 173 Heide und das breite Tal, in dem Meßberg lag. Auf solchen Gängen schwiegen sie viel und redeten manches. Die Jugend des einen lockte die Jugend des andern wieder hervor, und der aus der Ferne heimgestrebt hatte, verstand und billigte es, daß der andere von daheim in die Ferne strebte. Sie spürten und grüßten ineinander die Selbständigkeit, die sich nicht umbiegen lassen will, die ihren Weg ahnt und sucht, auch wo er verstellt und versperrt ist.

Und sie liebten beide Deutschland mit mehr als mit schönen Worten.

Einmal, als sie tief im Wald auf das feierliche Rauschen in den hohen Wipfeln lauschten, sagte der Jüngere leise: »Rauscht das nicht von allen Herrlichkeiten der Ferne?« Und lächelnd antwortete der Ältere: »Mir rauscht es: Deutschland.«

Da waren plötzlich beiden die Augen feucht.

Oder sie standen bei den Holzfällern am Maienbuckel, dem schönen, alten, steilen Schlag, dessen Tannenriesen weithin grüßten.

Wenn sie die kernigen, wortkargen Männer bei der Arbeit sahen, schien ihnen die Welt im Gleichgewicht, weil hier der Sohn bei seiner Mutter war. Diese Bäume und diese Männer, diese Erde und dieser Himmel – es floß alles zusammen zu selbstverständlicher Harmonie. 174

Thomas Auerstein genoß es, daß ein Mensch da war, der Augen und Ohren hatte für das, was die Meßberger nicht sahen und hörten, und Heinz Sommer empfand den Umgang mit diesem Mann, der älter war als er und doch nie väterlich wie von hoch oben her, als etwas besonders Schönes, das ihm daheim noch selten geworden war.

Aber so häufig der Pfarrerssohn im Forsthaus aus und ein ging – die Kleine ließ sich nicht blicken. Wie ein scheues Tierlein, das, einmal vergrämt, kein gutes Zutrauen mehr fassen kann, hielt sie sich fern von dem Heimgekehrten, dessen Kommen sie so lange erwartet hatte.

Durch den Gartenzaun schaute sie manchmal hinüber. Aber die kahlen Beete lagen im nassen Schatten, die Rosenstämme waren zur Erde gebogen, die letzten Blumen vom Reif verbrüht. Auf ihrem Schulweg spähte sie heimlich nach den Fenstern am Pfarrhaus; aber wenn sie jemand erblickte, lief sie davon.

In Heinz regte sich nach und nach Reue. Es tat ihm leid, daß sich die Kleine die Sache so zu Herzen nahm, und heimlich tat es ihm auch leid, daß ihm durch die jäh zerschnittene Freundschaft mit ihr manche Unterhaltung entging. Er war noch jung genug, um an der kaum verhüllten Hingabe dieses heißen Herzens eine Freude zu haben, und durch seine Mannheit schaute noch heimlich der Knabe. 175

Wieder und wieder machte er jetzt den Versuch, mit dem Forstmeister von seiner kleinen Tochter zu reden. Und immer spürte er eine Befangenheit, die ihn verdroß und über sich selbst ärgerlich machte.

Klang es nicht dumm, wenn er davon redete, daß hier auf dem Land die kleinen Mädchen viel Freiheit hätten? Warum gerade die kleinen Mädchen? Hätte er nicht sagen können: die Kinder? Ganz einfach, die Kinder! Mußte nun der Forstmeister nicht denken, diese kleinen Mädchen seien ihm irgendwie wichtig!

Aber der Forstmeister dachte sich nichts Besonderes. Er sagte nur mit halbem Lachen: »Was meine Eva anbelangt, die würde sich die Freiheit nehmen, wenn man sie ihr nicht gäbe.«

Ob er sie nicht auch öfter mit in den Wald nähme?

»Nein,« klang es, »sie ist im Wald zu aufgeregt. Tausend Dinge sieht sie und spricht davon. Das ist nichts für mich. Ich bin zu alt dafür.«

Sie gingen schweigend weiter. In Heinz tauchte der Gedanke auf, wie er durch seine ganze Kindheit und Jugend hindurch, erst unbewußt und dunkel, dann deutlich das Gefühl gehabt hatte, daß sein Vater zu alt sei für ihn und daß deshalb immer irgendwo ein falscher Klang mitschwinge im Lied seines jungen Lebens. Es hatte ihn nie unglücklich 176 gemacht, nur oftmals gereizt und in seinem Wesen verzerrt, weil er von zu hartem Holz war, um nachzugeben.

Aber vielleicht litt dieses scheue, dunkeläugige Mädchen? Vielleicht war sie wirklich unglücklich und wäre an einem Freund recht froh? – Etwas in ihm lachte ihn aus. ›Heinz, mach dir nichts vor! Die ist nicht von dieser Sorte!‹ Aber er blieb eigensinnig: ›Sie wird mich schon brauchen! Sie ist allein!‹

*   *   *

An einem Morgen, als Heinz, spät, wie gewöhnlich, die Augen auftat, war eine merkwürdige, klare Helle in seinem Zimmer.

Er rieb sich die Augen und sprang mit einem Freudenschrei aus dem Bett. Er war da, der langerwartete erste Schnee, und die Welt lag in glitzernder Pracht.

Er kleidete sich an mit einer Hast, wie sie ihm aus der Schulzeit selig-unseligen Angedenkens noch geläufig war.

Im Wohnzimmer traf er köstliche Wärme und Helle, die durch all die vielen Fenster strahlte. Vater und Tante hatten leuchtende Gesichter, als sei es ihr Verdienst, daß des Gastes Wunsch nun so schön über Nacht erfüllt worden war. 177

Neben ihrem sie weit überragenden Neffen ans Fenster tretend, machte die Tante jene alten, von der Knabenzeit her bekannten Scherze, daß nun der Sommer dem Winter in die Augen sehe und ihm seine größere »Weißheit« neide.

Ein beglückendes Gefühl von Heimeligkeit flutete in Heinz empor. Es klang in ihm auf, so daß er fast davor erschrak: Siehst du – das wirst du draußen nie finden!

Als ob ihm die Augen mit einem besondern Wasser gewaschen seien, sah er im Zimmer umher und empfand, wie sauber gedeckt der Frühstückstisch sei, wie blank das Geschirr, wie traulich die weite Stube, wie hübsch die altmodischen Gardinen, die Möbel, die Bilder, der warme Ofen. – Und er sah auch den Vater an, der lesend am Tisch saß. Lesend, immer lesend! Eine große Wärme quoll in ihm auf. Er empfand, daß dieser Mann tat, was er tun mußte. Daß dieses Zurückgezogensein auf sich selbst und eine unsichtbare, geistige Welt beim Vater kein Verknöchern war, sondern ein Sichausleben. Und so, wie er war, so mußte man ihn nehmen und lieben; so hatte ihn gewiß die Mutter geliebt. – Heinz hatte plötzlich den Wunsch und Willen, alles zu lieben an dieser Heimat.

Die Hausglocke schrillte. Tante Dine ging ins Nebenzimmer, um auf die Straße zu sehen. Lachend 178 kam sie zurück. »Eva war unten, um uns zu sagen, daß es geschneit habe.«

Sie lachten alle. Heinz aber durchschaute, wie auch in dieser Kleinen der Freudenüberschwang eine Schranke niedergerissen hatte, und zugleich sah er sie vor sich stehen und mit den dunklen Augen wortlos fragen: Ist das zum Lachen, wenn ich jeden Reichtum mit dir teilen will? –

Tante Dine schenkte den duftenden Kaffee ein und schnitt Brot auf. »Was sie nur hat, die Kleine! Sie ist wie ein Buchfink, der immer wieder in die Nähe kommt, aber sich nie greifen läßt. Daß sie sich so sehr vor dir scheuen würde, Heinz, hätte ich nie gedacht. Früher stand sie oft da, wenn sie auch nie lang zu halten war. Schade, daß du ihr nichts mitgebracht hast. Ich hätte dir von ihr schreiben sollen. Mit einem hölzernen Schiff hättest du ihr Herz gewinnen können.«

– Das hölzerne Schiff! Daß er daran nicht mehr gedacht hatte! »Wenn ich Schnitzzeug hätte, ein Schiff wollte ich schon zuweg bringen. Aber mein Messer ist mir zu schwach. Wenn du mir ein Küchenmesser leihst, Tante Dine?«

Frau Winter stellte ihre Tasse weg. Es reute sie, was sie gesagt hatte. »Nein, nein! Du kennst sie nicht. Wenn du ihr ein Schiff machst – sie geht 179 durch Eis und Schnee an den Fluß und läßt es schwimmen bei Straubs Garten. Es schaut ja kein Mensch nach ihr.«

Heinz lachte. »Ich finde es in der Ordnung, daß das Schiff schwimmen soll. Und ihr werdet doch hier in Meßberg auch einen Schutzengel für die Kinder der Gemeinde haben? Vielleicht den, der früher Justus und mich beschirmte – –?«

Der Vater sah mit hellen Augen auf. »Ich bin zurzeit daran, alles zusammenzustellen über den Schutzengelglauben. Origenes bzw. sein Biograph Redepenning, weißt du, Origenes der Kirchenvater, nicht der Neuplatoniker, der sagte einmal –«

Heinz lachte hell. »Ach Vater, ich dachte schon, du würdest auch unsern Schutzengel, den von Justus und mir, in deine Abhandlung aufnehmen. Da könnte ich dir manches erzählen, was Tante Dine und du nicht weißt. Das war ein Schutzengel, der gegen Feuer und Wasser gut war, ein ganz besonders kräftiger, und wir haben ihn oft auf die Probe gestellt, ob er aufpaßte. Aber ich glaube, die Eva braucht auch einen wachsamen; leicht zu hüten ist die nicht.«

Tante Dine hatte ein bekümmertes Gesicht. »Ja, sie tut, was sie mag. Und dabei kommt sie mir vor wie ein seltener Schmetterling, auf den jeder Narr Jagd macht, wenn er ihn erst sieht.« 180

Heinz runzelte die Brauen: »Die bleibt schon oben,« sagte er leis.

Sie standen vom Frühstückstisch auf. »Es ist wie Feiertag,« sagte der Vater, »man mag gar nicht an die Arbeit gehen!«

»Sogar du?« rief Heinz lachend, »dann muß der Feiertag ein sehr hoher sein. Wollen wir einen Gang in den verschneiten Wald machen?«

»Ja,« meinte Tante Dine, »tut das. Dann stelle ich derweil meine Mehlschüssel an den Ofen und mein ganzes Backzeug, damit alles gut durchwärmt wird. Heute abend wird gebacken.«

Heinz reckte die Arme und tat einen Juhschrei. Dieses Backen war wie ein klingender Heroldsruf vor dem Christkind her. – Ob ihn Justus im Osten drüben auch hörte? Ob er selbst ihn wieder hören würde, wenn er erst draußen wäre, weit über Land und Meer auf der fernen Insel? – Etwas wie ein vorweggenommenes Heimweh quoll in ihm auf. Er ließ die Arme sinken, und in seinen Augen war ein dunkler, feuchter Glanz.

Es war ihm fast lieb, daß der Vater nun doch an seine Arbeit ging und er allein hinauswandern durfte in die Winterwelt.

Noch führte kein Pfad, keine Fußspur über die schimmernden Breiten. Kaum waren die Linien der 181 Straße zu erkennen. Er wanderte gegen den Riesenkopf. Die Heide war ein weites, glitzerndes Meer. Um den alten Stein, der in unsäglicher Einsamkeit ragte, hatten sich glänzende Schneewehen gelegt. Jetzt gab es hier keine blaue Schlange mehr zu suchen!

Nun waren seine Gedanken schon wieder bei dem kleinen Mädchen. Die würde dableiben in der Heimat, wenn Männer wie Justus und er in der Fremde sich ein Leben zimmern müssen. Wie wohl ihr Schicksal sich gestalten würde? Ein seltener Schmetterling, auf den Jagd gemacht wird von jedem Narren? Tante Dine, wie kannst du so etwas sagen! Sie ist des Forstmeisters Tochter, und ihr Vater scheint ein ganz vornehmer, vielleicht auch ein reicher Mann zu sein; der wird sein einziges Kind schon vor Narren zu hüten wissen! – Es achtet niemand auf sie? – Nun gut, dann hat sie ihre Freiheit! Was will ein werdender Mensch denn mehr? Auf mich habt ihr immer zu viel achten wollen, Vater und auch du! – Aber sie ist ein kleines Mädchen! – O die, die weiß schon, was sie will! Die hat einen störrischen Kopf! – –

Hin und her ging die Rede in seinem Innern, und er konnte nicht Stille gebieten. Beim Stein blieb er stehen und sah sich um in der Runde. Hart klopfte sein Herz. Es war nicht leicht gewesen, durch 182 den tiefen ungebahnten Schnee zu stapfen. Wie auf einer einsamen Insel fühlte er sich, und nur seine Fährte dort führte hinaus zu andern Menschen.

Der blasse Himmel, an dem die Sonne wie hinter dünnen, weißen Schleiern stand, deckte das reglose Land so freundlich und still, als wisse er nichts von seinen Tiefen und seiner nie ermessenen Unendlichkeit. Es gab keine Ferne mehr; die Welt war ganz klein, ganz zu sich und zum Frieden gekommen, ganz ohne Sehnsucht und Ungenügen.

Drüben über dem nicht sichtbaren Fluß ragten die hohen, dunklen Tannen am Maienbuckel. Sie waren zu stolz, um große Lasten zu tragen. Nur da und dort hing ein breiter, weißer Schneefleck im Geäste. Weit war nichts Lebendiges, ja nicht einmal die Spur von Lebendigem zu sehen. Nur auf der weißen Kuppe, die den Stein bedeckte, liefen wie feines Spitzenwerk die Spuren winziger Vogelfüße durcheinander.

Aber unter all dem Leblosen spürte der Einsame so mächtig stark den verborgen pulsenden Lebensstrom, daß es ihm war, als sehe er die glänzende Schneedecke sich leise heben und senken von geheimnisvollen Atemzügen.

Die Schneekappe auf dem Stein schob er zur Seite und setzte sich auf den Platz, wo er vor Wochen 183 mit der Kleinen gesessen. Und nun war sie schon wieder da, schon wieder neben ihm, und ihre Augen wanderten mit den seinen über das glitzernde Meer. Unbehaglicher, reuevoller als je war ihm zumute. Wie arglos, wie vertrauend hatte sie ihm damals bei ihrer ersten Begegnung sofort das volle Herz aufgetan! Wie hatte sie dem Fremdling gleich das Schönste, das Geheimnisvollste der Heide zeigen wollen: die blaue Schlange!

Und wie hatte er ihr gedankt! Zum besten hatte er sie gehalten und seinen Spaß mit ihr getrieben! Er sah auf einmal nicht mehr mit seinen Augen, sondern mit denen der Kleinen, und es war ein übles Licht, in dem er sich da erblickte.

Wieder fiel ihm ein, daß ihm eine Sühnetat zu tun blieb: Das hölzerne Schiff!

Dort drüben am Maienbuckel, wo die Holzhauer an der Arbeit gewesen waren, mußte es unterm Schnee Rinde und Späne geben. Nicht mehr zu seiner Freude allein, sondern im Dienst einer Pflicht stapfte er weiter dem Fluß zu und dort am Ufer hin bis zu dem Steg, der hinüberführte.

Auch hier war noch nirgends eine Fußspur. In kaltem, dunklem Glanz zog das niedrigstehende Wasser zwischen den hohen, schneeüberböschten Ufern, und zerstreute Felsblöcke aus dem Urgestein, das hier zutage 184 trat, hoben ihre Rücken aus der stillen Flut und trugen ihre weißen Kappen noch unberührt, wie sie vom Himmel gekommen waren. Vom Steg sah er hinunter. Hier könnten, wenn es nur Sommer wäre, hölzerne Schiffe schwimmen! Strömungen gäbe es hier und stille, sichere Binnenhäfen, Meeresbuchten, Brandungen, Molen und Plätze für Leuchttürme. Tief war es eigentlich nirgends. Dort vielleicht, in der Mitte, würde ihm das Wasser bis an die Brust gehen. Vielleicht auch bis an den Hals. Aber die Kleine, die müßte weiter draußen, dem Ufer zu, bleiben. Dort die breite, flache Bucht hinter dem Felsblock, die wäre recht für sie. Dort könnte sie etwa bis zu den Knien hineinwaten. Dort könnte man auch eine Seeschlacht machen!

Seine Augen glänzten, er war mitten im Spiel, mitten in seiner Jugend, die noch so nahe bei seinem Heute lag.

Zögernd, ungern nur ging er weiter. Einen Abhang stapfte er empor, eine junge Pflanzung, auf der kleine Schneehügel die winzigen Tannen überwölbten, daß es aussah, als sei hier eine Schar hockender Kinder zugeschneit worden.

Am Rand des Hochwalds hingen auf den unteren Ästen wuchtige, drohende Schneewächten, als wollten sie jedem den Eintritt in das schweigende Heiligtum wehren. 185

Bis zum Werkplatz der Holzmacher arbeitete Heinz sich durch. Hier sah es abenteuerlich aus, wie auf einem Schlachtfeld, über das mitleidig eine Decke gebreitet ist. Er scheute sich fast, dieses reine, unberührte weiße Tuch zu lüften; aber dann fing er doch an, nach den begehrten Rindenstücken zu suchen.

Herrliche Stücke förderte er zutag, und ein paarmal rief er den fernen Justus zum Zeugen an, ob sie je in ihrer Jugend solche Rindenbrocken gehabt hätten?

Die Wahl wurde ihm schwer. Hier dieses Stück gäbe ein Kanonenboot, jenes einen schlanken Kutter, dieses einen herrlichen Nachen.

Er zog sein Messer. Er hatte vergessen, daß es ihm zu schwach und zu schade sein wollte für diese Arbeit. Aber an dem nassen, glatten Zeug verklammten ihm die Finger. Daheim mußte man die Sache machen, daheim im warmen Zimmer, wenn die Lampe brannte und Tante Dine ihre süßen Teige rührte, oder Lebkuchen ausstach, oder Mandeln schnitzelte.

Wenn dann die Kleine vielleicht doch herüberkäme, um zuzusehen? Er selbst wäre in ihren Jahren über jeden Berg gelaufen, wenn man ihm gesagt hätte, irgendwo werde gebacken und ein Schiff geschnitzt. Aber diese beleidigte Hoheit war ja unversöhnlich wie Saul. Oder war es David? Darüber mußte 186 er gelegentlich dem Vater fragen, dann hatte der auch seine Freude.

Er pfiff vor sich hin, belud sich mit Rindenbrocken und wandte sich heimwärts. Als er die klare, einsame Fährte vor sich sah, die er selbst in den Schnee gegraben, war es ihm leid, sie zu zerstören oder ihr von ihrer seltsam rührenden Einsamkeit etwas zu nehmen. Einen weiten Bogen schlug er, und immer mußte er zurück und hinübersehen nach der Menschenspur.

Und auf einmal war es, als rede sie zu ihm. »Siehst du,« sagte sie, »so wie deine Tritte im Schnee, so ist all dein Tun und Lassen irgendwo eingeschrieben. Indem du dein Leben lebst und deine Erdenwege wanderst, schreibst du dich ein und weißt es nicht. Nichts bleibt unaufgezeichnet, und nichts kann oder darf ein anderer für dich schreiben.«

Sie schlich ihm nach, seine Spur, sie lief, sie stand mit ihm. Er machte Sätze wie ein aufgehender Hase, Schritte wie ein Kamel, Seitensprünge wie ein bockendes Pferd. Und immer tat die Spur mit und ließ sich nicht abschütteln, nicht irreführen.

Er lief sich heiß, warf die Hälfte seiner Last weg und lachte wie ein Knabe. Aber immer saß ihm dabei ein heimlicher Ernst im Nacken. ›Bin halt ein Pfarrersbub,‹ dachte er plötzlich, ›auch wenn ich Purzelbäume schlage.‹ 187

Frisch von Kälte und Winterherrlichkeit kam er heim. Tante Dine lachte. Ein Kosewort aus der Kinderzeit, das er früher bitter gehaßt hatte, holte sie hervor. »Heinzelmännchen, hast wohl zehn Jahre deines Lebens im Schnee draußen gelassen? Siehst wie ein Junge aus, der vom Schlittenfahren kommt. Und Brennholz schleppst du heim?«

»Schiffsholz,« berichtete er lachend. »Heute abend wird eine Werft eingerichtet. Die Eva soll zu ihrem Geschenk kommen.«

Er legte sein Bündel in der Küche ab und trat in sein Zimmer. Die aus der Schule kommenden Kinder lärmten unter seinen Fenstern. Leise, wie man ein Wild beschleicht, trat er hinter die Vorhänge und spähte hinab.

Zu wirren Knäueln geballt wälzten und balgten sich die Scharen im frischen Schnee. Nur eine stand einsam und unbeteiligt dabei: Eva. Sie trug keine Haube wie all die andern Mädchen; der Wind wehte ihr das Haar ins bräunliche Gesicht, und ihre Augen blickten dunkel und leidvoll.

Es zuckte ihm in den Fingern, das Fenster zu öffnen und der Einsamen ein kameradschaftliches Wort hinunterzurufen. Aber er wußte: sie würde sich nur zur Flucht wenden.

Da rief Tante Dine vom Nebenzimmer etwas hinunter. 188

Eva hob den Kopf. In scheuem, raschem Suchen glitt ihr Blick erst an der Fensterreihe entlang, dann antwortete sie mit Zorn in der Stimme: »Den ganzen schönen Schnee verschmutzen sie.«

Man hörte das Lachen der Tante und eine Gegenrede. Aber Eva schien nicht damit einverstanden. Sie schüttelte den Kopf. Ihre Stimme klang fast schrill. »Habt ihr nicht gesehen, wie schön es war heute morgen? Nun zertrampeln sie alles.«

Eine Salve von Schneeballen flog gegen die Anklägerin. Aber sie blieb stehen, aufrecht und trotzig und ohne sich zu wehren; nur ihre Schürze schlug sie über die Bücher, die sie im Arm trug.

Heinz spürte Herzklopfen. Welch eine Gemeinheit, zwanzig gegen eine! Wieder fuhr seine Hand an den Fensterriegel.

Aber Eva, über und über voll Schnee, brauchte seine Hilfe nicht. »Werft nur,« rief sie gellend, »ich sage doch, daß ihr dumme Kälber seid und Schmutzfinken und Schweine und – –«

Jetzt flog drüben neben der Tante das zweite Fenster auf, und der Vater selbst mischte sich in die Sache.

»Geht heim,« rief er hinunter, »ich kann den Lärm da nicht brauchen! Müßt ihr denn immer streiten und schreien?« 189

Da verlief sich die Schar mit geduckten Köpfen, und als letzte ging Eva.

Ohne die rechte Freude schnitzte Heinz am Abend das Schiff. Das war eine Arbeit, bei der man teilnahmvolle Zuschauer, Kritiker und Gehilfen brauchte; dann erst konnte man in jenes Feuer kommen, dem keine Aufgabe zu schwer und zu verwegen ist.

So aber lag eine Nüchternheit über der Sache, die es verschuldete, daß unter dem Messer des Schnitzenden kein Kanonenboot und kein Kutter, sondern nur ein ganz einfacher Nachen mit Ruderbank und Steuer entstand.

In der Küche probierte er ihn auf seine Seetüchtigkeit. Erst hatte er zu wenig Tiefgang, und als dem abgeholfen war, ging er schief. Fast wollte der Meister über seinem Werk erlahmen. Aber über den verschneiten stillen Gärten drüben glänzte ein Licht im Forsthaus. Dort war ein kleines, trotziges Mädchen, dessen Vertrauen und guten Glauben er sich zurückgewinnen mußte.

So bastelte er weiter, bis alles klappte. Dann bat er Tante Dine, das Geschenk heute abend noch hinüberzuschicken.

Sie wollte nicht. »Was denkst du! Sie schläft schon, es ist gleich neun Uhr.« 190

Aber er bettelte. »Sie schläft sicher noch nicht. Vorhin hörte ich ihre Stimme noch in der Küche. Morgen ist Sonntag, da kann sie am besten damit spielen. Der Forstmeister und Fräulein Tabea sind nicht zu Hause; ich sah sie zur Bahn fahren und noch nicht zurückkommen.«

So schickte man die Magd hinüber. »Auf deine Verantwortung,« meinte die Tante.

Er nickte: »Auf meine Verantwortung.«

Heinz wusch sich die Hände und blieb mächtig lang in der Küche. Aber wie sehr er heimlich die Ohren spitzte – er hörte drüben über den Gärten nicht den erhofften Freudenlärm. Unbewegt glühte das ferne Lichtlein durch die Winternacht.

Der Sonntag kam herauf. Nicht die frohe Helle wie gestern erfüllte die Welt. Der Himmel blieb verhängt, und ein leises Grau lag in den gesäuberten Gassen.

Im Pfarrhaus rüstete sich alles zum Kirchgang, und die Magd, schon im Sonntagsgewand und mit dem Gesangbuch in der Hand, rührte noch einmal in dem brodelnden Topf, der im Ofen stand.

Vor dem Haus trat Fräulein Tabea herzu. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid, das vornehm knisterte, und ihre Pelzmütze hatte den männlichen Zuschnitt, den sie liebte. 191

Es gab ein freundliches Grüßen, ein paar Worte über den raschen Wintereinzug, dann trat Tabea neben die Tante und schritt den andern voraus, von ihrer gestrigen Reise erzählend.

Heinz ging dem Vater zur Seite. Sie sprachen nicht miteinander. Dem Pfarrer war die Brille angelaufen. Er nahm sie ab und trug sie in der Hand. Es war eine Bewegung, die Heinz auffiel, als hätte er sie nie so an einem andern Menschen gesehen. Und alles kam ihm plötzlich vor wie ein Schauspiel, dem er als Zuschauer beiwohne, und auf das er gut achten müsse.

Dann ertappte er sich dabei, daß er horchte, was die vorausschreitenden Frauen redeten. Ob das hölzerne Schiff nicht zur Sprache kam? Er verstand nur etwas von einer neuen Magd und von feuchtem Brennholz und rauchenden Öfen.

Große einzelne Schneeflocken trieben jetzt wie verirrt durch die Gasse. Wenn Heinz Sommer nach langen Jahren an diesen Sonntagmorgen dachte, sah er immer diese einsamen Flocken in der grauen Luft.

Die Glocken läuteten dünn und ohne den rechten Rhythmus, ein Duft sonntäglicher Speise drang aus den Häusern, die Hunde knurrten vor den Türschwellen, die Menschen grüßten und hatten feierliche 192 Gesichter; die Kinder fanden sich zu Gruppen zusammen; aber Eva war nirgends zu erblicken.

In der schönen alten Kirche mit ihren Gruftplatten und Grabsteinen, ihren dämmerigen Ecken und Nischen, in die nur durch die schmalen, farbenbunten Fenster ein gebrochenes Licht fiel, in der wie mit uraltem Weihrauch angefüllten Luft überkam das Gefühl der Unwirklichkeit den Pfarrerssohn noch stärker.

Und auch des Vaters Predigt konnte ihn nicht herausreißen. Die Kirchenlehrer und Kirchenväter schritten hindurch, Origenes setzt sich mit Celsus auseinander, und uralte Worte kündeten uralte Weisheit und uralten Streit.

In seinen Knabentagen hatte Heinz des Vaters Predigten manchmal verwünscht. Man durfte mit seinen Gedanken nicht davon wegwandern, weil es daheim bei der Prüfung am Mittagstisch niemals anging, irgend etwas Allgemeines zu sagen. Festgenagelt wurde man auf die Punkte, die der Vater wissen wollte. Kenntnisse, nicht Gefühle mußte man aus der Kirche heimbringen.

Heute klang und schwang nichts Drohendes von der schönen, dunklen, holzgeschnitzten Kanzel her; die Worte durften auch einmal untergehen in den eigenen schweifenden Gedanken. 193

Eva! – Ob Eva da war? Unter der Kinderschar dort unten saß sie nicht. Sie schien sich die Kirchenväter zu schenken. Vielleicht war sie draußen im Schnee, in der köstlichen Einsamkeit.

Die steile alte Bank, die seine langen Beine wie im Schraubstock festhielt, wurde Heinz plötzlich sehr eng und unbequem. Er hätte nicht dort hinaus denken sollen! An dem unberührten, leise atmenden Schneefeld gemessen, waren auf einmal die Worte des Predigers leblos und ohne Glanz. Es lag Staub darüber und Moderduft, wie aus Gräbern heraus.

Nun kam zum Glück das Amen. Mit seiner kräftigen Stimme sang Heinz klingend den Schlußvers. Er liebte die alte, starke Weise, und seit er denken konnte, hatte er es so gehalten: je weniger er bei einer Predigt mitgegangen war, je machtvoller hatte er nachher gesungen.

Dunkel strömten die Scharen aus der Kirche und in die nahen Gassen hinein. Dort stand Tante Dine und diese Tabea, und die Weiber, die vorübergingen, sprachen ein paar Worte, die Männer lüfteten grüßend die Hüte.

Drüben über dem Kirchplatz tauchte jetzt der Vater auf und wartete in Barett und Kirchenrock auf die Seinen. Sein blasses Gesicht war ein wenig gerötet, wie von unmerklicher Befriedigung und schleierzartem 194 Selbstbewußtsein. »Habe ich es recht gemacht?« stand schüchtern und verhüllt, aber doch lesbar in seinen Augen.

Und Tante Dine und Tabea schwangen das Weihrauchfaß mit leichter Geste, und auch Heinz streute ein Körnlein in die kleine rauchende Glut.

»War Eva nicht in der Kirche?« fragte er jetzt die Baltin, deren Kleid neben ihm knisterte, und er schaute dabei in den düsteren, schneeschweren Himmel.

Sie schüttelte den Kopf. Ein ärgerlicher Ausdruck flog über das verwelkte Gesicht. »Sie wollte wieder einmal nicht. Und der Herr Forstmeister erlaubt nicht, daß ich sie in die Kirche zwinge.«

Heinz ging es durch den Sinn, was doch dieser Forstmeister für ein vernünftiger Vater sei! Aber in die zustimmende Zufriedenheit hinein fuhr auf einmal unvermittelt und stark wie ein Blitz, bei dem man auch nicht weiß, woher er kommt, der Gedanke: ›Sie läßt das hölzerne Schiff schwimmen.‹

Ein eisiger Schauer ging ihm durch den Leib, als wate er durch kaltes Wasser. Sein Fuß stockte; er konnte jetzt nicht ruhig mit den andern heimwärtswandern und sich an den gedeckten Tisch setzen.

»Verzeihung!« sagte er zu den Schreitenden, und seine Augen irrten die Gasse entlang, »ich muß vor Tisch noch einen Gang machen, sonst kann ich nicht essen.« 195

»Aber komme bald!« hörte er die Stimme der Tante noch hinter sich, alles andere versank in einer schweren Angst, einer schweren Gewißheit, die er selbst nicht begriff.

Einmal fuhr es ihm durch den Kopf, daß er ja gar nicht wisse, wo Straubs Garten sei. Aber seine Füße zögerten deshalb nicht auf dem Wege. Wie wenn ein fremder Wille sie bewegte, so trugen sie ihn dorthin, wo er gestern gegangen, und Straubs Garten war vergessen.

Auf der Straße vor dem Dorf liefen jetzt Rad- und Fußspuren genug durch den Schnee. Aber dort, wo der Pfad in die Heide einbiegt, dort war noch seine einsame Fährte. Er blieb aufatmend stehen. Dort draußen war sie also nicht.

Schon wollte er über sich lachen, da sagte es in ihm: Siehst du denn nichts? Und er sah, daß in seinen Stapfen ein Kinderfuß gegangen war. Deutlich war die Spur eingedrückt, Schritt für Schritt, wie er gestern gegangen.

Seine Augen glänzten auf. Das hätte er auch so gemacht an ihrer Stelle! Aber schon wieder kroch die Angst hoch, der er nicht wehren konnte.

Er kam zum Opferstein. In die Schneehaube neben den feinen Vogelspuren hatte sich eine Kinderhand ein paarmal eingegraben. Etwas Rührendes 196 hatte das: Kinder und Vögelein! Er machte eine Grimasse. Seit wann war er elegisch? – Die Kinderspur verließ seine gestrige Fährte nicht. Er spitzte die Lippen zum Pfeifen. Dieser improvisierte Sonntagmorgenspaziergang war doch etwas ganz Schönes! Die daheim konnten lange Mägen bekommen. Vielleicht rauchte der Vater eine Pfeife! – Er tat, als ob er lachte und lustig sei, und doch war die Angst da, die Angst, so schwer, grau, unheilschwanger wie der niedrige Himmel.

Wie gut, daß er gestern seine eigene Fährte nicht zerstört und zertreten hatte! Sonst wäre ihm wohl Evas Spur nicht mehr sichtbar geworden. Vielleicht aber hätte ein ausgetretener Pfad diese Kleine, dieses Teufelsmädchen, gar nicht so gelockt wie die einsamen Stapfen! Ging es ihm nicht selber so, wenn er in sonst unberührtem Schnee eine Spur sah? Etwas Magisches lag darin, ein leises Locken: komm doch, komm doch und sieh, wohin ich dich führe.

Ja, das war schon so: Er selbst hatte recht eigentlich diese Eva ans Wasser hinausgeführt! Seine Spur im Schnee und sein hölzernes Schiff. Wenn etwas passierte –  – Unsinn! Was wird dieser Halbwilden passieren, die an Freiheit gewöhnt ist!

Ein Stöckchen dürfte sich der Forstmeister wohl schneiden für seine Tochter! Zu viel Zwang ist nichts, 197 aber zu viel Freiheit ist auch – – – Gellte da nicht ein Schrei? Was war das gewesen?– Schutzengel, vergiß, daß ich gespottet habe! Wieder ein furchtbarer, schriller Schrei! Es fing zu schneien an. Erst in kalten, einsamen Flocken, dann ganz plötzlich in emsigem, durcheinanderwallendem Gestöber. Bald lief er wie in eine weiße Wand hinein und die Stapfen im Schnee vor seinen Füßen waren noch das einzige, was er von der ganzen weißen Erde sehen konnte. Ach Heinz, das heißt einsam sein! So einsam bist du eigentlich nie gewesen, wie jetzt zwischen den weißen, wirbelnden Wänden, die mit dir wandern, wo du hingehst.

Wie lange noch, dann würden auch die Stapfen verschwinden, über die sich dicht und dichter eine flaumige Schicht legte, dann wären überhaupt alle Brücken zur übrigen Welt abgebrochen.

In eine Abenteurerstimmung wollte er sich hineinreden, und es war doch immer die Angst da, die nüchterne, hölzerne Angst, die sich einfach nicht wegschieben ließ, und der es um Abenteuer nicht zu tun war.

Er wußte nicht mehr, wo er eigentlich war. Der Fluß konnte nicht weit sein.

»Eva!« rief er fast gegen seinen Willen in die Schneewand hinein. Plötzlich tauchte das Wasser 198 auf. Er hatte gar nicht bemerkt, daß er abwärts gegangen war. Das dichte Gehäuse, das ihn umgab, hatte alle Maßstäbe verschlungen. Wie Blendwerk kam es ihm vor, daß da vor ihm ein dunkles, stummes, offenes Maul gähnte, in dem die weißen Schwaden lautlos versanken. Und nun rechts der Steg! Abenteuerlich, fremd, vergrößert stiegen seine Formen aus dem Gestöber.

Lief da nicht eine Gestalt darüber? Aber das war kein Kind, das war eher ein Riese. Ach nein, gar nichts war's. Der Schnee allein umtaumelte den Steg.

Eva! – – War eine Antwort gekommen? Nun wurde es ernst. Etwas Hartes, Eisiges tauchte in ihm auf. Er kannte das. Das war der Heinz Sommer, der etwas durchsetzte.

Er trat ans Wasser. Wie eine weiße, strömende, rollende Wand stürzten sich die immer dichter werdenden Schwaden hinein.

Ein Schwindelgefühl wollte ihn überkommen. Oder war das kein Schwindelgefühl, war das ein tödlicher Schrecken, ein Erkennen im Herzen, ohne daß die Sinne noch etwas wahrnahmen?

Dort, Heinz – dort! Er watete hinein. Langsam, langsam. Das Wasser ist nicht eisig. Heiß ist es! Dort! 199

Auf seinen Armen trug er Eva ans Ufer, von einer heißen, strudelnden, dicken weißen Rauch ausströmenden Flut umbrandet. Oder war alles immer noch Schnee? Schon wieder Schnee?  – –

An einen der Granitfelsen in Ufernähe angeklammert, vom Wasser bis an die Brust umspült, hatte sie gestanden, unbeschreibliches Entsetzen im verzerrten Gesicht, ihr Schifflein, sein Schifflein in der hoch erhobenen Rechten.

Nun lag sie starr an seiner Schulter. Seine Arme zitterten unter der nassen, kalten Last. Oder war es ihr Körper, durch den immer wieder dieses schreckliche Zittern lief?

Er dachte nicht mehr; er war eine Maschine. Das Harte, Eiserne, das er an sich und in sich kannte, breitete sich über sein ganzes Wesen aus in einem Maße, wie er es zuvor nie geahnt hatte.

An seinen Fußspuren festgeklammert wie an einem Rettungsseil, stapfte er keuchend den Weg zurück. Nahm er nie ein Ende? Verlief er in die Ewigkeit?

Wie schwere, weiße Wogen stürzte der Schnee aus dem herabgesunkenen Himmel. Der Keuchende vermochte kaum mehr die Augenlider zu heben. Sein Herz hämmerte, und ihm war, als fülle dies furchtbare Pochen die Welt mit dumpfem, dröhnendem Hall. 200

Auf einmal hörte er ein Vögelein zirpen, ganz leis und süß und frühlingshaft.

Ach Heinz, erwache nicht! Träume nur diesen Traum weiter von einem singenden Vögelein auf einem einsamen Opferstein!

Und nun ein Haus hinter weißem Schleiergewoge! Lache nicht, ach, lache nicht, sonst zerbricht das Eiserne in dir, das euch beide trägt, dich und die Eva!

Dort hinüber. Das Pfarrhaus. So – das war kräftig geläutet! Es dröhnt nur so! Nehmt sie nur! Nehmt – – Ah – –.

Er taumelt an eine Wand. Jemand hat den starren, kalten, schweren Schneeberg von ihm genommen.

Nun ist das Eiserne zerbrochen. Nun darf er lachen.

Laut lachte er auf, und dann nichts mehr.

*   *   *

Wie war er eigentlich in sein Bett gekommen? In schwerem Besinnen lag Heinz Sommer und dachte nach, und sein Herz klopfte einen harten Takt dazu. Glockenläuten kam dünn und gedämpft von draußen. Und nun war alles da: Der Kirchgang, die Suche nach Eva, der furchtbare Heimweg.

Wie lange her war das alles? Lagen Stunden dazwischen oder Wochen? Er richtete sich auf. Er griff nach seiner Uhr auf dem Nachttisch. Zwei Uhr. 201 Rief das Läuten zum Gottesdienst? War's noch, oder schon wieder Sonntag? Oder war vielleicht eine Beerdigung?

Warum jagte sein Herzschlag plötzlich so rasend?

Nach der Klingel griff er und läutete heftig.

Taute Dine erschien so rasch, als hätte sie vor der Türe gewartet. Ihr freundliches, rundes Gesicht war ganz bleich, eine Sorgendecke lag über der Fröhlichkeit.

»Nun, wie geht's?« sagte sie, und man hörte das Erzwungene an der Leichtigkeit ihres Tones.

»Warum läutet's?« fragte er kurz, fast barsch zurück und legte den Kopf ins Kissen.

»Es ist zwei Uhr, Gottesdienst ist.«

Ein tiefer Atemzug hob die Brust unter dem weißen Nachthemd. Dann klang ein leises Lachen auf. »Tante Dine, ich weiß eigentlich gar nicht, wie lange ich hier liege. Hilf mir ein wenig. Denke, ich sei schwer betrunken gewesen.«

Sie setzte sich auf den Bettrand. Entrüstung stand in ihren Augen. »Nein, das denke ich nicht. Ich habe doch gesehen, wie dir Vater die Eva vom Arm nahm.«

Er schaute gegen die Decke. Also um Stunden nur handelte es sich, seit er alles erlebt hatte! Ein leiser Schauer griff ihm ans Herz. Der Gedanke durchfuhr ihn: vielleicht ist's mit unserm ganzen 202 Leben so! Wir meinen lange Jahre für uns zu haben und alles ist doch nur ein Augenblick.

»Was macht sie?« fragte er zögernd.

Die Sorgendecke auf der Tante Gesicht schien dichter zu werden. »Der Forstmeister hat sie hinübergenommen. Sie ist nicht bei sich. Schüttelfröste soll sie haben. Ihr Schifflein hält sie wie im Krampf in der Hand.«

Heinz hob den Kopf und sah der Frau ins Gesicht. »Gesteh's,« sagte er, »nun möchtest du haben, daß ich zu Kreuze krieche und pater peccavi sage.«

Sie wehrte leise mit der Händ ab. »Gar nichts Lateinisches möchte ich von dir haben. Nur wissen möchte ich, wie alles gekommen ist.«

Er richtete sich jetzt so auf, daß er im Bett saß. Seine Lebensgeister schienen völlig zurückgekehrt.

»Wie alles gekommen ist? – Nun, sie wollte natürlich ihr Schifflein schwimmen lassen und ist dabei ins Wasser geraten.«

»Aber daß du dazu kamst! – Wußtest du denn davon? Und wußtest du, wo Straubs Garten ist?«

Auch vor Heinz türmte sich das große Verwundern auf, daß alles so gekommen war, wie es kam.

»Dort war sie nicht,« sagte er wie in Gedanken, »sie war draußen an dem Steg dem Maienbuckel gegenüber, wenn du das weißt.« 203

Die Frau ließ die Hände sinken. Es sah aus, als lähme sie das Entsetzen. »Dort draußen – allein – bei solchem Wetter?« stieß sie dann mit versagender Stimme hervor.

Sie versank in ein Schweigen, von dem Heinz seltsam klar spürte, daß es voll Entrüstung, voll Anklage, voll tiefer Empörung war. »Und du,« fragte sie endlich noch ganz benommen, »wie kamst du dort hinaus, so weit – –«

Er spürte, wie ihm auf einmal die Zähne wieder klappern wollten. Ja, wie kam er dort hinaus? Was war diese Angst gewesen, die ihn auf die Spur geführt hatte? ›Schutzengel‹ ging es ihm durch den Sinn, ohne daß der Spott aufwachte.

»Ich weiß nicht,« sagte er leis, »gestern war es so schön dort draußen.«

Sie stand vom Bettrand auf. Schlittenglocken kamen die Gasse herauf und am Pfarrhaus vorüber. Durchs Fenster sah sie hinunter. »Er hat den Doktor geholt, der Forstmeister. Sie hätten sich's sparen können, wenn sie die Kleine – –«

»Tante Dine,« fiel Heinz ein, »könntest du hinüberschicken und fragen lassen?«

Sie nickte und ließ den Fenstervorhang wieder übereinanderfallen. »Ich gehe selbst und bringe dir den Doktor her.« 204

»Was fällt dir ein?« rief er rasch. »An mir ist nichts zu doktern. Wenn ich einen recht heißen Tee bekommen könnte –«

Da griff sich die Frau an den Kopf. »Über andere kann ich losziehen, aber was meines Amtes ist – –« und sie ging aus dem Zimmer.

*   *   *

Das Forsthaus zu Meßberg war ein langgestreckter, äußerlich nüchterner Bau, an dem keine schönen Formen und kein besonderer Schmuck zu sehen war, es sei denn, man wollte die paar alten, behauenen Steine dafür gelten lassen, die von Klosterzeiten herstammten und ziemlich wahl- und sinnlos hineinverbaut waren.

So grinste ein fratzenhafter, als Wasserspeier gedachter Kopf über der Haustüre, und an der Ecke, zwischen derben Werksteinen, lachte ein breitgedrücktes, mit seltsamem Schneckenbart geschmücktes Männlein in die fremdgewordene Welt.

Die zweiflügelige, gerundete Haustüre glich einem kleinen Scheunentor. Doch war sie aus festem, altem Eichenholz und mit zwei mächtigen Ringen geziert, die früher als Klopfer gedient hatten.

Ein breiter Flur dehnte sich durch die Tiefe des Hauses, und rechts und links führten flache Steintreppen zum ersten Stockwerk empor. 205

An Raum war nirgends gespart, wohl aber an freundlichem Schmuck und wohnlich machendem Zierat.

Die hohen, grünlichweiß getünchten Wände in Flur und Treppenhaus waren mit Geweihen und ausgestopftem Kleingetier behängt; breitgeschaufelte Elche und die abnorm geformten Gehörne kümmernder Rehböcke bildeten Gruppen, die wohl den Weidmann erfreuen konnten, die aber den Eindruck des Kalten und Unwohnlichen nicht aus dem hallenden Aufgang zu bannen vermochten.

Auf den oberen, langgestreckten, mit dicken Matten belegten Flur mündeten zahlreiche gleichförmige Türen, die aussahen, als führten sie zu Klosterzellen.

Aber die in langer Flucht ineinandergehenden Zimmer waren groß und hoch, und wenn die Sonne durch die hohen Fenster brach, wirkten sie freundlich und wohnlich.

Breite, alte Öfen aus bunten Kacheln standen traulich in den Ecken, bereit, die großen, knorrigen Klötze aus dem nahen Wald zu fressen; die Fußböden aus hellem Holz waren durch schwärzliche Friese in Vierecke geteilt, es gab altmodische Tapeten mit blühenden Rosenranken und farbig gestrichene Wände mit kunstvoll aufgemalten Borten. 206

Eine vornehme, altväterische Besonderheit lag über diesen großen Stuben; sie söhnte den Forstmeister immer wieder aus, wenn sonst in dem weitläufigen Amtssitz nicht alles zum Besten bestellt war.

Thomas Auersteins von den Vätern überkommener Hausrat stimmte gut zu den Räumen. Die schönen, dicken Teppiche und Felle brachten Wärme herein, die spiegelblanken Möbel aus fremden, alten Hölzern standen zufrieden an ihren Plätzen, als seien sie ausgesöhnt mit der Wanderfahrt, die man ihnen zugemutet hatte.

Evas Stube ging nach Südosten. Man hatte das Bett von der Wand gerückt und näher gegen das Fenster gestellt. Fast verloren stand es in dem großen Raum mit den blaugestrichenen Wänden und glänzendweißen Türen. Ein zertretenes Bärenfell mit mächtigem Kopf und aufgesperrtem Rachen lag davor.

Ein wenig öde wirkte das Zimmer. Die Möbel und die Bilder an den Wänden waren anderswo übriggeblieben, nicht für ein Kind ausgewählt. Die Hand Tabeas war mehr nüchtern als mütterlich. Es hingen da ein paar anspruchsvoll große Stiche, Rokokoschäferszenen in prunkenden, altmodischen Rahmen und ein mächtiges, fleckig gewordenes Gastmahl des Plato. 207

Aber darunter gab es, offenbar von Evas eigener Hand an die Wand genagelt, kleine dürre Kränzlein aus Heidekraut und winzigen Immortellen, dazu Scherenschnitte aus dem Papier alter Schulhefte und einen mit schwarzer Seide auf Silbergrund genähten Spruch: ›Ohn' Fleiß kein Preis,‹ ein Geschenk von Frau Winter aus dem Pfarrhaus.

Eine leise Wärme füllte das Zimmer. Es war alles, was der weiße, mit Messingzierat geschmückte Ofen herzugeben vermochte. Für ernstliche Arbeit war er in seinem Alter nicht mehr zu haben.

Tabea kauerte mit rußigen Händen und vergrämtem Gesicht vor der Ofentüre, und Frau Winter saß neben dem Bett. Es roch nach Essig und Baldrian.

Das Gesicht der Kranken war vom Fieber gerötet; man sah die geschlossenen Augen unter den Lidern sich unruhig bewegen. Schwer ging der Atem; manchmal klang ein bellender Husten auf, manchmal ein paar hastige Worte, die meist nicht zu verstehen waren.

Dann und wann legte die Frau die Hand auf Evas Stirne. Dann taten sich die blicklosen Augen flüchtig auf, um schwer wieder zuzufallen. Die braunen Kinderfinger auf der Decke begannen ein lautloses, unheimliches Spiel. 208

Frau Winter nahm den Schwamm aus dem Essigwasser. Das Herz zitterte ihr in unausgedachter Angst. Suchte die Kleine den Kirchhofschlüssel?

Unter der kühlenden Waschung hörte das schreckliche Spiel der kleinen Hände auf.

Aber nun begann Eva zusammenhängender zu reden. Tabea trat ans Bett, bleich, verstört, mit zerzaustem Haar. Sie horchten beide auf die Worte ohne Sinn, die dem brennenden Mund entquollen. Von der Fev und von Jerusalem, von Semme und einem Vogel war die Rede und dann ein winselndes, klagendes, unaussprechlich trauriges: O je– o weh!

Frau Winter tropften die Tränen aus den Augen bei den herzbeklemmenden Jammerlauten.

Plötzlich schrie Eva auf. Nicht sehr laut; aber so erschütternd, als käme der Schrei aus tiefster, verzweifelter Not. »O laß mich, laß mich doch!« und dann ein gellendes: »Heinz!«

Frau Winter konnte die Qual nicht mehr ertragen. Mit zitternden Knien stand sie auf und fing an, die nassen Tücher zuzurichten.

»Noch nicht,« flüsterte Tabea, »erst in einer halben Stunde.«

Ein merkwürdiger Blick traf sie. »Siehst du,« sagte er, »daß du ein Mietling bist. Du schaust auf 209 den Uhrzeiger, wenn der Sand doch im Stundenglas verrinnt.«

Mit der Kraft, die in den Schwachen mächtig ist, wenn Liebe und Angst sie treibt, hob sie das glühende Kind aus den Kissen und legte es in die nassen, kühlen Tücher.

Über ihr eigenes heimliches Bangen und Entsetzen hinüber redete sie dabei Worte voll Mitleid und Beruhigung, ja Worte freundlichen Scherzes.

Der brennende Leib in den Tüchern kühlte ab, das fiebernde Blut ließ nach in seinem tollen Jagen, das rasend klopfende Herz tat langsamer.

Die Kranke schlug die Augen auf, und es war Blick darin.

Ein banger, suchender, flehender Blick. »Ist Heinz fort?« klang eine leise Frage auf.

Schon wollte Tabea sagen, er sei nie dagewesen, da sah sie, wie Frau Winter sich zu dem Kinde neigte. Ihr Gesicht, das eben noch so voll Angst gewesen war, lächelte. »Soll ich ihn wieder rufen, den Heinz?«

»Ja,« klang es matt und kurz zurück.

Von dieser Stunde an war Heinz täglich am Krankenbett. Ja, in ein paar ganz bangen, schweren Nächten wurde er gerufen und mußte bleiben, und es war, als hätte sein Rettungswerk um ihn und 210 die Kleine eine eiserne Fessel geschlagen, die sie beide aneinanderkettete.

Aus all der Todesangst heraus, die die Fiebernde quälte, sollte er sie nun ebenso tragen wie aus dem eisigen Wasser und dem stürzenden Schnee. Das hölzerne Schifflein, das armselige Spielzeug, hatte sich wie zu einem Schicksal ausgewachsen, und wenn Heinz es liegen sah, dort auf dem Bord neben dem weißen Ofen, dann durchlief ihn ein Schauer, und er meinte oft, er sehe das leblose Ding grinsen in heimlichem Wissen.

Mit Heinz zusammen saß oft der Forstmeister an dem Bett der meist Bewußtlosen. Sein Gesicht war bleich und gealtert; ernst und dunkel blickten die Augen auf die Kranke.

War es denn nicht sein Einziges, was da lag? Sein Einziges auf dieser weiten und kalten Welt? Sein Amt, sein Wald, sein Deutschland – ach, sie konnten nimmermehr das eine ersetzen, was auf Erden das Höchste ist: ein Mensch, der ganz zu einem gehört!

Mit einer wunderbaren, nie erlebten Deutlichkeit spürte das der wortkarge Mann. – Daß sie seines Blutes nicht war, diese mit dem bitteren Tod ringende Kleine – was verschlug das! Sein eigen war sie gewesen; er hatte sie erwachen und Mensch werden 211 sehen; in seiner Obhut hing bis auf den heutigen Tag dies junge, erst halb bewußte Leben.

Und ihr rätselvolles Auftauchen aus einer fernen Sturmnacht heraus, die völlige Dunkelheit ihrer Herkunft, dieser Schein von Wurzellosigkeit auf der Erde – war alles nicht dazu angetan, sie ihm vielleicht noch ganz anders als ein Geschenk des Schicksals auf den Weg zu legen, als wenn sie sein und jener unglückseligen Toten leibliches Kind gewesen wäre?

So saß er stumm, bleich, grübelnd neben dem Bett, allein mit seinen schweren Gedanken.

Und einmal kam eine Stunde, die ihn im Innersten erschütterte. Da redete das mutterlose Kind, das sich scheinbar nie nach einer Mutter gesehnt, nie an eine Mutter gedacht hatte, von seiner Mutter.

Die pflegenden Frauen waren weggegangen, Heinz stand unten am Bett neben dem Fenster. Die karge Wintersonne kam weiß und schräg in die Stube. Da fing es an.

Sie schien zu schlafen, die Kleine; ruhevoll sah sie aus, nicht wie sonst, wenn phantastische Bilder sie quälten und irre Worte aus dem brennenden Mund brachen.

»Mutter,< sagte sie leis und klar, »warum hast du geweint?« 212

Heinz sah, wie des Forstmeisters Augen sich weiteten und wie der Mann sich hinbeugte zu der Fiebernden. Da wünschte er sich weit weg und schaute durchs Fenster nach den fernen Tannenwipfeln; aber seine Ohren konnte er nicht schließen.

»O wie sind deine Haare so schön lang und weich! Laß mich sie streicheln! Schenke mir die Kette an deinem Hals! Tabea sagt, daß du gestorben seiest. Ich kann dich nie sehen. Hanne kann die Gestorbenen sehen; aber man bekommt das Frieren davon. Oh, ich fürchte mich! Ich friere so schrecklich!« – Ihre Worte gingen unter in einem Stammeln und Zähneklappern, und der Forstmeister zog ihr die Decke hoch und legte ihr die Hand auf die Stirne.

Heinz trat herzu. Er wagte kaum, den andern anzusehen. »Soll ich Tante Dine rufen, oder Fräulein Tabea?« fragte er flüsternd.

Aber der Forstmeister winkte stumm ab und zog seinen Stuhl ganz dicht vor das Bett, als sorge er, daß ihm ein Wort entgehe. Doch kam nichts mehr.

So war es ein schreckliches Auf und Ab an dem Lager der Kleinen, bald leise Hoffnung, bald erneute schwere Angst, und kein freundliches Licht wollte sich zeigen.

Manchmal, wenn Heinz nur als Besucher für einen Augenblick kommen wollte, mußte er bleiben, 213 weil sein Anblick und sein Nahesein für die Kleine Beruhigung war. Das furchtbare Gewirr von Bildern und Vorstellungen, die sich unter dem Sturm der Krankheit in ihrer Seele und ihrem Hirn jagten, schien sich zu lösen und zu legen, wenn Heinz an ihr Bett trat.

Und oft dachte er, man müßte helfen können, wenn man wüßte, welche Gaukelwelt hinter der braunen, heißen Stirne ihr Wesen trieb. Angestrengter lauschte er auf jedes Wort aus dem fiebernden Mund, und er suchte begierig nach Zusammenhängen.

Grübelnd, gequält, nach einer helfenden Tat verlangend, stand Heinz einmal wieder auf dem Bärenfell und schaute nach dem Gastmahl des Plato hinüber. Aber er sah die Gestalten auf dem Bild nicht. Etwas anderes tauchte auf, was ihm seither entschwunden gewesen und nun plötzlich in das geheimnisvolle Geschehen verwebt war. Vom wirbelnden Schnee, wie von dickem Nebel umhüllt, ragte der Steg über den Fluß empor, und darüber eilte eine lange Gestalt, unkenntlich, undeutlich, im Nichts verschwindend.

Daß er das ganz vergessen hatte!

»Tante Dine,« fragte er halblaut, aber in einer Erregung, die ihn selbst befremdete, »Tante Dine, wer ist Semme?« 214

»Ach,« sagte leise die Frau, »damit meint sie den Knecht von Johannes Straub; dorthin lief sie oft.«

»Was ist das für ein Mensch?«

»Nun, es ist ein hagerer, häßlicher, ein wenig blöder Kerl, aber der Bauer lobt ihn.«

»Einer Schurkerei ist der wohl nicht fähig?«

Verwundert sah ihn die Frau an. »Was fragst du? Ich weiß nichts von ihm, als daß er der Fev, der alten Taglöhnerin, ihr Sohn ist. Die Mutter ist kein schlechtes Weib.«

Sie sprachen nicht weiter; aber in der Seele des Heinz hatte sich eine Ahnung, der Schein eines Zusammenhangs, eines Verdachtes festgebissen und quälte nun wie ein Widerhaken.

Manchmal, wenn niemand im Zimmer war, beugte er sich über die Kleine und sprach das Wort »Semme« aus. Und immer reagierte sie darauf mit sichtbarer Unruhe. Dann legte er ihr die Hand auf die heiße Stirne und sagte eindringlich: »Der Heinz ist da.«

Heimlich, zäh, wie durch undurchdringliches Gestrüpp, ging er seinen Weg, auf den ein fast ungreifbarer Verdacht ihn gestellt hatte, und dieser Weg führte ihn an einem grauen Abend vor die Tür der Fev.

Er kam vom äußeren Bauern her, wo ihm die Stasel gesagt hatte, daß der Semme eben bei seiner Mutter sei. 215

Das Häuslein der Taglöhnerin stand da, als sei es im Schnee begraben gewesen und habe sich nun mit Mühe und Not wieder ein wenig Luft gemacht. Auf allen Gesimsen und Vorsprüngen hockten Schneestreifen und Schneehäuflein, tief hing das weiße Dach, und ein schmaler, von Schneebergen begrenzter Weg führte zur Haustüre.

Eine Zeitlang betrachtete es Heinz von außen, etwa so, wie man einen fremden Menschen erst stumm mustert, ehe man sich mit ihm einläßt.

Dann trat er durch die unverschlossene Türe in einen Raum, der Küche zugleich und Flur war, und dann nach kurzem unbeantwortetem Klopfen in die niedere, von schwelender Wärme erfüllte Stube.

Die Taube an ihrem Faden fing zu schaukeln an; ihr tiefes, seltsames Nicken war wie ein überhöflicher und zugleich unheimlicher Willkommengruß, denn in der grauen, dämmerigen Schwüle sah der nickende Vogel merkwürdig lebendig aus.

Am Tisch in der Stubenmitte saßen Mutter und Sohn. Schon waren ihre Gesichter nicht mehr deutlich zu sehen. Sie blickten beide stumm dem Besucher entgegen und standen nicht auf.

Heinz trat hinzu. Es war ihm fast lieb, daß das Tageslicht schon erloschen war, denn plötzlich 216 überkam ihn Befangenheit. Was wollte er eigentlich von diesen zweien?

Nun stand der Knecht langsam auf. Hager, den kleinen Kopf geduckt, als sei der dünne Hals zu schwach, ihn hoch zu tragen, stand er Heinz gegenüber.

Dem fuhr es sofort deutlich durch den Sinn: »Ein Schuldbewußter.«

»Wo waren Sie am Sonntag in der Kirchenzeit?« fragte er kurz, daß es war, als werde dem Hageren die Pistole auf die Brust gesetzt. Der schaute auf. Das von der grauen Dämmerung überhauchte Gesicht spiegelte Schrecken und ein scheues, ungeschicktes Ausweichen.

»Ich –« klang es nach einer Weile des Schweigens grob und doch feig, »das sind meine Sachen, denke ich.«

Heinz hatte mit einem Male ein so tiefes Gefühl seiner Überlegenheit über diesen hilflosen Menschen, daß es ihn wie Mitleid ankam.

»Ja,« sagte er fast freundlich, »weil alles, was am Sonntagvormittag geschah, Ihre Sachen sind, deshalb bin ich gekommen. Gerade deshalb. Forstmeisters Eva –« Er hielt inne. Der Knecht hatte sich plötzlich geduckt, wie unter einem Faustschlag.

Das Weiblein stand auf und hielt sich am Tisch. »Was ist denn, was ist denn?« kam es tonlos aus ihrem Mund. 217

Heinz mußte fast lächeln. Diese Menschen waren rasch hinter den Zaun getrieben, da gab es kein Entrinnen mehr.

»Was hattest du mit Forstmeisters Eva vor?« fragte er hart und trat ganz nahe vor den Knecht.

Das häßliche Gesicht wurde sichtlich fahl. Scheu gingen die Augen durch die Stube und blieben dann an der kleinen Mutter hängen.

»Sag's,« bat sie auf einmal wimmernd, und dann kam ein Gestammel, von dem Heinz nur das eine Wort verstand: Christiane. Aber dieses Wort schien eine geheimnisvolle Macht über den Knecht zu haben. Er riß sich zusammen. Das Vogelartige seines kleinen Kopfes trat plötzlich scharf hervor, in seine Häßlichkeit kam etwas wie Linie und Charakter. Zu dem Weiblein hingewandt, als sei kein Besucher da, sagte er heiser: »Sie ist selber hinein. Angst habe ich ihr machen wollen. Den Teufel hat sie im Leib. Den Hund hat sie auf mich gehetzt.«

Heinz hatte ein fast unheimliches Gefühl. So, als sei eben ein sonst stummes Tier in der Erregung sprechend geworden. Er mußte sich Gewalt antun, um seine Sache weiterzuführen.

»Um ihm Angst zu machen, treibt man kein Kind ins eiskalte Wasser,« sagte er drohend. 218

Der Knecht schaute ihn an. Hämisch fast. So, als habe er das Schlimmste nun hinter sich und fürchte das Weitere nicht mehr. »Selber ist sie hinein. Vor mir geht sie in die Hölle. Da braucht's nicht viel.«

Die verhaltene Genugtuung, die Heinz aus des Menschen Stimme zu hören glaubte, brachte ihn in Zorn. »Dich freut's wohl noch,« fuhr er ihn an, »du bildest dir etwas darauf ein, wenn eine vor dir in den Tod geht! Hast keinen Finger gerührt, ihr zu helfen.«

Der Knecht öffnete ein paarmal den Mund. Es sah aus, als ringe er nach Luft, oder nach Worten, die nirgends für ihn zu erhaschen waren. Fast wie das eines Toten, war sein Gesicht. Dann ächzte er laut und schritt schwer nach der Türe, die schmetternd hinter ihm zufiel.

Eine dumpfe, beklemmende Stille war in der Stube. Dann schaute die Alte auf und fing eintönig zu reden an. Nicht wie für den Besucher, sondern für die eigene bekümmerte, leidvolle Seele.

»Das ist, weil ihm alles wieder einfällt. Weil sie immer wieder aufsteht vor ihm, die Christiane, weil sie ihn nicht fahren läßt. Er hätt' der Eva nichts getan, aber den Hund hätte sie nicht auf ihn hetzen sollen. Das ist's – den Hund – man hetzt nicht den Hund –« 219

»Was ist's mit der Christiane?« fragte Heinz in das Murmeln des Weibes hinein.

Sie schaute auf mit einem so verlorenen Blick, als komme sie aus weiter Ferne her. »Mit ihm gegangen ist sie zwei Jahre lang.«

»Und dann?«

»Dann hat sie vielleicht gesehen, was die Eva gesehen hat.«

»Was hat die Eva gesehen?«

»Daß er aussieht wie ein Vogel im Bilderbuch. Ins Wasser ist sie.«

Der Horchende wußte nicht, warum ihn auf einmal das dunkle, fremde Leid dieser fremden Menschen so aus der Nähe angrinste.

»Darum sei sie dann ins Wasser, meint Ihr?« fragte er nach langer Stille.

»Der Herrgott weiß es,« murmelte das Weib, »was zwischen zweien ist, sieht kein dritter.«

Der Besucher, der als Ankläger, als Richter gekommen war, spürte, wie ihm langsam der Boden unter den Füßen entwich.

Ja, den Hund hetzt man nicht auf einen Menschen, der eine Last, ein Leid, groß und dunkel wie der Tod, in seinem dumpfen Herzen herumschleppt. Aber was konnte die Kleine davon wissen! Was wußte er selbst davon! Man muß sich an die Dinge halten, 220 wie sie sich darbieten, sonst gerät man ins Grund- und Uferlose. Er redete sich zu, er rief sich ins Gedächtnis, wie das spielende Mädchen mit gellendem Schrei vor dem Gefürchteten ins eiskalte Wasser lief; wie sie daheim in Fieberglut lag, wie der Tod an ihrem Bett stand!

Aber über all das schaute der Gedanke herüber: ›Man hetzt den Hund nicht auf einen, der viel Leid trägt.‹

In sich zwiespältig geworden, von Unruhe, fast von Reue gefoltert, wandte er sich zum Gehen.

Das Weiblein trat mit ihm in den jetzt völlig dunklen Flur, in den durch die offenstehende Türe die Kälte von der Gasse drang.

»So macht er's,« klang es aus dem Mund der Fev, »stürzt nur so fort wie ein Narr, tut keine Tür zu.«

Über der Gasse streckte ein dunkles Baumgerippe die Äste in die sinkende Nacht. Die Alte trat neben Heinz und deutete hinüber. »Dort hat der Jammervogel geschrien. Ist gut wissen, daß etwas an die Eva kommen mußte; sie hat ihn zuerst gehört.«

Der Jammervogel! Das war auch so ein Wort, das immer wieder in den Fieberreden der Kleinen auftauchte.

»Was ist's mit dem Jammervogel?« fragte Heinz leise. 221

»Sie müssen's nicht wissen wollen. Das Lachen vergeht einem.« Trüb murmelte es das Weib.

»Weiß es Eva?«

Die Alte gab lange keine Antwort. Ihr fiel wohl ein, daß so manches Wissen der Kleinen nicht Kinderwissen sei, und daß sie selbst ihr redlich Teil Schuld daran habe.

»Kann sein,« sagte sie dann vorsichtig. »Sie horcht auf alles, und sie fragt um alles, und schreien hat sie ihn hören mit ihren guten Ohren, schon vor mir.«

»Wie schreit er denn, der Jammervogel?« wollte Heinz wissen.

Die Alte trat zurück in den dunklen Hausflur, als solle der Laut nicht auf die Gasse dringen. Und so, aus der Nacht heraus, klang ein furchtbar klagender, mit einer besonderen Kunst nachgeahmter Vogelruf auf: O – je, o – weh!

Heinz horchte und spürte, wie ein schweres Grauen ihm über die Seele lief. Eine fremde, dunkle, unbekannte Stimme rief da, die das kleine, alte Weiblein gar nichts anzugehen schien, die aus einer Ferne, einer Tiefe daherkam, in der alles Leid, aller Jammer zu Hause ist.

Er verstand plötzlich, warum die Fev in Meßberg für eine Hexe galt. Und nun hörte er, wie sie in 222 ihre Stube trat und die Tür verriegelte, als hätte sie des Besuchers vergessen.

Langsam, in tiefen Gedanken, wanderte er heimwärts. Was am Sonntag geschehen war, hatte sich für ihn geklärt; aber vieles Dunkle und schwer zu Durchschauende war dafür an ihn herangetreten.

Da und dort fiel der Schein einer Lampe durch unverhangene Fenster auf die Gasse. Wie ein wissend Gewordener spürte er, daß in allen diesen niederen Stuben sich Schicksale abspielten, daß das scheinbar so glatte Meßberger Leben überall seine Untiefen und Strudel, seine Brandungen und Strömungen hatte. Und daß überall Schifflein in schwerem Kampfe standen.

War es des Jammervogels Ruf, der ihm die Seele geöffnet hatte?

*   *   *

Auf leisen Sohlen kam der graue Tag herauf. Heinz schaute ihm mit wachen Augen entgegen und dachte, daß heute Heiliger Abend sei.

Aber es eilte ihm nicht, aus dem Bett zu kommen. Keine drängende Freude, keine ungeduldige Erwartung trieb ihn auf. Still schaute er in die Dämmerung, aus der sich nach und nach die Gegenstände lösten, als werde ganz langsam ein verhüllender Schleier zurückgezogen. Aber nicht die nahen Dinge 223 stiegen vor ihm auf und wurden ihm bewußt, sondern vergangene Morgenfrühen.

Weißt du noch, Justus, wie unsere Betten nebeneinanderstanden in jener langen, schmalen Stube, vor deren Fenster die Eisenbahnzüge vorüberdonnerten?

Wie wir dann an einem Morgen aufwachten und wußten, daß Weihnachten sei! Aber jedesmal war etwas da, was über unsere freudehungrigen und sonst immer fröhlichen Bubenherzen einen dunklen Mantel breitete. Wir konnten nicht aufjauchzen, nicht in heller Lust aus den warmen Kissen fahren und dem Tag entgegenjubeln. Still lagen wir nebeneinander und sahen etwas, was uns verstummen machte Jahr um Jahr.

An einem Heiligen Abend früh war unsere Mutter gestorben. Der Glanz der Kerzen hatte am Abend über ihren Sarg hingestrahlt. Sie hatte das gewollt. Er sollte nicht dunkel sein für uns, dieser Abend, der allen leuchtet; ihr Gehen sollte uns die Weihnachtslichter nicht auslöschen. Weißt du noch, wie wir neben ihrem Bett standen, das doch ein Sarg war?

Bett und Sarg! Wie unfaßlich, wie geheimnisvoll spielte das lange Zeit in meinen Gedanken durcheinander! Du, Justus, der um vier Jahre Ältere, warst vielleicht klüger; aber ich konnte Bett und 224 Sarg nicht auseinanderhalten. Ich weiß noch, wie ich von da an manchen Abend in mein Gitterbettlein stieg mit dem Gedanken, mit der leisen Furcht, es könnte über Nacht etwas Blumengeschmücktes, Feierliches daraus werden, in dem ich ganz still und reglos liegen müßte!

Über den Heiligen Abend breitete sich für uns ein Schleier. Weißt du noch, Justus, wie wir beide jedes Bilderbuch, jeden Wiegengaul, jede Trompete erst nach ein paar Tagen recht eigentlich in Betrieb nahmen! Wie wir vorher diese Dinge nur aus der Ferne zu lieben wagten, weil etwas in uns war, das die laute Freude scheuchte! Aber trotz allem war für uns das Fest nicht um seinen Glanz gebracht. Es war nur ein ganz anderer Glanz als der, den die übrigen kannten. Hast du dir das auch im Herzen bewahrt, Justus, diese heimliche, fast stolze Gehobenheit, weil unser Weihnachten ein so besonderes Weihnachten ist? Es ist schon etwas daran: Wen das Leid anrührt, der trägt einen heimlichen Stern um den Hals! Aus Süß und Herb, aus Trauer und Freude gemischt ist uns für alle Zeit Weihnachten, und das gibt die edelsten Feste! –

Plötzlich richtete sich Heinz auf. Etwas wie ein Fanfarenton war ihm zwischen die leise spielenden und ziehenden Gedanken gefahren: Eva! 225

War das heute auch noch da, was gestern aufgetaucht war? Stand es nun fest, unwiderruflich, unwiederbringlich? Sein Herz klopfte wild in Schrecken und Angst, seine Augen starrten hinaus in den grauen Tag.

Was hatte er gestern abend gesagt, der alte, plumpe, bärtige Doktor? –

Eine Lähmung sei da, eine Lähmung auf der ganzen linken Körperhälfte?

Wahnsinn! Das konnte, das durfte doch nicht sein!

Eva, dieses bewegliche, behende, zierliche Geschöpf, dieses flinke Ding, das man im Dorf das Hexlein nannte, sie konnte nicht gebunden werden von so unheimlicher, grausamer Fessel!

Es mußte vorübergehen, es konnte vorübergehen, hatte der Doktor gemeint. Vielleicht ganz bald schon. Vielleicht in Jahren.

Und wenn es nicht vorüberging? – Grinste nicht das hölzerne Schifflein aus allen Ecken? – Siehst du, wie du hineingegriffen hast in ein Menschenschicksal, und dein Griff war Unheil! Übernimmst du sie nun, die Verantwortung, wie du lachenden Mundes gesagt hast? Kannst du deinen Kopf aus diesem Schlingwerk durcheinanderlaufender Fäden ziehen, ohne daß dir das Blut über die Stirne läuft? 226

Er stand auf und kleidete sich an. Bleich und gealtert war sein Gesicht, aus seinen Augen blickte die schwere Sorge.

Am Frühstückstisch wußte Tante Dine noch nichts Neues von drüben.

Die drei Menschen saßen still nebeneinander, eingesponnen in Erinnerungen, von dem Schatten des Einst und Heute stumm gemacht.

Wieder und wieder mußte Heinz auf den Vater schauen. Man sah, daß seine Gedanken weit fort waren. Aber heute nicht bei Büchern und Gelehrsamkeit, sondern wohl bei dem fernen Frühling und dem kurzen Sommer seines eigenen Lebens. Wie von innen her geheimnisvoll erhellt war das schmale, blasse Gesicht, und in den Augen glänzten fremde Sterne.

Daß er, Heinz, das früher nie gesehen hatte!

Er grübelte vor sich hin. Es war ihm, als sei er jetzt erst für irgend etwas reif geworden, jetzt erst zum Mann erwacht.

Aber kein Stolz, kein übermütiges Kraftgefühl quoll in ihm auf, wie er es sonst oft empfunden, wenn er etwas erreicht oder eine Etappe seines jungen Lebens hinter sich gebracht hatte. Eher griff ihm jetzt Bangigkeit ans Herz und ein Zögern wie vor Toren, die ins Ungewisse führen. 227

Tante Dine rückte den Stuhl. »Entschuldigt,« sagte sie, »ich muß jetzt wissen, was drüben los ist. Bleibt ruhig sitzen, bis ich Botschaft bringe.«

Sie horchten ihr nach, wie ihr flinker Tritt auf Flur und Treppe verhallte, und wie die schwere Haustüre ins Schloß fiel. In heimlicher Scheu trafen sich dann die Blicke der Männer. Sie fragten einander ohne Worte: Fürchtest du – –?

Und nun stand der Vater auf und trat ans Klavier. So selten tat er das, obgleich er gut spielte und im verborgenen Grund seines Herzens von einer Zeit wußte, da die Musik gleichstark nach seiner Seele gegriffen hatte wie der andere Drang, dem er dann gefolgt war.

Er schlug den Deckel auf und griff zu einem leisen Lied in die Tasten. »Das ewig Licht geht da herein, gibt der Welt ein'n neuen Schein. Es leucht't wohl mitten in der Nacht und uns des Lichtes Kinder macht. Halleluja!«

Mit seiner bedeckten, weichen Stimme sang er den alten, innigen Vers, und Heinz fühlte, wie ihm die Lippen zitterten, als er einzufallen versuchte.

Schon sanken des hageren Mannes Hände von den Tasten; er saß abgewendeten Kopfes und schaute in den grauverhangenen Tag hinaus. 228

Auf einmal stand er auf. »Ach, Heinz,« sagte er, »wenn das nicht wäre, das ewige Licht, das der Welt den neuen Schein gibt!«

Auch der Sohn stand jetzt auf. Neben seiner kraftstrotzenden Gestalt sah der Vater wie verfallen aus. Es blieb ganz still in der Stube. Heinz hatte ein Gefühl, als drücke ihm eine Hand die Kehle zu, und wenn er sich dagegen wehren würde, müßte ein Schrei herauskommen.

Dann horchten sie wieder und warteten. Und dann kam Tante Dine und sagte – ach nein, sie sagte nichts. Sie sah ganz bleich und fremd aus und atmete schwer. Und dann verzog sich ihr Gesicht wie bei einem Kind zum leisen Weinen. »Sie ist gelähmt.«

*   *   *

Gegen den Abend lief Heinz hinaus, dem Fluß zu. Grau und still war die Welt, und sie kam ihm abgeschlossen und in sich gerundet vor. Es lag nichts mehr darüber hinaus; der fast zum Greifen nahe Horizont umfaßte alles Seiende wie eine gefüllte Kugel, die im Leeren schwebt.

Im Frost der vergangenen Tage zusammengesunken waren die Schneemassen. Nicht mehr weich und üppig überquellend deckten sie Felder und Wege. Hart und harsch sahen sie aus, streng und gefestigt, ein Panzer des streitbaren Winters. 229

Unter dem niederen Himmel zogen Rabenscharen dahin. Die schwarzen Flügel rauschten hörbar wie ein Strom über dem einsamen Menschen. Ein Eisvogel streifte schillernd am Weg entlang und über das Feld hin dem Wasser zu.

In Heinz war Andacht und Stille, wie er sie nie gekannt. Strömte sie ihm aus dieser verstummten Welt entgegen, oder trug er sie heraus zu ihr? Er wußte es nicht; er kannte sich in sich selbst nicht mehr aus.

Langsam und versunken wanderte er weiter, nichts suchend und ohne Weg. Da kam er an die Hecke von Johannes Straubs Obstgarten, dort zirpten und schimpften Goldammern, als ärgerten sie sich über sein Kommen.

Er blieb stehen und sah den Vögeln zu, wie sie flink und fröhlich zwischen den kahlen Ruten der Hecke huschten. Früher hatte er eigentlich nie Vögel beobachtet. Andere Dinge hatten ihn hingenommen. Die feinen und strengen Gesetze der Mechanik zu errechnen, sich zurechtzufinden in Physik und Mathematik, das war seine liebste Welt gewesen.

Nun sah er plötzlich in eine andere hinein. Es war, als sei eine nie erblickte Türe vor ihm aufgegangen, durch die ein fremdes Land zu sehen war. An fernen Weihnachten in der Stadt hatte Tante 230 Dine ihm und Justus erzählt, daß in der Heiligen Nacht alle Kreatur von einem Engel gegrüßt werde, der da verkündige: »Auch euch ist heute der Heiland geboren.« Und das Kommen des Gottmenschen sei ein Tag des Glücks und der innersten Verwandlung für jedes irdische Geschöpf, ja für die mütterliche Erde selbst. – Für ein schönes Märchen hatten er und der ältere Bruder die Geschichte bald gehalten, und heute durchschauerte es ihn plötzlich, daß dies alles wortwörtlich wahr sei! Ein Wissendsein und eine Ehrfurcht ohnegleichen schien ihm die ganze winterliche Welt auszustrahlen, wie er beides nie unter Menschen gefunden.

Langsam sanken jetzt die Abendschatten. Wie dünne, dunkle Schleier wallte es vom Fluß herauf über die Hecke und über das weite, kahle Feld hin. Sein Blick suchte den Himmel ab. Einen Stern möchte man sehen in dieser Nacht, den Stern, der über der Krippe steht.

Aber eine graue, stumpfe Decke würde heute alles Blinken dort oben verhüllen. Er kehrte sich ab und wandte den Schritt heimwärts. In der Ferne glühte ein erstes Licht auf. Das war im Forsthaus. Seine Augen hingen groß an dem flimmernden Funken.

Dort, ach dort fing die Menschenwelt wieder an und mit ihr die herzbeklemmende Not! Kleine, arme Kleine, wirst du nie wieder mit gesundem 231 Körper die stille, feierliche Herrlichkeit eines Winterabends in der Einsamkeit genießen können? Du, die das einsame Streifen kennt und liebt; du, die auf unbekannten Fährten im Schnee ihrem Schicksal entgegenstapfte, du scheuer, flinker Vogel du? –

Ach, nun wirst du vielleicht immer abhängig sein von andern, immer gebunden, immer an der Kette! Und ich werde draußen sein in der weiten Welt; ich werde dir nicht helfen, werde dein Schicksal nicht mit dir tragen können! Wäre ich doch nie aufgetaucht in deinem Lebenskreis! Hätte ich dir nie ein hölzernes Schiff geschnitzt, nie die lockende Fährte in den Schnee getreten!

Aber du, was brauchtest du auch so scheu zu tun vor mir! Was brauchtest du mich auch zu fliehen wie den Bösen? Darf man mit dir nie einen Scherz machen? Wärst du mein Kamerad geworden, wir hätten manches unternehmen können! Ich hätte schon gesorgt, daß das Schifflein geschwommen wäre! Dann hätte der Semme sich gehütet, dich zu schrecken!

So rechtete er aus der innern Qual heraus mit der Kleinen und vergaß die dämmerige Welt. Da tauchte, von hinten her kommend, eine Gestalt neben ihm auf. Er hatte keine Schritte gehört, hatte nicht geahnt, daß ihm jemand folge. Er schrak zusammen und spürte, wie ihm das Blut jäh nach dem Herzen strömte. 232

Er hob den Kopf und sah in Semmes häßliches Gesicht. »Du!« stieß er hervor, und es war wie Wut in ihm, »du Scheusal kannst einen wohl erschrecken! Was tust du da außen?« –

Der Knecht drehte den langen Hals. Seine Hand, die in einem unförmlichen Handschuh steckte, fuhr nach der Kappe. Etwas Schlotterndes, Unsicheres lag über dem hageren Menschen.

»Wegen den Bäumen, den jungen – die Hasen nagen –« er stotterte und stieß heiser und rauh hervor: »Ist das wahr, daß sie sterben muß?«

In Heinz war noch kein Gleichgewicht. Jäh blieb er stehen. Seine Augen flammten in des Knechtes Gesicht. »Du,« sagte er fast schreiend, »du trägst die Schuld! Wenn sie nicht stirbt, ist sie lahm.«

Da stand auch der Knecht. Schlaff hingen seine Arme. Einer der schweren Handschuhe fiel zu Boden. Ein dumpfer, ächzender Laut klang auf. –

Und nun kam Glockenton vom Dorf herüber. Er zerschnitt das Qualvolle, das zwischen den beiden Männern sich spannte. In hellen Schlägen kam er daher, nicht wie müdes Abendläuten.

Erschüttert lauschte Heinz. War da nicht eine Stimme: »Euch ist heute der Heiland geboren! Dir, mir und aller Kreatur!« 233

Er fühlte plötzlich keinen Zorn mehr. Nur weinen hätte er mögen wie ein Kind. Nach des Knechtes Handschuh bückte er sich und reichte ihn dem Erstarrten.

»Komm,« sagte er leise, »dein Bauer wird auf dich warten. Die Kirche fängt an!«

Aber der Knecht blieb stehen und nahm den Handschuh nicht. Sah ihn vielleicht gar nicht. Es zuckte jetzt in seinem Gesicht. Dann würgte er hervor: »Man soll den Hund nicht auf mich hetzen! Das muß jeder sagen: den Hund soll sie nicht auf mich hetzen! Das ist – den Hund – sie hat – –«

Er schwieg und starrte ins Leere in dumpfer Hilflosigkeit.

Heinz konnte den Blick nicht von dem häßlichen Gesicht wenden. Auch hier dieses Abwälzen der Schuld auf die Schultern der Kleinen! Waren sie nicht Spießgesellen, er und der Knecht, und Eva ihr unseliges Opfer? –

»Semme!« schrie er auf, fast gegen seinen Willen, »du und ich, wir müssen der Eva Arme und Füße sein! Verstehst du das? Wir haben sie auf dem Gewissen!«

Und er ließ den Handschuh wieder zu Boden fallen und schritt dorfwärts, ohne sich umzublicken. 234

*   *   *

Nun trug Eva jahrelang die furchtbare Fessel. Wohl wich mit der zurückkehrenden Kraft die übelste Hilflosigkeit; aber ihren vollen Dienst taten die gelähmten Glieder nicht. Statt daß die einst flinken Füße das emporwachsende Mädchen in ein reicher werdendes Leben trugen, mußte Eva jenes Schwerste lernen, das es für heißes Blut zu lernen gibt: das Abhängigsein von den andern und von den Schwachheiten des eigenen Körpers. Aber den übelsten Dingen auf Erden ist es erlaubt, oder wohl von einem hohen, gütigen Willen geboten, daß sie einen verhüllenden Schleier über dem nackten Antlitz tragen, der ihre furchtbaren Züge mildert. So sah Evas Abhängigkeit zumeist aus, als sei das Mädchen in ihrem Umkreis gebietende Herrin geworden.

Ganz anders als früher stand der Forstmeister jetzt zu seiner Tochter. Sie war ihm nicht mehr der oft freundliche, oft auch ein wenig bange machende Besitz, nicht mehr der heimlich gesegnete Zufallsreichtum seines bestohlenen Lebens, sondern eine Aufgabe, die unvermerkt aus den langen, leeren, von keinen großen Zielen durchleuchteten Tagen seiner dahinschwindenden Mannesjahre heraustrat.

Im äußerlichen Zusammenleben der beiden änderte sich nicht viel. Noch immer war der Mann am liebsten draußen in der Waldeinsamkeit, die ihm vertraut 235 war bis in ihre innersten Heimlichkeiten. Aber die Bilder und Gedanken, die er jetzt durch den stillen, sonnigen Wald oder durch das zornige Rauschen der windgepeitschten Wipfel hintrug, sie änderten sich unvermerkt, und sein eigenes, sich rundendes Leben trat an Wichtigkeit heimlich zurück vor dem Leben des dunkelhaarigen Mädchens, das erst am Beginn stand.

Und wieder, wie vor Jahren schon, nahm der Forstmeister in aller Stille das Suchen auf nach Ursprung und Herkunft dieses Lebens. Aber er tat es nicht mehr wie einst, indem er nur äußerliche Spuren suchte, die immer und immer wieder im Schnee jener Winternacht verliefen, sondern er horchte angestrengt und mit zähem Erwarten in das aufblühende Mädchen hinein; er beobachtete, verknüpfte und folgerte, und wenn ihm auch das gesuchte Geheimnis auf diese Weise sich nicht enthüllen konnte, so enthüllte sich ihm doch etwas von jenem andern Geheimnis: daß eines Menschen Seele ein selbständiges Gebilde ist, das Erziehung und Umwelt nur füttern, aber nicht gestalten können. Wie einst das Kind schwer von außen her zu bändigen und dann doch oft so leicht von innen her zu lenken gewesen war, so sah der Mann heute noch das Mädchen. Ein Abenteurerhaftes spürte er an ihr, das nicht gebrochen und nicht zu zerbrechen war durch 236 die körperliche Fessel, und das doch immer wieder geheimnisvoll und unberechenbar einmünden konnte in klare Gelassenheit und Ruhe, ja in sachliche Nüchternheit, die alle Lagen und alle Dinge ohne umkleidenden Schimmer sah. Oft mußte er an ein Wort der Baltin denken, daß Eva durch ihr Gebrechen behütet sei vor vielem, was das Leben an Gefahren sonst für sie gehabt hätte, und oft war ihm, als sei von diesen Gefahren nicht eine einzige gebannt durch die Lähmung der jungen Glieder, wohl aber durch etwas, was in des Mädchens Seele lag.

Über diesem Erkennen, das ihm durch eine Stimme vermittelt wurde, der er nicht mißtrauen konnte, wurde er ruhig, ja sorglos dem jungen Mädchen gegenüber, wie er früher dem Kind gegenüber sorglos gewesen war. Aber wenn er das Kind der Wildbahn überlassen hatte, so war ihm jetzt nichts angelegener, als für das Mädchen nach ebenen Wegen suchen zu helfen.

Auf seinen einsamen Gängen überdachte er ihr Leben und Schicksal. Einen Beruf suchte er für sie, ein Ziel, einen Inhalt für die kommenden Jahre. Und er fand keinen.

Er wußte: sie war klug, sie lernte leicht, sie sah mit hellen Augen überall das, worauf es ankam. 237 Und doch – alles, was er sich ausdachte, wäre ihm vorgekommen wie eine weitere, eine härtere Fessel für die schon Gefesselte. Über allem, was sie konnte und zu was sie stark und tüchtig genug gewesen wäre, sah er ein anderes schweben, ein Höheres, ein Ungreifbares, das man nicht herunterziehen durfte und konnte, um es zu einem Ziel, einem Beruf zu machen. Er spürte und ahnte das in Eva, was er einmal vor langen Jahren in jenem feinen, schönen Wesen gesucht hatte mit der ganzen Glut und dem ganzen Glauben seiner Mannesseele, und was er dann unter bitteren Kämpfen und Krämpfen hatte verloren geben müssen.

Seine Augen weiteten sich und sahen in die Ferne. Menschenschicksal! Die einen suchen brünstig und glaubensvoll und müssen dann in die Dornen greifen; den andern bieten sich schimmernde Schätze dar, und sie stürmen dann sinnlos in irgendeine Wüste hinein, um allen Reichtum zu vergeuden und zu zertreten.

Würde wohl einmal einer sein, ein Mensch, ein Mann, der Evas Reichtum sah? – Einer, der ihn begehrte und genoß?

Der Forstmeister spürte, wie ihm das Blut in die Stirne trat. Sie war noch ein Kind, und seine Gedanken kamen ihm plötzlich vor wie Kuppler und Verräter. Aber wie er sie auch scheuchte, sie kehrten zurück 238 und riefen ihm zu: Du belügst dich, wenn du sagst, sie sei noch ein Kind! Sie ist ein werdendes Weib, und es ist nichts stärker, nichts reiner, nichts ausgeprägter in ihr als das, was das Weib zum echten Weibe macht: die Fähigkeit, in heißer Liebe und Hingabe die ganze Welt zu vergessen, wenn es der Geliebte will.

Aber dann trat mit der gleichen Stärke der andere Gedanke her: sie kann sich nicht würdelos und sinnlos verschenken. Sie hat einen Kompaß in sich, einen Magnet, der seinen Pol kennt. Sie ist kein Blümlein an jedermanns Weg, keine Beute für schweifende Jäger, und es tut nicht not, sie zu hüten, weil etwas da ist, von dem sie umhütet wird. Es ist nicht Stolz, es ist nicht Klugheit, es ist nicht Erfahrung. Es ist ein Hauch ihrer Seele, den jeder spürt. Nicht jener Hauch von Reinheit, von Kindlichkeit, vor dem zuletzt doch nur die Guten und Starken Halt machen und der deshalb nur so lange Schutz ist, solang nicht die echte Gefahr droht. Nein, es ist etwas anderes, das ich nicht recht durchschaue, etwas, das scheucht, wie eine versteckte Fährlichkeit, wie eine glimmende Lunte, von der man nicht weiß, wann, wo und wie sie zündet.

So grübelte und suchte der Mann, und dann stand er wieder vor dem verschlossenen Tor: Wo kommt sie her, diese Menschentochter, wo liegen die Quellen, die Schlüssel ihres Wesens? 239

Auch der Pfarrer, dieser fast allzusehr auf sich selbst zurückgezogene Mann, versuchte in den Jahren nach Evas Krankheit ihr nahezukommen und in ihr Leben, das jedem verarmt erschien, etwas Bereicherndes hineinzutragen.

Seine seelsorgerliche Begabung war von herber, für die Meßberger allzu keuscher Art. Billiger Trost und wohlfeiler Zuspruch wollten ihm nie über die Lippen. Weil er solche Dinge nicht gab und weil sie für anderes selten Verwendung hatten, hielten ihn die Bauern für arm und nahmen ihn wenig in Anspruch. Wenn sie ihn riefen, taten sie es meist aus dem Gefühl heraus, damit mehr dem Herrgott, diesem an bestimmten Bräuchen zäh hängenden Herrscher, als der eigenen Seele einen Dienst zu erweisen. Darum war auch kein Gefühl der Dankbarkeit gegen den Pfarrer in ihnen. Viel eher die Überzeugung, daß der Herrgott ihnen zu Dank und Wohlgeneigtheit verpflichtet sei, weil sie sich mit ihrem Pfarrer gut zu stellen suchten.

Auch Eva gegenüber konnte der gelehrte und zurückhaltende Herr nicht gegen seine Natur. Und doch war ein zäher, ihn quälender Wille in ihm, der Hartverkürzten irgendeine Entschädigung in ihr junges Leben zu tragen. Scheu und ungeschickt versuchte er viele Wege. Oft meinte er, ans Ziel zu kommen, 240 und mußte dann doch sehen und fühlen, daß er in die Irre ging, oder doch einen zu weiten, zu vielverschlungenen Pfad eingeschlagen hatte.

Er las ihr vor. Dinge, die ihm bei seinen Studien unter die Finger gekommen waren, wie schöne Steinchen oder merkwürdige Gebilde beim Graben in die Tiefe.

Sie hörte zu, sie sammelte, sie bewahrte, sie spielte damit. Aber als einen richtigen Reichtum empfand sie die Gaben wohl nicht. Die Geschichten der Jerusalemshexe und der Hanne, all das Zeug, das die Bauernmägde wußten und erzählten, legte sie in die gleiche Lade, und wenn der Pfarrer meinte, mit schillernden Kleinigkeiten das Mädchen wie an einem vorgehaltenen Brocken in die Tiefen richtigen Studiums hineinlocken zu können, so mußte er sehen, daß sie ihm vor der Zeit umkehrte.

Einmal erst, als sie, lange nach ihrer Krankheit, an einem klaren, stillen Sommerabend ins Pfarrhaus kam, zog der Mann, ohne es zu ahnen und zu wollen, die Lade auf, aus der er einen echten, großen Reichtum in das Leben des Mädchens ausschütten konnte. Einen Reichtum, so tief und unverlierbar, daß Eva ihn gar nicht übersehen und abschätzen, sondern ihn nur wie eine selig Träumende aufnehmen konnte. 241

Das Pfarrhaus war leer an jenem Abend, Tante Dine im Dorf und die Magd im Garten.

Durch die offenen Fenster strömte Heugeruch und der süße, heiße Duft von Rosen und Jasmin und blühendem Holunder.

Mit seinen, vom langen Lesen etwas müden, fast starren Augen schaute Pfarrer Sommer auf, als Eva durch all die offen gelassenen Türen auf die Schwelle seines Zimmers trat.

Sie kam ihm nicht gelegen. Er hatte die tiefe Ruhe unbewußt so sehr genossen, war so sehr in eine andere Welt versenkt gewesen, daß die Störung ihm weh tat. Aber das ging wie ein flüchtiger Schatten vorüber; dann stand er auf und trat ihr entgegen.

Sie wollte wieder gehen, als sie vernahm, daß das Haus leer sei. Aber der Pfarrer hörte die leise Enttäuschung aus ihrer Stimme, und er wußte, daß die Treppe, die des Kindes flinke Füße einst im Fluge nahmen, für das Mädchen jetzt Mühsal bedeuteten, so daß sie nur selten kam. Er trat mit ihr in das Zimmer, wo immer noch wie einst die Zwillinge an den Pfeilern zwischen den Fenstern standen und Tante Dines blanker Nähtisch und das glänzende Klavier, das im Sommer ohne Decke war.

Und ein Zufall – oder was war es doch! – wollte, daß an diesem Klavier der Deckel aufgeschlagen und 242 ein Notenblatt aufgelegt war. Und ein anderer Zufall ließ den Mann sich ans Klavier wenden und fragen: »Soll ich ein wenig spielen?«

Sie hatte schon öfters zugehört, wenn dieses Klavier im Pfarrhaus klang. Tante Dine spielte Lieder darauf: »Leise, leise, fromme Weise.« Und: »Großer Gott, wir loben dich.« Und: »Herbei, o ihr Gläubigen!« Auch einen Walzer konnte sie und eine langsame Mazurka, bei der einem das Herz merkwürdig traurig wurde.

Das war alles ganz schön; aber wenn dann Tante Dine den blanken Deckel wieder über die gelblichen Tasten legte, war in Evas Herzen diese Musik auch eines der schillernden Steinchen, die bei den andern in der Lade lagen, mehr nicht.

An jenem Abend dachte Eva zuerst, es sei ganz gut, wenn der Herr Pfarrer ein wenig Musik mache, bis Tante Dine aus dem Dorf komme. Dann aber – – –

Ach ja, ach ja, wie ist das doch, wenn zu einem Menschen Gott kommt, um Einkehr zu halten? Oder das Schicksal, oder das Große, oder wie man es eben heißen will, das, was einem das Herz ganz und gar umwendet, so daß man es nachher selbst nicht mehr kennt! Daß man neue Augen bekommt, neue Sinne, eine neue Seele, neue Maßstäbe, neue 243 Sehnsüchte und ein neues Wissen um sich selber und die Welt?

Wie ist das, wie ist das? Durch welche Türe schlüpft es herein, dieses Alleswandelnde, das die Schalen von eines Menschen Wesen abklopft und eine neue Periode heraufführt für den ewig in die Ewigkeit hineinwachsenden Erdenpilger?

Hunderterlei sind die Tore, durch die es treten kann, das Allgewaltige. Es kann ein Pförtlein wählen, nicht größer als ein Nadelöhr, und es kann durch hochgewölbte Hallen einziehen. Still und heimlich, wie auf Taubenfüßen, kann es kommen, oder im Donnerton großer Geschehnisse.

Bei Eva kam es an jenem Abend durch des Pfarrers Klavierspiel.

Der Mann hatte seine Brille abgelegt und saß eine Weile gebeugten Hauptes, wie nachsinnend, ja, fast wie betend vor den Tasten. Und dann legte er die Hände darauf und fing erst ganz leise zu spielen an.

So leise war's, so schmeichelnd, wie man ein Kind an der Hand nimmt, wenn man ihm vorsichtig etwas zeigen will, was ihm die junge Seelen packen und erschrecken könnte.

Dann wuchs, dann schwoll, dann reifte das Spiel aus zu einer Fülle, zu einer Höhe, die den Mann selbst mitriß und weiterführte, so daß ihm der Weg 244 unter den Füßen entschwand und seine Flügel, die sonst gefesselt waren und bedeckt mit Bücher- und Amtsstaub, sich weit entfalteten.

Da dachte er nicht mehr an die Besucherin und daß er ihr hatte ein wenig Musik machen wollen. Alle Schönheit, alle Klarheit, alle Freiheit, wie sie bei den großen Geistern und Meistern der Musik zu finden ist, war um seine Seele her wie ein schimmernder Ozean.

Eva saß zur Seite in Tante Dines breitem Stuhl. Ihr dunkles Haar fiel in das schmale, bräunliche Gesicht, die großen Augen waren wie in Verwunderung, ja wie in Schrecken geweitet. An dem Spielenden hingen sie, dessen Züge verwandelt und nicht wieder zu erkennen waren.

Alles Müde, Gealterte, Verkrampfte war daraus weggewischt, und eine selige Gelöstheit, eine unbegreifliche Jugend schien darüber gebreitet.

Dem Mädchen zitterte das Herz. Das Wissen um heilige Wunder, um ewige, glänzende Welten strömte in sie ein wie eine unaufhaltsame Flut. Fortgetragen fühlte sie sich aus aller Enge heraus, versetzt unter die Scharen derer, die kein Amt haben, als mit ihrem Sein und Wesen ein Lobgesang zu sein, ein jubelndes Halleluja!

Als das Spiel verklang, war Evas Gesicht naß von Tränen, um die sie nicht wußte, die sie nicht trocknete. 245

Sie schaute um sich, als komme sie von weit her, und dann stöhnte sie auf, wie unter einem Schmerz. Sprechen konnte sie nicht, und auch der Pfarrer sprach nicht. Es war, als schämten sie sich voreinander und wollten sich fliehen und fänden keine Schlupflöcher.

Das war die Stunde, in der Pfarrer Sommer Seelsorgerdienste tat an Eva.

Wie sehr aber, wie tiefgründig, nachhaltig und schwerwiegend er für des Mädchens Seele gesorgt und an ihr gearbeitet hatte, das ahnte damals weder er noch die Besucherin. Sie wußten beide nicht, daß »ein wenig Musik machen am Sommerabend« der Weg sein kann, den ein Göttliches nimmt, um einzuziehen in ein Menschenherz.

Es war das aber nicht so, als ob von diesem Tag an Eva nun das gewesen wäre, was man musikalisch nennt. Sie wollte kein Instrument lernen und kümmerte sich nicht um Notenzeichen. Ja, sie verlangte kaum, Musik zu hören; sie hatte fast Angst davor, als wisse sie, die Unwissende, von der Nichtwiederholbarkeit gewisser Stunden.

Aber sie trug von dieser Zeit an jenes Geheimnisvolle in sich, das alle Erlebnisse und Geschehnisse erhöht und verklärt, wie ein Kreuz die Notenzeichen. Was ihr von nun an widerfuhr, ob es groß war 246 oder klein, blieb nicht klanglos und stumpf in ihr. Sie lernte erleben. Sie hatte einen Schlüssel zu Türen, die sie zuvor gar nicht gesehen hatte. Es war das in ihrem Wesen aufgewacht, was der Menschen Stammeln das Schöpferische nennt und was nicht, wie ein neuer Besitz, sich anderem Besitztum anreiht, sondern das, wie jenes Weibes Sauerteig, nicht nachläßt, bis daß alles durchsäuert ist. – –

Und nun wäre es leicht, zu sagen, daß das alles auch ohne des Pfarrers Spiel in Eva zur Entfaltung gekommen wäre, und daß ein Abendstündlein am Klavier nichts Schicksalhaftes sei. Aber die das sagen, bedenken nicht, daß ohne das Keimen der kleinen Eichel zwischen dem niedrigen Laub am Waldboden die Eiche nicht wäre, deren Wipfel jahrhundertelang im Winde rauscht, und daß der Immerseiende wie ein Nichtseiender wäre, wenn er nicht wie ein Kommender immer wieder irgendwo Einzug hielte.

Mit der ihm eigenen wortkargen Treue und Zähigkeit, die in Meßberg niemand recht verstand, tat von da an der Pfarrer an dem emporwachsenden Mädchen den besonderen Seelsorgerdienst. Er lehrte sie, ohne Worte dabei zu verlieren, Beethoven kennen und Bach, und neben den ganz Hohen auch andere, die dem Ewigen dienen in reinen Kleidern. Aber die Possenreißer und Seiltänzer auf den lauten 247 Gassen lehrte er sie nicht kennen, denn er hatte längst begriffen, daß Musik kein Gaudium ist, sondern eines der Taue, die die Jenseitigen uns herüberwerfen, damit wir einmal sicher landen können an ewigen Ufern. Um das aber, was seine Musik in Evas Herz und Wesen wirkte und anrichtete, kümmerte sich der Pfarrer eigentlich wenig. Er hatte zu viel Hochachtung für eines jeden Freiheit und war zu sehr auf seine eigene Freiheit bedacht, um ein Seelenschnüffler zu werden.

In anderer Art, als der Vater Sommer, trat der Sohn in Evas heimlichen Dienst.

Er war längst wieder in seinen Studien und Arbeiten. Die laute Stadt brandete um ihn her wie vor jenen Ferien, und seine Träume, seine Ziele lockten hinaus in die Welt. Aber durch das bunte Leben und Locken schimmerte jetzt wie ein ruhiger Hintergrund Meßberg und die Erlebnisse dort.

Der Wintersonntag mit den lautlos treibenden, einsamen Schneeflocken in den grauen Gassen, das Kirchenglockenläuten, der Gottesdienst, bei dem Eva fehlte, die rätselhafte Angst, die wie ein scheuchendes Gewissen war und ihn hinaustrieb auf die verschneite Heide und an den dunkel ziehenden Fluß – alles das war jetzt immer da und verblaßte nicht. 248

Unter die Zeichnungen und Berechnungen von Kolben und Zylindern, Wellen und Schrauben schlich sich immer öfter ein hölzernes Schifflein.

Schuld? Wer spricht von Schuld? – Sühne? Was ist zu sühnen? – Was zeichnest du eigentlich, Heinz? Das gehört doch nicht zu einer Schiffsmaschine? Nein, soll es auch nicht! Einen Fahrstuhl soll das geben, einen Fahrstuhl von ganz besonders leichter und doch starker Bauart. Warum sollte ein Maschinenbauer nicht auch so etwas fertigbringen? Müßte es ihm etwa zu wenig sein, sich damit abzugeben? – Soll es dir zu wenig sein, Heinz Sommer, dort, wo du zerstört hast, auch wieder Hilfe zu bringen? – Unsinn! Wer hat zerstört? Bist du als Kindsmagd nach Meßberg gegangen? Nein, nicht als Kindsmagd. Nur als einer, der die arglose Eva zum Narren hielt.

Die Gedanken kamen und gingen, und der Fahrstuhl entstand unter ihrer zwingenden Herrschaft. Aber als er fertig und nach Meßberg geschickt war, ja, als von dort die Dankbriefe und Lobsprüche kamen, zeigte es sich, daß die Sühnetat und Opfergabe, die Heinz den zürnenden Göttern in der eigenen Brust damit dargebracht hatte, noch nicht groß und wertvoll genug war. Er, der seither so ungestüm und zielbewußt Vorwärtsstürmende, war jetzt ein Unentschlossener, Zaudernder. 249

Wie aus einem heimlichen Verlies, in dem sie eigentlich hätten sterben sollen, tauchten des Vaters Wünsche auf, um die so mancher heiße Kampf geführt worden war: daß Heinz Arzt werden solle, wie viele Vorfahren es gewesen waren.

Heinz, der so hitzig um Selbstentscheidung für sein junges Leben gerungen hatte, ertappte sich jetzt oft auf einem zögernden Erwägen, einer heimlichen Ratlosigkeit.

Statt wie sonst mit gesammelter Seele hinter den Berechnungen und Zahlen höchst zuverlässiger Mechanismen zu sitzen, versank er jetzt oftmals in ein quälendes Grübeln über geheimnisvolle, nicht zu enträtselnde Zusammenhänge im Organismus des menschlichen Körpers, denen er auf die Spur kommen wollte wie einem unerkannten Gesetz der Physik, der Mechanik.

Aus dieser Not heraus beschloß er – wie alle Unentschlossenen – einen mittleren Weg zu gehen und neben seinem eigenen Studium her ein paar Semester Anatomie des menschlichen Körpers zu hören.

Als er dem Vater diesen Entschluß mitteilen und begründen wollte, setzte er sich zu dem Brief hin in einer Befangenheit, einer Ratlosigkeit, die ihm sonst fremd war. Aber beim Schreiben muß wohl sein Schicksal selbst hinter ihn getreten sein, um ihm die Feder zu führen; denn er schrieb Dinge, die er 250 eigentlich gar nicht so gedacht hatte, die ihm selbst überraschend waren.

Er schrieb, daß ihm über der Arbeit an Evas Fahrstuhl der Gedanke gekommen sei, es zu seinem Lebensberuf zu machen, solche Hilfsmittel für körperlich Verkürzte und Verkümmerte zu konstruieren. Vielleicht auch später künstliche Glieder. Er müsse zu diesem Zweck nur erst den Organismus und die Anatomie des menschlichen Körpers studieren und gedenke, wenn es der Vater erlaube, vorerst bei Hempel ein paar Semester zu hören.

Als er so weit war mit seinem Brief, stützte er den Kopf in die Hände. Ein merkwürdiges Gefühl, halb Schrecken, halb Freude kam über ihn. Stand da nicht vor ihm auf dem Papier die Lösung und Erlösung von all den dumpfen Quälereien des letzten Jahres? Vergebens hatte er sie immer gesucht, vergebens mit der eigenen Seele darum gerungen. Und nun war sie da, wie vom Himmel gefallen. Ein Kraft- und Glücksgefühl von einer neuen Art strömte in ihn ein. Es war nicht mehr jener jugendliche Überschwang, der keine Grenzen sieht, sondern ein männlicher Ernst, der sein Ziel erkannt hat und die hohe Macht, die es ihm steckte.

So fing für Heinz Sommer, der sich schon sein Haus, ja einen Palast auf der Insel Ceylon gebaut 251 hatte, ein mühseliges und doch schönes Grundsteinlegen an, ein sehr langsames Vorwärtsschreiten, das die ganze Zähigkeit, Eigenwilligkeit und Unbeugsamkeit dieser Natur erforderte und in Dienst nahm, und sie in diesem Dienst umschmiedete zu Kraft und Zielbewußtheit.

*   *   *

Wie ein Stein, den man ins Wasser wirft, Ringe zieht, die zuvor niemand berechnen kann, so bewirkte Evas Lähmung in ihrem Umkreis manche Verwandlung. Sie selbst aber blieb sich am meisten gleich, oder es war doch das, was sich an Wandlungen an ihr und in ihr vollzog, nicht der Krankheit auf die Rechnung zu setzen. Auch wenn der Hagel der Knospe eine Wunde schlägt, drängt sie noch unerschüttert dem Aufblühen zu.

Jahrelang schleppte man das Mädchen durch Heilanstalten und die Wartezimmer berühmter Ärzte. Sie ließ alles willig mit sich geschehen. Aber wenn sie sich selbst besser verstanden hätte, müßte sie gemerkt haben, daß sie im Grund genommen weniger Genesung suchte als das Neue, das Unbekannte, die fremde Welt und die bunten Erlebnisse.

Sie müßte gemerkt haben, daß unter den knechtenden Banden ihres Leidens das Abenteuernde in ihr immer noch den Kopf hoch trug und die Augen hell und suchend in den Tag schweifen ließ. 252

Und sie müßte gemerkt haben, daß zwar ihr gelähmter Arm und ihr schwaches Bein bei diesen oft mühseligen Kreuzzügen nach dem Heil nicht auf ihre Kosten kamen, daß dafür aber ihre Seele manchen Schleier von verhüllten Dingen zog und aus der freundlichen Dämmerung des Kindseins früh und ein wenig zu unvermittelt in den Tag hineingestellt wurde.

Was wäre von diesen Jahren zu erzählen? Es war da viel Rankenwerk, das um das wahrhaft Schicksalhafte sich herzog, wie die dünnen Triebe der Reben im schwülen Frühsommer, die über die heimlich wachsenden Trauben hängen. Von Fruchtansätzen aber gab es nur ganz zarte und tiefversteckte Spuren: ein paar kleine Lieder, ein kurzes, von seltsamer, wissender Trauer erfülltes Märchen, das Eva niederschrieb und wieder zerriß, als sie merkte, daß Tabea es in der Hand gehabt hatte.

In Meßberg lobte man den Forstmeister, daß er so viel für seine junge Tochter tat. Mit Ehrfurcht sprach man von dem großen Haufen Geld, den all die nutzlosen Kurversuche kosteten. Hinausgeworfenes Geld hatte in den Augen der Meßberger doppelten Glanz und eine besondere Hoheit.

Das aber sagte doch auch mancher, daß es für Eva vielleicht gar kein Glück sei, einen so reichen und 253 freigebigen Vater zu haben. Wäre sie armer Leute Kind, dann schleppte man sie nicht zu den Doktoren, sondern hätte schon lang einmal von kundiger Seite, zum Exempel von der Fev, »dafür tun lassen«.Oder wenn die Jerusalemshexe zu alt und zu kraftlos war für den schweren Fall, so gab es noch andere Leute auf der Welt, die etwas können.

Zäh und beharrlich bohrte sich die Meßberger Meinung durch bis zu Fräulein Tabea. Das schwarzseidene, sonntägliche Kirchenkleid umgab diese mit einem Schimmer von Gläubigkeit, und so wagte sich das Zutrauen einiger Gläubigen an sie.

Die Baltin wehrte nicht ab. Von der Fev zwar wollte sie nichts wissen. Aber was man ihr erzählte von jenem Mann, der eine Kraft hatte, das wollte ihr nicht aus den Ohren. Eine Kraft müßte man haben, um Eva zu heilen, das spürte sie, das leuchtete ihr ein. All das Massieren und Elektrisieren, all die tastenden Versuche, die experimentierenden Eingriffe der heilkundigen Berühmtheiten hatte sie vor ihren Augen zerfließen sehen in Ohnmacht. Das hilflose Von-außen-Her all dieser Heilversuche hatte oft grell belichtet vor ihr gestanden, und wenn sie wieder einmal unverrichteter Dinge mit Eva heimreiste, dann ging es ihr durch den Sinn, ob wohl nirgends mehr auf der Erde ein Teich sei, den ein Engel aufrühre 254 und mit seiner Kraft lade, damit geheilt werden könne, wer zuerst hineinstieg?

So kam ein Tag, an dem Tabea hochgemut, als reise sie dem Wunder entgegen, mit Eva zu dem Mann fuhr, der die Kraft hatte. Der Forstmeister wehrte es nicht. Als ihm die Baltin den Plan vortrug, lief ein Lächeln über sein braunes Gesicht. Aber eher ein trübes als ein ungläubiges.

»Ich weiß, Sie glauben nicht –« tadelte unwillig die Baltin.

Er fuhr sich durch das kurze Haar. »Wer sagt Ihnen das? Ich glaube, daß es eine Kraft geben kann, die Eva heilt.«

»Nun – und –?« forderte die Baltin heraus.

»Eva glaubt es nicht. In Eva schreit nichts nach dieser Kraft. Und solang das nicht aufeinandertrifft, die Kraft und der Glaube, solang der Funken nicht springt – Sie wissen ja – das Neue kommt nicht ohne das!« Er wandte sich ab und ging die Treppe hinunter.

Es war eine weite und beschwerliche Reise, die Tabea mit Eva zu machen hatte. Der Mann mit der Kraft schaute Eva lange schweigend an, so lange, daß ihre dunklen Augen zuletzt unruhig wurden und plötzlich nicht mehr standhielten, sondern scheu nebenhinaus irrten. 255

Da sagte der Mann etwas zu Fräulein Tabea, das streng, fast drohend klang, und er machte dazu eine kurze, wie wegwerfende Bewegung mit der blaugeäderten Hand.

Darüber, vielleicht aber auch aus einem andern, unbekannten Grund, fing der fette, graue Hund, der neben dem Ofen auf einem Kissen lag, und der Eva seither fast ebenso eindringlich gemustert hatte wie sein Herr, ganz toll zu bellen an.

Das Keifende, ja Beschimpfende, das in des häßlichen Tierleins Bellen lag, brachte plötzlich die zuvor scheue und ernste Eva zum Lachen. Unbefangen und hell lachte sie hinaus, denn allen Tieren gegenüber fühlte sie sich frei und unbedrückt.

Da nickte der Mann stärker mit dem Kopf, so daß ihm Haarsträhnen auf die gerötete Stirne sielen, und er bohrte Eva den Finger in die Schulter. »Da sehen wir es! Dieses muß hinaus! Dieser Teufel muß zuerst ausfahren!«

Evas Lachen erstarb jäh. Verwirrung, ja Schrecken stieg in ihren dunklen Blick. Wie lange hatte sie nicht mehr an das unselige Geheimnis ihres Teufels gedacht! Und nun war er offenbar wieder in ihre Augen getreten und hatte sich vor diesem Mann gezeigt, der die heilende Kraft hatte! Ob ihr Teufel es war, der auch heute verhüten wollte, daß sie geheilt werde? 256

Wie harter Trotz flog es durch sie hin. Trotz ihrem Teufel, Trotz aber auch diesem strengen Heiland gegenüber! Sie wollte nichts von ihnen! Nicht von ihres Teufels und nicht von dieses Menschen Gnade wollte sie geheilt sein. Sie kamen ihr beide vor wie einem dunklen Reich entstiegen, einer Welt, die sie hinter sich lassen wollte, um ins helle, weite, selige Leben zu wandern.

Ehe sie ein Wort fand, klang bittend und seltsam bescheiden neben ihr Fräulein Tabeas Stimme. »Sie können doch helfen? Wir sind sehr weit hergereist und kamen mit großen Hoffnungen!«

»Diese da sicherlich nicht!« sagte der Mann mit vernichtender Härte und deutete auf Eva.

Sie wollte die Augen auf ihn richten in ehrlicher Verwunderung darüber, daß und woher er das wissen könne. Da fiel ihr ein, welches Unheil heute in ihren Augen lag. Wie ein stürmendes Gespann, das der Lenker in letzter Sekunde noch zurückreißt, zwang sie ihren Blick an dem Manne vorüber ins Leere.

So lag etwas Unaufrichtiges, ja Verschlagenes über ihr, das ihrem wahren Wesen so fremd und fern war wie Feuer dem Wasser.

Aber der Mann mit der Kraft sah nur den bösen Schein. Er gehörte zu jenen mit Blindheit Geschlagenen, die beständig anklagend und murrend vor 257 den Meister treten: »Siehe, dieser folget dir nicht mit uns! Und die nie auf die göttliche Antwort achten!« »Wer nicht wider uns ist, der ist für uns! Wisset ihr nicht, wes Geistes Kinder ihr seid?« – –

Zu der Baltin hingewendet sagte er: »Es ist immer die alte Geschichte: kein Teufel will aus seinem warmen Nest. Immer schreien sie schon von ferne: Was haben wir mit dir zu schaffen –«

In diesem Augenblick fing der Hund an, sich gähnend auf seinen Kissen zu wälzen. Töne seiner hündischen Langeweile stieß er dabei aus, als wolle er sagen: nun kommt das wieder, was ich schon hundertmal gehört – immer das gleiche – immer das gleiche! –

Zum zweiten Male lachte Eva laut auf. Sie wollte nicht. Sie erschrak selbst darüber und wurde schnell wieder ernst. Aber der abgeschnellte Pfeil läßt sich nicht halten. Das Unheil war geschehen.

»Reisen Sie wieder heim,« sagte eisigkalt der Mann zu der Baltin, »ich darf meine Zeit und meine Kraft um der andern willen nicht an Fälle verschwenden, wie diesen hier.«

»So halten Sie die Sache für hoffnungslos?« fragte nach einer bangen Stille Tabea leise.

Der Mann strich seine Haarsträhnen über den kahlen Kopf. Eine tiefe Aufregung lag über ihm, 258 ja eine Empörung, wie sie Teufeln gegenüber begreiflich ist. »Hoffnungslos?« stieß er hervor, »hoffnungslos ist nichts, solang der allmächtige Gott im Regimente sitzt. Aber hartnäckig ist das mit dieser da! Es muß erst das Herz zermürbt werden, ehe man an eine Heilung denken kann. Heraus muß etwas, heraus.« Und er machte eine Bewegung, als zöge er mit Wucht an einem unsichtbaren Hindernis.

Eva wehrte jetzt ihren Augen nicht mehr, das Schauspiel zu genießen. Sie sah auf den Mann mit Neugierde und Erwartung. So, als sei sie gespannt, was weiter geschehen werde.

Er trat ganz nahe an ihren Fahrstuhl heran. »Meine Tochter, in dir ist der Böse noch mächtig. Daher deine Krankheit. Du kannst wieder kommen, wenn du durch Reue und Buße dem Feind die Herrschaft gekündigt hast. Wir werden für dich beten.«

Und dann, zu Tabea gewendet, die kurze, sachliche Frage: »Haben Sie sonst noch ein Anliegen?«

Und Fräulein Tabea hatte noch das Anliegen mit ihren Schmerzen im rechten Arm. Und sie wurde geheilt. –

Als Eva ungeheilt von diesem Ort zurückkam, wurde beschlossen, nun keine Kur mehr zu versuchen. Sie selbst hatte auf einmal genug der nutzlosen 259 Reisen. Wie eine Trübung legte sich etwas über ihren rastlosen Sinn. Sie sprach nicht über die verunglückte Fahrt. Auf des Vaters Fragen erzählte sie nur von dem gähnenden, sich wälzenden Hund, von dem Lachen, das ihr gekommen sei. Aber in ihren Augen glomm ein trotziges Licht dabei, und dann stieß sie noch hervor: »Meine Tochter, hat er zu mir gesagt. Was braucht er denn zu lügen!«

Der Forstmeister strich ihr über das dunkle Haar. »Lügt man denn, wenn man ›meine Tochter‹ zu dir sagt?«

»Du nicht!« entgegnete sie warm und drückte ihre Lippen auf seine braune Hand.

Die Baltin aber erklärte nach der Reise wieder einmal ihrem Herrn, sie sei jetzt zu der Erkenntnis gekommen, daß die Lähmung zu Evas Bestem sei. Eine Natur wie die ihre sei durch solch einen Zügel und Zaum vor vielem behütet, und kein Mensch könne abschätzen, wohin sich ohne diesen hemmenden Pfahl im Fleisch das schwer zu bändigende Mädchen verirren würde. Man habe wahrscheinlich zu danken, statt zu klagen.

Der Forstmeister sah in sein Buch, aus dem er aufgeblickt hatte, solange Tabea sprach. »Gut,« sagte er trocken, zurückweisend, »danken Sie! Man dankt ohnedies zu wenig und meist für das Verkehrte 260 auf dieser Welt.« Und dann irrten seine Gedanken ab von dem Gedruckten, auf das er niederblickte, und er spürte wieder, wie schwer es sei, einzustehen für ein Blut, dessen Quell und Ursprung man nicht kennt.

Für sich allein wurde Eva eingesegnet, lang hinter den andern her. Die ganze Schar der einstigen Trabanten zusamt der einspännigen Hanne hatte längst den Schritt ins alltägliche Leben und Treiben der Erwachsenen mit jener unreifen und unechten Reife getan, die so viele dann im ganzen Leben zu keiner echten und reifen Reife mehr gelangen läßt.

Mit Kühen und Ochsen fuhren jetzt die Buben, die unter Evas Regiment einst Burgen im Wald gebaut und Schmetterlinge gefangen hatten. Die Burgen und Schmetterlinge waren vor der Zeit in ihnen verschüttet und quälten manche ein Leben lang scheintot unter dem Schutt, besonders die, die hinter Maschinen ihre Tage zubringen mußten.

Die Mädchen, die Sträuße und Kränze gewunden, waren im Dienst in der Stadt oder mußten daheim harte Magdsdienste tun.

Nur Hanne, die in der Stille Getreue, die Ärmste von allen, an deren Kraft und Zeit irdischer Besitz keine großen Ansprüche stellte, war manche Stunde bei Eva. 261

Die alte Großmutter sagte nichts dagegen. Ihr war die blasse, unscheinbare Enkelin wie die zufällige Hinterlassenschaft einer Zeit, an die das Weib fast mit Bitterkeit dachte. Da war Sohn und Söhnerin gewesen, und man hatte von einem Feierabend geträumt. Dann fingen die zwei Jungen an, sich von der Welt wegzuhusten, und sie ließen der müden Alten nichts als das Kind, das keine Stütze, keine Hilfe war.

Sie gab ihm Obdach und Nahrung und schlug sich mit ihrem armen Leben herum, Tag um Tag. An Hanne viel zu denken, hatte sie keine Zeit und kaum Veranlassung. Denn das Mädchen lebte von den frühesten Jahren an lautlos auf eigene Faust. Sie spielte allein, als sei sie nicht allein, sie wuchs einsam heran, als hätte sie immer Umgangs genug. So fand die Großmutter bei Hanne und Hanne bei der Großmutter keine Lücke zu füllen, darum strömten sie auch einander nicht zu und brauchten einander kaum.

Als Hanne nach der Schulzeit anfing, die Kuh zu melken und das alte Häuslein mit dem kleinen, verwilderten Garten zu bestellen, lobte die Großmutter sie nicht darum. Es war alles so selbstverständlich, so schicksalhaft im müden Geist der Greisin. Und als das Mädchen sich dann noch der paar Äckerlein 262 annahm, legte die Alte sich tagelang ins Bett und ließ die Zügel den welken Händen entgleiten, als müsse das so sein.

Wenn sie dann Hanne nebenan in der Stube oder in der kleinen dunklen Küche leise reden oder auch leise singen hörte, kam es ihrem sich verwirrenden und verirrenden Geist vor, als sei nun Hanne die Mutter und sie selbst das Kind, das schlafen soll. Und sie schlief viele Stunden wunschlos und sorglos, eine ans Herz Gottes Gebettete. Dann schlich sich oft Hanne fort zu Forstmeisters Eva.

Dem Band, das diese zwei umschloß, war etwas eingewoben, was sie immer spürten und nie verstanden. Als ob es mit jenem Frühlingstag zusammenhänge, der sie für lange Zeit so scharf getrennt hatte, so fühlten sie, und wußten sich's doch nicht zu deuten. Wußten nicht, daß die eine der andern die von der allgebräuchlichen hürnernen Schale befreite Seele abspürte. Wußten nicht, daß sie beide am äußersten Rand der breiten und staubigen Straße wanderten, auf der die andern gehäuft in der Mitte pilgerten. Wußten nicht, daß ihrer beiden Freude war, von diesem Rand aus dann und wann ein grünes Gras, eine blühende Blume vom Acker und von der Wiese nebenan zu rupfen, was doch eigentlich allen auf der Straße Ziehenden verboten war. 263

Auch das wußten sie damals noch nicht, daß die Wallenden in der staubigen Straßenmitte Hohn und Spott haben für die am Rand Schreitenden und sich bei fremden Blümlein Verweilenden.

An all das dachten sie nicht und wußten nichts davon. Eva wußte nur, daß ihr Hanne erwünschte Gesellschaft war, besonders in Tagen, die, wie es immer wieder vorkam, Schmerzen brachten und ein stärkeres Gebundensein.

Und Hanne ging ins Forsthaus wie zu einem selbstverständlichen Dienst, der ihr zustand und dem sie sich nicht entziehen mochte, den sie sich aber auch von niemand und nichts hätte befehlen oder verbieten lassen. Diese Freiheit, in der sie zusammenkamen, schätzten und schützten die zwei unbewußt mit aller Kraft.

Der erste Frühlingssturm stieß ans Forsthaus, heulte oben in den weiten, schlechtverwahrten Speichern und ließ die mächtigen Bäume im Garten aufrauschen.

Das laute, seltsam klagende Schreien der Enten in Küfer Lutzens Hof klang herein zu den Mädchen, die in Evas weiter Stube am Fenster saßen. Sie hatten beide den Kopf über Bücher geneigt; aber zu beiden drangen dennoch die Laute des Frühlings bis hinein in die jungen Herzen. 264

»Hanne,« sagte plötzlich Eva und hob den Kopf, »sag ehrlich, ganz ehrlich, hast du ihn schon einmal bei mir gesehen?«

Die Blasse sah auf vom Buch. Ihr Blick war noch in irgendeine Ferne verloren. »Was sagtest du?«

»Ach,« klang es ärgerlich und doch verhalten, »du hörst doch nie, was man dich fragt. Ob du ihn schon bei mir gesehen hast?«

»Wen?«

»Wen? Wen? Wen glaubst du wohl?«

Von Hanne wich die fast phlegmatische Ruhe nicht. Sie kannte zu gut die Art der Genossin, die bald hingebendste Freundin, bald strengste Herrin war. Und gerade dem Herrischtun fühlte sich Hanne aus einer Tiefe heraus gewachsen. »Ist es ein Mann?«

Hellauf lachte Eva. Dann besann sie sich. Was war da zu sagen? Wer kennt die Natur der Teufel?

»Halb vielleicht ein Mann, halb vielleicht nicht,« sagte sie tastend und ihren eigenen Worten nachsinnend.

»Oh,« meinte Hanne, »dann weiß ich's schon: Pfarrers Heinz!«

Eine leise Blutwelle lief über Evas Gesicht. Ihre Augen glänzten flüchtig auf. Dann sagte sie fast grob: »Wie kann ich den meinen! Er ist doch weit fort! Du schwatzst dummes Zeug.« 265

»Er kommt aber immer wieder,« beharrte Hanne zäh.

Eva setzte sich aufrecht. Steif, abweisend sah sie aus. »Ach du, jetzt schwatzest du von etwas anderem, weil du es nicht weißt.«

»Was soll ich denn wissen?«

»Mit dir kann man nicht reden. Deine Gedanken gehen durcheinander wie deine Haare.«

Hanne legte jetzt das Buch weg, in das sie seither immer wieder einen Blick getan. Sie lächelte. »O du, jetzt sagst du das zu mir, was Heinz schon oft zu dir gesagt hat. Ich weiß doch nicht, was du von mir willst. Frage deutlich, dann kann ich deutlich antworten.«

»Nichts,« entgegnete Eva trotzig und kindisch, »lies du nur.«

Hanne zog mit unbewegtem Gesicht das Buch wieder zu sich her und las weiter. Man sah, daß sie allen Klippen und Untiefen im Umgang mit der Freundin gewachsen war. Die Blässe ihres Gesichts, die früher dem Kind etwas Krankhaftes gegeben hatte, sah jetzt eher aus wie ein Sippen- oder Rassezeichen, das sich nicht verlieren kann und das nichts Bedrohliches an sich hat. Auch die untersetzte, in ein bedächtiges Wachstum gekommene Gestalt mutete nicht krankhaft an. 266

Doch lag über Gesicht und Gestalt jener unnennbare Stempel, den Leid oder Leiden geheimnisvoll aufprägt und der alles Grobe unmerklich und doch unverkennbar verfeinert.

Am stärksten sprach dieses Besondere vielleicht aus den Augen, die meist groß und ruhevoll, bei manchen Gelegenheiten aber auch eindringend, ja stechend blicken konnten, als komme etwas zu ihnen her, was ein gewöhnlicher Blick nicht sieht.

Jetzt las sie ruhig weiter in ihrem Buch, als kümmere sie sich nicht um die grollende Gefährtin.

»Hanne,« klang es nach einer längeren Stille fast sanft, »sage ehrlich, hast du schon einmal den Teufel in meinen Augen gesehen?«

Hanne schaute auf. »Hast du einen?« fragte sie sachlich und ohne Verwunderung.

Eva nickte. »Jeder Mensch hat einen, sagte mir einmal die Fev. Nein,« verbesserte sie sich, »jeder rechte Mensch.«

Hanne strich über ihr Buch. »Kann sein,« meinte sie gelassen.

Eva starrte hinaus in die Baumwipfel, in denen der Wind spielte. Plötzlich wandte sie den Kopf und schaute Hanne voll, wie herausfordernd an. »Daß du's weißt: ich habe gewiß einen. Ich meine nicht einen mit einem Kuhschweif und Hörnern. 267 So dumm bin ich nicht. Aber ein Teufel ist's. Ich spüre oft, wie er etwas von mir will, was ich nicht soll. Als kleines Kind habe ich ihn schon gehabt. Vielleicht ist er mit mir, mit meinem lebendigen Geist in mir schon auf die Welt gekommen. – Vielleicht« – sie sprach plötzlich ganz langsam und schwer – »hat ihn schon meine Mutter gehabt, als ich aus ihrem Blut geworden bin.«

Eine leise Stille war in der Stube; das Murren des Windes stieß wider die Fenster. Jetzt atmete Hanne schwer auf. »Wenn du weißt, daß du einen hast, was fragst du mich?«

Das unruhige Glänzen in Evas Augen erlosch. Ihr Blick wurde hochmütig. »Ich habe dich nicht gefragt, ob ich einen habe; nur ob du ihn schon gesehen habest?«

»Nein,« sagte Hanne nun auch in anderm Ton, »gesehen habe ich ihn nicht; aber gedacht habe ich manchmal –«

»Was hast du gedacht?« fiel Eva fast drohend ein.

Hanne blätterte in ihrem Buch um ein paar Seiten zurück. Ohne Hast tat sie es, als wolle sie keine Antwort geben und sich nicht mehr um die Gefährtin kümmern. Dann strich sie plötzlich das Blatt glatt und las laut: »Und es begab sich danach, daß er reiste durch Städte und Märkte und predigte 268 und verkündigte das Evangelium vom Reich Gottes, und die Zwölf mit ihm, dazu etliche Weiber, die er gesund gemacht von den bösen Geistern und Krankheiten, nämlich Maria, die da Magdalena heißt, von welcher waren sieben Teufel ausgefahren.« Sie schwieg und sah nicht auf von dem Buch.

Evas Stirne fing langsam zu brennen an. Es lief wie ein leises Zucken durch die weiße, gelähmte Hand, die in ihrem Schoß lag. Gequält brach es nach langer Zeit aus ihr heraus: »Fortgeschickt hat er mich und hat mich nicht heilen können.«

»Wer?« fragte Hanne, ohne aufzublicken.

»Der Doktor. Nein, er ist kein Doktor; er hat nur eine Kraft.«

Hanne tat das Buch bedächtig zu. »Er hat keine Kraft,« sagte sie ruhig, fast trocken, »sonst hätte er dich geheilt, auch wenn du sieben Teufel hättest. Und dann erst recht.«

Eine klare, jähe Sonnenflut übergoß draußen die aufleuchtende Welt. Die Mädchen hoben zu gleicher Zeit die Köpfe, wie angerufen von der Kraft des himmlischen Lichtes.

Und auf einmal hatten sie beide die Augen voll schwerer Tränen und wußten nicht, warum.

Auf schattenlosem Weg schob Hanne Evas Fahrstuhl. Sie hatte dieses Amt an sich gebracht mit der 269 ihr eigenen zähen Ruhe. Daß ihre Kraft zu schwach sein könnte, das ließ sie nicht gelten, und daß sie Schaden nehmen könnte, noch weniger.

Und tatsächlich reichte ihre Kraft überraschend weit, denn Kraft ist etwas, das aus den unbegreiflichsten Wurzeln emporsteigt. War aber doch einmal die Grenze erreicht, dann trat, wie von geheimnisvollen Boten gerufen, Knecht Semme in die Lücke.

Rätselhaft war es, wie der verschlossene und scheue Mensch immer in der Nähe der beiden Mädchen auftauchte, wenn sie in irgendeiner Not waren. Wollte der keuchende Atem Hannes auf steilem Weg versagen, hatte sie sich mit der Freundin zu weit ins Feld hinausgewagt, waren die Pfade steinig und von bösen Furchen durchzogen – Semme war zur Stelle und legte Hand an.

Eva war dem Knecht gegenüber oft wie ein Tierlein in der Schlinge, das alles Sichwehren aufgibt im Gefühl seiner Ohnmacht. Oft aber flammte auch ihr alter Widerwille auf, ihr Hochmut, ihre Härte. Seine Häßlichkeit hatte dann etwas Aufreizendes für sie, oder etwas Schmerzerregendes, wie ein Griff in die Dornen. Sie wollte den Wortkargen längst nicht mehr hassen, sie trug ihm nicht nach, was einstens geschehen war; aber immer aufs neue schreckte sie zurück vor ihm und mußte sich Gewalt antun, 270 um seine Nähe zu ertragen. Manchmal, wenn er ihren Fahrstuhl schob und dabei mit Hanne sprach, horchte sie nach seiner Stimme hin, und es trat dabei eine Gestalt vor ihr geistiges Auge, die freundlich und gut anzusehen war. Diese aus Stimme und Rede herausgewachsene Gestalt war dann für sie Semme, der Knecht; ihm war sie dankbar, ihn konnte sie um sich dulden. Aber dem wirklichen Semme dankte sie selten; sie wandte den Kopf zur Seite, wenn sie ihn nahen sah.

Auf Hannes Gesicht trat der Schweiß, denn am blauen Himmel stand die Frühsommersonne, und Eva war nicht mehr das leichte, zierliche Kind von einst. Sie war an Wachstum Hanne weit voraus und von blühender Gestalt, die nicht ahnen ließ, daß da ein Gebresten war. Sie hielt sich aufrecht, kraftvoll, als liege es nur in ihrem Willen, mit festen Schritten in die Welt hineinzuwandern.

Aber sie konnte auch zusammensinken, als sei ihr Mut und Glauben und alle Freudigkeit hinter dunklen Wolken verschwunden.

Solche Augenblicke fürchtete Hanne. Daran zerbrach ihre Kraft, die manchmal mit der Kraft der Freundin wie aus einer Quelle gespeist schien.

Zum »roten Stein« wollten heute die Mädchen. Das war ein Felsblock, der auf einem öden, niederen 271 Hügel lagerte, rotkörnig, wie frischgebrochen, kaum von Flechten benagt und doch seit undenklichen Zeiten da oben. Man konnte sich nicht erklären, wie er hergekommen war. Aber es hieß, daß unter dem Stein eine Schrift liege aus uralten Tagen, auf der geschrieben stehe, wie man aus Steinen Brot machen, von der Zinne des Tempels gefahrlos herniederfahren und ein Herr der Welt und all ihrer Herrlichkeit werden könne. Wer sie aber hervorheben würde unter dem Felsen, der müßte nach drei Tagen sterben.

So blieb sie liegen, denn keine der drei Künste schien den Meßbergern so kostbar, daß sie ihr Leben darum gewagt hätten.

Aber der Blitz sollte einmal herniedergefahren sein und versucht haben, den Stein von der Stelle zu wälzen. Man hatte damals deutlich eine feurige Hand gesehen. Aber der Stein rührte sich nicht, und der Teufel verlor – kein Mensch weiß, ob mit Recht oder mit Unrecht – an Kredit unter den Meßbergern; denn nur er konnte den Angriff versucht haben.

Einsam und still war es meist um den Hügel her, zu dessen Höhe ein grasiger Weg emporführte. Im Frühjahr suchten ein paar kleine Mädchen, denen der Sinn danach stand, Veilchen an den warmen Flanken. Im Sommer lag vielleicht einmal ein Mähder oder 272 ein Schnitter im kühlen Schatten des Felsblocks. Im Herbst strich ein jagender Sperber, ein auf Mäuse stoßender Bussard über ihn hinweg, im Winter umkrächzten ihn die hungrigen Raben.

Schon in gesunden Kindheitstagen hatte Eva den Hügel mit dem Stein geliebt und ihn oft mit Hanne erstiegen. Die Schar ihrer Hörigen heraufzuschleppen, war ihr nie in den Sinn gekommen, so wenig, wie sie diese Lauten in den Garten des Forsthauses ließ. Allein aber heraufzugehen, hatte sie sich damals gefürchtet, sie wußte nicht, warum.

Immer langsamer schob die ermüdete und erhitzte Hanne den Stuhl. Wie ein versiegendes Rinnsal war ihre Kraft.

Da trat Semme aus einem Heckenweg. Er trug die Haue geschultert, als ziehe er zum Felgen aus. Sein Blick umfaßte ärgerlich die Gruppe. Immer wollten sie mehr, als sie konnten, diese zwei da vor ihm!

»Da!« sagte er, ohne Gruß, mit weiten Schritten hertretend, zu Hanne, und er reichte ihr die Haue. Dann legte er die Hände an den Stuhlgriff. »Wohin?«

»Zum roten Stein!« befahl Eva, ohne sich umzublicken.

Die zähe Kraft seines an schwere Arbeit gewöhnten Körpers gab der Knecht her. Es ging den vergrasten Weg empor, als sei es ein Spiel. 273

Droben im Schatten des Felsens hielt der Stuhl, und Semme stand mit keuchender Brust und hilflosem Blick. War's nun genug? Oder würde sie noch mehr von ihm verlangen, diese Herrische da, die ihm befahl, als stehe er in ihrem Dienst, und die ihn doch nichts anging?

Eva drehte den Kopf nicht. Sie schaute über die sonnbeglänzten Äcker, die im vollen Schmuck ihrer Blüten stehenden Wiesen hin und schien an keinen Dank für den geleisteten Dienst zu denken.

Langsam kam Hanne mit der geschulterten Haue den Weg emporgestiegen. Man sah die Adern an ihrem dicken Halse klopfen. Sie trat zu Semme und reichte ihm sein Gerät. »Vergelt's Gott,« sagte sie freundlich, noch atemlos, »du kommst immer zur rechten Zeit.«

Sie machten das Danken untereinander ab, als sei es eine Sache, die Eva nichts angehe, und diese saß aufrecht, unbeweglich und achtete nicht auf sie. Mit langen Schritten, ohne Weg, eilte der Knecht die Flanken des Hügels hinunter. Man sah seine hagere Gestalt noch weithin auf dem heißen, einsamen Pfad zwischen den Feldern, und zwei Augenpaare folgten ihr, das eine freundlich, das andere scheu.

Neben Evas Stuhl setzte sich Hanne in den Schatten. Ihr Rücken lehnte gegen den mächtigen 274 Stein, dessen Kühle ihr durch die dünne Jacke auf die Haut ging. Wohlig war ihr das. Unbewußt liebte sie das innige und nahe Zusammensein mit aller Kreatur. Nur den Menschen ging sie – ebenso unbewußt – gerne aus dem Weg.

Eva strich ihr weißes Kleid glatt und legte die Hände in den Schoß. »So,« sagte sie zufrieden, »jetzt erzähle!«

Es klang, als sei kein Widerspruch denkbar, und wie Hanne den Kopf hob, wie ein Ausdruck des Nachsinnens, der inneren Sammlung auf ihr bleiches Gesicht trat, das zeigte, daß alles in Ordnung und nach Wunsch sei. »Ich will dir heute das vom Michel Schan erzählen.«

»Wer ist der Michel Schan?«

»Der ist schon lang gestorben. Meiner Ahne ihr Vetter war er und ein Schuhmacher, und du mußt jetzt still sein und mich alles sagen lassen.«

»Ich bin schon still. Aber du mußt auch so erzählen, daß ich alles weiß, und keine erlogenen Sachen, wie für Kinder.«

»Erlogene Sachen erzähl' ich nicht, das weißt du selber.«

»Also fang an!«

»Der Michel Schan mußte das Leder für sein Handwerk immer weither holen, denn er wohnte auf 275 den sieben Höfen überm Wald, wo kein Gerber ist. Da ist er in die Nacht hineingekommen, und es war nur gut, daß er Weg und Steg so gut kannte, denn unterwegs begegnete ihm fast nie ein Mensch, besonders nicht im Winter oder bei schlechtem Wetter.

Darum hat es ihn arg gewundert, daß er einmal in sinkender Nacht auf der Straße – man heißt's beim krummen Holz – eine noble Chaise antraf, die im Schritt den Berg hinauffuhr.

Es hat geregnet und gestürmt, und an der Chaise waren keine Laternen. Der Michel Schan hat bei sich gedacht: Vielleicht fährt der Fuhrmann leer und ich könnte einsitzen, das wäre ein gefundenes Fressen, denn die Nacht ist so, daß man keinen Hund hinausjagen mag. Aber fragen wollte er lieber nicht.

Da rief ihn der Fuhrmann an. »Heda, auch noch unterwegs? Sitzet ein, es hat Platz!«

»Fahret Ihr leer?« hat Meister Schan gefragt.

»Leer nicht,« rief der vom Bock und lachte. »Es sitzt einer drin; aber der schläft und inkommodiert Euch nicht.«

»Ich kann auch auf den Bock sitzen,« sagte Michel.

Aber der Fuhrmann sagte, da werde er nur naß wie eine ersäufte Katze. So stieg Michel Schan im langsamen Fahren in die Chaise und setzte sich rückwärts. 276

Da drinnen war es so dunkel wie in einem Sack. Und wenn Michel nicht mit seinem Stiefel an den Stiefel von einem anderen gestoßen wäre, dann hätte er meinen können, der Wagen sei leer, denn gerührt hat sich nichts. Sein Lederbündelein stellte der Michel zwischen die Knie und dachte, daß es eine ganz schöne Sache sei, in der Chaise zu fahren wie ein Herr. Aber als er ein paar Minuten gefahren ist, wird ihm der Atem eng, er weiß nicht warum. Wie eine große Angst hat sich's ihm auf die Brust gelegt.

Alles ist dunkel und still; nur das Klappern der Fenster vom Fahren und das Herschlagen des Regens an die Scheiben und aufs Dach. Aber der Michel Schan hat doch gewußt, daß etwas da ist. Sein Herz in der Brust hat er klopfen gehört.

Und auf einmal hat er aus der Ecke im anderen Sitz etwas schimmern sehen, wie ein kleines Klötzlein faules Holz, das bei Nacht im Wald auf dem Weg liegt.

Da hat er bei sich gedacht: jetzt ist der andere aufgewacht, und was da so schimmert, das sind dem seine Augen! Aber es hat ihm gegraust, als er das gedacht hat, und er hätte gern seine eigenen Augen zugemacht, wenn er hätte können.«

Die Erzählende machte eine Pause. Ein tiefer, trauriger Ernst lag über ihrem bleichen Gesicht. Es 277 war, als denke sie dem nach, was sie da in einer schweren und ungelenken und doch nicht ungeschickten Weise erzählt hatte. Es trat einher, als löse es sich langsam aus einem Erleben heraus, und sei froh, daß es endlich ans Licht dürfe.

Das Verhaltene, dunkel Heraufsteigende, in Angst und Grauen Übergehende der Geschichte gewann eine unheimliche Wahrheit durch die gemessene Ruhe der Sprechenden, die ihre Worte wie schwere Ackergäule über Furchen und Schollen hinlenkte.

Evas Augen brannten in Unruhe. Die gelähmte Hand, die auf der gesunden im Schoß lag, zitterte manchmal, als laufe ein Strom hindurch. Man sah, welche Spannung über der Lauschenden lag.

Aber sie bezwang sich. In allen Dingen, die ihr wichtig waren, konnte sie sich bezwingen. Dann zog sich das Jähe und Unberechenbare an ihr und in ihr zurück, wie hinter einen Wall, und eine Beherrschtheit und innerliche Zucht trat zutage, die sie plötzlich um Jahre gereift erscheinen ließ.

Mit keinem Wort fragte sie nach dem Fortgang der Geschichte, nur ihre Blicke bettelten darum.

Da wies Hanne mit ausgestreckter Hand nach dem Fuß des Hügels. »Sieh, wer dort kommt.«

Eva fuhr zusammen. Ihr Geist war noch ganz bei dem unheimlichen Fahrtgenossen Michel Schans 278 gewesen. In ihrem jähen Erschrecken streckten und reckten sich plötzlich, ohne daß sie es wußte, die weißen, leblosen Finger der kranken Hand, um sich rasch zur Faust zu krampfen.

Sie reckte sich auf und sah nach dem Manne, der den sonnenbeschienenen Weg heraufstieg, barhaupt und hellbekleidet, wie kein Meßberger herumlief.

Hanne sprang empor und schüttelte den Sand von den Röcken. »Pfarrers Heinz,« rief sie hell, als müsse das erst noch gesagt sein.

Eine jähe Blässe breitete sich über Evas Gesicht. Dann glänzten ihre Augen dem rasch Emporkommenden entgegen. Es war, als wolle ein Freudenruf aus ihrem Mund brechen; aber er wurde nicht laut; er glänzte nur aus ihr heraus.

»Hallo,« rief es auf dem Weg, »hier oben muß ich euch suchen, ihr Ausreißer!«

Die Mädchen blieben stumm. Sie waren beide überrumpelt und befangen. Wie an einer Wegscheide angelangt war ihr Verkehr mit dem Pfarrerssohn. Das Verhältnis der Kinderzeit wollte in der Ferne verschwinden, und in das neue wagten sie noch nicht den Fuß zu setzen.

Heinz kam herzu. Sein gebräuntes Gesicht mit der breiten, freien Stirn und dem bartlosen Mund schien in den letzten, den entscheidungsreichen Jahren 279 wenig verändert. Aber wer die rechten Augen hatte, der mochte sehen, daß jenes Harte, das einst auf des Jünglings Gesicht noch wie ein Zug von Unkindlichkeit ausgesehen hatte, nun dem Manne anstand wie herbe Reife, die früh einsetzte. Die Augen waren lebendig und verstanden zu sehen, zu suchen, aufzunehmen. Ihr Blick konnte sich schärfen, bis er etwas Durchdringendes hatte, etwas nur auf die Dinge Gerichtetes, das wie der Gegensatz war zu jenem Blick, den Hanne manchmal haben konnte, und der sich abzog von den Dingen und etwas ganz anderes zu schauen schien mit seiner stechenden Schärfe.

Heinz trat zu Eva und streckte die Hand aus. Aber er zog sie wieder zurück und sagte, wie erschrocken: »Du bist ja ein Fräulein geworden. Ist das, weil du eingesegnet bist? Muß ich nun Sie zu dir sagen?«

Sie schaute ihn an und wußte nicht, wie sehr ihre Augen strahlten. »Ach, das sagst du nur so,« entgegnete sie, und ein kindliches Verlangen, daß das Gesagte Ernst sein möge, klang aus ihrer Widerrede.

Mit einer drolligen Gebärde hob er die Hand. »Soll ich schwören? Du bist ein Fräulein, und Hanne wandelt in deinen Fußstapfen. Man erkennt euch kaum wieder, und es ist doch noch kein Jahr, seit ich dagewesen. Aber nun sagt: Was tut ihr da oben? 280 Es ist doch für Hanne eine Quälerei, den Stuhl heraufzuschieben.«

»Semme hat ihn geschoben,« sagte Eva leichthin.

Einen sonderbaren Blick wechselten Heinz und Hanne. Einen Blick, der bei Heinz zu fragen schien: Ist es auch wahr, was sie sagt? Und bei Hanne: So stehen sie jetzt miteinander, der Semme und Eva!

Heinz beugte sich über den Stuhl, um nach der Mechanik zu sehen. Aber seine Gedanken streiften den Knecht. Wie einen heimlich Verbündeten grüßte er ihn und wußte es nicht. »Läuft der Stuhl immer noch gut?« fragte er Hanne. Sie nickte. »Er hält, solange sie ihn braucht.«

Eva machte eine ungeduldige Bewegung. Es gefiel ihr nicht, daß die beiden ohne sie und über sie redeten. »Wie kannst du das wissen!« sagte sie unwillig zu Hanne, und dann zu Heinz gewendet: »Sie faselt immer, ich werde bald gesund.«

Das ruhige Gesicht Hannes blieb unbewegt. »Nichts fasle ich,« sagte sie gelassen, »ich weiß nur, daß sie bald gesund wird.«

Heinz sah die Sprechende mit seinen suchenden Augen an. Es ging etwas aus von diesem Mädchen, etwas zum Glauben Zwingendes, hinter das er nicht kommen konnte und das doch stark auf ihn eindrang. »Wie kommst du darauf?« fragte er. 281

Wieder machte Eva ihre ungeduldige Bewegung, unter der der Stuhl zitterte. »Laß sie doch reden, sie will sich wichtig machen vor dir!«

Eine zarte Blutwelle stieg langsam in Hannes Gesicht. Aber sie sagte nichts.

Jetzt nahm Heinz Evas lahme Hand in die seine. Er hob sie empor, er versuchte, die Finger zu bewegen, er prüfte die Muskeln, die Sehnen, die Gelenke an Hand und Arm. Der Anatom tat hier etwas, von dem der Mann nichts wußte, und die Augen der beiden Mädchen folgten seinem Beginnen. Aber plötzlich stieg es dunkel in Evas Stirn und Augen. Sie griff mit der gesunden Hand nach der kranken und entriß sie dem Prüfenden. »Laß doch!« stieß sie hervor, »ich mag das nicht.«

Da zuckte der Mann zurück. Eine Verwirrung überflutete alle drei. Es war, als sei etwas Unsichtbares zwischen sie getreten, ein Fremdes, das ihnen Zwang auferlegte. »Warum kommt ihr hier herauf?« fragte der Mann sie noch einmal. Aber es klang leer, als seien seine Gedanken nicht bei der Frage, die sein Mund formte, um keine Stille aufkommen zu lassen. Auch Evas Antwort klang, als rede nur ihr Mund. »Uns gefällt es da.« Dann nach einiger Zeit: »Hanne kann da oben Geschichten erzählen.« 282

Heinz schaute der Bleichen ins Gesicht. »Kannst du das nicht überall?«

Sie wollte antworten; aber Eva nahm ihr die Mühe ab. »Was glaubst du! Schwatzen kann man wohl überall; aber nicht überall Geschichten erzählen! So wenig, wie überall Musik machen.«

»Wie gescheit du bist,« sagte Heinz, über ihren Eifer lachend.

Sie machte wieder ihre ungeduldige Bewegung. »Hanne, ist das wahr oder nicht?«

Die Bleiche nickte. Ihre Augen gingen von Eva zu Heinz. »Es ist wahr. Wo keine Geschichten zu mir herkommen, da kann ich auch keine erzählen.«

»Und da, wo Hanne keine erzählen kann, da mag ich auch keine hören, weil sie da alle nicht wahr sind.«

»Also dir ist's immer nur um die Wahrheit zu tun?« fragte lächelnd der Mann.

Großäugig sah sie ihn an. »Ja – dir nicht?«

Er lachte. »Ich glaube, ich habe schon manche Geschichte gern gehört, die nicht wahr ist.«

Sie verzog den Mund. »Dann bist du dumm! Das Zeug hat keinen Wert.« Es klang so drollig überlegen aus dem jungen Mund, daß Heinz auflachen mußte.

»Ach du,« sagte er, »weißt du nicht mehr, wie ich dir früher in deiner Krankheit vom König 283 Drosselbart vorgelesen habe und vom gestiefelten Kater und von den sieben Geißlein und vom Dornröschen, und wie dir das alles gefallen hat?«

Sie schaute an ihm vorüber ins Weite. Ihr Gesicht sah auf einmal gereift und ernst aus. »Das ist alles wahr gewesen, wie Märchen wahr sind,« sagte sie langsam und nachdenklich, »es hat auf der Welt jedes Ding seine besondere Wahrheit. Wenn die nicht darin ist, dann hat alles keinen Wert.«

In Heinz erstarb das scherzende Wort. Er spürte, wie dieses weißgekleidete Mädchen nicht nur äußerlich hinausgewachsen und hinausgereift war über die Kindheitstage, sondern wie auch ihre Seele etwas Selbständiges, auf eigene Wege Bedachtes geworden war.

Und wieder wie vorhin, da er ihren Arm, ihre Hand betastet hatte, die sie ihm so jäh entzogen, fühlte er das Beengende, Fremde, das seither nie dagewesen war. »Fahrt ihr bald heim, oder bleibt ihr noch?« fragte er unfrei.

»Hanne ist mit ihrer Geschichte noch nicht fertig.«

»So soll sie weiter erzählen,« schlug der Mann vor und setzte sich in den Schatten.

»Hanne,« sagte Eva gebieterisch, »du bist stehen geblieben, wo etwas geleuchtet hat in der Wagenecke.«

Hanne lehnte sich wieder zurück an den Felsen. Ihre Augen waren eine Weile geschlossen, ihr blasses 284 Gesicht von Ernst überschattet. »Ja, da hat also der Michel Schan gedacht, das seien dem andern seine Augen, und das Grausen ist über ihn gekommen. Aber so recht gefürchtet hat er sich eigentlich nicht, weil er ein frommer Mann war.«

Sie machte jetzt die Augen wieder auf und schaute hell über das sommerliche Land hin.

»Fürchten sich fromme Leute nicht?« fragte Heinz, um seinen Anteil an der Geschichte zu bekunden.

Eva hob ein wenig die Hand, um Schweigen zu gebieten. »Daran kennt man doch gerade die frommen Leute, daß sie sich niemals fürchten,« sagte sie zu dem Pfarrerssohn. Und dann gebieterisch zu Hanne: »Weiter.«

»Michel Schan hat nicht mehr in die Ecke geschaut, sondern nur so gerade vor sich hin auf sein Lederbündelein. Aber da hat er gemerkt, daß im ganzen Wagen jetzt ein bläulicher Schimmer war, und das kam alles aus der Wagenecke, denn die Nacht draußen war stockdunkel, und man hörte auch immer den Regen aufs Dach und an die Fenster schlagen.

Dann hat auf einmal der Wagen gehalten. Michel Schan hat gewußt, daß man noch mitten im Wald auf der langen Steige war. Aber es ist ihm doch gekommen, daß er jetzt aussteigen möchte. An der Türe hat er gerüttelt, aber sie ist nicht aufgegangen. 285 Da hat es aus der Ecke ganz leise gelacht. Er hat ans Fenster geklopft; aber der Fuhrmann hat keine Antwort gegeben. Nur das Keuchen der schweren Gäule hat man gehört. Das war dem Michel Schan ein rechter Trost, denn alles Getier steht in Gottes Hand.«

Sie machte eine kleine Pause und nahm eine Heuschrecke aus dem Gras und setzte sie sich auf den Schoß, wo sie ruhig sitzen blieb.

Die Mädchen und der Mann schauten jetzt auf das kleine, unbewegliche Tier. Das Abenteuerliche, Phantastische seiner Gestalt und seines Aussehens kam ihnen plötzlich zum Bewußtsein. Es war, als ob auf einmal diese Heuschrecke mit zu der dunklen Geschichte von Michel Schan gehöre, als ob sie irgendeine Rolle darin zu spielen habe.

»Nach einer Weile ist der Wagen wieder angefahren. Es hat einen harten Stoß gegeben, und Michel Schan hat gespürt, daß der andere nach vorne und dann wieder nach hinten fällt. Da tut er einen fürchterlichen Schrei – – –«

In diesem Augenblick machte die Heuschrecke einen federnden, jähen Satz auf Evas weißes Kleid hinüber, und diese schrie auf wie ein zu Tod erschrockenes Kind.

Der Mann wollte lachen. Aber seine Augen wurden weit. Er hatte das Zucken gesehen, das die 286 Finger der kranken Hand streckte, das durch Arm und Bein lief wie ein lebendiger Strom, der den Bann der Lähmung für einen Augenblick siegreich zerbrach. Aber wie eine losgerissene Feder schnellte dieser Strom wieder kraftlos zurück, als der Moment des Schreckens vorüber war. Wer ihn hervorlocken, festhalten, dem geheimnisvollen Gefüge des Organismus wieder richtig eingliedern könnte, der hätte Eva geheilt.

Das heiße Suchen nach Möglichkeiten, nach verborgenen Gesetzen sprang wieder in Heinz Sommer auf, und dazwischen ein demütiges, stummes, fast unbewußtes Betteln um Offenbarungen, um einen Weg in diesen Dingen, die doch kein Menschenhirn errechnen kann.

Eva hatte die gesunde Hand vor die Augen gelegt. Jetzt ließ sie sie sinken. Ihr Gesicht war erblaßt und verändert. »Hanne,« stammelte sie, »ich weiß schon; er war tot, der andere.«

Hanne nickte. Ihre ernsten Augen gingen in die Ferne. »Es war der Baron vom Schloß in Lützelbergen. Der Schlag hat ihn gerührt in seiner Kutsche, als er auf dem Heimweg war vom Gaulsmarkt in Oberstätten. Dort hat er zu viel getrunken. Michel Schan hat noch vors Gericht müssen und alles sagen. Jetzt ist er auch schon lang gestorben. Der 287 Baron geht auf der langen Steige. Es hat ihn mancher gesehen.«

»Du auch schon?« fragte Eva sachlich und ernsthaft.

Hanne schüttelte stumm den Kopf und wandte den Blick nicht von der sonnigen Weite.

Das spottende Wort, das Heinz auf die Lippen treten wollte, erstarrte ihm im Mund. So leidvolle, blasse Gesichter hatten die beiden Mädchen, als sei ihnen eine schwere Last auf die jungen Seelen gelegt. Er sprang empor und reckte die Arme. »Gehen wir! Die Geschichte ist doch aus?«

Eva sah ihm ins Gesicht. »Ich weiß gut, du lachst, du glaubst diese Sachen nicht. Freue dich nur, daß du sie nicht glauben mußt.«

»Mußt du sie denn glauben?« fragte lächelnd der Mann und trat neben ihren Stuhl. Sie hob den Blick zu ihm. Es war eine dunkle, fremde Tiefe darin, die er bis heute nie in ihren Augen gesehen hatte. Wieder überflutete ihn ein fast beklemmendes Gefühl, eine schweigende Erkenntnis, daß das Kind Eva unwiderruflich dahin und ein neues, ein anderes Wesen aufgetaucht sei, das ihm neu und anders gegenübertrat.

»Ich muß,« sagte sie ruhig, »wenn ich's nicht müßte, würde ich's nicht tun. Etwas in mir unterscheidet immer zwischen den Dingen, die ich glauben 288 muß, und denen, die ich nicht glauben muß. Ich kann da gar nichts dazutun.«

Hanne schaute herüber. »So ist's bei allen Leuten, nur wissen sie's nicht.«

Heinz zwang sich zu einer Leichtigkeit, einer Überlegenheit, von der er innerlich nichts wußte. »Kinder,« sagte er, »ihr wißt wohl gar nicht, daß ihr da philosophische Blümlein rupft. Ich meine, wir sollten heimfahren, sonst läßt man uns noch suchen.«

Hanne raufte eine Handvoll Gras aus. »Mich sucht niemand,« sagte sie vor sich hin. Da tauchte auf dem Weg die lange Gestalt Semmes auf. Er kam, um nach seinen Schützlingen zu sehen.

Ein Rot wie Freude lief über Hannes, dem Emporsteigenden zugewendetes Gesicht. Das gab ihm eine seltsame Fremdheit und Verklärtheit. Einen Zug, der von Dingen sprach, die noch nicht waren und doch schon heraufzogen.

Heinz sah es und stutzte. Hatte er eben den tiefen Graben erschaut und ermessen, der das Einst der vergangenen Kindheit vom Heute schied? Geahnt hatte er ihn längst und oft; aber es war ihm immer unbequem, unlieb gewesen, ihn anzuerkennen. Er hatte beständig noch Brücken gezimmert, um nach freiem Ermessen herüber und hinüber zu können! Nun aber, als der Knecht grüßend herzutrat und 289 nach dem Griff des Fahrstuhls faßte, brachen auf geheimnisvolle Weise diese leichtgezimmerten Brücken zusammen. »Laß nur, Semme,« sagte Heinz hastig, fast unfreundlich, »ich schiebe den Stuhl selbst.«

Da setzte sich Eva aufrecht, und ihre dunklen Augen strahlten auf, ohne daß sie es wußte. Der Mann aber, der, neben dem Knecht und Hanne schreitend, den Stuhl schob, tat unterwegs immer wieder, als ob er nur Augen und prüfende Sinne habe für die Mechanik des Fahrzeugs. Das war die Brücke, die sein männlicher Stolz doch wieder ins Neue hinüberschlug, weil kein echter Mann sich zugesteht, daß er anders als auf eigenen Füßen über einen Graben komme und je gekommen sei.

In der hellen Stube von Johannes Straubs Weib saß Eva am offenen Fenster. Sie sah auf die hohen, bläulichen Roggenfelder hinaus, die im warmen Frühsommerwind Wellen warfen wie ein bewegtes Meer. Ihr Gesicht war blaß, fast erschöpft von der Anstrengung des für sie weiten Ganges. Das lichtblaue, etwas verwaschene Kleid von fast kinderhafter Einfachheit, das sie trug, stand ihr besonders gut. Zarter sah sie darin aus, abgedämpfter, stiller und feiner geworden. Es war ein Kleid für dieses sonnige Krankenzimmer, in dem nichts Grelles mehr aufleuchten durfte, nichts Lautes und Buntes mehr 290 am Platze war. Seit sie so weit gehen konnte, kam Eva gern zu der ans Bett Gefesselten. Sie war sich nicht klar bewußt, daß sie hier Stützen und Hilfen suchte. Daß sie sich dieser völlig hilflos Hingestreckten gegenüber immer wieder als die Starke, vom Schicksal Begünstigte vorkam und dies heimlich wie eine kräftigende Arznei empfand und genoß. Sie meinte, sie komme zu Johannes Straubs Weib aus nachbarlicher Freundschaft, aus Mitleid und Mitfühlen, und sie kam doch als eine um Wegzehrung Bettelnde.

Hinter den Feldern lief ein Pfad, der meist einsam war, auf dem aber heute allerlei Wandervolk vorüberzog, denn es war der Vorabend der Pfingsten, und die Menschen in den Städten wimmelten wie Ameisen weit hinaus aus ihrem dunklen, höhlenreichen Bau und ergossen sich übers stille, sommerliche Land.

Hinter dem mannshohen Roggen zogen die Gestalten und Gruppen Wandernder vorbei. Man hörte in dem warmen Sand des Weges ihre Tritte nicht, sah ihre Füße nicht über die Erde schreiten. Gleitende, wogende Köpfe, Gesichter, die unbekannt und nicht zu erkennen waren, ein fremder, fast beunruhigender Zug, dem Eva mit großen Augen folgte. Manchmal klangen Lieder auf, die der Wind auf seine Fittiche nahm und herübertrug bis an das Bett in der Stube. 291

Noch durchsichtiger, körperloser als einst war die Frau. Tief in gewölbten Knochenhöhlen lagen ihre Augen, die aufbrennen und wieder erlöschen konnten. Unter der farblosen Haut trat das Skelett des schmalen Gesichtes wie ausgemeißelt hervor. Die weiße Binde um die Stirne fehlte nur in seltenen Stunden.

Draußen erklang es jetzt aus Männerkehlen: »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt.« –

Eva wandte den Kopf nach dem Lager. In ihren Augen stand ein banger Ausdruck. Etwa wie in Mutteraugen, die nach einem schlafenden Kind blicken, wenn ein Lärm aufklingt, der es erwecken könnte.

Der Blick der Frau begegnete dem ihrigen. Dann klang eine tonlose Stimme auf, wie sie zu diesem körperlosen Körper paßte. »Laß sie nur singen, die Gunst Gottes kommt zu jedem. Aber zu jedem wieder anders.«

Evas Rücken straffte sich, ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust. Langsam stand sie auf und setzte sich zu dem Weib auf den Bettrand. »Du bist gut,« sagte sie verträumt, »wie meine Mutter bist du.«

Das Lächeln auf dem abgezehrten Gesicht sah Eva nicht. Ihr Blick ging nach dem offenen Fenster. »Wenn 292 ich deine Mutter wäre,« klang es leise, »würde ich dir noch andere Dinge sagen.«

»Was würdest du mir sagen?«

»Ich würde sagen: wem Gott die Füße nimmt, dem schenkt Er Flügel, und wem Er einen Arm lähmt, dem stellt Er hundert Engel zum Dienst.«

Das Mädchen senkte den Kopf. Etwas Schamvolles lag über ihr, etwas in sich selbst Zurückfliehendes. Man sah das Blut langsam in ihrem blassen, nackten Hals, in ihrem Gesicht hochsteigen. Dann strahlten ihre Augen auf wie von innerer Glut. »Christine; aber du darfst es niemand sagen!« –

Evas gesunde Hand tastete nach den abgezehrten Fingern des Weibes und drückte sie plötzlich heftig. Sie schloß die Augen und sagte: »Manchmal spür' ich's.« –

Das Weib antwortete nichts. Nur die leise zitternde Hand des Mädchens umspannte sie. Ihre Seele lauschte.

»Wie wenn ich Flügel hätte, ist's oft, und wie wenn Engel da wären. Wenn der Herr Pfarrer spielt, kommt's, und aber auch« – – sie stockte, sie schien zu suchen oder etwas in sich zu ordnen – »oft fallen mir Sachen ein – –«

Sie schwieg plötzlich, und dann fragte sie ganz andern Tones: »Hast du das auch schon gehabt?« 293

Die Kranke senkte die dunkelgesäumten Augenlider. Eine unendliche Ruhe und fremde Schönheit lag über ihrem Gesicht. »Ich hab's auch schon gehabt.«

»Von was kommt es bei dir?« fragte Eva leise, fast scheu.

Das Weib gab nicht gleich Antwort. Dann schaute sie auf und sagte, wie nachsinnend: »Bei mir? Ich weiß nicht. Es kann kommen, wenn ich einen guten Tag habe, und es kann kommen, wenn ich einen schlechten Tag habe. Es ist wie selbiger Wind, von dem der Heiland gesagt hat: Man hört sein Sausen wohl; aber man weiß nicht, von wannen er kommt noch wohin er fährt.« –

Sie schwiegen beide lange Zeit. Dann beugte sich das Mädchen zu dem Weib. »Bei dir kommt's vom Gutsein!«

Erschrocken wehrte die Frau. »Sag das nicht! Niemand ist gut, als der einige Gott, heißt es Markus im zehnten, und das ist wahr wie sonst nichts. Vielleicht ist's die Gunst Gottes, daß es zu mir kommt, die rechte Gunst, wie er sie denen erweist, die er nicht mehr in die weite Welt schicken kann. Mit Gutsein könnte sich die kein Mensch verdienen.«

Wieder blieb es lange still, und von den Feldern herein kam das Jubilieren der steigenden Lerchen. 294

Dann zog Eva die Hand zurück und schob sich das wehende Haar aus der Stirne. Ihr Gesicht, ihr Ton waren verändert, als sie sagte: »Vielleicht ist's überhaupt zu gar nichts nutz, das Gutsein und das Gutseinwollen.«

Ernst und still sah die Frau sie an. Dann sagte sie leise: »Ich glaube, zu einem ist's nutz und zu nichts anderem: daß einem davon das Ohr und das Auge aufwacht, Gott ein wenig zu hören und zu sehen. Mehr ist's nicht.«

Eva schlug die Augen nieder. Ein Schauer rann durch sie hin. Plötzlich legte sie wie ein Kind den Kopf aufs Bett. »O du – ich habe Ihn noch nie gesehen und nie gehört.«

Das Weib streichelte ihr Gesicht. »Wenn du doch Flügel spürst und Engel neben dir –«

»Nicht oft,« flüsterte Eva, »und das ist anders.«

»Nichts anderes ist's. Nur das Ganze noch nicht.«

»Wann kommt das Ganze?«

»Weiß ich's? – Kein Mensch kann dir's sagen. Vielleicht kommt Sturm vorher und Blitz und Erdbeben und Feuer. Aber der Herr ist nicht im Erdbeben und nicht im Feuer. Und dann auf einmal kommt ein stilles, sanftes Säuseln und Er geht dir vorüber.«

Eva drückte ihr Gesicht in das Bett; dann hob sie den Kopf und hatte etwas Verstörtes im Blick. 295 »Bei mir ist's nicht so,« sagte sie hart und plötzlich völlig unkindlich, »den Teufel höre und spüre ich manchmal, wie er – – aber du glaubst mir nicht,« unterbrach sie sich, auf die Kranke niedersehend.

Diese schwieg eine Zeitlang. Dann sagte sie ruhig und leise: »Wie willst du ihn denn kennen, den Teufel? Es ist nicht so leicht zu sagen: das ist er!«

»Aber wenn er von mir will, was ich nicht soll!«

»Da müßt' ich erst wissen, was du willst und was du sollst.«

Jähe Glut stieg in des Mädchens Stirne. »Ich meine nur so.«

»Ich meine auch nur so,« gab die Frau zurück.

Wie zornig oder trotzig strich Eva ihr Haar fort. »Spürst du mir nie an, daß etwas Böses in mir ist?«

»Ich frage dem nicht nach. Mir bist du lieb.«

»O du,« klang es leidenschaftlich aus dem jungen Mund, »du hättest mich vielleicht bald nicht mehr lieb, wenn –«

»Immer hätte ich dich lieb,« fiel ruhig die Frau ein.

Es war, als ob diese Ruhe der Kranken bei Eva ein Ventil niederhalte, das unter übermächtigem Druck sich heben wollte. So kam der Ausbruch.

»Wenn ich doch durchgehen möchte und einen Schatz haben und nach keinem Menschen fragen und 296 eine sein wie die Ursa von Seltstein, die mit dem Jägermeister lebte, oder wie Lorenzens Marie, die so alt ist wie ich und mit dem Bürstenbinder fort ist! So – daß du's weißt!« –

Etwas Wildes, Ungezähmtes war es, das aus dem Mädchen herausbrach. Ihr Gesicht war totenblaß, ihre Augen funkelten, Zittern lief durch ihren Körper.

Die Frau schloß sekundenlang die Augen. Wie tiefe Ermüdung lag es auf ihren Zügen. Dann tastete sie wieder nach des Mädchens Hand. »Eva,« murmelte sie, »du bist wie sie, wie unser aller Mutter! Das Gelüst ruht in dir und du willst den Apfel brechen, den du nicht sollst. Vielleicht hat dich darum Gott gebunden mit diesen Krankheitsbanden, vielleicht –«

Eva neigte ihr Gesicht zu der Kranken. Elend sah es aus und zerwühlt und ganz alt geworden. »Sag das nicht, sonst könnt' ich Ihn einmal hassen. Ich will mein Leben, mein unzerstörtes Leben!«

»Du wirst wollen, was Er will, und sonst nichts,« sagte leise, aber seltsam unerschütterlich die müde Frau.

Eva bäumte sich zurück. »Ich will Sein Narr nicht sein; ich will nichts von Ihm, wenn Er so ist.«

In den Augen der Kranken fing ein unbeschreiblicher Glanz an aufzuleuchten. Alle Qual schien 297 weggewischt. »Eva,« sagte sie, »so sprechen wir alle einmal. Nur Einer hat nie so gesprochen. Und wo wir eine leichte Last nicht tragen wollen, da hat Er sein Kreuz geschleppt bis Er niederbrach. Weißt du das nicht?«

Es klang so innig, was sie sagte, so mütterlich, so erlöst und erlösend, daß die durchs Dunkel stürmende Seele des Mädchens davon eingefangen und ins Helle zurückgeführt wurde.

Ihre gesunde Hand legte Eva über die Augen, und bald tropften Tränen durch ihre Finger. Dann schluchzte sie hörbar: »Christine, ich möchte so gerne schön sein und stark und gesund. Glaubst du, daß das Sünde ist?«

Die Frau streichelte ihr leise den Arm. »Ich weiß nicht, was Sünde ist. Früher hab' ich's gewußt. Nun hab' ich's schon lang vergessen. Aber es wird wohl keine Sünde sein, das, was du möchtest! Schön sein und stark und gesund – jeder rechte Mensch muß das wollen! Die wenigsten denken dran. Sie bleiben am liebsten, wie sie sind, und vergessen, sich nach etwas anderem zu strecken. Das ist vielleicht die allergrößte Sünde, das Bleiben, wie man ist – davor soll Gott dich behüten!«

Das Mädchen weinte jetzt still, aber unverhohlen. Es war, wie wenn nach Blitz und Donner der 298 sanfte Regen kommt. Lange konnte sie nicht sprechen. Dann sagte sie, von leisem Schluchzen unterbrochen: »Christine, sag niemand, was du jetzt von mir weißt! Auch dem Bauern nicht und auch nicht der Stasel! Ich hab's noch keinem Menschen gesagt, und du meinst jetzt vielleicht –«

»Gar nichts meine ich,« unterbrach die Frau die Reden des Mädchens, die plötzlich wieder so kindlich, so völlig jung daherkamen nach dem heißen Ausbruch des werdenden Weibes von vorhin, »ich meine nur, du solltest jetzt heimgehen, ich habe es eben donnern gehört in der Ferne.«

Ein Schein von Bangigkeit flog über Evas Gesicht. »Dann muß ich fort, ich brauche lang, bis ich heimkomme.«

»Hast du Angst vor einem Wetter?«

Das Mädchen nickte. »Ja! Du nicht?«

»Ich nicht. Und später, wenn du einmal nichts mehr willst, wirst du auch keine Angst mehr haben.«

Evas verweinte Augen gingen in die Ferne. Aber es war, als durchstreiften sie mehr die Zeit als den Raum. »Dann werde ich immer Angst haben,« sagte sie träumerisch, »ich werde immer etwas wollen.«

»Wart's ab,« meinte mit einem müden Lächeln das Weib, »es soll keiner sagen, was er morgen sein wird, er könnte lügen.« 299

Stärker und näher grollte jetzt der Donner. Noch lachte der blaue Himmel durchs Fenster, und die Lerchen stiegen noch aus den Feldern; aber schon war jenes erste leise Bangen in der Luft, jenes Sinken der Freude, das wie Anfang von Sorge ist.

Der Bauer trat in die Stube. Behutsam und leise, wie er immer hier eintrat, war er gekommen. »So, man ist da?« sagte er statt eines Grußes zu dem Gast. Er half sich auf diese Weise, denn dem aufgeblühten Mädchen gegenüber wollte ihm das Du nicht mehr über die Lippen, und zu dem ungebräuchlichen Sie fand seine Zunge den Weg nur schwer.

Eva nickte. Auch sie war dem Bauern gegenüber niemals ganz unbefangen. Sie hatte seine strenge Herbheit als Kind schon gespürt. Ein Gebändigtsein, ein Untergeordnetsein unter etwas Ungreifbares fühlte sie in der Nähe dieses Mannes. Das lockte und scheuchte sie zugleich. »Bei der Bäuerin bin ich gern,« sagte sie unfrei.

Der Mann lächelte. Es war schön anzusehen, wie die Freundlichkeit über sein dunkles Gesicht hinglitt und die Hartheit darin aufhellte und glättete. Es sah aus, wie wenn die Sonne über Felsen und Waldstreifen hinstreicht und alles Düstere wegscheucht.

»Das glaub' ich,« sagte er freundlich, »bei ihr ist alle Tag' Festtag.« 300

»Warum nicht gar,« widersprach leise lächelnd die Frau, »ein Tag von sieben nur darf Festtag sein, so ist die Ordnung.«

Er sah sie an. Klug und klar trafen die beiden Augenpaare ineinander. »Hast recht. Zuviel Festtage, das gibt Faulenzer. Aber heut wird doch Festtag sein, weil Besuch da ist?«

Die Frau bewegte leise den Kopf. »Erst Vorabend,« sagte sie, nach Eva blickend, »wir warten beide noch auf den Geist der Pfingsten; ist's nicht so, Eva?«

Das Mädchen stand vom Bettrand auf. Ihre Augen flogen nach dem Fenster, wo jetzt der Sonnenschein von den Feldern wich und die Fröhlichkeit erlosch. »Ich muß heim,« sagte sie, sichtbar erregt, »ich kann nicht so rasch gehen.«

Der Bauer deutete nach der Gegend des Himmels, die man vom Zimmer aus nicht sah. »Dort herauf kommt's. Die, die von der verkehrten Seite aufsteigen, werden schwer.«

»Sie fürchtet sich,« erklärte leise die Frau, wie um Schweigen bittend.

Johannes Straub wandte den Kopf nach Eva. »So, so! Ist nichts zu fürchten. Das Wetter machen nicht Menschen.«

»Eben darum,« antwortete wie gegen ihren Willen und mit weit geöffneten Augen das Mädchen. 301

Der Bauer sah nicht, wie sein Weib fast bittend die Hand ein wenig hob. Er musterte Eva und sagte strenger, als er seither gesprochen: »Ich meine, die, die nichts von Ihm wollen, haben immer Angst, Er könne einmal etwas von ihnen wollen. Darüber kommen sie ihrer Lebtag zu keiner Ruh.«

»So ist's nicht bei der Eva,« versicherte seltsam eifrig, fast munter geworden, die Frau, »ihre Nerven sind schwach, das macht's.«

Der Bauer fing an, auf der einen Seite der Stube die Fensterläden zu schließen. Jede Bewegung war Gelassenheit und Ruhe und zugleich zarte Sorgsamkeit. Eine große innere Zucht lag über diesem Mann.

Als er fertig war, sagte er, zu seinem Weib gewendet: »Hast du ihr nicht das Tränklein verraten, das für die Nerven ist wie nichts aus der Apotheke? Im Psalmbuch findet man's, und es heißt: Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzet und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg –«

Ein schwerer, naher Donner erschütterte die Luft. Als er verklungen, sagte der Bauer den Spruch zu Ende: »mein Gott, auf den ich hoffe!«

Mit weißem Gesicht stand Eva neben dem Bett. »Es ist zu spät,« stammelte sie, »heim kann ich nicht mehr.« 302

»Der Semme soll deinen Fahrstuhl holen,« schlug die Frau vor.

»Der Semme ist mit den Fuchsen nach Niederkirch an die Eisenbahn. Er wird naß diesmal,« sagte der Mann.

»Was muß er holen?« erkundigte sich die Kranke.

Der Bauer machte jetzt das letzte Fenster zu und öffnete die Türe. »Der Ochsenwirt hat fahren sollen,« erklärte er seinem Weib, »aber der Handgaul ist ihm erkrankt. Ins Pfarrhaus kommt jemand. Mit der Chaise ist der Semme hinunter.«

»Wer kommt ins Pfarrhaus?« fragte Eva mit flackernden Augen.

»Kann's nicht sagen,« entgegnete der Mann und nahm ein Buch vom Brett an seines Weibes Bett, »der Ochsenwirt hat halt ums Fuhrwerk fragen lassen.« Er setzte sich ans Fußende des Bettes und blätterte langsam suchend in dem Buch.

Es wurde dunkler und immer dunkler in der Stube. Mit schweren Schritten, die sie unhörbar zu machen suchte und die doch auf den Dielen knirschten, kam die Stasel den Flur herunter. Ihr volles, sonst so blühendes und derbes Gesicht war erblaßt, Angst sprach aus ihren Augen. Dicht neben der Türe setzte sie sich in die Stube, die rauhen Hände im Schoß gefaltet. 303

Dieses stumme Kommen und Warten, dieses Sichherdrängen zu den andern hatte etwas merkwürdig Beunruhigendes an sich, etwas, das Evas Herz erbeben machte, sie wußte selbst nicht, warum.

Und auf einmal heulte der Hund an der Kette im Hof in lauten Klagetönen auf, und die dunkle Luft war erfüllt von einem merkwürdigen, fernherkommenden Rauschen, als ob weit weg ein großer Strom über Felsen stürzte.

Der Bauer hob lauschend den Kopf vom Buch. »Das ist nicht gut,« sagte er schwer, »so rauscht das Eis, das aus der hohen Luft kommt, kein Mensch weiß, woher.«

»Lies,« bat leise das Weib.

Er machte den Finger feucht und suchte weiter, und seine Ruhe vermehrte die furchtbare Spannung.

»Lies doch!« brach es aus Eva heraus, die mit fast verzerrtem Gesicht auf dem Bettrand saß.

Ein heftiger Donner rollte, so daß alle Scheiben in der vielfenstrigen Stube zitterten und klirrten.

»Was willst du, daß ich lesen soll?« fragte der Bauer das Mädchen, und er umging das gemiedene »Du« nicht mehr. Hell und fest hingen seine Augen an Evas Gesicht, fordernd, ja fast drohend.

Sie streckte die Hände aus. Beide. Auch die gelähmte, die sie sonst nie strecken konnte. Sie wußte 304 es nicht, und die andern sahen's nicht. Ehe sie reden konnte, fuhr ein feuriger Strahl vor den Fenstern nieder, und ein Donnerschlag erschütterte das Haus in den Grundfesten. Mit einem furchtbaren Schrei sank das Mädchen auf die Knie und vornüber.

Eine Totenstille war dann für Augenblicke in der dunklen Stube, ein Gelähmtsein, das alle bannte. Die Stasel war aufgetaumelt von ihrem Stuhl, dem Manne war sein Buch entfallen, die Frau lag mit geschlossenen Augen wie eine Tote.

Dann rauschte schwere Regenflut und gleich danach prasselnder, klirrender Hagel draußen nieder.

Der Bauer stand auf. Seine schwieligen Hände zitterten, als er sich zu der zusammengebrochenen Eva neigte. Er faßte ihren Arm, er fand Worte des Zuspruchs wie zu einem Kind.

Sie wimmerte leise: »Lies doch, lies doch!«

Da nahm der Mann sein Buch vom Boden auf. Einen kurzen, heißen Blick warf er hinaus in das furchtbare Toben, das ihm die gesegneten, blühenden Felder unbarmherzig zerschlug. Der grimme Schmerz dessen, der gesät hat und nicht ernten darf, griff ihm hart ans Herz. Aber dann fing er zu lesen an: »Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte. Er wird nicht immer hadern, noch ewiglich Zorn halten. Er handelt nicht mit uns 305 nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unserer Missetat.« –

Ruhig, feierlich, tröstlich klang die Stimme des Mannes durch die dämmerige Stube, indes draußen das Dröhnen und Heulen, das Rauschen und Murren, das Schüttern und Rollen in schrecklicher Gleichförmigkeit weiterging.

»Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blühet wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da und ihre Stätte kennet sie nicht mehr.«

Eva richtete sich leise auf wie ein junger Baum, den der Sturm aus den Klauen läßt. Neben dem Bett kniete sie und lehnte den Kopf an die Kissen. Ihre Hände waren gefaltet, ohne daß sie es wußte, ihre Augen glühten groß aus dem blassen Gesicht.

»Lobet den Herrn, ihr seine Engel, ihr starken Helden, die ihr seinen Befehl ausrichtet, daß man höre auf die Stimme seines Wortes! Lobet den Herrn alle seine Heerscharen, seine Diener, die ihr seinen Willen tut!« –

Eine wunderbare Größe und Ruhe strömte durch den Raum. Der ewige Geist war hereingetreten und scheuchte mit erhobener Geißel alles wilde, laute, gefährliche Treiben der Elemente und der niedern Geister der Angst und des Kleinmuts. 306

Draußen murrten, grollten, schütterten hinter dem Getöse des niederbrausenden Hagels die Donnerschläge, ein grausiger Baß unter den oberen Stimmen, aber in der Stube war jener ewige, höchste Klang, der alles zusammenfaßt und auflöst in die Harmonie, die das All trägt und erfüllt.

Des lesenden Mannes Gesicht war bleich und verändert. Bläuliche Schatten lagen darauf, so daß die Züge ganz tief und scharf waren. Klar, ja hart, wie die eines Streiters, klang manchmal die Stimme, und dann wieder konnte sie weich und mild werden wie Zuspruch einer Mutter.

Aus Evas entsetztem Gesicht wich alles Verzerrte. Sie wandte die Augen nicht von dem Lesenden, sie trank ihm Wort und Ton von den Lippen. Etwas ganz Großes blühte vor ihr auf, ein Ahnen von der Macht, die in Seelen wohnt und die zu jedem Sturmestoben sprechen kann: Schweig und verstumme!

Die furchtbare Spannung ihrer Nerven schwand dahin. Ein stolzes Getrostsein ergriff sie, ein Gefühl, wie sie es nie gekannt, nicht einmal bei des Pfarrers schönster Musik. Dort trugen Flügel sie in fremde, schöne Welten, hier schuf etwas die Welt der Schrecken um in eine Welt des Friedens. Dort lernte sie die wonnigste Sehnsucht kennen und hier die heiligste Kraft. 307

Der Mann ließ jetzt sein Buch sinken, sie merkte es nicht. Der Schall der Worte verstummte – ihr Ohr nahm es nicht wahr. Wie eine Entrückte kniete sie neben des Weibes Bett.

Da sagte die Stimme der Stasel – leise und behutsam sollte es vielleicht klingen, und knirschte doch wie zuvor die Schritte auf den Dielen – »Der Semme ist in den Hof gefahren.«

Der Bauer hob den Kopf und lauschte. Noch dauerte, wenn auch mit verminderter Wucht, das Toben draußen an. Dann ging der Mann, gefolgt von der Magd, aus der Stube.

Die Hand der Kranken tastete nach Evas Kopf. Da kam dem Mädchen die entrückte Seele zurück. Langsam, wie aus einem Schlaf heraus, wandte sie das Gesicht der Frau zu, und ihre erstickte Stimme sagte: »Christine – meine Hand kann ich bewegen.«

Wenn sie später an diesen Augenblick dachte, kam er ihr vor wie ein Erleben höchster Wunder. Alles: das Auftauchen und Vorüberschreiten des Göttlichen, das Ausströmen der Kraft, die da erschafft und erhält, die Erschütterung, die Zunichtemachung der tausend Hemmnisse, die dieser Kraft im starren Alltag sich entgegenstellen – all das erlebte sie in diesem einen Augenblick, und ihre arme Menschlichkeit fand 308 doch kein anderes Wort dafür als das fast nüchterne: »Christine, meine Hand kann ich bewegen.«

Die kurzen, kahlen Worte der heiligsten Menschheitsgeschichte, das: ›Und es geschah, da sie hingingen, wurden sie rein‹, oder: ›Alsobald richtete sie sich auf und pries Gott‹ – sie kamen ihr später zusamt ihrem eigenen Wort vor wie die kleinen unscheinbaren Blüten, die auf einem Wasserspiegel schwimmen und denen nur dann und wann ein Wissender ansieht, daß eine starke Pflanze aus oft unbegreiflicher Tiefe herauf diese Blume ans Licht schickt zu einem schüchternen, fast nie verstandenen Zeugnis von ihrem wunderbaren Leben und ihrer wunderbaren Kraft.

Die Augen der Kranken bekamen ihren tiefen, heißen Glanz. Ihre Lippen zitterten und sagten dann laut und klar ins Leere hinein: »Du, Herr!«

Langsam stand Eva auf von der Erde. Wie träumend schaute sie sich um. Ein paar Schritte tat sie gegen das Fenster zu. Dann blieb sie stehen und schlug die Hände vors Gesicht. »Auch mein Fuß ist besser, Christine, viel besser.«

Draußen ließ jetzt das furchtbare Toben nach. Eine graue Regenflut stürzte hernieder, deren Rauschen gegenüber dem Prasseln und Klirren von vorher etwas Beruhigendes hatte. 309

Man hörte im Hof Pferdehufe und Stimmen und das Winseln des Hundes. Dann kamen Schritte die Treppe herauf.

Reglos stand Eva und lauschte. Dann wandte sie sich zu der Frau. Mit einer verhaltenen Stimme, aber unverkennbarem Glück in den Augen, sagte sie: »Pfarrers Heinz ist's.«

Jetzt trat der Bauer wieder in die Stube. Naß und wirr hingen ihm die Haare in die Stirne, seinen triefenden Kittel hatte er abgezogen. Er nahm ein Tuch und trocknete sich das Gesicht. So ruhig geschah das alles, so gelassen, daß auch über Eva Gelassenheit kam. Sie fragte nicht, sie sagte nichts; sie öffnete und schloß nur leise die Hand, die sie so lange nicht mehr hatte öffnen können ohne Hilfe. Vor des Weibes Bett trat der Bauer.

»Den Heinz hat er geholt, der Semme. Die Fahrt werden die zwei ihrer Lebtag nicht vergessen.« Und dann zu Eva: »Drüben ist der Fahrgast, nach dem man gefragt hat. Die Gäule sind in den Hof herein, und Semme hat sie nicht halten können. Ins Pfarrhaus kann man nachher von da aus kommen.«

Das Weib im Bett hob die Hand. »Es ist ihr geholfen, der Eva – besser ist's mit ihr.«

Der Mann schaute auf das Mädchen. Sein Blick bekam etwas Erschrockenes, fast Stechendes, das aus 310 der sonstigen Ruhe und Gelassenheit heraustrat wie eine aufschäumende Welle.

»Geholfen ist?« klang seine kurze Frage. »Dann ist also der Meister vorbeigegangen und man hat Ihn angerührt?« –

Eva senkte den Kopf. Eine Befangenheit, ja eine Not, eine Scham, wie sie sie nie gekannt, kam über sie. Es brauste ihr in den Ohren, als hätte irgendwoher eine Stimme gerufen: »Diese ist eine große Sünderin!« Und sie duckte sich, als ob ein Stein gegen sie fliegen müßte.

Da klang es aus dem Bett. »Was fragst du lang, wenn ihr's doch besser geht!«

Das Mädchen atmete auf. Etwas Drückendes, Verwickeltes war weggenommen. Die Wogen hatten sich über einer unheimlichen Tiefe geschlossen. Auch der Mann sah aus wie entspannt. »Kannst sie bewegen, die Hand?« fragte er freudig und trat ihr nahe. Er nahm die zarten, von der Krankheit her so geschonten Finger in seine harten Hände und lachte kurz und leise. »Wird vielleicht wieder einmal an der Wagendeichsel turnen, das Hexlein. Kommt's nicht über Nacht, so kommt's doch langsam. So etwas läßt nicht nach, bis die Säge durchs Brett ist. Und mit dem Fuß, was ist's mit dem Fuß?« 311

Bleichen Gesichts machte Eva ein paar Schritte gegen das Fenster. Es waren nicht die Schritte einer Gesunden; aber auch nicht mehr die schleppenden Schritte der hart Gefesselten. Sie blieb stehen und drückte die Hände aufs rasend klopfende Herz. Ein Sturm von Gefühlen schüttelte sie, unter denen das mächtigste eine verzehrende Scham war, als stehe sie hüllenlos auf den Gassen.

Und plötzlich fing sie zu weinen an.

Der Bauer tat schweigend das Fenster auf. Ein Strom von herber, kühler Luft drang herein. Aus dem Regenrauschen war ein letztes leises Tröpfeln geworden, ein ausklingendes Pianissimo. Wie Frieden war das nach wildem Kampf. Aber die vorher blühenden, gesegneten Felder lagen zerschlagen unter einer Eisschicht, ein Bild der Verwüstung.

Der Mann bewegte den Mund, als zerkaue er etwas. Er sagte nichts, und doch legte sich's wie Leid über die Stube.

Da klang es aus dem Bett: »Es bricht nichts nieder auf der Welt, ohne daß ein anderes dafür aufstehe.«

Der Mann trat vom Fenster weg. Sein dunkler Blick fiel auf das weinende Mädchen.

»Hast recht, Christine,« sagte er ruhig. »Wenn man mich vorher gefragt hätte, ob ich meinen Roggen 312 hergäbe, wenn Forstmeisters Eva Fuß und Arm wieder brauchen könnte – ein Schuft wär' ich gewesen, wenn ich nein gesagt hätte. Jetzt aber, wenn man mich nicht gefragt hat, will ich auch nicht das Gesicht verziehen. Und ist nicht der Semme wieder da mit den Gäulen? Und ist doch der Blitz neben ihnen herunter, daß sie ihm durch sind, und war kein Halten mehr« – er unterbrach sich und sah Eva in das starre Gesicht – »drüben wartet er und wird heim wollen, Pfarrers Heinz. Geht man mit?«

Das Weib im Bett richtete sich ein wenig auf. Ihre Augen umfaßten das Mädchen, als wollten sie es streicheln und ins Gleichgewicht bringen. »Frag ihn doch, Straub,« bat sie leise, »ob er nicht auch mir Grüß Gott sagen mag!«

Eine Blutwelle ging über Evas Gesicht und wusch die Starrheit fort. Das Kindliche, das Unbewußte trat wieder hervor. »Sicher mag er das,« rief sie warm, als sei die Frage an sie gegangen, »man muß ihn herüberholen.«

Der Bauer ging aus der Türe. Die Frau zog leise ihre Decken und Kissen zurecht und nahm die weiße Binde von der Stirne. Aber Eva legte sie ihr wieder um und sagte aufglühend: »Laß nur! Der Heinz weiß gut, wie das ist, wenn man krank ist.« 313

Dann trat sie hinüber unter das offene Fenster und stand, das Gesicht dem Bett zugewendet, wartend, bleich, schlank in dem Rahmen.

Und nun trat Heinz Sommer auf die Schwelle.

Er trug einen grauen Mantel über dem Arm und den nassen Hut in der Hand wie einer, der in Eile kommt und geht. Sein Gesicht war dunkelgebrannt, wie von einer fremden Sonne, das kurze Haar stand steil über der breiten, freien Stirne, die schmale Narbe auf der Nase trat weiß hervor, ein kleiner Bart deckte, das Gesicht gegen früher seltsam verändernd, die Oberlippe.

Nach dem weißen Bett flogen die raschen, ein wenig scharfen Augen, aber schon wurden sie weitergezogen zu dem hellen Bild im Fensterrahmen. »Eva« – sagte der Mann mit so merkwürdigem, aus einer Tiefe heraufkommendem Laut, daß Johannes Straub und sein Weib sich ansahen wie in Betroffenheit.

Das Mädchen, umflossen von der herben, reingebadeten Luft und durchströmt von etwas, das für sie noch keinen Namen hatte, stand regungslos. Die drei, die nach ihr blickten, sahen plötzlich, daß sie sehr schön war, sehr schön und sehr fremd und verändert.

Aber schon war sie die Alte; nur in Befangenheit getaucht, aus der heraus an allen Ecken die Freude drängte, wie eine Schar Küchlein, die etwas unter 314 die deckenden Flügel gescheucht hat und die es doch nicht lange in ihrem Versteck aushalten.

»Heinz,« rief sie leise, halb scheu und halb keck und mit einem Unterton des Triumphes, und sie streckte beide Hände aus, wenn auch die eine sichtbar mühsam und ungelenk.

Er begriff nicht gleich. Es war, als ob er vergessen gehabt hätte, wie es um sie stand. Dann stieg ein ungläubiges Staunen, ein Schrecken in sein bewegliches Gesicht. »Was hast du, Eva?« rief er und stand vor ihr.

»Ich kann sie strecken,« sagte das Mädchen, und ihre Augen glänzten wie unter Tränen.

»Seit wann?« fragte er und ließ schon Hut und Mantel auf den Stuhl gleiten, auf dem noch das Buch lag, daraus Johannes Straub gelesen hatte. Da wollte sie etwas sagen und konnte doch nicht. Es stand plötzlich wie eine Ungeheuerlichkeit vor ihrem erschauernden Geist, daß der Stunden-, der Minutenzeiger einer Uhr sollte dorthin weisen können, wo die Lichtflut des Ewigen in ihr Erleben hereingebrochen war und nichts mehr Maß und Grenze gehabt hatte.

»Herr Heinz,« kam es vom Bett her, »ihre Nerven – das Wetter –«

Er schaute um. Der Frau streckte er die Hand hin, und sein Gesicht war hell. »Verzeihung! Die Eva – Wie geht's?« – 315

Die Frau hielt seine kraftvolle Hand in ihren abgezehrten Fingern. Sie sah ihn an, bis er – er wußte nicht warum – die Augen niederschlug.

»Es geht ihr besser, der Eva,« sagte sie dann seltsam eindringlich, »und wenn jemand fragt: seit wann? Dann kann man sagen: seit dem Vorabend der Pfingsten. – Nicht, Eva?«

Das Mädchen und der Bauer sahen auf die Kranke. Sie hatten beide ein Gefühl, ein Wissen, daß da hinter einer hörbaren Rede eine unhörbare Stimme sprach. Warnende Worte von den Perlen, die man nie und nimmer verstreut, und von der herben Keuschheit Gottes, der sich heimlich verschenkt, aber nicht öffentlich feilbietet. Und auch Worte von einem verborgenen, seligen Einssein in einer Gemeinschaft, die nichts lösen kann und die eine Sprache hat, die keinem Fremden ein Geheimnis herausgibt, auch wenn sie auf allen Gassen laut würde.

»Ja,« sagte Eva, und ihre tränenvollen Augen gingen heiß in die Ferne, »seit dem Vorabend der Pfingsten.«

Der Bauer trat näher an das Bett. Er nickte ein paarmal mit dem Kopf, wie es seine Art war, wenn er nachgedacht und etwas gefunden hatte. »Hast recht, Christine, seit dem Vorabend der Pfingsten.« – 316

Als in der Nacht nach diesem Tag Heinz Sommer in der kühlen, stillen, von altertümlichen Düften durchströmten Gaststube des Pfarrhauses im Bett lag, fing ein lautloses Schattenspiel von Gedanken und Gestalten vor ihm an, über dem er den hellen Mondschein vergaß, der sich langsam durch die gartenwärts gelegene Stube tastete. Da war – vor wenigen Wochen – eine Fahrt übers Meer, heimwärts, aus einer reichen Zeit des Suchens und Lernens heraus, die ihm in den Spitälern, Schulen und Fabriken Englands geboten worden war. Dann ein Reisen und zum Teil Wandern durch Frankreich, wo er bei dessen Wissenschaft zu Gast kommen durfte. Und dann die Heimfahrt, schnell, überstürzt fast, weil er es immer noch und immer wieder liebte, zu kommen, wenn man nicht auf ihn wartete.

War nicht auf allen Fahrten und Wanderzügen heimlich Meßberg mitgegangen? Das hölzerne Schifflein, auf das er nun schon einmal und scheint's unwiderruflich sein Schicksal verfrachtet hatte! Oder war es denn gar nicht das hölzerne Schiff, das diese Fracht trug? Waren es die zwei Hände, von denen die eine »besser war seit dem Vorabend der Pfingsten«? – Wie seltsam die Frau das gesagt hatte! –

Er stützte den Kopf in die Hand und sah in das Mondlicht. Wie von einer Welle ans Ufer gespült, 317 kam ihm plötzlich der Schlüssel zu Christine Straubs Worten und Wesen zwischen die Finger.

So lange suchte er nun das Geheimnis, wie der Arzt, der Anatom, der Physiologe, der Mechaniker, der Physiker eine im menschlichen Organismus lahmgewordene Feder wieder in Ordnung und zu ihrer Funktion zurückbringen könne.

Er hatte gelernt, bis ihm der Kopf rauchte, hatte zerlegt und zusammengesetzt, gemessen und gezeichnet, gedacht und versucht. In viele Tiefen war er eingestiegen, manchen Berg hatte er erklettert, aber das Geheimnis hatte sich ihm nicht enthüllt.

Aber wenn der »Vorabend der Pfingsten« kommt, wenn die große Kraft heranbraust, wenn sich die Helle des in Zungen zerteilten Feuers am Himmel zeigt, wenn Der vorübergeht, um den das Volk sich drängt in sinnlosem Gewirr, dann kann da eine, die in tiefer Not ist, ihn heimlich, sinnvoll anrühren in zitterndem, noch halb ungläubigem Glauben. Und siehe da – es geht die Kraft von ihm, die »das Wunder« tut, so selig einfach, wie die Sonne eine Knospe wachküßt, daß sie sich öffnet.

Er, Pfarrers Heinz, begriff plötzlich, was er nie begriffen und um was er sich nie gekümmert hatte: was fromm sein heißt! Daß es ein heimliches Ansichreißen hoher und höchster Kräfte ist, ein Griff hinter 318 die Wolken, wo das Feuer wohnt und das wahrhaftige »ewige Leben«, dessen Sein und Wesen kein barmendes Geschwätzlein und keine hohe Rede erreicht und herabholt, sondern nur die Hand, die sich ausstreckt, bald zum schüchternen, sehnsüchtigen Anrühren, bald zum Griff der Gewalt.

Es war ihm selbst merkwürdig, wie klar, ja nüchtern, er das alles plötzlich wußte. Er hatte es sich nicht erdacht, sondern es erschaut, und er hatte nicht einer einzigen der Kräfte, die sonst in ihm am Werk waren, wenn er etwas ergründen wollte, Gewalt antun müssen, sondern sie hatten alle freiwillig mitgeholfen, ihm eine neue Möglichkeit des Geschehens und damit einen neuen Hintergrund für alles Seiende zu zeigen. Und noch ein anderes sah Pfarrers Heinz, der Christine Straub früher manchmal besucht hatte als seines Vaters, des Guten und Feinen, in der Gemeinde mitverpflichteter Sohn. Er sah, wie stark und lebenwollend die vom Nichtwillen zum Leben hingestreckte Bäuerin war. Aber alles Willenhafte und Lebenshungrige schlug bei ihr, wie eine zur Seite gewehte Flamme, in eine andere Welt hinein. Hinüber ins Unsichtbare, wo sich die Feuer nicht von den knisternden und prasselnden Dingen des flüchtigen Tages, sondern von dem stillen und steten Wesen alles Ewigen nähren. 319

Er ahnte, daß diese langsam Sterbende irgendwo im unbegreiflichen All ein starkes, reiches Leben führe; daß ihr Sichverzehren und Hinschwinden ein geheimnisvolles Sammeln und Aufbauen sei an Ufern, an denen die meisten schiffbrüchig, mit leeren Händen, kraftlos, wehrlos, mutlos anländen, wundgeschlagene Opfer von Wellen und Sturm.

Heinz Sommer legte sich in die Kissen zurück. Die schweren Schläge der Uhr kamen vom Kirchturm in jenen langen Pausen, die ihn früher ungeduldig gemacht und zu heimlichem Spott gereizt hatten, als habe Meßberg seine besondere Zeit, die an Krücken hinter der Weltzeit herhinke.

Jetzt spottete er nicht. Er ahnte den andern Takt und Rhythmus, den die Ewigkeit hat, und die zwölf langsamen Schläge kamen ihm vor wie ein Symbol, das er seither nie beachtet und nie verstanden hatte.

»Vorabend der Pfingsten« – klang das nicht wie Blumensammeln und Kränzewinden und allerlei festliche Vorfreude? – Wie mühselig war dagegen sein Weg gewesen, den er bis heute gegangen war durch Schulen und Bücher hindurch. Wie glücklich hätte er sich geschätzt, wie stolz wäre er gewesen, wie hätte er alle Tore der Welt vor sich aufgehen sehen, wenn es ihm durch ein Experiment, durch eine gefundene Methode gelungen wäre, Evas Lähmung plötzlich so 320 weit zu heben, wie sie gehoben war am »Vorabend der Pfingsten«!

Wie ein emsiges, wirres Gewimmel in einem dunklen Bau sah er das Suchen aller Menschheit, und darüber einen weiten, lichten Himmel in ewiger Ruhe hingebreitet, eine Welt der Ordnung und der Kraft, zu der wir kaum die Augen heben, viel weniger die herabholenden Hände. – »Vorabend der Pfingsten!« Volle Erfüllung war's nicht. Nur ein Versprechen war's. Heinz Sommer, eben hat es Zwölf geschlagen vom Turm! Nun zieht Pfingsten herauf, das liebliche Fest! Ein Schauer von Freude durchrann den Mann, er wußte nicht, woher und warum.

Eva! Kleines Ding, bist so scheu vor mir gewesen wie ein Vogel! Nun fängst du an, zahm zu werden und zutraulich. Bist du nicht gestern durch die von Eis und Schmutz überfluteten Gassen an meinem Arm gegangen! Stumm zwar und erschüttert von allem, was geschehen war, aber doch wie ein Kamerad, der dem Geleit des andern traut.

Ach Eva, ich weiß es jetzt, vom Trauen, vom Vertrauen hängt alles ab! Warum lachst du und schüttelst dein Haar zurück und sagst, ich soll zeichnen und rechnen und einen Fahrstuhl machen! Warum nur, warum? Glaubst du, ich sei sonst zu nichts nütze? Spürst du nicht, wie kalt das Wasser ist und wie 321 schrecklich es schneit! Ich trage dich, Kind, ich bin ganz stark, ich bringe dich heim! Das ist nicht Schnee, das sind Blüten, lauter Blüten – morgen ist Pfingsten.

Der Fastentschlummerte wachte auf an dem Mondstrahl, der über sein Gesicht glitt. Aber seine Gedanken blieben halb träumend, und es war ihm, als strömten sie selig und lautlos aus seinem Herzen herauf wie eine Quelle im Mondenschein. Er sah die Wellen vorübergleiten, sah, daß sie Beute mit sich trugen, geheimnisvolle Dinge, die silbern aufglänzten und in irgendeine Ferne hinabtauchten, und er wußte dabei, daß er nie im Wachen, nie im Licht des Tages so klar, scharf, klug und wahr gedacht hatte und denken konnte, wie jetzt, da sein Hirn nicht mittat, sondern nur sein in Freude getauchtes Herz-

So schlief er ein.

*   *   *

Pfingsten – und Eis über den Fluren.

Pfarrer Sommer saß bis tief in die Nacht und arbeitete seine Predigt um, weil sie nicht mehr paßte. Er sann und schrieb und schrieb und sann und merkte, daß ihm nichts einfiel und daß er nichts sagte, als das: wie eigentlich das ganze Leben darin bestehe, daß man heute umschreibt, was gestern so herrlich gepaßt hat. 322

Seine Feder stockte selten. Er schien viel zu wissen zu diesem Grundgedanken, und Pfingsten, das Fest des ewig kommenden Geistes, zeigte ihm in diesen stillen Stunden der Nacht sein Gesicht, wie es aussieht, wenn es noch nicht, oder nicht mehr all die blühenden Kränze trägt, mit dem der Tag es umwindet.

Die Kirche war voll am Vormittag. Die Sonne strahlte, und die Vögel sangen. Der Sonne und den Vögeln machte es nichts aus, daß gestern die schwarzgelben Wolkengebilde über Meßberg gezogen waren.

Die Meßberger saßen mit geneigten Köpfen. In den Eisströmen, die auf ihre Felder stürzten, hatten sie Strafe gewittert. Strafe für alle Nächsten und Fernsten. Ja, ein paar besonders Empfindliche sogar Strafe für sich selbst.

Und nun sandten sie, bewußt und unbewußt, Reue und Buße gen Himmel. In dicken Wolken für die Nächsten und Fernsten; in zarten Räuchlein auch für sich selber.

So war Stimmung in dem alten Gotteshaus. Der erloschene Weihrauch schien wieder aufzuglimmen. Man spürte, daß etwas aufstieg aus Menschenseelen, und das ist schon etwas in einer Kirche, wo sonst alles aufs Herabströmen wartet. 323

Dann schritt Eva Auerstein durch die Reihen. Allein. Nicht, wie sonst, am Arm der seideknisternden Tabea. Sie trug ein weißes Kleid, und ihr Gesicht war totenblaß.

Vorne war ihr Stuhl. Dort, wo an der Wand die Grabplatte des letzten Siegeborn rötlich schimmerte. Sie hob im langsamen Schreiten die Augen nicht. Wie eine Schlafwandelnde sah sie aus, die keinen Schritt anders tun kann, als eine verborgene Kraft, ein unbekannter Wille sie führt.

Es waren unter den Weibern nicht viele, die den Kopf heute nach ihr hoben. Die wenigen wunderten sich, daß sie allein so viel besser ging, als wenn die Baltin sie führte. Da mochte es also doch sein, daß die Kur bei jenem Manne mit der Kraft spät zu wirken anfing. So, wie man oft etwas auf den Acker streut, das erst im nächsten Jahr das Korn zum Wachsen bringt.

Oben aber, in dem für ihn zu engen Gestühl, saß Pfarrers Heinz und tat jeden Schritt mit der Bleichen. Er spürte, was dieser Gang für sie war. Jedes Heben des Fußes ein heimliches, zitterndes: »Ich glaube! Hilf meinem Unglauben!« Eine heiße Angst und ein noch heißeres Verlangen quoll in ihm auf. Daß sie es nur durchführte, die Schreitende dort! Trauen, Eva, Vertrauen ist alles! 324

»Einen Nachen seh ich schwanken; aber ach, der Fährmann fehlt! Fort, hinein denn ohne Wanken! Seine Segel sind beseelt.« Die Verse klangen in ihm auf und ließen ihn nicht los. »Nur ein Wunder kann dich tragen in das schöne Wunderland!«

Und das Verlangen, seine eigene Kraft der ihren zu Hilfe zu schicken, wurde so mächtig in ihm, daß er spürte, wie ihm die Hände zitterten.

Und nun saß sie, und er sah, wie sie sich aufreckte, wie ihre junge Brust unter dem weißen Kleid sich hob, wie ihre kranke Hand sich lebendig in die gesunde legte.

Es durchschauerte ihn. Es war ihm für einen Augenblick, als müsse er all sein Wissen und Können, diesen ganzen mühsam zusammengetragenen Schatz, weit von sich werfen und nur jene einzige Perle kaufen, in der der fremde Reichtum einer fremden Welt verkörpert ist.

Die Unerbittlichkeit, die Absolutheit der Forderung erfüllte ihn mit Frösteln, und er war froh, als das Orgelspiel einsetzte und alle verhüllenden Schleier um das Erschaute wogten.

Er blickte sich um und sah in Johannes Straubs Gesicht und hörte ihn herüberflüstern: »Gehe hin und zeige dich den Priestern!« Dabei glitt ein leises, feines Lächeln über die ernsten, strengen Züge des 325 Bauern. Und nicht weit hinter seinem Herrn sah Heinz den Knecht sitzen. Sein hochgereckter, hagerer Kopf auf dem langen Hals, wie er so frisch rasiert und glatt gekämmt über die andern aufragte, hatte in seiner Sonntäglichkeit etwas fast Kindliches an sich. »Ein langer, ein überlanger Konfirmand«, mußte Heinz denken, »einer, der vor den Türen des Lebens steht und zu ungelenk, zu dösig, zu kraftlos ist, um sie aufzustoßen.« Aber als er das kaum gedacht hatte, fiel ihm ein, wie dieser gleiche Mensch gestern die rasenden Gäule mitten im schrecklichsten Toben des Wetters gehalten hatte, als ihm Blut und Eis übers Gesicht lief. Was wäre da wohl aus Heinz Sommer geworden, wenn auf dem Bock ein feiger Schwächling oder ein Treuloser, ein nur auf sich selbst Bedachter gesessen hätte?

Und auch das andere stand plötzlich vor Heinz Sommer da: wie Semme als ein heimlicher Schutzengel nun schon jahrelang das weißgekleidete Mädchen dort unten überwachte. Wortlos, wunschlos, danklos.

Auch jetzt sahen die Augen aus dem Vogelgesicht hinab nach Evas Platz. Hatte vorhin vielleicht nicht nur seine, Heinz Sommers, Kraft das Mädchen bei ihrem wagnisvollen Gang gestützt? War auch die Kraft Semmes und die Kraft des Bauern 326 mitgegangen? War da eine Verschwörung, ein Kräftenetz, das sie einspann und trug?

Er schaute in den Sonnenstrahl, der durch irgendeine offene Tür in den halbdunkeln Raum fiel. War das vielleicht das Geheimnis, das Pfingstgeheimnis, daß man den Glauben findet an die Kraft und an die Kräfte? Daß man spürt, wie alle Gesetze schweigen und verstummen und sich im Staub verkriechen, wenn diese hohe, diese heilige Schar auf den Plan tritt, deren Amt es ist, das weite All in seinen Angeln zu tragen und zu halten?

Der Gesang der Gemeinde brauste auf. »O heil'ger Geist kehr bei uns ein!« Pfarrers Heinz reckte sich empor. Ach, wenn ihr wüßtet, was ihr erbittet! Wenn ihr wüßtet, was aus Meßberg, was aus der ganzen Erde würde, wenn eure Bitte in Erfüllung ginge. Es würde euch nichts mehr zu groß und zu schwer sein, und ihr würdet sagen zu diesem Berge: Hebe dich auf und wirf dich ins Meer! Ihr würdet Kraft haben – Kräfte!

Die Türe schloß sich jetzt, durch die der Sonnenstrahl ins Dunkel geflossen war. Pfarrers Heinz fing an mitzusingen, und es war ihm, als hätte er soeben noch etwas gewußt, was man immer wissen sollte. Es war hinabgetaucht und hatte einen Glanz, ein Leuchten hinter sich gelassen – Pfingsten! 327

Nach alter, die Jugendjahre hindurch geübter Gewohnheit, hörte der Sohn der Predigt des Vaters zu wie einer, der das Protokoll zu führen hat. Aufmerksam, und doch ohne inneren Anteil, folgend, und doch nicht mitgehend. Aber auf einmal merkte er, daß heute etwas Besonderes in der Predigt war. Nicht, wie sonst, zurechtgeordnete Lesefrüchte und brauchbare Späne vom Studium der Woche, sondern Erlebtes und Eigenes. Da legte er das Protokoll weg und begann zu lauschen.

Er achtete nicht mehr der Wendungen in des Vaters Rede, nicht der Beziehungen, der Schlußfolgerungen, der Nutzanwendungen. Innerlich reglos und ergriffen schaute er zu, wie eine Seele, wie seines Vaters Seele um den Sinn des Lebens rang, den keiner faßt, der nicht heute willig und ohne Murren umstößt und umschreibt, was gestern noch herrlich gepaßt hat. –

Für eine Bußpredigt hielten es die Büßenden, für eine Anklage die Schuldbewußten, für versteckte Drohung die Verstockten. Johannes Straubs in Ruhe getauchtes Gesicht sah erbaut aus, und der sonntägliche Semme witterte Sonntag. Denn eine gute Predigt, ein echtes Wort echter Wahrheit ist wie die Sonne im Zenit, von der jedes Geschöpf meint, sie stehe ihm genau über dem Kopf. 328

Heinz Sommer aber spürte bei seines Vaters Worten, daß auch dieser Mann der Bücher und der Stille wußte, daß die ganze Welt mit all ihrem Geschehen ein Produkt und ein System geheimnisvoller Kräfte ist, in dessen Takt und Rhythmus hineinzukommen des Lebens einzige Schwierigkeit und einziger Wert und Sinn ist.

Was aber spürte wohl Eva, die diesen einsamen Gang in die Kirche getan hatte wie jener zehnte Samariter den Gang zurück zu seinem Helfer? Und zugleich wie einer, der einen gefährlichen Grat bebend überschreitet? –

Es waren nicht Worte und nicht Gedanken, was in ihr kreiste und strömte bei des Pfarrers Pfingstpredigt. Es war ihr, als höre sie ihn »ein wenig Musik« machen, als klinge und schwinge im Dämmer der Kirche ein einziges köstliches, inniges Lied, auf dem die Seele ruhen kann wie ein Schwan auf sonnigem Wasser. Denn eine Glückliche hört Glück, wenn recht gepredigt wird.

Später, viel später, als manches Lüftlein dieses für Worte zu heiße Empfinden abgekühlt hatte, schrieb Eva das Lied jenes Morgens. Und auch noch in dieser erstarrten Form wurde es Freude für viele. 329

*   *   *

Als das Orgelspiel verklungen war und die Letzten aus der sich rasch leerenden Kirche strömten, stand Eva noch an dem roten Gruftstein neben ihrem Platz.

Sie war es gewöhnt, als Letzte mit Tabea wegzugehen, denn sie liebte es nicht, von den Gesunden, Leichtschreitenden umdrängt und überholt zu werden. Und heute, da sie den Gang allein gemacht hatte, wollte sie sich noch weniger als sonst unter die Scharen mischen. Ihr graute vor jeder Frage, ihr graute vor jedem Blick, der ihr folgen würde, vor jedem Wort der Mitfreude oder der Mitsorge, das an sie gerichtet werden könnte.

Das Freuen und das Sorgen wollte sie für sich allein haben.

So stand sie, die Blicke blicklos auf den Stein gerichtet, über dem das bunte Licht aus den gemalten Fenstern flirrte.

Das Murmeln unter den Türen, das Knirschen der Schritte verklang. Sie wollte sich wenden, um zu gehen.

Da glänzte etwas auf, das ihren Blick einfing. Eine Münze lag in einer Ritze in dem Stein. Sie nahm sie weg und hielt sie in der Hand, die so lange nichts mehr hatte halten können. Die zitternde Freude war in ihr, die wie ein fremder Schauer immer wieder 330 durch ihr Herz rann, seit sie dem Wunder ins geheimnisvolle Angesicht geblickt hatte.

In ihr Buch legte sie die Münze.

Ein Zeichen sollte sie ihr sein, eine Erinnerung an den Tag der Feuertaufe.

So schritt sie der Türe zu in heimlich gestärkter Kraft.

Pfarrers Heinz wartete draußen. Sein aufglänzender Blick umfing die Weißgekleidete. Sie traten nebeneinander. In ihren Herzen jubilierten alle Vögel. Nur ihre eigene, ihre Menschensprache war wie erstickt.

Stumm reichte Eva dem Mann die Münze hin.

Er drehte sie in den Fingern, er las die Schrift, er fühlte das Metall. »Ein alter Sechsbätzner, ein Silberstück,« sagte er dann, und dachte vielleicht: »Wie schön sie ist, die Eva, wie frisch, wie voll Kraft!«

Sie nickte. »Der Anselm Veit von Siegeborn hat ihn mir dargeboten. Er hat heut einen guten Tag.«

»Vielleicht, weil du allein zur Kirche kommen kannst?«

»Vielleicht – –«

*   *   *

Bei der Fev in der sommerwarmen Stube tanzte die Taube an ihrem Faden, weil das Lüftlein vom Riesenkopf her durchs offene Fenster strich. 331

Vor dem schmutzigen Eckschrank mit der Hexenschrift kniete Forstmeisters Eva. Sie hatte ein Gefäß mit Wasser neben sich und scheuerte mit einer Bürste an den uralten Buchstaben. Wenn ihre Rechte erlahmte, nahm sie die Linke, und vielleicht nur, wer es wußte, sah, daß nicht eine Hand leistete, was die andere.

Auf der niederen Bank vor dem Ofen saßen Hanne und die Fev, und sie sahen beide der Eifrigen zu, ohne ihr zu helfen oder Hilfe anzubieten.

»Laß,« sagte Hanne und schlug die Hände ums Knie, »das tut nicht gut.«

Die Fev lachte, daß ihr zahnloser Mund weit einsank. »Sie soll nur, sie soll nur! Laß sie machen! Es ist ihr Teufel in ihr, der nie Ruh' gibt.«

Eva sah sich um. Das Haar hing ihr ins erhitzte Gesicht, die Augen funkelten vor Eifer. »Du könntest mir wohl Seife geben, Fev! Ohne Seife bring ich's nicht fertig.«

Das Weiblein steckte die Hände unter die Schürze und schüttelte den Kopf. »Mit Seife darf man nicht kommen. Mit Wasser kannst du reiben und bürsten, solang du willst. Aber Seife – das mögen sie nicht.«

»Wer mag das nicht?« fragte Eva.

Hanne stand jetzt auf und trat neben die Kniende. »Was brauchst du denn das alte Zeug zu lesen!« 332 sagte sie dringlich und legte ihr die Hand auf die Schulter.

Eva lachte, daß ihre weißen Zähne blitzten. »Seit ich ein Kind war, studiere ich an diesen Buchstaben. Einmal werde ich sie doch lesen dürfen!«

»Ist nicht gesagt,« meinte trocken die Alte, »mancher beißt ins Gras und hat's nie gelesen.«

»Hast denn du sie gelesen?« fragte Hanne über die Achsel.

Das Weib zog ihre Hände hervor und strich langsam über die Schürze. »Meinst du, ich wäre sonst je einmal in Jerusalem gewesen?« sagte sie gedämpft und mit kühlem, abweisendem Hochmut.

Eva erhob sich von den Knien. Es ging mühselig, aber es ging, und hoch und schlank stand sie vor der untersetzten Hanne, vor der verhutzelten Fev. »Gib mir Seife, Fev, oder ich gehe, mir daheim zu holen.«

Die Alte erhob sich von der Bank. Ihre feuchten und alterstrüben Augen hingen an dem Mädchen, das so befehlend, so herrisch gesprochen hatte. »So eine bist du,« sagte sie hart, »gehst lieber ins Wasser, als daß du nachgibst.« Dann bückte sie sich und kramte aus dem Durcheinander im Schränkchen ein Stuck Seife hervor.

Aber ehe sie es Eva reichen konnte, nahm es ihr Hanne aus der welken Hand. »Nichts da!« sagte 333 die sonst so Ruhige erregt zu der Alten, »wenn sie dumm ist, dann mußt du gescheiter sein!«

Das Weiblein schüttelte den Kopf. »Keiner kann für einen andern gescheit sein, nicht einmal der Herrgott selber.«

Hanne legte die Seife oben auf den Schrank. Dann deutete sie darauf und sagte zu Eva: »Da liegt sie. Kannst sie nehmen, oder kannst sie nicht nehmen! Wenn du sie aber nimmst, das sag' ich dir, dann sind wir geschieden.«

Eva warf den Kopf zurück. Hochmütig wetterleuchtete es in ihren Augen. Aber dann zitterten ihre Lippen. »Dumm bist du, dumm!«

Hanne nickte. Die alte Ruhe umfloß sie. »Ich weiß, daß ich dumm bin. Aber ein wenig gescheiter als du bin ich immer noch, weil ich nicht mit dem Kopf durch die Wand will.«

»Was ist denn dabei,« sagte Eva ungebärdig wie ein schlechtgelauntes Kind, »wenn ich lesen will, was da steht!«

Mit einem merkwürdigen, überlegenen Ernst sah Hanne ihr in die Augen. »Es steht aber nicht da. Es ist zugedeckt und will nicht aufgedeckt sein! Der Fev gehört's, und du willst ihr's nehmen! Sie macht dir doch auch nicht deine Schubladen auf und wühlt darin und zieht heraus, nach was sie's gelüstet. So ist das!« 334

Das Weiblein ging mit leisen Schritten aus der Stube, und die Taube am Faden fing stärker zu schwingen an.

Überrascht, fast erschreckt sah Eva in Hannes blasses Gesicht.

Die nickte kurz. »Ja, immer denkst du nur, was du alles möchtest! Wär's anders, dann müßte man dir nicht alle Geschichten erzählen, dann wüßtest du sie selber!« – – Zürnend, leise, wie aus einem lang unterdrückten Groll heraus sprach sie.

Betroffenheit glitt über Evas Gesicht. Der helle Glanz ihrer Augen wandelte sich. Sie lehnte gegen den Schrank, als sei Ermüdung über sie gekommen. Hanne trat neben sie. »Da,« sagte sie dringlich, »da ist die Seife! Gelt, jetzt willst du sie nicht mehr! Jawohl, keiner soll dem andern mit Gewalt sein Sprüchlein lesen wollen!«

Eva raffte sich zusammen. Es wehrte sich etwas in ihr gegen das Überlegene der Gefährtin. »Ich hab' doch nicht gewußt, daß es der Fev ihr Sprüchlein ist! Hexenschrift sei's, hat sie immer gesagt.«

Hanne legte die Seife in den Schrank und schloß die Türe zu. »Wenn's Hexenschrift ist, ist's Hexenschrift; darauf kommt's nicht an.«

Langsam trocknete sich Eva die feuchten Hände mit ihrem Taschentuch. Es lag ein zögerndes 335 Verzichtleisten darin. »Du willst immer befehlen,« sagte sie grollend.

Hanne lachte leise. »Nimm sie doch, die Seife! Wer wehrt dir's denn! Ich doch nicht! Der Schlüssel steckt!«

Ein merkwürdiger, müder Blick Evas ging durch das kleine offene Fenster in den grünenden Baum hinaus, in dem einmal, als er kahl war, der Jammervogel gerufen hatte. »Ach was,« sagte sie, »jetzt mag ich auch nicht mehr.«

Hanne nickte. Klug, aber auch alt war ihr blasses Gesicht. »So ist's immer: solang man mag, soll man nicht, und wenn man darf, mag man nicht mehr. Das weiß ich schon lang.«

Die Fev trat wieder herein. Sie hatte die Brille vorne auf der Nase und trug einen wirren Ballen groben Flachsgarnes in der Hand. Ein kurzer, fast scheuer Blick lief über die Brille hinweg nach dem Schrank, dann setzte sie sich hinter den Tisch und fing an, das Garn zu entwirren.

Sie kümmerte sich nicht um die Mädchen, schien vergessen zu haben, daß da Besuch war. Ihr eingefallener Mund bewegte sich, aber man verstand keine Worte. Hanne trat neben sie. Eine Zeitlang sah sie auf das ungeschickte Tun der bläulichen, alten, runzelvollen Hände; dann setzte sie sich und nahm der Fev das Garn aus den Fingern. 336

Sie sprach kein Wort dabei. Sie fing nur an, Faden um Faden aus dem Wirrwarr hervorzuziehen und auf eine Spule zu wickeln. Sie machte es so ruhig, so geschickt, daß es aussah, als zerlege ihr ordnender Sinn das zerzauste Bündel nach einem ganz besonderen, von ihr gewußten System.

Die beiden andern sahen ihr auf die emsigen Hände. Dann setzte sich auch Eva. Es zuckte ihr in den Fingern, zuzulangen. Aber sie tat es nicht. Eine Scheu, Hanne zu stören, den Gang eines wohldurchdachten Werkes zu durchbrechen, hielt sie zurück.

Die Fev nahm die Brille ab und steckte sie in die Rocktasche. »So,« sagte sie zufrieden, »jetzt hat einmal eine von euch das, was sie braucht; jetzt muß ich der andern auch ihr Teil geben; sonst ist sie wie ein Mahlstein, der leerläuft.«

Mit leisem Ächzen stand sie auf und ging an das Schränkchen, vor dem der Boden noch naß war von Evas vergeblicher Arbeit.

Ihre Hände glitten erst tastend und wie liebkosend über die Schrift, dann tat sie die Türe auf.

Sie suchte lange. Die paar Bücher mit den ledernen Schließen nahm sie in die Hände und legte sie wieder weg. Dann zog sie einen ganzen Stoß ungeordneter alter, vergilbter Papiere hervor, den ein Bindfaden kümmerlich zusammenhielt. Aber auch ihn 337 legte sie wieder zurück, als sei das Gesuchte nicht dabei.

Und dann richtete sie sich auf und kam mit leeren Händen an ihren Platz am Tisch zurück. »So,« sagte sie, »jetzt hab' ich, was ich für dich brauch'.«

Die Mädchen schauten sie an. Keine sprach. Sie wußten, daß bei der Fev alles immer anders war, als woanders.

Die Alte zeichnete mit dem bläulichen Finger einen kleinen Kreis auf den Tisch: »Da guck her!« sagte sie zu Eva, und dann verweisend zu Hanne: »Du guck auf deinen Faden! Es soll nichts durcheinander kommen.«

Die beiden versuchten keinen Widerstand. Von Kindheitstagen an gestanden sie der Fev und ihrer Welt besondere Gesetze zu.

Groß und gespannt hingen Evas Augen an dem unsichtbaren Kreis, und Hanne zog Faden um Faden aus dem Chaos.

»Siehst du was?« fragte leise die Fev die starrende Eva.

Sie schüttelte den Kopf.

Das Weiblein lachte leise. »Glaub's! Es ist auch noch nichts da.«

Dann kam eine Pause des Schweigens, in der nichts zu vernehmen war als das leise Geräusch von Hannes ununterbrochener Arbeit. 338

»Jetzt aber,« klang es fast unhörbar auf, »jetzt siehst du etwas!«

Evas Gesicht war sehr blaß. »Ja,« sagte sie kurz.

Die Alte nickte. Auch ihr Gesicht war jetzt verändert. Das Gutmütige, Harmlose schien zurückgetreten, so, wie bei einer Katze, die eben noch spielte und jetzt eine Maus wittert.

»Ich will dir sagen, was du siehst,« murmelte sie, »den ganzen Knäuel siehst du, den Wirrwarr, aus dem du die Fäden ziehen mußt und auf die Spule wickeln, du. Ist's nicht so?«

Eva antwortete nichts. Wie gebannt hingen ihre Augen an dem Kreis.

»Ja,« fuhr fast hämisch das Weiblein fort, »jeder muß so einen Knäuel auseinanderwirren, zu dem sind wir da!« Und dann lauter und fast befehlend: »Sag, was du siehst!«

»Wald,« murmelte Eva eintönig, wie eine, die im Schlaf spricht, »Wald und Schnee und –«

Da warf Hanne ihre Spule auf den Boden und stieß den Stuhl zurück. »Fev, laß sie! Sie hat dir deine Schrift auch gelassen! Ich sag's ihrem Vater.«

Wie harte Drohung waren die Worte dem Weiblein hingeschleudert, und die duckte einen Augenblick den Kopf, als fliege ein Stein vorüber. 339

Eva blickte auf. Sie schien von weit her zu kommen. Dann strich sie sich mit beiden Händen die Haare aus der Stirne und stützte den Ellbogen auf den Tisch. »Hanne,« sagte sie versonnen, »ich glaube, du brauchst mir jetzt keine Geschichten mehr zu erzählen. Ich weiß ganz viele.«

Das »ganz viele« war ein Überrest aus der Kinderzeit, der dem Mädchen manchmal auf die Lippen kam wie eine Erinnerung, und der einen merkwürdigen Hauch von Kindlichkeit um sie her breitete.

Dann bückte sie sich nach der Fadenspule am Boden und reichte sie Hanne. Ein Lächeln, ernst fast, oder müd, oder beides, war um ihren Mund: »Hier. Du mußt deinen Knäuel auseinanderwirren! Zu dem sind wir da!«

Hanne stellte die Spule auf den Tisch und schob das wirre Garn vor den Platz der Fev. »Da,« sagte sie seltsam streng, als rede sie zu einem Kind, das einen kurzen Zügel braucht, »das ist dein Knäuel, wir müssen jetzt gehen.«

Die Alte nickte und zog ihre Brille wieder hervor. Auf den Gruß der Mädchen hatte sie keinen Dank.

*   *   *

Von jenem Tag an zog Eva heimlich manchen Faden aus ihrem Knäuel und wickelte ihn auf eine Spule. Erst waren sie kurz und oft jäh abgerissen, 340 diese Fäden. Eine Strophe nur, ein Gedanke, der wie ein Glühwürmchen aus dem Gras leuchtete. Ein festgehaltenes Wort, das eine unhörbare Stimme zu ihr sprach.

Dann wurden sie länger, zusammenhängender. Jenen magischen, unsichtbaren Kreis, den die Jerusalemshexe auf den Tisch gezeichnet, schien Eva jetzt in sich zu tragen. Bilder stiegen auf und zogen vorüber, ein quellender Reichtum lebte in ihr. Aber es war mehr Qual für sie als Freude; denn sie spürte wohl das mahnende Verlangen all dieser grüßenden Gestalten; aber sie wußte nicht, wie ihm gerecht werden. Da sah sie denn viele dahingleiten und untertauchen mit der Trauer, die die Unerlösten umgibt.

Das machte sie auch traurig und unerlöst, und wer um sie war, dachte manchmal, daß die Eva im Fahrstuhl, die hart und streng Gefesselte, froher und heiterer gewesen sei als dieses unruhige, umgetriebene Wesen, das nur noch leichte Bande zu tragen hatte.

Am meisten mußte Hanne darunter leiden, Hanne, die Getreueste. Wie abgedankt war sie manchmal, wie entbehrlich geworden. Und blieb doch unveränderlich treu und jeden Rufs gewärtig.

Sie mußte selten mehr erzählen. Sie mußte nur noch mitkommen, dorthin, wo »die guten Plätze 341 zum Erzählen« waren. In die feuchte Kühle des verwilderten Gartens, oder zum roten Stein, oder hinaus auf die Heide am Riesenkopf.

Lang sprachen sie dann oft kein Wort. Und wenn sie redeten, war's oft, als wollten sie nur die Stille scheuchen.

Und einmal blieb Hanne draußen auf der Heide vor Eva stehen, die im dürren, sonnenheißen Gras langhingestreckt auf dem Rücken lag. Sie stand und lehnte sich dabei an den Opferstein und wollte sich nicht hinaufschwingen, weil diese in der Kindheit oft geübte Kunst für Eva noch verschlossen war.

Ein Kränzlein aus grünem, blütenlosem Heidekraut trug sie auf dem glatten, dunklen Scheitel. Eva hatte es im Gehen zusammengeflochten und ihr aufgesetzt. Ein wenig unsicher saß es droben, nicht so selbstverständlich, wie die Kränze in den leichteren und loseren Haaren Evas zu sitzen pflegten.

Und Hanne trug das Krönlein ohne viel Anmut, aber mit einer schlichten Ruhe, die der Anmut verwandt ist.

Die Liegende dehnte wohlig die Glieder. »Hanne, warum legst du dich nicht?«

»Weil mir mein Kränzlein sonst herunterfällt.«

»O du, was liegt dran – laß dein Kränzlein fallen.« 342

Es raschelte auf dem Stein, wo sich die Eidechsen sonnten. Hanne drehte den Kopf. Und abgewendet sagte sie: »Daß du es weißt: Der Semme ist mein Schatz.«

Lautlos zog die Sonne über den lautlosen Mädchen. In dem alten Stein war das alte Glitzern.

Dann klang ein heißes, wildes Schluchzen auf. Eva hatte ihr Gesicht ins Gras vergraben. Hanne nahm ihr Kränzlein vom Kopf und kniete neben der Weinenden. Da schaute Eva auf und hatte etwas in den Augen, das wie Haß war. »Warum hast du das getan, du?«

Die Gescholtene neigte sich tiefer. »Warum weinst du?«

»Sag mir's!«

»Sag du mir's.«

Der leise Sommerwind ging über die Heide, und ringsumher war ein Wispern, ein Raunen von heimlichen Stimmen.

Jäh richtete Eva sich empor. Ganz nah und ganz zornig sah sie in der Gefährtin Gesicht. »Er sieht aus wie ein Vogel. Häßlich ist er.«

»Er ist gut.«

Ein hämischer, ein entstellender Ausdruck glitt über Evas Zuge. »Küßt man einen, weil er gut ist?« 343

Hanne beugte sich zurück. Glut färbte ihr Gesicht. »Warum wirst du einmal den Deinen küssen?« sagte sie leise.

Da nahm Eva das Kränzlein aus dem Gras und zerriß es wild in kleine Fetzen. »Ich sag' dir's nicht – dir sag' ich's nicht – das ist – du bist –!« Und dann schlug sie die Hände vors Gesicht, und ihr junger Körper bebte.

Mühselig, als seien ihr die Glieder schwer, stand Hanne auf. Das Rot auf ihrem Gesicht war der alten Blässe gewichen. Ein paarmal schluckte sie, als sei ihr die Kehle eng, dann sagte sie seltsam eintönig: »Mein Vater und meine Mutter sind tot. Er ist mir wie Vater und Mutter. Sein Gesicht ist nicht schön, aber er hat noch ein Gesicht, und das ist schön. Meine Augen sehen wohl, daß er aussieht wie ein Vogel, aber meine andern Augen sehen das andere.«

Da lachte Eva hell und bös hinaus. »Und dein anderer Mund, der küßt wohl auch den andern?«

Hanne sah sie an, ruhig und wie verwundert. »Ich habe keinen andern Mund, das weißt du wohl.«

Eva stand auf und ging davon. Ihr Schritt war schleppender, als da sie hergekommen.

Mit dunklem Blick sah Hanne ihr nach und zauderte zu folgen. Und war dann doch plötzlich neben ihr. »Du gehst schlecht, Eva!« 344

»Ich gehe, wie ich mag.«

»Nein,« klang es ruhig, »du gehst, wie du bist.«

Da blieb Eva stehen. Ein Kampf entbrannte und verging auf ihrem beweglichen Gesicht. Geduckt, wie eine, die bereit ist, einen Schlag hinzunehmen, stand Hanne neben ihr.

Dann brach es aus der bangen Stille heraus: »O du! Ich hab' sein anderes Gesicht auch schon gesehen. Wenn er den Stuhl schob und ich nicht umblickte. Weiß es deine Großmutter?«

»Daß er ein anderes Gesicht hat?« klang es befreit, fast schelmisch.

»Daß er dein Schatz ist?«

»Sie weiß es heut, und morgen weiß sie es nicht. Sie kann den Wirrwarr in ihrem Kopf nicht mehr auseinanderwickeln.«

»Weiß es die Fev?«

»Sie weiß es, aber sie glaubt's nicht. Ehe der Knäuel von ihrem Flachsgarn auseinander ist, glaubt sie's nicht, hat sie gesagt. Weil das mit der Christiane passiert ist. Sie meint, es sei wieder so.«

Eva schritt aus. Ihr Fuß schien leichter geworden. »Hast du ihr darum geholfen Fäden aufwickeln?«

»Ja, darum.«

»Deine Finger sind flink gelaufen.« 345

»Ach, du,« sagte Hanne leise und warm, »deine laufen auch einmal, wenn es um das geht!«

Da schaute Eva über die Heide hin, und die schönen fernen, fremden Geschichten grüßten zu ihr her, als kämen sie näher und näher.

Vor dem Dorf trennten sich die beiden.

»Was tust du jetzt, Hanne?«

Blutrot lief es über der Blassen Stirne. »Bei der Fev guck ich hinein,« und sie machte die Bewegung des Garnwickelns. »Und du?«

Leise färbte sich Evas Gesicht. Ihre Augen glänzten auf. »Weiß ich's? – Ich tu immer, was sie mich heißen.«

»Dann hast du's gut. Dein Vater ist im Wald und Tabea in der Stadt.«

»Vielleicht muß ich auch Fäden wickeln,« sagte wie nachsinnend Eva.

»Und vielleicht tust du's auch, damit etwas wahr wird,« meinte Hanne und schaute weg.

Eva griff leise nach dem Arm der Gefährtin. Dunkle Glut überzog ihr Gesicht. »Siehst du das mit deinen andern Augen?«

»Ja,« klang es zurück, »schon lang hab' ich das gesehen.«

Da eilte Eva den Weg der Kirche zu, ohne umzublicken, und ihre Schritte waren fast wie die einer Gesunden. 346

Die blasse Hanne aber ging gelassen die enge Gasse zur Fev hinunter.

*   *   *

Heinz Sommer wollte eine Fabrik bauen am Riesenkopf.

Das war der Merkwürdigkeit fast mehr, als Meßberg ertragen konnte. Zwar die erste und dringlichste Frage, wo er das Geld dazu hernehme, löste Tante Dine den Leuten mit der ihr eigenen freundlichen Bereitwilligkeit.

Sein ferner älterer Bruder am andern Ende der Welt, so sagte sie, habe Geld in Hülle und Fülle, und es sei ihm eine wahre Gefälligkeit, wenn man es ihm abnehme und im Vaterland in ein sicheres Geschäft stecke. Und für ein sicheres Geschäft hielt Tante Dine – auch das verhehlte sie nicht – alles, was ihr Neffe Heinz in die Hand nahm.

Denn, sagte sie, das sei nicht von ungefähr, wenn einer in seiner Jugend einen so zähen »eigenen Sinn« habe. Sie machte jetzt mit gutem Bedacht zwei kleine Wörter aus einem großen, denn die Erfahrung vieler Jahre hatte sie gelehrt, von den großen Wörtern und Worten nicht alles zu erwarten.

Warum aber die Fabrik hinauskommen sollte an den Riesenkopf, an den grünen, stillen Fluß, das 347 wußte Frau Winter nicht recht zu sagen, so oft man es auch von ihr wissen wollte.

Vielleicht wußte es Pfarrers Heinz, der als Bauherr Dr. Sommer hieß, selbst nicht recht.

Hätte er nicht auch näher der Stadt, näher der Eisenbahn, näher dem ganzen regen Leben der Welt bauen können?

Wenn sein eigener praktischer Verstand ihn so fragte – und er tat es oft, öfter, als dem Bauherrn lieb war –, dann gab er ihm heimlich zur Antwort: Du bist nicht alles, und du durchschaust nicht alles! Ich kann nicht mehr, wie früher wohl, nur mit dem Errechenbaren rechnen und das Wägbare erwägen. Ich muß – seit einem Tag, den ich keinem sage – so viel Unwägbares und nicht zu Errechnendes in meine Pläne, in meine Taten einbeziehen. Oder, wenn ich ganz ehrlich sein will: so viel Unnennbares und Unwägbares diktiert mir Plan um Plan und Tat um Tat, daß ich nicht mehr auf jedes Warum das passende Darum habe.

Nur eines weiß ich: daß ich nicht unentschlossener, nicht wegloser bin als früher. Aber meine Entschlüsse und mein Weg erscheinen mir oft nicht mehr als meine Sache.

Und wenn sein Verstand ihn darob leise verspottete und flüsterte, das sei nicht wahre Mannesart, dann 348 hielt er ihm entgegen: Ich kenne Männer, die sind erst ganz reif und ganz männlich geworden, als sie wie die Kinder wurden; als sie trauten und vertrauten und nicht mehr rechneten und erwogen. Denn die ganze Welt wird nicht von eisernen Balken getragen und gehalten, sondern allein von einer ewigen Kraft, deren Wesen, Wirken und Umfang keiner mißt und ausdenkt.

Als Pfarrers Heinz den ersten Gang zu Forstmeister Auerstein tat, um mit ihm über den Erwerb des Streifens Land am Fluß zu verhandeln, war Eva in ihres Vaters Zimmer.

Das heimliche Aufstrahlen von innen her, von dem sie selbst nichts wußte, breitete sich über sie aus wie leises Licht.

Sie wollte aufstehen und gehen und ließ sich doch so gern überreden zu bleiben.

Sie saß ganz still und hörte von Flurnamen reden, von Zahlen, von Maßen, von Terminen. Und hatte doch immer einen Ton im Ohr, als werden in der Ferne Geigen gestimmt und Hörner und Flöten. Ein unbeschreiblich schönes Erwarten glomm in ihr auf, ein seliges Träumen in die Tiefe des kommenden Lebens hinein. Sie aber meinte, sie denke an eine Fabrik mit einem Schornstein, daraus der Rauch über die Heide wirbele, und an Fahrstühle, 349 an künstliche Glieder, an ärztliche Instrumente und allerlei Dinge, die in dieser Fabrik gemacht werden sollten aus Pfarrers Heinz's Willen und Weisheit heraus. Und einmal, als die Männer schweigend auf eine Karte sahen, fragte etwas ganz keck, ganz triumphierend aus ihr heraus: »Warum baust du dein Haus jetzt doch nicht nach Ceylon, Heinz?«

Der Gefragte schaute sie an. Auch er wußte nicht, daß seine hellen Augen Verräter waren. »Wäre dir das lieber? Es läßt sich noch machen.«

Sie verzog die Lippen, wie sie es als Kind oft getan. »Was geht's denn mich an!«

Da saß neben den zweien, die wie Geblendete waren und redeten, ein Sehender, dem von den kurzen Reden die Augen wacker geworden waren, wie Simson von jenem verbotenen Honig.

Ein Leid, eine Trauer stieg in ihm auf. Nun war sie dahin, die Zeit des Vergessens. Der See der Vergangenheit fing wieder an, unruhig zu werden und Wellen zu schlagen. Man konnte nicht länger im Nachen liegen und sich treiben lassen.

Noch einmal suchte der Forstmeister dem Unausweichlichen auszuweichen. »Ja, warum bauen Sie hierher in diesen stillen Winkel der Welt? Sie sind doch ein Weitgereister und sollten besser gelegene Plätze kennen.« 350

Pfarrers Heinz strich über sein kurzes Haar. »Weil ich weit umhergekommen bin, weiß ich, daß überall die Mitte der Welt ist. Wo ich eine Wasserkraft habe, da kann ich bauen. Warum nicht hier?«

»Sie haben weit zur Bahn. Sie finden nicht unbeschränkt Arbeitskräfte.«

»Aber ich werde solche finden, die nicht ihren ganzen Menschen an die Fabrik verkaufen müssen. Männer und Frauen, die den Pflugsterz und die Sense noch kennen, und die darum nicht um dreißig Silberlinge für jeden Verrat zu haben sind. Solche brauche ich für meine Sache, denn wir werden nicht arbeiten, um reich zu werden, sondern um Dienst zu tun auf wichtigem Posten. Und wenn ich weit zur Bahn habe, dann hat man auch von der Bahn weit zu mir. Ich brauche sie nicht, alle die Gaffer und die geriebenen Leute, die um Geld Waren suchen und aus Waren Geld machen. Ich brauche nur die, die Leidenden helfen wollen. Und die finden den Weg zu mir und ich zu ihnen.«

»Sie sind ein sonderbarer Fabrikant. Sie werden kein Großindustrieller werden.«

»Nein,« sagte Heinz, und seine Stirne rötete sich, »das ist mein Ehrgeiz nicht. Ist es nie gewesen. Man denkt da immer an das Ausgedehnte, ich aber muß immer an das Verfeinerte denken, an das 351 Vollendete, an ein inneres Maß – ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen. Ich bin da meines Vaters Sohn.«

Der Forstmeister sah ihn an, wie wenn die blauen Augen tief hineingehen wollten in des Jüngeren Seele. »Ja, ich verstehe. Sie denken an Dimensionen, die heute wenig gebräuchlich und wenig beliebt sind. Ich kenne das; ich bin auch eines Vaters Sohn.« Und dann setzte er plötzlich hinzu: »Man glaubt ja gar nicht, was das ist und bedeutet, das Blut, das der Mensch in den Adern hat!«

Heinz Sommer merkte nicht, daß das von dem Forstmeister ein Hürdensprung war. Ein Hinwegsetzen über die Hemmnisse, von denen er spürte, daß sie ihn zurückhalten wollten vom Nötiggewordenen.

Und Heinz Sommer wußte damals auch nicht, warum der Forstmeister plötzlich die Uhr zog und zu seiner Tochter sagte: »Eva, möchtest du nicht die Post holen, sonst geht der Botenfritz wieder aufs Feld und bringt sie erst heut abend.«

Eva ging gern zum Botenfritz. Auch heute. Der Männer Augen folgten ihr zur Türe. Der eine sah sie schlank, aufrecht, kaum noch berührt von den einstigen Krankheitsbanden, der andere sah ein Findelkind im ersten Schnee. 352

*   *   *

Mit einem Stoß Pläne war Heinz Sommer ins Forsthaus gekommen.

Mit einer einzigen, schweren, dunklen Frage belastet schritt er hinaus. Daß eine halbe Stunde das alles bergen kann! Erst eine Helle und Weite ohnegleichen und dann dieses qualvolle Sich-im-Kreis-drehen und kein Licht durch die enge Mauer schimmern sehen!

Ein grimmiger Schmerz, ein schmerzvoller Grimm! Warum hatte der Forstmeister den schönen, blühenden, lachenden Garten so brutal verwüsten müssen! Den Garten, an dem die Türe noch zu war!

Ach Heinz, der Hagel am Vorabend der Pfingsten! Weißt du noch, wie da rings um dich her in wenigen Minuten die Fluren unterm Eis lagen! Das war ein Symbol, das dir galt, dem Heimkehrenden.

Stöhnend brach etwas nieder in dem Mann, der ohne Weg in den Wald hinter dem Forsthaus hineinlief.

Er hatte eine Liebe gehabt, eine köstliche, taufrische Liebe, von der heimlich sein Herz nur so wußte, wie man im Traum von etwas weiß. Wie ein großer Glanz, dessen Quelle man nicht kennt, war diese Liebe nun jahrelang über allem gelegen. Über der Arbeit und dem Feierabend, über dem Plänemachen und Luftschlösserbauen, über dem Streben und 353 Träumen. Und nun kam da einer und durchschaute, wo des Glanzes Quelle und Grund war, und warf eine schwarze Hülle darüber, daß plötzlich überall Dunkel lag.

Ach Heinz, du hattest zu viel auf das hölzerne Schifflein verfrachtet, nun ist es gekentert und schwimmt kieloben und du bist bettelarm!

Er spürte das salzige Wasser in den Augen und schämte sich nicht. Und hatte sich doch als kleiner Junge geschämt, zu weinen.

Ja, als kleiner Junge, und dann viele Jahre lang hatte er nie geweint und immer einen eigenen Willen gehabt. Nun weinte er und wußte nicht mehr, was er wollte, was er wollen könnte! –

Plötzlich stand er unter den herrlichen Tannen am Maienbuckel und sah unten den grünen Fluß und den Steg.

Hier hatte er die Rinde geholt zu dem unseligen Schifflein. Hierher jenen Lauf gemacht durch den Schnee, der keine Spur verloren gab und der dann auch die Kleine ans Wasser führte auf seiner Fährte. Eine Zärtlichkeit stieg in ihm auf, wie er, der Mutterlose, sie nie gekannt. »Mir nach bist du gezogen, Eva, mein Kind, mein Mädchen, mein Lieb! Du hast dich nicht gefürchtet, du Kleine, vor der totenstillen, weißen Einsamkeit, weil du in meinen Fußstapfen gingst. 354 Du wirst dich auch nicht fürchten, wenn ich dir sage: Geh mit mir in die weite Welt, wo man nicht nach uns fragt, wo wir nach niemand fragen. Ja – nun will ich doch mein Haus auf Ceylon bauen, nun, nachdem ich das weiß –«

Wie ein Wipfel, den der jähe Sturmstoß zur Erde beugte, richtete sich sein Glückshunger wieder auf. Eva! Du bist ja noch da! Du lebst, du blühst auf für mich! Was kümmert's mich, wo deine Wurzeln liegen! Ich will dich, die Blume aus der Wurzel, das junge, das starke, das heiße Leben, das in dir pulst und das mir entgegenlodert! Ach du, ich weiß es ja jetzt, daß du mich liebst und lieben mußt. Ich weiß es und habe es wohl schon lange gewußt, aber nie verstanden. Dieser Mann, der dich von mir reißen wollte und mich von dir, der hat uns zusammengegeben. Der hat mir die Augen aufgetan, daß ich deine und meine Liebe sehe, wie sie selig ineinanderfließen.

Mit brennender Stirne blickte Pfarrers Heinz in die Ferne. Alle Leidenschaft seiner starken Seele loderte auf, wie ein Feuer, dem endlich Luft wird. Eva, gehst du mit?

Es rauschte ein Schritt im Wald, ein ferner Schritt, den man in der stillen Luft weithin hörte.

»Sie wird kommen,« dachte der erregte Mann, »sie wird kommen und wird mir Antwort geben.« 355

Schwer klopfte sein Herz. Ein Windstoß trug das Rauschen des Wassers herauf.

»Sie wird mir wenigstens einen Boten schicken, daß mir Antwort werde« – so stimmte er sein heißes Erwarten herab.

Der Schritt verhallte irgendwo. Langsam stieg Heinz Sommer den Hang hinab, an den jungen Tannen hin, die unterm Schnee ausgesehen hatten wie ein Häuflein zugedeckter hockender Kinder, und die nun schon über seine eigene Höhe hinausgewachsen waren.

Hatte ihn nicht eben etwas gequält? Ganz leise nur? So, wie wenn man eine wunde Stelle unachtsam berührt? Ein Häuflein Kinder – das dann heranwächst! –

Ein Hund kläffte in der Schonung zur Linken. Er sah hinüber und folgte mit den Augen dem schwarzen, kleinen Köter, der da herrenlos und auf eigene Faust jagte. Keine Rasse, kein Blut! – – Schon wieder der Schmerz an der verborgenen Stelle.

Durch Brombeergeranke und blühendes Johanniskraut schaffte er sich durch auf den Weg, der gegen Fluß und Steg führte. Plötzlich stand Semme vor ihm, der Knecht. Er trug eine Axt, und seine Schritte waren fast lautlos auf dem moosigen Pfad. Sah er nicht aus wie ein Vogel, wie ein Vogel im Bilderbuch? 356 Eine Kinderstimme sagte das, und die Kinderstimme sprach weiter, leise Worte, die alle schmerzhaft über die verborgene wunde Stelle streiften. »Weißt du, warum er so aussieht? Mir hat es die Fev gesagt. Weil sein Vater den Jammervogel hat mit einem Stein totwerfen wollen.«

Eva, Eva! Ist das deine Antwort auf meine heiße Frage von vorhin? Ist der Semme der Bote von dir, den ich mir erflehte? Soll er mir sagen, daß wir nicht miteinander in die Welt hinausziehen können, weil das immer mitgeht, das Unerbittliche: daß im Blut Schicksale liegen, dunkle, nicht zu berechnende Gewalten, Sünden und Segen der Väter. –

»Semme,« sagte der Mann mit seltsam rauher Stimme, »denkst du noch dran, wie der Blitz neben uns herunterging?«

Der Knecht grinste. Sein großer, glattrasierter Mund verzog sich, die dunklen Augen, die so seltsam dicht neben der schmalen Nase lagen, leuchteten auf. »Ich denk schon dran. Weil es an dem Abend angefangen hat.«

»Was hat angefangen?«

Semme nahm die Axt auf die andere Schulter. Eine Helle lief über sein Gesicht, ein Stolz, eine Verschämtheit, ein Aufblühen, das ihm etwas ganz Fremdes gab. »Die Hanne geht mit mir.« 357

Die zwei sahen sich in die Augen und dann seitwärts, und dann war die große Stille um sie her. – – –

Heinz Sommer, warum fängst du denn jetzt nicht zu lachen an! Es ist doch ein merkwürdiges Paar, Semme, der Sohn der Jerusalemshexe und des leichtsinnigen Bauernknechts, und Hanne, die Tochter zweier Schwindsüchtigen. Er mehr als vierzig, sie keine zwanzig! Er lang und häßlich, sie kurz und nicht schön! Sie haben Mut, die beiden, den Mut, den du nicht hast!

Ganz bleich war Heinz Sommer. So bleich war er damals nicht gewesen, als der Blitz neben den Gäulen herabfuhr.

»Semme,« sagte er, wie an den Worten würgend, »so sollst du's auch wissen: die Eva geht mit mir.«

Aber als er es gesagt, hätte er das Wort zurückholen mögen. Der Neid hatte es ihm erpreßt. Der heiße Neid auf diesen Sicheren, der da nahm, ohne zu fragen, ohne zu beben.

»Semme,« bat er, »sagst es nicht weiter. Wir wollen nicht in der Leute Mäuler sein, die Eva und ich. Du bist kein Schwätzer, ich weiß.« –

»Nein,« sagte der Knecht, und es erlosch etwas in seinem Blick, »ein Schwätzer bin ich nicht, sonst hätt' mich keiner dürfen ansehen um das mit der Christiane!« 358

Pfarrers Heinz sagte nichts. Es war ihm, als stehe eine Stunde gegen ihn auf, in der er sich zum Richter gemacht hatte, ohne etwas von der Menschen Seelen zu wissen. Er spürte ein Gedemütigtsein vor diesem Knecht, das ihn beklemmte und ihm jede Frage verbot.

Aber Semme sprach weiter auch ohne Frage.

»Sie ist zwei Jahre mit mir gegangen, und ich bin gewesen zu ihr, wie es recht ist. Dann hat einer den Lumpen an ihr gemacht. Ich hab' ihn wohl gekannt. Aber ich hab' nicht gewußt, daß er ein Lump ist. In Schande wäre sie gekommen. Mir hat sie's gesagt. Ich drauf: Christiane, wenn du ihn läßt – ich laß dich nicht. Sie sagt: er nimmt mich nicht. Eine andere hat er. Dann ist sie ins Wasser.« –

Leis, fast eintönig hatte der Knecht gesprochen, aber seine große, grobe Hand am Axtstiel zitterte.

Heinz Sommer konnte nicht wegblicken von dieser ungeschlachten Hand. Er hatte eine Scheu, die Augen bis zu des Mannes Gesicht zu heben.

Wo lag das Blut- und Rassezeichen an diesem Häßlichen? Wo trug er das Mal, an dem man erkennen konnte, daß er hohen und edlen Geschlechtes war? Oder sind nicht die hohen und edlen Geschlechtes, die Lasten schleppen für sich und andere in stiller Selbstverständlichkeit? 359

»Semme,« sagte er, und es fiel ihm nichts Besseres ein, »die Hanne wird nie mit einem Lumpen laufen. Die hat Augen im Kopf.«

Leis lachte der Knecht. Wieder wechselte die Axt von einer Schulter auf die andere. »Ei Donner – und ich hab' zu ihr gesagt: Hanne, hast wohl keine Augen im Kopf, sonst tätest dir einen schöneren Schatz suchen!«

»Was hat sie darauf gemeint?« fragte Pfarrers Heinz und dachte nebenhinaus, seinem heimlichen Neid nach.

Der Knecht schüttelte den Kopf. Fast väterlich sah er auf den Jüngeren und Kleineren herab. »Jeder soll um solche Dinge seinen eigenen Schatz fragen – wenn er einen hat.«

Sie gingen grüßend und lächelnd auseinander, die zwei; der eine dem Dorf, der andere der einsamen Heide zu.

Auf den Mithrasstein setzte sich Pfarrers Heinz. Er zog Pläne und Karten und Zeichnungen aus der Tasche und sagte seiner Seele vor, daß er das Gelände studiere und Wege und Zufahrtsstraße durch die Heide zöge. Nichts anderes.

»Ja, wie ist denn das?« klang ihm dann eine Antwort. »Du wolltest doch jetzt gar nicht hierher, sondern nach Ceylon bauen.« 360

»Wenn sie mitgeht, wenn sie mitgeht,« zirpte ein Zaunkönig irgendwo.

»Sie geht mit!« sagte die Seele, fast aufbrausend.

»Welch ein merkwürdiger Narr bist du,« raunte es, »meinst du, auf Ceylon gelte es dann nicht, das Gesetz vom Blut und seiner Kraft? Du bist zu feig zum Verzichten. Du bist wie einer, der den Kopf duckt, um unter dem Regen durchzulaufen. Es handelt sich nicht darum, wohin du deine Fabrik bauen, sondern auf was du das Glück deines Lebens gründen willst. Ob du einen Findling von dunkler Herkunft zu deinem Weibe, zur Mutter deiner Kinder machen willst. Darüber mußt du dir klar werden, das ist die Frage, die es zu lösen gilt.«

Heinz Sommer kniff die Augen zusammen, als schätze er eine Entfernung ab: Fünfzig Meter. Ja, fünfzig Meter werden genügen! – »O du feiger Kauz! Vielleicht haben Zigeuner das Kind ausgesetzt. Vielleicht hat eine leichtsinnige und gewissenlose Magd aus jenem üblen Wirtshaus an der Waldstraße es heimlich geboren? Vielleicht war's auch die schmutzige Schweinemagd von Biala? Der Forstmeister scheint das fast zu glauben. Oder scheint er es nicht zu glauben? Ist mir das nur so vorgekommen?« –

Pfarrers Heinz sprang vom Stein. Er hielt es nicht mehr ans, von Sonne und Licht umspült da 361 oben zu sitzen. Ins Heidekraut, an die Erde warf er sich und wühlte den Kopf ins Dunkel, wie in unerträglicher Scham. »Eva, Eva,« stöhnte es in ihm, »mein Morgengebet, mein Abendgesang, mein Glockenläuten, mein Kirchengang, meine einzige, köstliche Liebe! Du kannst, du darfst keinen Flecken tragen. Du kannst, du darfst deinen Ursprung nicht in Zuchtlosigkeit, in Dirnenhaftigkeit, in Gemeinheit haben!«

Wie aus der Erde, der dunklen, kühlen, raunte es: »Hast du nicht gesagt: Trauen, Vertrauen ist alles. Vielleicht hat Not nach Glück, Herzeleid nach Seligkeit, Verzweiflung nach Hingabe das Kind an den Weg gelegt? Siehst du sie nicht, wie sie ist? Trägt sie kein Mal an sich, das sie ausweist?«

»Wie soll ich das Mal, das Zeichen sehen? Ein Kind sah ich, das heimliche Glut und fremde Schönheit in sich hatte. Dann trug sie Ketten.«

»Ketten decken kein Mal, kein Zeichen zu.«

»Wie kann ich's finden – ich liebe sie – meine Augen sind gehalten.«

»Deine Augen sind offen. Du hast gesehen, woher sie Kraft holt. Am Vorabend der Pfingsten hast du's gesehen und gewußt. Da war dir alles klar und licht. Da wußtest du die letzte Wahrheit: Daß das eines Menschen Mal und Zeichen ist, woher er sich Kraft holt für seine Schwäche.« 362

»Am Vorabend der Pfingsten! Ich habe auf Pfingsten gewartet. Nun ist Eis gekommen und Winter.«

»Auf Pfingsten wartet man nicht. Pfingsten kommt, wenn die Zeit erfüllet ist. Die Zeit aber und Stunde weiß niemand vorher. Das Eis schmilzt, und der Winter vergeht. Man muß nur lernen umschreiben, was gestern herrlich gepaßt hat. ›Forstmeisters‹ Eva wäre dir recht gewesen zum Weibe. Eva muß dir erst recht werden. Sonst hat sich nichts verändert seit einer Stunde.«

»Aber das Blut, das Blut, das in meinen Kindern, in meinen Söhnen strömen wird!«

»Du hast – an einem Tag, von dem du keinem sagst – gelernt, daß das Unwägbare und nicht zu Errechnende das Stärkste ist auf der Welt. Dein Wissen und Können wolltest du damals hinwerfen und dir die fremde Perle kaufen. Und heute rechnest du und wägst du mehr als je und glaubst an Blut, wie du je an Errechenbares und Wägbares glaubtest. Wenn Blut den Menschen macht – ich sag' dir, der Mensch muß auch das Blut machen können. Es gibt kein Gesetz, das stärker wäre als eine Kraft, die anfängt sich zu bewegen und aus dem Schlaf zu erwachen.« –

Auf dem Stein zirpte ein Vögelein: »Wenn sie mitgeht, wenn sie mitgeht.« 363

Heinz Sommer richtete sich auf. Seine Augen glänzten: »Eva, gehst du mit? Nicht nach Ceylon. Ins Leben hinein – in unser Leben? – Ins Glauben hinein – ins starke Glauben!« –

*   *   *

Ein flacher, einstöckiger, weißer Bau erstand am Flußufer. Aber nicht dort, wo Eva dazumal mit ihrem hölzernen Schiff ins Wasser gegangen war.

Heinz Sommer schonte diese Stelle. Es war da ein so herrlicher Platz für Seeschlachten, für Hafen- und Molenbauten, für Leuchttürme und Wasserräder, der mußte erhalten bleiben für später.

Nicht alle Söhne und Töchter des Bauherrn würden wohl einst das heiße und wilde Blut haben, das ihre Mutter vor ein wenig vogelartiger Häßlichkeit ins eisige Wasser trieb! Es würden vielleicht, nein, es würden gewiß auch zähe, unerschrockene und unerschreckbare Mädchen und Knaben darunter sein, mit eigenem Sinn, die wußten, was sie wollten, und die sich kein Vorhaben stören ließen.

Vielleicht, nein gewiß, würden auch solche darunter sein, die mit klarer Sicherheit auch hinter häßlichem Schein schönes Wesen zu wittern vermochten, wie Hanne, die Treue. Solche, die besondere Wirklichkeiten spürten, Wirklichkeiten, die nicht abgezogen 364 waren von den Dingen, sondern aus denen heimlich alle Dinge herauswuchsen, wie die Blüten auf dem Seespiegel aus der unsichtbaren Pflanze im tiefen, dunklen Grund.

Vielleicht würde ein Knabe, ein Mädchen darunter sein, das Glauben hätte, echten Glauben, wenn auch nur als ein Senfkorn, und das dann sagen würde zu diesem Berge – –

Ach, Heinz, welche schönen Möglichkeiten liegen wohl in Evas unbekanntem Blut. – – Und du bist noch immer zu feig, sie zu fragen? Du wartest immer noch auf ein Zeichen, und es wird dir doch kein Zeichen gegeben werden als deine Liebe, die sich sehnt, sie an dich zu reißen.

Du hast dem Forstmeister versprochen, noch ein Jahr zu warten auf alle Fälle. Zu warten, zu beobachten, zu suchen.

Hatte der Mann ein Recht, das von dir, dem damals fast Betäubten, zu verlangen? Hat er dir diese Bedingung nicht über den Kopf gestülpt, als du wehrlos warst? Nun bist du nicht mehr wehrlos, nicht mehr betäubt. Nun siehst du, um was es sich handelt, nun weißt du, wo der Feind steht und welche Waffen du nötig hast.

Trauen – nichts als Vertrauen! Glauben als ein Senfkorn. – 365

Es lag ein Zug um des Mannes Mund, der war wie jener Zug um den Mund des Knaben, als er noch seinen zähen Eigenwillen hatte. »Forstmeister, ich werde mir meinen Kalender machen, wie ich ihn brauche! Das Jahr wird um sein an dem Tag und in der Stunde, da ich es will.«

*   *   *

Ein Pförtnerhaus erstand neben dem flachen, weißen Bau. Groß war es nicht, aber seine Stuben so hoch, daß Semme den Kopf nicht zu ducken brauchte, wie unter den Balken der Fev. Und das war gut. Denn er trug ihn gern hoch, seit die Hanne mit ihm ging. Wie Bann und Last war es von ihm genommen, ein Freigelassener stand er vor einem neuen Leben.

Sein Herr sah ihn an mit den klugen, ruhigen Augen. »Heiraten willst und bei Pfarrers Heinz eintreten? Ich kann nur sagen: Bei mir bist du über dem Wenigen treu gewesen. Nun kann dich dein neuer Herr über viel setzen! Komm und sag's auch der Bäuerin.«

Die Bäuerin gab ihm die Hand. »Semme, ich wünsch' dir Glück, so viel, als du einmal Leid gehabt hast, und das ist viel.«

»Woher wisset Ihr's?« fragte der Knecht mit ehrlicher Überraschung. 366

Die Frau lächelte: »Wenn ich etwas weiß, dann frag' ich nie: woher? Mußt auch nicht fragen. Bring einmal die Hanne her, ich möcht' sie sehen.«

So brachte er die Hanne her.

Und die Hanne ging von der Frau fort wie im Traum. »Semme,« sagte sie, als beide schon draußen schritten auf der einsamen, leise dunkelnden Gasse, »Semme, die Bäuerin ist schon gestorben. Man meint nur, sie sei noch da, ihr meinet's nur.«

»Warum sagst das?«

»Weil's so ist. Sie sieht so aus, ich seh's. Ihr seht nichts.«

»An was siehst's?«

»Wie die Gestorbenen sieht sie aus,« antwortete murmelnd und für sich Hanne, »wie die, die nicht mehr da sind und doch da sind.«

Semme sagte nichts mehr. Er wunderte sich nie über Wunderliches. Es war die Luft, in der er geatmet hatte von jeher, er, der selbst nie Wunderliches sah und hörte.

Als sie am Häuslein von Hannes Großmutter noch Hand in Hand standen, ehe sie sich trennten, sagte Hanne: »In vier Wochen kann's nicht sein. Vielleicht in acht.«

»Hast denn Angst vor dem Hochzeitmachen?« fragte mit seltsamer Trauer in der Stimme der Knecht. 367

Sie schaute zu ihm auf. Noch war das Dunkel nicht so tief, daß man das Erglühen ihres blassen Gesichtes nicht hätte sehen können. »Angst nicht. – Wegen der Bäuerin ist's. In vier Wochen geht sie vollends.« –

Stumm standen sie noch eine Zeitlang aneinandergeschmiegt. Dann trennten sie sich.

Und in vier Wochen ging die Bäuerin.

Tags zuvor war Forstmeisters Eva, das Hexlein, noch bei ihr. Sie saß auf dem Bettrand, sie hatte Augen voll seligen Glanzes, sie hielt mit der kranken Hand die bleichen Finger der Bäuerin.

»So fest kannst du jetzt zulangen?«

Stärker drückte die Hand. »O Christine, nun glaube ich selbst, daß ich einmal wieder ganz gesund werde.«

»Glaubst's jetzt, Kind! Ja, wenn der Vorabend einmal da ist, dann wird auch vollends Pfingsten. Man muß nur warten.«

Eva neigte den Kopf zu der Liegenden. »Christine, gelt, du weißt nicht mehr, was ich gesagt habe damals.«

»Nichts mehr weiß ich. Ich vergesse von heut auf morgen, was dahinten ist. Weißt denn du es noch?«

Eva sank neben dem Bett auf die Knie und preßte den Kopf in die Kissen. »O Christine! Ich hab' ihn lieb, ich hab' ihn lieb! Viel lieber als die Ursa den 368 Seltstein. Muß ich's ihm sagen, das, was ich einmal dir gesagt habe?« –

»Wie kann ich das wissen, wenn ich doch alles vergessen habe! Wenn du ihn so lieb hast, dann wird dir immer zur rechten Zeit einfallen, was du ihm sagen mußt.«

»Glaubst du, daß er zornig würde, wenn ich's ihm sagte?«

»Kannst es ja probieren. Wenn man sich miteinander verspricht, ist es schon gut, wenn man weiß, von was jeder Teil zornig wird.«

Tiefer wühlte sich der Kopf in die Kissen. »Ich werde ganz zornig, wenn man mir nicht den Willen tut.«

»So will ich ihm sagen, daß er dir einmal den Willen nicht tun soll.«

Eva hob das Gesicht mit den leuchtenden Augen. »Bei ihm werde ich nicht zornig deswegen, kannst mir's glauben.«

»Ja, was soll ich dann Pfarrers Heinz raten, damit er dich kennen lernt?« –

Des Mädchens lachendes Gesicht wurde ernst. Durchs offene Fenster sah sie hinaus in den von herbstlicher Klarheit erfüllten Tag.

»Christine,« sagte sie dann leise, »das weiß ich nicht. Ich kenne mich selber nicht. Ich bin, wie wenn viele in mir wären. Gute und Böse.« – 369

Es war still in der Stube. Dann klang die Stimme der Frau: »So sind wir alle. Mich wundert nur, daß du das so früh schon weißt. Das kommt sonst erst heraus, wenn im Herbst das Reifen anfängt.«

»Ich wüßt's auch nicht,« sagte wie nachsinnend Eva; »aber ich schreibe eine Geschichte, und da hab' ich's gemerkt.«

Die Frau sprach nicht. Sie hatte ein Gefühl, als schaue sie einer Schlafwandelnden bei ihrer Wanderung zu und dürfe sie nicht anrufen.

»Die Guten und die Bösen,« fuhr Eva träumerisch fort, »sind immer alle ich. Sie haben mein Herz und meinen Sinn und wissen, was ich weiß, und tun, was ich tu. Und ich habe auch ihr Herz und ihren Sinn und weiß, was sie wissen, und tue, was sie tun. Glaubst du das?«

Wieder sagte die Frau nichts. Und wieder fuhr Eva fort: »Die mit dem schönen, langen Haar und der Kette um den Hals, die dann gestorben ist, als ihr Kindlein noch ganz klein war, die bin ich. Und der, den sie so lieb gehabt hat über alles Maß hinaus, für den sie fortgezogen ist von den Eltern und aus der Heimat, und für den sie Schmach und Schande getragen hat, der bin auch ich. Und das Kindlein, das der Mann dann den Leuten gab, die er für gut 370 hielt und die doch so schlecht und gewissenlos waren, daß sie es im Schnee aussetzten, das bin auch ich. Ja, sogar das Meer und der Wald und der Sturm und die Glut am Himmel und alles in meiner Geschichte bin ich – verstehst du das?«

»Eva,« sagte die Frau, so zart und leis, wie man ein Kind anruft, von dem man nicht weiß, ob es noch schläft oder schon am Erwachen ist, »ich glaube, daß ich das verstehe. Der, in dem alles lebt und webt, ist ja unser Vater. Und wir können nicht ganz aus der Art schlagen.«

Sie saßen ganz still, ganz versunken beieinander, die Braut und die Sterbende, die beide ahnend vor des neuen Lebens Toren standen und ins Kommende hinüberlauschten mit betenden Herzen.

»Christine,« sagte jetzt Eva, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, »glaubst du, daß ich einmal gut sein werde?«

»Ja hältst du denn dafür, daß es einen Wert habe? Sie müssen oft den Narren Gottes spielen, die, die gut sein wollen!«

»O du – nun weißt du doch noch alles, was ich gesagt habe!«

»Und du, was ich sagte.«

Sie hielten sich an den Händen und sahen dem Sonnenstrahl zu, der durch die Stube glitt und der 371 zartfingerig und liebkosend jetzt über das weiße Bett hintastete. »Kind,« sagte dann die Bäuerin innig, »freigegeben bist du nun bald. Deine Ketten sinken mehr von Tag zu Tag. Der dir die Freiheit anvertraut, der traut dir wohl auch das Gutsein zu!«

*   *   *

Am andern Tag ging die Bäuerin.

Niemand war bei ihr in der Stube. Man schläft am besten ein, wenn nichts sich rührt.

Es standen dann bald viele um ihr Lager. Nicht alle hatten Augen. Manche waren wie die weinende Stasel: Sie spürten etwas und wußten nicht was.

Aber Eva, als sie mit Pfarrers Heinz hinzutrat, sah um den Kopf der Liegenden einen goldenen Kreis, als stehe weit, weit hinter ihm eine Sonne, die woanders leuchtete.

Das Mädchen schmiegte sich an den Mann. »Nun ist sie ganz schön geworden. Als ich ein Kind war, wußte ich, daß man stirbt, wenn man ganz schön ist.«

Da klopfte des Mannes Herz laut und heiß.

»Wie konntest du es wissen?«

»Alle, die in mir sind, sagten es.«

Ihn schauerte. Hatte sie nicht unbewußt in die heilige Stille der Stunde einen leuchtenden Stammbaum hineingezeichnet?

Ein tiefer Friede geleitete die Zwei aus der Stube.

 


 


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