Auguste Supper
Die Mühle im kalten Grund
Auguste Supper

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Niemand weiß, warum die Wassergasse ihren Namen trägt. Der Fluß, der die kleine Stadt durchschneidet, liegt weit ab. Höchstens dringt bei gutem Wind das Rauschen seiner strömenden Wasser vom fernen Wehr herüber zwischen die ärmlichen Fachwerkhäuser der Gasse, die mit spitzen Giebeln sich gegeneinander neigen, wie alte Weiber, die sich etwas Heimliches zuwispern wollen. Da und dort hängt vor der obersten Dachluke das kleine Rad mit dem eingezogenen Seil, an dem man zu seiner Zeit Holz und Reisig aus der Gasse emporwindet. Wer Glück, Geduld und gute Ohren hat, der kann in manchem schmalen Winkel zwischen den Häusern die Ratten pfeifen hören am hellen Tag.

Jeder Fuhrmann, den sein Weg durch die Wassergasse führt, tut einen saftigen Fluch. Denn holprig und schlecht ist das alte Pflaster, obgleich oder weil jedes Frühjahr Meister Haug, der Pflästerer, die Löcher flickt, die der Winter und andere Unbill hineingefressen.

Wenn der wetterharte und trinkfeste Mann in der manchesternen Zunftmontur auf dem einbeinigen Schemel sein weithin klingendes Werk beginnt, dann kommt den Anwohnern der Gasse das Lenzesahnen, wie anderen bei Amselruf und Starengezwitscher. Sie treten aus ihren Häusern hervor, strecken die Nasen in den Wind, schauen hinauf in das schmale Stückchen Himmel, das 8 ihnen vergönnt ist, und bleiben, soweit sie freie Herren ihrer Zeit sind, gern bei dem Pflästerer stehen.

Drei Schuhmacher haben ihre ebenerdigen Werkstätten in der Gasse.

Früher sind es fünf gewesen. Aber der eine hat sich gehängt, weil das Leder abschlug an dem Tage, als er zwei Kalbfelle noch zum alten Preis gekauft hatte.

Vielleicht war's auch nicht allein deshalb. Vielleicht waren die überzahlten Kalbfelle nur das Tüpfelchen aufs i, der Tropfen, der den vollen Becher zum Ueberlaufen brachte. Es ist nicht gut richten hinterher, weil jeder, der aus der Welt geht, gleich auch alle Geheimakten über seinen Fall mitnimmt und nur das Unwesentlichste zurückläßt.

Fünf Kinder hatte der Mann und ein Weib, das alles ein bißchen schwer nahm. Als sie aber sah, daß ihr Gefährte so kurzerhand seinen Pack in den Graben warf, da faßte sie den ihren fester an und dachte, daß die Mannsleute seien wie ein gläsernes Dach: scheint die Sonne, so wird's zu warm darunter, und kommt ein Hagel, so gibt's Scherben. Ein wenig herb und streng ward durch solche Gedanken das Weib, und ihre Kinder drückten sich gerne neben ihr vorbei und suchten mildere Zonen auf.

Ein weiterer Schuhmacher der Wassergasse geriet unversehens in jenen seltsamen Strom, der die kleine Stadt damals mit saugender Kraft durchzog, und der vieles, was wurzellos oder schlecht verwurzelt war, mit sich fortnahm und dahintrug, bis er es einmal wieder an irgendeinem Ufer auswerfen wird. Er fing das Heiligwerden an, der Mann, das Warten auf den Tag der Ueberkleidung. Denn sie hatten es schriftlich, diese 9 Leute, daß sie nicht sollten ent-, sondern überkleidet werden. Der Schuster kam ins Spintisieren hinein und auch ins Faulenzen. Er erklärte seine Glaskugel für das Auge Gottes, an dem er verbrennen müsse, deckte ein Tuch darüber, hängte den Pechdraht an die Wand und verkündigte »das Wort« als ein Bruder Evangelist mit sieben Mark Taggeld auf Gemeinschaftskosten. So hatte er sein Erdenbrot und verteilte dafür himmlisches Manna, so viel jeder wollte. Er brauchte damit nicht zu geizen, denn der Sack ist groß und weit und immer prallvoll, ob gleich jeder Austeiler hineinlangt bis an den Ellbogen.

So blieben noch drei Schuhmacher für die Gasse. Das Klopfen ihrer Hämmer klang bis an den Abend aus den Werkstätten. Denn die drei wohnten nahe beieinander und konnten einander hören. Da hatten sie es mit dem Klopfen wie die Hunde mit dem Fressen: keiner gönnte dem anderen einen Vorsprung, und keiner wollte zuerst aufhören. Weiß Gott, sie haben oft, wenn keine Arbeit da war, aufs Leder geklopft, nur um nicht stumm zu sein.

Lauter aber, wenn auch nicht so ununterbrochen wie das stumpfe Schustergehämmer, klangen die Schläge des einzigen Schmieds, der in der Wassergasse hauste. Das war ein Klingen, ein Brausen an Ambos und Esse, wenn der nacktarmige Mann mit seiner rußigen Lederschürze bei der Arbeit war. Nur war er's nicht immer. Es stieß ein Wirtshaus an seine Werkstatt, und der Schmied war ledig, ein Herr seiner Entschlüsse, aber nimmermehr Herr seines Durstes.

Nicht weit vom Schmied und den Schustern wohnte Albrecht Neuhaus, der Uhrmacher. Er war ein weißhaariger Mann, der unter seinem Samtkäppchen, das er immer trug, älter aussah, als er war. 10

Zugewandert war er im Städtchen, nicht eingesessen. Er hatte eine andere Sprache als Schuster und Schmied. Als er seinerzeit kam, da hieß es, er sei ein Schweizer. Weil es in der Schweiz einen Winkel gibt, wo die Uhrmacher gut geraten. Dann aber kam ein ganz Schlauer dahinter, daß der Mann ein Preuße sei, den seine Sprache verrate, wie den in die Enge getriebenen Galiläer dazumal die seine verraten hat. Der Uhrmacher hatte keine Frau mehr. Er sprach auch nie von ihr. Wenn er nicht zwei Kinder mitgebracht hätte, man hätte nichts geahnt von der Toten.

Ein gut Stück Welt mußte der Mann gesehen haben, ehe er sich festsetzte in der Wassergasse. Nicht als ob er den Mund groß aufgerissen, von draußen erzählt und den Alleswisser gespielt hätte. Er war eher wortkarg, stolz bescheiden und von einem stillen, vornehmen Gleichmut. Aber zuweilen sprang es, ohne daß er es wollte, aus seinen Reden hervor wie Glanz im Gestein, der dem Kundigen genug sagt und auch dem Unkundigen in die Augen sticht.

Eine Schranke war um den Uhrmacher her, die nicht allein auf Rechnung seiner Ortsfremdheit zu setzen war. Die Leute der Nachbarschaft griffen an die Kappen, wenn sie den alten Mann sahen, und redeten ihn allezeit mit Herr an, als sei er nicht ihresgleichen.

Und doch wußten sie nicht, daß der Weißhaarige, der untertags ihre zerbrochenen und verstaubten Uhren flickte und ölte, bei Nacht eine Art Königsmantel trug.

Wenn in den Winkeln die Ratten pfiffen, so laut, daß sie selbst das Strömen der Wasser am fernen Wehr übertönten, wenn der Mond und die Sterne ohne zu fluchen über das schandschlechte Pflaster der Gasse gingen, dann war für den Uhrmacher glückliche Zeit. Dann 11 spannten sich seine Flügel aus, und alle Schranken sanken nieder.

Er saß dann an seinem Kammerfenster, oder er lag schlaflos im Bett, das so stand, daß der Blick durchs unverhangene Fenster den Himmel finden mochte. Und da, in der Stille und ohne Werkzeuge, baute der Mann Uhren von unermeßlichem Wert, Uhren, die die Planetenbahnen, die den Gang von Mond und Sternen zeigten.

Er baute Uhren, die unter seiner Hand gelehrige Tierchen waren, die mit haarscharfen Zähnen winzige Stückchen vom Koloß der Zeit abbeißen und dabei singen, tanzen, flötenspielen mußten. Signale bliesen sie, Rufe durch die stille Nacht, die weithin selig klangen bis zu denen, für die die Zeit im goldnen Strom der Ewigkeit zerrann. Vertraut, wie die Gassen der Heimat, waren dem Uhrmacher die nächtlichen Himmelsgefilde. Bei Tag aber mußte der mittellose Mann scharf Ausguck halten nach dem bißchen Brot und Gewand, das er und seine Kinder brauchten.

Getreulich tat er's, aber ungeschickt. An seinen Fingern war nichts Klebriges, an dem Geld hätte mögen hängen bleiben. Es ging ihm durch die Hände, bald spärlich, bald am spärlichsten. Immer, wie es zufloß, so floß es ab und entglitt dem Bereich des Uhrmachers. Denn alles, was geprägt ist und gestempelt, tritt ungern in die Schranken mit des Mondes Silberschein und dem Gold der Sterne.

Als Albrecht Neuhaus in das Städtchen kam, waren seine Kinder noch jung genug, um sich nicht allzu fremd zu fühlen. Und doch nicht mehr so jung, daß ihre fremde Art sich ganz verwischt hätte in der Wassergasse. Sie standen, ohne daß sie es recht empfunden hätten, etwas abseits von den anderen Kindern. 12

Der Sohn Heiner war ein Krüppel. Es hieß, er sei als ganz kleines Kind vom Tisch gefallen und habe sich das Rückgrat verletzt. Die Magd hatte ihn aufs Kissen in die Mitte des Tisches gelegt, so daß nach menschlichem Ermessen nichts Schlimmes passieren konnte.

Aber die einschneidenden und belangreichen Dinge geschehen gar zu gern gegen menschliches Ermessen, wie nur bescheidene, nicht aber gewaltige Wasser durch künstliche Kanäle rinnen.

Jene Magd war noch nicht aus dem Zimmer, als vor dem Fenster ein Bettelmann anfing, die Orgel zu drehen. Das Büblein auf dem Tisch tat einen Ruck und wieder einen. Es warf sich vom Kissen mit einer Kraft, die niemand in dem Kindlein vermutet hätte. Es rollte über den Tischrand und war ein Krüppel von Stund an.

So hat Frau Musika Heinrich Neuhaus, den Säugling, in eiserne Faust genommen als ihr Eigentum. Ein Brandzeichen hat sie ihm eingedrückt bis auf die Knochen, als wolle sie ihn entwerten für jeden anderen Herrn.

Ob die Jahre den Krüppel etwas in die Länge und in die Breite zogen, er blieb ungeformt wie ein Weidenstumpf. Aber auf der Hühnerbrust saß ein kluger, etwas großer Kopf, der nichts Verkümmertes an sich hatte. Das scharfgeschnittene Gesicht mit breiter Stirne unter schwarzem Haar war früh schon männlich. Die dunklen Augen blitzten leicht auf in Argwohn oder auch im Zorn. Aber auch ganz anders konnten sie blicken. Besonders dann, wenn Heiner Neuhaus nach seiner Weise einsame Wege ging. Da konnte wohl ein Leuchten darin sein wie von fernem Feuer, oder auch der Abglanz jener Sehnsucht, die alle im Herzen tragen, die ihres Gottes Stimme in der Ferne hören und dabei müde, 13 wundgelaufene Füße haben. Wie ein Irrlicht tanzte die Musik schon vor des Knaben Seele her. In der Schule war ihm des Lehrers Geige, war ihm die Orgel auf der Empore der Kirche Magnet und Offenbarung. Wo Töne klangen zog es ihn hin, da lernte er, da ging ihm dämmernd der Sinn des Lebens auf.

Auf einer Mundharmonika hat er sein erstes Lied gespielt. Auf einem alten Ding, das ein Kamerad ihm schenkte, und in dem zwei Kirschkerne in den Schallöchern steckten, fester, als nötig war. Aber echte Meisterschaft zerschellt nicht am schlechten Instrument. Heiner Neuhaus brachte neben den Kirschkernen lückenlose Weisen heraus.

Nach der Schulzeit kamen die Lehrjahre beim Vater. Merkwürdige Lehrjahre. Da waren zwei Menschen, die in zwei Lebensschifflein redlich auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten wollten. Aber beide waren die stärksten und ausdauerndsten Ruderer nicht. Und wenn sie die Hände sinken ließen, dann trieb sachte jedes Schifflein ab nach einem anderen Ziel. Albrecht Neuhaus blieb als Lehrer der Uhrmacherkunst ein Sterngucker und Heiner Neuhaus als Lehrbube ein Musikant.

Aber es kam kein Zwiespalt zwischen Vater und Sohn. Weit eher schlang sich ein verschwiegenes Band um die beiden. Jeder ahnte im anderen den Gezeichneten einer Kraft, vor der es kein Entrinnen gibt. Und so betrieben die beiden Uhrmacher ihr Handwerk, wie Falschmünzer vor den Augen der Welt eine redliche, bürgerliche Hantierung betreiben.

Neben dem Sohn wuchs dem Albrecht Neuhaus die wenig jüngere Tochter heran. Sie war nicht vom Tisch gefallen. Unverbogen war Elisabeths junger, schlanker Leib. Reiches schwarzes Haar lag um die gleiche breite Stirn wie beim Bruder. Aber die dunklen Augen 14 schauten stiller, gesättigter. Eine frühe, selbstverständliche Mütterlichkeit lag schon auf dem allezeit blassen Kindergesicht. Eine kluge Mütterlichkeit, wie sie zutage tritt, wenn zwischen Männern, die ratlos und ungeschickt dem Alltag gegenüberstehen, ein echtes, selbstloses Weib emporwächst. Schon ganz frühe machte Elisabeth Neuhaus die Entdeckung, daß Vater und Bruder sie brauchten. Ihr ganzes Wesen formte sich fortan nach dieser Maßgabe.

Die schwarze Liesel, wie man in der Wassergasse des Uhrmachers Tochter nannte, war als Schulmädchen die Mutter der Schuhmacherskinder, deren Vater sich gehängt hatte. Sie hat den Mädchen die Haare geflochten und den Buben Geschichten erzählt, wenn das Schusterweib ohne Gruß in den Tagelohn ging. Sie hat auch beim Schmied nebenan die Werkstatt ausgefegt, als dem Manne die Mutter krank und das Wirtshaus allzunahe lag.

Geschickte Finger hatte das schwarzhaarige Mädchen und einen Blick für alles Schöne und Gefällige. Aber das Kleine und Kleinste, aus dem trockenste Ordnung sich zusammensetzt, lag ihr fern. Vielleicht, weil sie nicht nach überkommenen Regeln und unter überwachenden Augen, sondern aus sich selbst und aus der Notwendigkeit heraus gelernt und sich entwickelt hatte.

Nach den Schuljahren lernte die Liesel das Putzmachen. Niemand hatte es ihr geraten, niemand es verlangt. Aber es war ein Drang in ihr, die ärmlichen und zerfahrenen Zustände im väterlichen Haushalt gesünder und freier zu gestalten.

»Die Liesel will reich werden,« sagte der Bruder, und er strich ihr übers Haar, als sie am Tisch saß zwischen Spitzen und Bändern.

Nach einem Jahr schon war das Geld nicht mehr so knapp im Haus, wenn auch noch knapp genug. 15

Von der ersten Summe, die nicht der Tag verschlang, kaufte die Liesel ihrem Bruder eine Flöte. Sie trug sie nach Haus, eingehüllt wie einen großen Schatz, daß nicht die stäubenden Schneeflocken die blitzenden Klappen trüben sollten.

Der Krüppel saß am Werktisch auf dem hochgeschraubten Drehstuhl mit der eisernen Spindel, als die Schwester stumm und mit leuchtendem Blick ihm das Instrument hinlegte. Seine bleichen Hände zitterten, sein Kopf sank ganz vornüber, als er die Gabe sah. Und nun tropfte es von seinen Augen auf die Klappen. Er hat sie wieder blank gerieben wie Silber. Damals blieb kein Flecken daran.

Und wieder einmal war überflüssiges Geld vorhanden. Da kauften die Kinder Albrecht Neuhaus ein astronomisches Werk, von dem der Vater seit Jahren sprach mit jener Sehnsucht, die sich nicht zum Wunsch verdichtet, weil man die Sterne nicht begehrt. Sie haben dem alten Mann das Buch heimlich ins Bett gelegt und die Decke so glatt gestrichen, wie es die Liesel sonst niemals tat. Und als er in seine Kammer ging in jener Nacht, da sind sie lauschend und horchend an der Türe gestanden, haben sich an den Händen gehalten und gezittert, so daß keines mehr wußte, spürte es den eigenen Pulsschlag in den Fingern oder den des anderen. Und als der Vater so gar keinen Lärm machte, da ist ihnen ein heißes Bangen gekommen, das sie hineintrieb in die enge Kammer.

Der alte Mann saß auf des Bettes Rand mit einem Gesicht, das die Glückseligkeit fast verstört hatte.

»Meine Kinder,« murmelte er immer, »meine Kinder.« Und dann hatte er angefangen, fiebrig wie ein Knabe am Weihnachtsabend, Bilder zu zeigen in 16 dem Buche und Bilder am nächtlichen Himmel, wo hoch über der Gasse und der ärmlichen Uhrmacherskammer der goldene Wagen stand, den er glücklich und dankbar seinen lächelnden Kindern versprach für ihre Liebe zum Vater. »In der goldenen Kutsche werdet ihr noch fahren, du, Heiner, und du, mein Mädelchen.«

So gingen ein paar Jahre.

Das Buch des Albrecht Neuhaus tat in der Weise der Bücher, der Strolche und der Ameisen: Es hatte eine gute Statt gefunden und zog nun seine Artgenossen nach sich, so daß der alte Uhrmacher immer tiefer unter die Sterne geriet.

Und den jungen, den zogen die blitzenden Flötenklappen stark aus der Bahn, so daß die Uhrmacherei ins Arge geriet.

Es kam so, daß die schwarze Liesel in der toten Zeit ihrer eigenen Kunst nach und nach die Griffe aus dem Handwerk von Vater und Bruder lernte. Sie verstand bald, ein Werk auseinanderzunehmen, eine gesprungene Feder zu ersetzen, ein Glas einzufügen, verharzte Räder zu reinigen.

Keines von den dreien sprach darüber. Vielleicht glaubten Vater und Sohn an Wichtelmännlein, die in der Stille der Nacht emsig die Arbeit derer tun, die über dem Dienst am Schönen und Guten das nüchterne Werk des Alltags nicht mehr zwingen. Der Nachbar Schmied freilich hatte einen anderen Glauben. Als er mit einer Reparatur an seiner handfesten Uhr den alten Mann ins Brot setzen wollte und statt dessen von der jungen Tochter bedient wurde, da sagte er nachdrücklich: »Meine Mutter hat Recht mit ihrer Rede.«

Und als ihn die Liesel um diese Rede fragte, da tat er den Ausspruch: »Aus zwei echten Mannsleuten kann 17 man ein Frauenzimmer machen, wenn man aufpaßt und den Stoff gut einteilt. Aus einem echten Frauenzimmer aber schneidet man leicht zwei Mannsleute heraus und es bleibt noch ein schöner Rest zum Flicken.«

Der Schmieds Mutter aber war in jungen Jahren eine Nähterin gewesen und hatte drei Männer gehabt, so daß sie Urteil und Erfahrung befaß.

✤           ✤           ✤

Nun ist ein Wort von Doktor Gothe zu reden. Er wohnte nicht in der Wassergasse, aber seine Praxis hatte er hier und in ähnlichen Lagen des Städtchens. Auch im Tal und auf der waldumgrenzten Höhe unter den Bauern wohnte ihm Kundschaft. Er war ein untersetzter Mann und ziemlich breit in den Schultern. Sein graumeliertes Haar trug er lang, fast wie ein Musikant. Es war immer schlicht aus der breiten Stirne gestrichen und selten vom alten Schlapphut bedeckt, den der Doktor meistenteils in der Hand trug, wenn er ihn nicht neben sich auf dem Sitz seines alten Chaischens liegen hatte, das ein ebenso alter Brauner ohne sonderliche Eile durchs Tal und auf die Höhe zog. Klug, offen und etwas kurz angebunden schaute der Doktor drein. Er wußte, was er wollte, und niemals hat er dieses Wissen jemand vorenthalten. Ein stark angegrauter Bart umgab das rötliche Gesicht, in dem die Nase noch etwas kräftiger gerötet war. Der Doktor sagte, das komme daher, daß er sie so oft schon in Dinge habe stecken müssen, die einen anständigen Menschen erröten lassen.

Er hatte für gewöhnlich eine äußerst kurze Art, mit den Leuten umzugehen. Aber da, wo ihm der Ernst der Krankheit oder auch ein anderer Lebensernst entgegentrat, da hatte er ungemein viel Zeit, ja da ward er oftmals beredt. Seit vielen Jahren war er verwitwet. 18 Seine junge und schöne Frau, die im ersten Wochenbett mit ihrem Kind hatte sterben müssen, war fast eine sagenhafte Gestalt in der kleinen Stadt. Der Doktor selbst sprach nicht von ihr. Er verheiratete sich nicht mehr und lebte mit einer ledigen, alten Schwester zusammen.

Wohl ging es äußerlich still und glatt zu in diesem Haushalt. Aber es war in Wahrheit ein bis an die Zähne bewaffneter Friede, der zwischen den Geschwistern waltete. Ein Friede, der den blanken Harnisch nur ablegte, wenn die beiden räumlich getrennt waren. Dann liebten sie einander in trockener Selbstverständlichkeit als Zweige eines Stammes.

Wirtskinder waren sie. In einem Dorf zwischen weiten Tannenwäldern lag ihr stattliches Vaterhaus mit dem blanken Schild.

Wirtskinder aber haben zumeist den scharfen Blick für Menschen und Dinge. Das kühle Aufpassen haben sie und ein frühes, nüchternes Urteil. Hungernde und Dürstende sehen, das ist fast wie nackte Menschen sehen. Die Linie, der scharfe Umriß tritt hervor unter der Hülle. Jungfer Anna, des Doktors Schwester, hat es bewenden lassen bei Nüchternheit und Kühle und geradem Blick. Aber dem Doktor ist aus diesem Boden heraus ein Kraut gewachsen, das in keiner anderen Erde so gut gedeiht. Als er noch die bunte Mütze trug, da sagten seine Bundesbrüder von ihm, es fehle an seinem Namen nur ein einziger Laut, oder eigentlich nur ein halber Laut, dann wäre ein großer Dichter draus geworden. Jungfer Anna aber sagte, ihr Bruder sei und bleibe ein großer Kindskopf.

Beide Teile werden Recht gehabt haben, denn im Grund meinten sie dasselbe.

Der Doktor hatte jenes ewige Brodeln in sich, jenes Gären und nicht ganz klar werden können, jenes 19 Aufsteigen und Zurücksinken, das aussieht, als ob der liebe Gott ein wenig zu viel Hefe in den Teig genommen hätte. Nüchtern in nüchternen Dingen, besaß er doch die Wünschelrute, die köstliches Wasser und flimmerndes Gold aufspürt. Und ob er gleich herzlich breitspurig und fest über den Erdboden schritt, hatte seine Seele doch heimlicherweise Flügel, in denen sich selbst ganz zarte Lüftchen zuzeiten fangen konnten.

Er hatte ursprünglich Pfarrer werden wollen. Er dachte sich als Knabe schon aus, wie das schön und äußerst unterhaltsam sein müsse, wenn er auf der Kanzel seines Heimatdorfes stehen und Mäßigkeit predigen würde in allen den Genüssen, die das väterliche Gasthaus zu bieten hatte, das bis zu jenem Zeitpunkt längst in den Händen der Anna wäre. Sie kamen sich dazumal oft darüber in die Haare, die Geschwister, mit Worten und Tätlichkeiten.

Vielleicht hatte Bruder August auch noch innerlichere und tiefere Motive für seine Berufswahl. Aber die sagte er dann nicht. In dieser Hinsicht war er bis in sein Alter hinein wie ein Kind, das sein Hemdlein nur ganz allein ausziehen und nicht einmal die Mutter dabei haben will. Aber es kam dann etwas zwischen August Gothe und die Theologie. Eine Krankheit, von der der Arzt nicht viel Gutes und der Schäfer das Schlimmste sagte. An den Lungen nagte das Uebel. Ein bißchen Schwindsucht hieß es kurzweg im Dorf.

Aber Hirschwirts August streckte die Waffen nicht. Ein Jahr lang hat er einen Kampf geführt auf Leben und Tod. Achtzehn war er damals und die Anna zweiundzwanzig. Die Eltern der Geschwister ließen in jenem Jahr gerade den Hirsch umbauen, vergrößern und verschönern. Man hörte wohl den Sohn husten; aber es 20 war viel anderer Lärm da, der die Töne verschlang. Man setzte dem August zu mit allem, was man für gut hielt; aber die Gäste durfte man nicht drüber versäumen. Anna aber ist in jenem Jahre hinter dem Bruder gestanden, wie der Büchsenspanner hinter dem Schützen steht: Jede leergeschossene Flinte hat sie ihm abgenommen und unermüdlich frisch geladen, so daß er nie waffenlos war beim Anstürmen des Feindes.

Niemand weiß, wie die Kur von Hirschwirts August eigentlich war. Es heißt, er habe dem Schäfer gefolgt und rote, nackte Schnecken gegessen. Es heißt auch, er habe den ganzen Winter hindurch im Bach gebadet und hinterher einen geheimnisvollen Tee getrunken. Tannennadeln soll er zu Muß gekocht und auf den Rücken und die Brust gebunden haben. Wer weiß da Sicheres? Man weiß nur, daß August Gothe mit gespreizten Beinen gegen den Tod stand, wie ein unerschrockener Landsknecht gegen den schwertklirrenden Feind.

Und man weiß, daß im Herbst nach der Krankheit August Gothe nach der hohen Schule abzog, um Arzt zu werden.

Vom Pfarrer war keine Rede mehr.

Ein lustiger, fast ein wilder Student wurde er. Es war wie trunkener Siegestaumel in ihm. Die Anna schalt und sorgte für Geld. Den Bundesbrüdern stürmte Gothe voran auf jeder Bahn zur Freude. Reiten und fahren, fechten, turnen, tanzen und musizieren konnte der August trotz Einem. Nur im scharfen Trinken und in dem, was manche Lieben nannten, ließ er denen den Vortritt, die noch nie um ihr junges, schönes Leben rote Schnecken gegessen hatten.

Mit dreißig Jahren hat sich Gothe in der Stadt im Tal festgesetzt. Aus der Fremde holte er seine schöne 21 Frau, begrub sie nach einem Jahr und rief die Anna in sein verwaistes Haus. So ward er, der er war.

Mit diesem Doktor Gothe saß dann und wann der Uhrmacher Neuhaus zusammen im blauen Kreuz. Meist zu einer Stunde, wenn die anderen Abendgäste noch nicht da waren. Zufällig hatten sie sich einmal da getroffen. Und dann wieder und wieder, ohne Verabredung. Wenn die Einheimischen kamen, die Honoratioren der Stadt, dann ging meist der Uhrmacher. Der Doktor fand bald Gefallen an diesem Mann, dem merkwürdige Weltunkenntnis eine stille Vornehmheit aufprägte.

Wenn sie beisammensaßen, ging die Unterhaltung bald um Uhren und bald um Menschen, meistens aber um Sterne. Denn dahin führten bei Albrecht Neuhaus alle Wege, und der Doktor ließ sich nur allzugern mitschleppen. In einer eigentümlich stolzen und glücklichen Bescheidenheit kramte der Uhrmacher sein Wissen aus. Dieses Wissen und Suchen, das ihm alles andere aus der Hand spielte, ohne daß er es merkte.

Der Doktor durchschaute bald, daß sein neuer Freund einer von den Menschen war, von denen die Schrift sagt: er verkaufte alles was er hatte und kaufte die Perle.

Erst nach Jahren kam der Doktor, wegen der Atemnot, die den Uhrmacher zeitweilig quälte, auch in dessen Heim und sah des Alten Kinder, von denen er vieles gehört und mehr sich zurechtgelegt hatte.

Er besaß ein schwarzes, ziemlich dickes und schmieriges Buch, in das er seine ärztlichen Notizen und noch vieles andere einzuschreiben pflegte. Denn er brachte es nie fertig, das Aerztliche von dem anderen zu trennen. Merkwürdige Dinge standen in dem Buch, das ein lahmgezogenes, breites Band lässig zusammenhielt. Gereimtes 22 und Ungereimtes, auf das sich der Doktor umsonst einen Vers hatte machen wollen.

Als er von dem Gang zu Albrecht Neuhaus heimkam, schrieb er nach einigen geschäftlichen Notizen: »Die Tochter scheint ganz hübsch Geld zu verdienen. Denn des Alten Atemnot ist nicht so, daß ganz arme Leute nicht zum lieben Gott allein gehofft hätten, er werde helfen. Hat einer erst ein bißchen Geld, so läßt sein Gottvertrauen nach, und er holt den Doktor. Hat einer aber viel Geld, so wird er leicht ganz des Teufels und läßt mich holen um einen Nadelstich. – Der Sohn, der Krüppel, hat's hinter den Ohren. Nur weiß ich nicht was.«

Als der Doktor zum zweitenmal in die Wassergasse zum Uhrmacher kam, spielte Heiner Neuhaus auf seiner Flöte. Nebenan in einer Kammer war er und sah und hörte den Besucher nicht.

Die Liesel stand neben ihres Vaters Stuhl und hielt die Augen blank und urteilheischend auf den Doktor gerichtet.

Der wußte nicht recht, um welches Urteil sie ihn fragten. Er beugte sich zu dem alten Mann, befühlte den Puls und besah die Zunge. »Gut«, sagte er, »ganz gut, es macht sich ja rasch.« Dann aber schneuzte er sich laut und meinte: »Der junge Mann ist ein Musikant, das spürt ein Esel.«

Da bekam Albrecht Neuhaus einen Anfall kurzer Atemnot. Denn diese Sache war ihm schon jahrelang wie ein Strick um den Hals, an dem man auch nicht leise ziehen darf.

»Weiß Gott,« sagte er dann sorgenvoll in seiner rheinpreußischen Sprache, die auch seinen Kindern noch 23 in deutlichen Spuren anhaftete, »weiß Gott, es wird ihm schwer, wider den Stachel zu löcken.«

Doktor Gothe kämmte sich mit den Fingern das lange Haar aus der Stirne. »Glaub's wohl,« sagte er leise, »keiner tut leicht, wenn er einen der Teufel im Leib hat.« Laut setzte er dann hinzu: »Er lernt das Uhrenmachen?«

»Ja,« erwiderte der Alte, »das heißt – –«

»Er lernt es nicht, er soll es nur lernen,« fiel die Tochter ein.

Der Doktor lachte. »Soll, soll! Kein Mensch muß müssen, hat einer gesagt. Aber nirgends steht, wie oft er gemußt hat. Also die Uhrmacherei gefällt dem jungen Mann nicht? Ich, wenn ich etwas zu sagen hätte, ich würde ihm raten: Mach Uhren auf Tod und Leben. Die Finger müssen dir brennen von der Arbeit, dann glimmt die Glut in dir auf, von der die Lieder leben. Keine Zeit mußt du haben zum Musizieren, dann sammelt sich der Dampf, dann steigt der Druck und die Kraft wächst.«

Albrecht Neuhaus schaute mit großen Augen auf den beredt gewordenen Doktor. Er sagte lange nichts. Dann fragte er schüchtern: »Wenn's aber übermächtig wird in einem –?«

Der andere lachte fast hart. »Ach was,« sagte er wegwerfend, »es platzt selten ein Kessel. Viel eher verlöschen die Feuer zu früh. Am Feierabend kann man immer die Ventile heben und abblasen lassen. Da wüßte ich auch dem jungen Herrn Rat. Ich bin nicht eingeschworen auf Asthma und Wochentölpel. Hab schon manche Kur gemacht, die abseits vom Weg lag. Meine Schwester sagt –« er stockte, strich sich übers Haar und fuhr in anderem Ton fort: »Nichts ist so ein Greuel vor 24 Gott und Doktor Gothe, als wenn einer, der die ersten Hosen noch nicht recht verrutscht hat, sich entschließt, ein Künstler zu werden.« Er sagte aber ›Künschtler‹ mit zischendem Laut, riß die Augen auf und streckte den Hals vor.

Albrecht Neuhaus lachte ein wenig, nickte mit dem grauen Kopf und sagte nichts.

Der Doktor wandte sich unvermittelt der Liesel zu. »Und Sie, Fräulein?« –

Sie schaute ihn fast erschrocken an. »Ich? was meinen Sie?«

»Ich meine, ob Sie auch Künstlerträume haben oder irgend welche großen Pläne?«

Seine Augen gingen, als er das sagte, fast scharf über das Mädchen, das groß und schlank neben dem Vater stand.

Ihr helles Kleid war ganz verwaschen. Ein schwarzer Samtstreifen säumte den kleinen Ausschnitt, aus dem der blasse Hals zart und schlank trat. Die dunklen, geraden Brauen liefen schmal gegen die Nase, und das reiche Haar lag schön geordnet um das farblose Gesicht. Fast wie in grimmiger Prüfung betrachtete der Doktor das Mädchen, das seinem Blick mit klarer Ruhe standhielt.

»O ja,« sagte sie dann klingend, als ob plötzlich irgend ein Erz in ihrer Stimme wäre, »ich will doch reich werden, sehr reich, schwer reich.«

Dreimal sagte sie das Wort, wie wenn sie es unterstreichen wollte.

In des Doktors Gesicht verzog sich keine Miene. »Donnerwetter« murmelte er.

Dann streckte er dem alten Mann die Hand hin. »Gute Zeit, Herr Neuhaus. Sie haben da ein Pärchen, 25 das könnten die Tauben nicht besser zusammentragen, und wenn sie bis ans Ende der Welt flögen. Heiners Gebresten will ich nicht aus den Augen verlieren. Aber, was dem Fräulein not tut, das kann ich, weiß Gott, nicht verschreiben. Sie führen's in keiner Apotheke. Aber oft findet man am Weg was man braucht. Dann heißt's nur zugreifen! Ich wünsche Glück allerseits!«

Und seinen Schlapphut schwenkend, ging er die halbdunkle Stiege festschreitend hinunter.

Nicht lang danach klopfte es gegen Abend an Albrecht Neuhaus' Türe.

Es war etwas Zögerndes in diesem Klopfen. Jedenfalls kam da kein Kunde, der eine große Summe bar bezahlen wollte. Das Herein, das von innen kam, klang denn auch nicht sonderlich erwartungsvoll. Man tut ja doch immer nur für Mummenschanz und Allotria die Türe so recht sperrangelweit auf und schaut gespannt dem Kommenden entgegen. Wenn aber ein schlichtes Stück Schicksal bescheiden anklopft, dann blickt man kaum auf, und es mag zusehen, wie es hereinkommt.

Die Uhrmacherskinder waren allein in der Stube, und die Liesel hatte das Herein gerufen.

Ein Mann trat über die Schwelle, der trug in der einen Hand einen Geigenkasten und in der anderen den Hut. Ein paar Schritte trat er ins Zimmer und blieb dann stehen. Das Mädchen legte einen Stoß Bänder und Spitzen weg und stand langsam auf.

»Sie wünschen?« fragte sie.

Der Eingetretene gab nicht sogleich Antwort. Er war vielleicht auf eine so knappe Frage nicht vorbereitet, und es ist nicht jedermanns Sache, aus dem Stegreif kurz und klar zu sagen, was er wünscht. 26

In der Dämmerung, die die Stube schon mit leisem Grau erfüllte, stand das Mädchen in dem hellen Kleid vor dem fremden Mann, und kein Tröpflein Blutes floß ihr rascher als sonst durch die Adern.

»Verzeihen Sie,« sagte mit einer etwas belegten, etwas unfreien Stimme der Mann, »wohnt hier der junge Herr Neuhaus, der Flötist?«

Am Fenster hinten gab es ein polterndes Geräusch, denn Heiner war zu rasch von seinem Drehstuhl gerutscht.

Das Mädchen aber sah gar nicht zurück. »Ja,« antwortete sie, »mein Bruder bläst Flöte; aber er ist Uhrmacher.«

Der fremde Mann schritt jetzt vor und stellte seinen Geigenkasten auf den Tisch, auf dem Uhrengehäuse, Hutformen und Spitzen lagen.

»Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle. Ich bin Hilfslehrer an der Mädchenschule, heiße Ernst Eisenreich und wohne draußen bei Doktor Gothe im Dachstock.«

Er schwieg, wie in der Erwartung, daß er nun zufriedenstellend eingeführt sei und auf eine ordentliche Begrüßung Anspruch hätte. Aber die beiden in der Stube gaben keinen Laut von sich, so daß es wie Bangigkeit durch den dunkelnden Raum ging. Danach sagte der Fremde leiser, schüchterner: »Doktor Gothe meinte, wir könnten dann und wann zusammen spielen nach Feierabend. Ich glaubte, sie wüßten davon.«

Am Fenster hinten sagte der Krüppel: »Zusammen spielen, ja – –«

Das Mädchen sah an dem Manne hinauf. Sie konnte nicht mehr viel anderes wahrnehmen, als die große, schlanke Gestalt, den Haarschopf über der Stirne und zwei blinkende Augen. Auf dem bärtigen Gesicht lag schon zu viel Abendschatten, als daß man so recht 27 deutlich hätte sehen können, was der für einer war, der da in der Stube stand. Heiner Neuhaus aber war nicht umsonst ein Musikant. Die sehen mit den Ohren, und so war ihm des Mannes Stimme wie eines Freundes Angesicht.

An jenem Abend, als die Lampe auf der schwarzen Liesel Arbeitstisch brannte und alle übrigen Ecken der Stube im Dunkel lagen, spielten Ernst Eisenreich und Heiner Neuhaus zum erstenmal zusammen.

Das Mädchen aber nähte und hob den Kopf nicht. Ihre Finger flogen, und ihr blasses Gesicht nahm jenen dunkleren Ton an, der bei solchen Gesichtern das Erröten in Freude ersetzt. Lieder spielten die beiden. Das war alles, was sie damals konnten. Noten hatten sie keine.

Aber es gibt kleine Lieder, die sind wie ein Extrakt, aus aller Musik Himmels und der Erden gezogen. Wenn sie erklingen, dann schwingt mit, was in Menschenherzen unter der Macht der Töne schwingen kann.

Es war ein langer, glückseliger Abend, dazumal. Heiner war wie einer, der zum erstenmal, ungewarnt, über starken Wein gekommen ist. Die Liesel freute sich wie über eines Kindes Freude. Sie spürte, daß da ein Reichtum eingekehrt war in des Hauses Armut; das machte ihr die Augen glänzend. Der alte Neuhaus kam heim aus dem blauen Kreuz. Er wußte schon vom Doktor, daß dieser bärtige, schüchterne Geigenspieler geeignet und bestimmt sei, dem Flötisten beizustehen, daß am Feierabend der überschüssige Dampf abblase und der Kessel nicht in Gefahr komme zu platzen.

So fingen die Spielabende an im Uhrmacherhaus. Um was es ging und was des Spieles Preis war, das wußte damals noch keiner. Still zog die große Spinne, die wir das Schicksal heißen, die unsichtbaren 28 Fäden aus ihrem Leib und heftete sie an in den dämmerigen Ecken der Uhrmachersstube. Die Mücken aber summten noch arglos und freuten sich an Wärme und Sonne.

Damals hat des Doktors Schwester, die Jungfer Anna gesagt, ihr Dachstockmieter fange an, seinen Namen nicht länger absolut zu schänden. Es sei, als ob endlich, endlich etwas Eisen in sein Blut komme. Langsam aber deutlich. Und Heiner Neuhaus schlief bei Tag mit offenen Augen. Am Abend aber erwachte er stark und frisch.

Der alte Neuhaus wanderte bei Geigen- und Flötentönen seine erdfernen Wege, und Liesel, die schwarze Liesel nähte mit fliegenden Fingern und heißer Stirne ums Geld.

✤           ✤           ✤

Die kleine Stadt am Fluß, in deren trockenstem Teil die Wassergasse liegt, ist umschlossen von Bergzügen, die bewaldete Flanken und nackte Rücken haben.

Auf einem dieser Bergrücken liegen die drei Orte Jakobshof, Breithof und Hohenweiler. Wie eine Lehmkugel, die ein Riese auf den Boden warf, daß sie in drei ungleich große Stücke auseinander barst, liegen die Dörfer auf der Höhe.

Häuser, Aecker, Vieh und Menschen sind aus dem gleichen Stoff. Sprache und Gebräuche, Glauben und Aberglauben, ja die inneren und äußeren Gebresten sind bei den Leuten von jener Höhe gleicher Art.

Man sieht große Kröpfe in Jakobshof, Breithof und Hohenweiler, und das frühzeitige Einschrumpfen, Vertrocknen und Welken an Seele und Leib ist überall das gleiche. Auch die zahlreichen ledigen Kinder, die der Jakobshofer Pfarrer zu taufen hat, verteilen sich redlich auf die drei Orte. 29

Nur die Markung von Jakobshof ist größer als die anderen, und das einzige Kirchlein, das seinen nadelspitzen Turm gen Himmel reckt, steht zu Jakobshof zwischen grünenden Linden.

Auf Jakobshofer Markung liegt auch die Mühle im kalten Grund und die Wälder, die dem dortigen Müller gehören.

Vielleicht wäre längst eine zweite Mühle an den Elsterbach gestellt, wenn nicht die Klotz vom kalten Grund schon seit Urzeiten ihre Hand über Bach und Wälder, Bergwiesen und Felsgehänge in jener Schlucht gelegt hätten. Auch auf der Höhe oben gehören die schönsten und besten Aecker zur Mühle.

Wenn man einen dummen Buben aus einem der drei Dörfer fragt, wer der reichste Mann auf Erden sei, so nennt er zuerst den Klotz vom kalten Grund und dann den lieben Gott. Fragt man aber zufällig einen gescheiten, so hört man die umgekehrte Reihenfolge.

Bei der Sündflut muß man anfangen, wenn man erzählen will von diesen Müllern mit dem harten und kantigen Namen. Wie man blutdürstige Bracken auf einen Eber hetzt, so hat dazumal Gott der Herr die furchtbaren Wasser auf das Menschenvolk losgelassen. Und als sie schäumend und wütend alles Lebendige erwürgt hatten und sich keuchend zurückschleppten zu ihres Herrn Füßen, da zeigte sich's, daß sie in ihrer unvernünftigen Wut auch die Flanken der schuldlosen Berge aufgerissen und die duldende Erde bis tief ins Innere durchwühlt hatten auf der Suche nach Sündern. Aus diesen offenen Wunden sickerten und strömten danach die Bäche bis auf den heutigen Tag. Auch der Elsterbach, der in der halben Höhe seines Laufes die Mühle zum kalten Grund treibt, hat diesen Ursprung. 30

Steile Bergwiesen und Kartoffeläcker schaffen im Fichtenwald eine Lichtung, auf der die Häuser des Anwesens mit tiefhängenden Dächern stehen. Uralte, schwärzliche Biberschwänze decken diese Dächer. Es heißt, die flechtenbenagten spitzen Platten stammten aus der gleichen, längst verschwundenen Ziegelstätte, die für Klöster, Burgen und Freibauernsitze im weiten Gau gearbeitet habe. Klöster, Burgen und die Sitze jener Freien liegen in Trümmern. Auf dem Dach der Mühle aber geht noch Sonne und Regen über die Biberschwänze. Uralt sind auch die hölzernen, schwarzgrünen Deicheln, auf denen das Elsterbachwasser herübergeleitet wird auf die Schaufeln des mächtigen Rades, das ächzend seine Arbeit tut, wenn die Höhenleute ihr Korn zur Mühle bringen.

Aber von dieser Hantierung allein wäre den Müllern die Suppe nicht allzu fett geworden. Darum waren die Klotz vom kalten Grund schon seit die Welt steht in der Hauptsache Holzhändler und Waldbesitzer. Die paar Mahlgänge besorgten Knechte, von denen der oberste der Mühlemichel hieß, auch schon seit die Welt steht.

Von den Deicheln hängen nasse Flechten und Algenbärte. Wenn der Winter mit eisiger Hand diese Bärte streicht, dann ziehen sie sich in die Länge, und ihre Spitzen haften fest auf dem steinigen Grund.

Dicht neben der Mühle, mit Stall und Scheune unter einem Dach vereinigt, steht das Wohnhaus. Es hat eine lange Reihe gleichmäßiger Fenster, die wie das Gebiß eines zähnefletschenden Hundes gegen den Hof sehen. Blitzblank sind sie alle, und doch sehen sie eher abweisend aus, als einladend. Verdrossen schauen die dunklen, rundbogigen Türen mit ihren breiten Steinschwellen in die Welt. 31

Der weite, eingezäunte Hof ist mit großen Steinplatten gepflastert, bis auf die Ecke, in der der Dunghaufen mit Kunst geschichtet ist. Dahinter ragt die Jauchepumpe hoch und gerade, mit der ruhigen Ueberlegenheit dessen, der den Dingen auf den Grund sieht und seinen stillen Wert kennt.

Im Frühsommer sitzen die weißen Tauben in Scharen auf den Dächern. Gegen den Herbst hin aber hat die meisten der Habicht geholt. Wohl kläfft der Hund und rasselt mit der Kette, wenn über dem kalten Grund der glasäugige Räuber seine Kreise zieht. Der jeweilige Müller läuft und lief dann wohl auch nach der Flinte; aber still, geduldig und unabwendbar harrt der schwarze Punkt im Aether oben, bis es für ihn Zeit ist, das Seine zu holen. Keinem Müller von Noahs Zeiten her ist es aber deshalb je eingefallen, den Taubenschlag vom Dach zu reißen, oder auch nur, statt der weißen, weithin leuchtenden Vögel eine bescheidene, graue, unscheinbare Rasse einzutun. Weiße Tauben müssen es sein im kalten Grund.

Hinter dem Wohnhaus, am Bach hingestreckt, liegt ein schmaler Garten, in dem dunkle Dahlien und spanische Wicken wachsen. Die Dahlien blühen rot, und die Wicken blühen auch rot, und es heißt, in diesem Garten könnten nie andere als rote Blumen gedeihen. Weil dort, neben dem Bach, das geschehen sei, was kein Wasser abwäscht, und was in keiner Erde vermodert.

So weit man zurückverfolgen kann in den Kirchenbüchern von Jakobshof haben die Müller vom kalten Grund immer nur einen Sohn, vielfach überhaupt nur ein Kind gehabt.

Das kommt aber daher: Es waren in grauen Zeiten zwei Brüder des Namens Klotz. Sie hießen so, weil sie hart waren wie eichene Klötze, an denen die Art abprallt, 32 und an denen sogar das Feuer nur leckt, wie die Rehe am Steinsalz. Der eine war der Johannes, der andere der Friedrich Klotz. Man glaubt in Jakobshof, daß diese beiden es gewesen sind, die gleich nach der Sündflut die Mühle im kalten Grund bauten und dort einschichtig lebten. Danach aber brauchten sie eine Weibsperson für das Hauswesen, weil sonst keine Ordnung ist und kein Fortkommen. Da nahmen sie eine Magd, die stammte weit hinter den Bergen her. Barfuß kam sie mitten im Winter, und sie hatte nichts als ein flächsenes Hemd am Leib und einen Rock von Drillich, wie ihn kein Weber weitum webte, und der nasse Rocksaum schlug ihr nur so um die braunen Waden. Dazu war sie hoch und breit wie ein starker Mann.

Das ging eine Zeit, wie es ging, dann warfen die Müllerbrüder die Augen auf sie und konnten von Stund an nicht lassen, nach ihr zu schauen. Denn sie merkten wohl, daß die Regine war, wie das Weib sein muß, das ein Mann braucht, der einem eichenen Klotz gleicht. Die zwei wollten nicht sündigen. War doch die böse Flut kaum verströmt, und die Erde noch voll von Schrecken über Gottes Zorn.

Aber dieweil dieser Gott nach der Sündflut vergessen hatte, sein Wort zurückzunehmen, wonach die Menschen fruchtbar sein und sich mehren sollten, so schlief in den zwei wuchtigen Klotzen vom kalten Grund ein machtvoller Trieb, der wach wurde, als das Weib unter ihnen einherging. Es kam ein Tag, da die Männer gegeneinander angingen mit blutunterlaufenen Augen.

Noch heute, wenn auf der Jakobshofer Höhe ein Zornmütiger den anderen anspringt, heißt es: »Der hat eine Wut wie die Klotze von dazumal.«

Es war eine heiße und böse Sache, bis endlich einer 33 als Sieger, keuchend, mit Fetzen und Wunden am Leib, allein auf dem Plan stand, dort hinten im Garten. Der andere lag im Elsterbach, und sein heißes Blut verströmte im eiskalten Wasser. Die Magd aber tat sich zu dem Sieger, ward sein Weib und dachte nicht, daß das anders sein müsse.

Gott aber, als er diesen blutigen Handel sah, erschrak ob dem wilden Geschlecht. Doch mit seinen tiefen und wahrhaftigen Augen sah er wohl, daß der Mann der Magd kaum mehr getan hatte, als der starke Hirsch tut, wenn der Wald sich färbt, wenn ihm der Dampf aus dem Maul fährt, weil die Zeit gekommen ist. Darum zeichnete er den, der seinen Bruder erschlagen hatte, nicht, wie er einst Kain gezeichnet hat, der nur aus erbärmlichem und giftigem Neid den reinen Abel erschlug. Aber auf die Magd, die jetzt das Müllers Weib war, legte er die Hand und befahl, daß ihr Leib nicht öfter denn einmal mit einem Knaben fruchtbar sein dürfe, und daß hinfort nie wieder zwei Männer dieses Geschlechts, die der gleiche Mutterschoß getragen, gegeneinander stehen sollten.

Von dieser uralten Sache kommt es, wie jeder aus der Höhe dort weiß, daß die Klotz vom kalten Grund immer nur einen Sohn und meistens nur ein Kind haben. So wuchs die Sippe nicht; aber es wuchs der Besitz.

Es sind Bauern in Jakobshof, Breithof und Hohenweiler, die sagen frei heraus, sie wollten, einer ihrer Vorfahren hätte seinen Bruder erschlagen. Denn wenn der Segen Gottes aus allzuvielen Kindermäulern lache, sei jede Schüssel mächtig schnell leer gegessen, und aus dem schönsten Stück würden ärmliche Stückchen.

Die Klotze vom kalten Grund sind von jeher gern mit dem Flintenriemen über der Achsel hinausgestreift 34 in ihre weiten Wälder hinter Füchsen und Rehen her. Da sind sie ein paarmal mit den Bauern aneinander gekommen. Denn wo Gott einen Wald wachsen läßt, haben die Bauern Jägerblut. Es ist das lange her; aber der Riß will nie recht vernarben.

Auch daß die Klotze vom kalten Grund nur ein Jahr oder zwei in die Jakobshofer Schule gehen und dann in die Stadt kommen, bringt Müller und Bauern einander nicht näher. Man sagt auch in Jakobshof, Breithof und Hohenweiler, die Stadtschule mache es, daß die Klotz vom kalten Grund immer etwas Hochfahrendes an sich haben, wie die Katze, die im Pfarrhaus mausen darf.

Aber für einen Klotz sei diese Stadtschule doch zum Segen geworden, heißt es. Der uralte Waldschütz Rall kann das erzählen, denn er hat es von eben diesem Klotz, dem er lange Jahre als Waldhüter gedient hat, mit eigenen Ohren vernommen.

Es war aber so: Johannes Klotz, der Großvater des heutigen Müllers, stand bei den Reitern in Ulm, als der Napoleon kund tat, daß es nach Rußland gehe und zwar bald. Da zog denn der Johannes Klotz mit und sah jene Stadt brennen. Den Napoleon und den Klotz hat da das Grausen gepackt, so daß sie umkehrten von Stund an. Wüst ist es dann zugegangen. Dem Müller, der als alter Mann seinem Waldschützen die Sache erzählen wollte, sind die Worte ganz starr geworden im Mund. Stückweis nur, wie man die Schafe scheert, hat er hertun können, was passiert ist. Hat doch keiner auf jenem grausigen Rückzug das ganze Elend völlig übersehen können. Wie Scheuklappen ist der eigene Jammer jedem rechts und links am Kopf gestanden, so daß man nur hat können vor sich hinstieren ins Schwarze oder Blutige. 35

Da ist einmal der Klotz in einer Schneemulde gelegen, abseits von dem Weg, auf dem zerlumpte Franzosen stumm dahinwankten, bis sie umtorkelten, um nicht mehr aufzustehen. Mit sieben Lanzenstichen, die ihm ein Kosak verabreicht hatte, lag er da und dachte dahin, wohin jeder denkt, wenn es draußen in der wüsten Fremde um Kopf und Kragen geht. Da hörte er auf einmal um sich den Wald rauschen, wie er rauscht, wenn der Wind von Breithof herunter streicht. Das Wasserrad hörte er tosen, als sollte Unwetter kommen, und die Mahlgänge schütterten, daß es einem das Herz gegen den Kittel stieß. Und dann war da die weite Stube mit dem Tisch, auf dem das Brot lag. Ein Laib, groß wie ein Wagenrad, gut mit Mehl bestäubt, nieder und durchgebacken, wie die Mutter das fertigbrachte. Verkehrt lag der Laib auf dem Tisch, die weiße, mehlige Seite nach oben. Das mußte der Vater getan haben, der machte es immer so. Die Mutter sagte dann, das bedeute Streit im Haus, und sie drehte den Laib um. So kam durch der Mutter Verdienst der Streit nie zustande, so oft auch der Vater den besten Grund dazu legte. Neben dem Brotlaib lag das Predigtbuch, in dem die Mutter am Abend zu lesen pflegte. Nicht sehr hell war es in der Stube. Nur etwa so, wie wenn draußen vor den Fenstern der volle Mond auf den Schnee scheinen würde. Und der Hund bellte heiser am Hoftor.

Dann trat der Vater in die Stube. Er trug über dem grauen Wams die Flinte geschultert. Sein Tritt knirschte hart auf dem Stubensand, als er zum Tisch schritt. Auf das geschlossene Buch legte er die Hand, und der Flintenriemen glitt ihm von der Achsel. Dann stieß er das Buch hart fort und sagte laut: »Wenn ein Herrgott ist, dann soll er mir den Johannes heimschicken.« 36

Der Johannes Klotz mit den sieben Lanzenstichen hörte das ganz deutlich, und als er sich ächzend umdrehte in seiner Schneemulde da drinnen in Rußland und sich darob verwunderte, daß sein Vater, der das sonst nie tat, den Herrgott in den Mund nahm, sah er drei Kosaken über sich, die machten Augen wie die Teufel und sahen zottig aus wie des Schäfermichels Hund, der halb am Hunger und halb an der Tollwut krepiert ist. Die Kerle fluchten auf russisch und stießen den Liegenden mit den Gewehrkolben. Und wie er sich wehren wollte mit letzter Kraft, weil ein württembergischer Reiter nicht von halbwilden Russenkerlen sich ungestraft puffen läßt, da schrie einer heiser wie ein Rabe: »Was hat dein Vater gesagt, du Napoleonshund?«

Auf russisch schrie er das, natürlich. Und wenn jetzt nicht der Johannes Klotz nach dem Brauch seines Geschlechts auf der Stadtschule gewesen wäre, dann wäre es aus mit ihm gewesen. So aber hatte er das Russische gelernt, sagte der Waldschütz, und er verstand die Halunken und schrie laut auf russisch hinaus zu einer Antwort: »Wenn ein Herrgott ist, dann soll er mich heimschicken!«

Wie sie aber das hörten, packten sie ihn ganz wild, rissen ihn empor an Armen und Schultern, stießen ihn aus der Schneemulde hinaus und trieben ihn wie einen Hammel die furchtbare Straße entlang, auf der die Toten lagen wie Chausseesteine. Immer weiter hetzten sie ihn durch das eisige Land, in dem das Blut der Zusammengebrochenen an der Erde festfror, daß es war, als hefte der Tod jeden einzelnen mit roten Nägeln an den Boden. Tage- und nächtelang fort stießen und hetzten die wilden Gesellen den unseligen Klotz, und dann ließen sie ihn schwer auf eine Pritsche hinschlagen.

Dann kam lang nichts mehr. 37

Einmal aber war etwas Graues da, wie schwerer, dicker Herdrauch. Und danach stieg aus dem Rauch ein Weib heraus mit weißen, strähnigen Haaren.

Später brannte ein Feuer und schwarze Schaffelle lagen über und unter dem Johannes Klotz.

Das ging so lange fort. Einmal war etwas da, einmal nichts. Und an einem schönen Tag merkte der Johannes, daß er Läuse hatte wie ein Mausefallenhändler. Da ist's ihm gekommen, daß er noch lebendig sein müsse, denn die Läuse gehen an keinen Toten. Und wenn sie an einen gehen, dann spürt er's nicht. Scham und Ekel sind da über ihn gekommen. Denn er war immer ein sauberer und adretter Reiter gewesen. Er ist in die Höhe gesprungen mit gleichen Füßen und hat sich geschüttelt, daß die Fetzen flogen.

Dann hat er sich umgesehen. In einer Hütte war er. Schaffelle lagen auf der Pritsche nahe beim steinernen Feuerherd. Und ein Weib mit weißen Haaren sagte ihm, er sei auf deutschem Boden. Er fragte das Weib, wo die Kosaken seien, die ihn dahergehetzt hätten. Aber die Alte lachte und wußte von keinen Kosaken. Allein sei er angetorkelt gekommen wie einer, der über ein Schnapsfaß geraten ist. Aber sie hatte gesehen, daß sein Rausch nicht von Schnaps, sondern von Blutverlust, Kälte und Elend war. Da hatte sie ihm Lager und Obdach vergönnt bis heute. Im Fieber sei er gelegen, und im Fieber habe er fort und fort gerufen: »Wenn ein Herrgott ist, soll er mich heimschicken.« In einer wunderlichen Mundart habe er das gerufen, sagte das Weib.

Der Klotz erklärte ihr, das sei russisch gewesen. Aber sie schüttelte den Kopf und lachte.

In Jakobshof, Breithof und Hohenweiler gilt es als feststehende Tatsache, daß damals die Stadtschule und 38 das Russische den Johannes Klotz aus den Klauen der Kosaken gerettet habe. Jetzt aber, sagen die Leute, seien andere Zeitläufte. Jetzt brauche keiner das Russische mehr, und die Schule von Jakobshof wäre auch für einen Müller vom kalten Grund gut genug, insonderheit seit man immer junge Schulmeister habe, die obenhinaus wollen und die Kinder Sachen lehren, die kaum ein Professor, geschweige denn ein Bauer oder ein Holzknecht brauche in seinem Leben. Ueberhaupt solle man in der Not den Herrgott anrufen und sich nicht auf seinen Schulsack verlassen, sagen die Jakobshofer.

✤           ✤           ✤

Auch der jetzige Johannes Klotz vom kalten Grund war bei den Reitern gewesen wie sein Großvater. Aber kein Napoleon hatte ihn nach Rußland geschickt. In friedlichen Zeiten durfte er die Czapka tragen und den Säbel rasseln lassen, wenn er auf Urlaub kam. Von Lanzenstichen und Blut war keine Rede gewesen. Ja nicht einmal ein richtiges Soldatenheimweh hatte der Ulan kennen gelernt, dem ein voller Beutel die Härten der Fremde polsterte, so daß er sich nirgends allzu weh tat.

Als die Zeit um war, kam er heim, übernahm Mühle und Holzhandel und tat sich auch da leicht, weil die vier oder fünf toten Geschwister, die kaum recht in die Welt hereingesehen hatten, keine Ansprüche machten. Scharf fuhr der junge Herr ins Zeug, und er galt bald auf der Höhe für einen echten, dreidoppelten Klotz, den der Hafer sticht wie nur jemals einen. Aber das stritt keiner ab, daß er seinen Mann stellte, wo es Entschlossenheit galt, Tatkraft und Umsicht und ein handfestes, kühnes Zugreifen. Mühle, Holzhandel und Waldbau blühten auf unter seinen jungen, starken Händen, und es war ein guter Zug in allem, was er begann. 39

Der alte Müller, ein grauhaariger, noch ganz aufrechter Mann, zog mit seiner kleinen, kropfigen Frau in ein paar obere Stuben, las Zeitungen, putzte seine Büchsen und Flinten und steckte vom Morgen bis zum Abend im Wald, wenn Wetter danach war.

Die kropfige Müllerin hatte ihre stillen Augen überall, auch jetzt noch, im Altenteil. Sorgenvolle, das Behüten und auch das Weinen gewöhnte Augen waren es. Sie sprach wenig und nicht laut. Aber immer deutlich und bestimmt, so daß ihre Worte wie Wegweiser waren. Sie teilte nicht den Glauben ihres Mannes: daß das Ulansein den Menschen fertig und reif mache.

Oft, wenn ihre stillen Blicke hinter dem hochgewachsenen Sohn hergingen, der in hohen Stiefeln und im graugrünen Lodenzeug wie ein Herr über den Hof schritt, kam ein großes Verwundern über sie, daß diese Gestalt zum zweitenmal jung auf Erden wandelte. So war vor Jahren ihr Gatte gewesen, so groß, so breit, so helläugig, von so strotzender Männlichkeit. Eine Angst, ein Unbehagen stieg dann in ihr auf. In ihres Mannes Leben war sie hineingetreten. Sie, die damals ein junges und schönes Mädchen war.

War's auch zuerst ein lockerer Zügel, den sie in die Hände bekam, so schränkte er doch die wilde Freiheit ein, die diese Klotze vom kalten Grund liebten. Ihr hatten oft und oft die Hände geblutet. Wer würde die Kraft, wer den Mut, wer die Ausdauer, den unerschütterlichen Glauben haben, der sie gestählt hatte, und der jetzt von neuem nötig war bei diesem Sohn?

Wenn die alte Frau bei ihrem Gatten ein sorgenvolles Wort sagte, dann lachte der. »Laßt ihn, er ist ein Klotz. Die springen ins Geschirr wie junge Gäule. Wenn ein Berg kommt, tut er stät.« 40

Die alte Frau ließ den Wohnstock säubern und rüsten, als sollte morgen schon eine junge Müllerin einziehen. Sie sah Wetter brauen und wollte Blitzableiter bauen.

An dem abgeholzten Hang, den der Schwedenfelsen krönt, jenes durchklüftete Steingewirr, von dem böse Sagen gehen, an jenem heißen Hang ließ der junge Herr vom kalten Grund Fichten setzen. Weiber und Mädchen von Breithof und Hohenweiler besorgten im Taglohn die mühselige Arbeit.

Des lahmen Birkers Kathrine, die große, rothaarige, war auch darunter. Sie war vielleicht die fleißigste von allen, denn ihre jungen, starken Glieder waren voll gärender Kraft, die sich gierig hinter die Arbeit machte.

Darum war es auch nicht klug vom Klotz, daß er sie nicht bei den jungen Fichten ließ. Er hätte da manchen Taglohn gespart. Aber wenn einer seinen Vorteil nicht selber sieht, dann redet auch eine kleine kropfige Mutter umsonst. Wie oft hat die alte Frau gesagt: »Johannes, laß sie! Es nimmt kein gutes Ende.«

Im Winter, als auf den jungen Fichten Schnee lag, kam der Kathrine ihre Stunde. Der Tag war neblig und trüb, als möchte er die Augen nicht aufmachen, um all das Elend mit anzusehen. Ja, im Sommer, wenn die Sonne heiß über das Steingetrümmer geht, dann denken zwei, in denen die Glut brennt, nicht an Schnee und Nebel. Das züngelt herüber und züngelt hinüber und gibt nicht Ruh, bis die Flammen in eins verlodern.

Die Kathrine war so jung und so stark; aber jener nebelige Wintertag hat sie zerschlagen wie ein Hagelwetter.

Gegen den Abend kamen die Boten in den kalten Grund, die wollten den jungen Klotz holen. Der Schorsch 41 war's, der Nachbarssohn vom lahmen Birker, und dann noch der schwarze Balthes, der Musikant, von dem man wußte, daß er mehr konnte als Brot essen. Scheu kamen sie daher, als hätten sie selber kein sauberes Brusttuch.

Sie trafen den Müller im Hof, wo er eben den Hund von der Kette tat. Das Biest heulte und zitterte. Winselnd kroch es im Schnee vor seinem Herrn und achtete nicht auf die, die da kamen.

Johannes Klotz schaute nur auf den Hund. Aber sein sonst blühendes Gesicht war bleich, als hinter ihm die Füße der Boten im Schnee knirschten.

»Herr Klotz,« sagte der Schorsch, der immer etwas heiser war, »Herr Klotz, d'r Birker schickt uns. Sie sollet zur Kathrine komme. Es ist so weit –«

Der Müller reckte sich auf, hochfahrend und breit. Das kurze Kinn, das seit Noahs Zeiten bei den Klotz leicht gespalten und bartlos ist, sah aus wie von Eisen, und in den Augen blinkte es ungut.

»So,« sagte er, »so –«

Er wollte etwas anfügen. Er wollte sagen, die zwei sollten zum Teufel gehen. Aber wie er den bleichen Kopf des Musikanten anguckte und die leibarme Gestalt des Schorsch, war es ihm plötzlich, als grinse zwischen diesen beiden Boten ein dritter hervor, dem man nicht grob kommen dürfe. Und der Schorsch zog jetzt sein Sacktuch und wischte sich die heiße Stirne. Dabei zitterte seine Hand, die häßlich dunkelbraun war, denn er arbeitete zuzeiten bei einem Gerber im Tal.

»Herr Klotz,« sagte er dringlicher, »'s stoht letz! D'r Doktor Gothe ist scho'e paar Stund' do. 's Kind ist auf älle Fälle tot. Und wie's mit d'r Kathrine geht –«

Ihr drei da im Schnee, warum schmunzelt ihr denn nicht? Warum fällt euch denn gar kein schlüpfriges 42 Wörtlein ein? Keine einzige Lüderlichkeit? Ist's denn nur deshalb, weil der Tod über eines jungen, starken, blühenden Mädchens Bett hergrinst? Aber das tut er immer, ihr drei im Schnee! Das tut er immer. –

Johannes Klotz murmelte etwas. Die zwei gingen ihres Wegs zurück. Der Müller stieß mit dem Fuß nach dem Hund.

Langsam, langsam schlichen an jenem Nachmittage die Stunden.

Johannes Klotz nahm den Hut von der Wand und hängte ihn wieder an den Nagel. Er ging in die Mühle und in den Stall, streichelte die Gäule und schalt mit den Knechten. Und wenn er sich abwandte, glaubte er, einen Feind im Rücken zu haben, der ihn in jedem Augenblick im Genick packen könne. Ganz zusammengeduckt, ganz scheu ward an jenem Nachmittag der laute, herrische Mensch.

Der frühe Abend sank, und der eisige Wind kam von der Höhe. Der Wald ächzte auf, wie er täglich im Abendwind ächzt; aber der Müller vom kalten Grund hatte heute besondere Ohren. Ueberm Bach bellte der Fuchs. Das klang, wie wenn der Teufel lachte.

Der junge Klotz ließ sich Wein aus dem Keller holen. Starken Wein, der das lahme Blut heiß macht, daß einem die Welt wieder rund vorkommt und nicht so voll finsterer Ecken und blutiger Beulen. Aber auch der Wein hat schon manches gute Zutrauen getäuscht. Der Müller saß einsam und trank. Dann stieß er das Glas auf den Tisch und sprang empor mit einem Fluch. Er schaute sich um, als ob ihn jemand gerufen hätte.

Und dann fiel ihm die alte Frau ein mit dem großen Kropf, um den jahraus, jahrein ein zartes, florenes Tüchlein sorgsam gelegt war. 43

Was für eine Bewandtnis hatte es doch mit diesem Kropf? Ach ja, die Mutter hatte die Geschichte selbst erzählt und dabei dem Sohn mit den ruhigen Augen fest ins Gesicht gesehen. »Den Kropf, ja, den habe ich seit meinem ersten Wochenbett. Seit den toten Zwillingen. Weißt du, das ist so: In ihrer Stunde liegt eine Mutter wie Gartenland unter der Hagelwolke. Zerschlagen muß sie sich lassen und stillhalten. Und die Mannsleute stehen im Trocknen –«

Johannes Klotz stieg mit schweren Füßen die Stiege zum oberen Stock hinauf.

Der Vater war nach Jakobshof gegangen, die alte Frau saß allein im halbdunkeln Zimmer und strickte.

»So,« sagte sie, »kommst – –«

Eine fremde, heisere Stimme, fast wie der Schorsch von Breithof, hatte der Müller, als er sagte »Der Doktor Gothe ist bei ihr, und man weiß nicht, wie es geht –«

Die Frau stand langsam auf und wickelte ihren Strumpf zusammen. Dann blieb sie neben ihrem Stuhl stehen und schaute stumm in ihres Sohnes Gesicht.

»Geh,« sagte der, »geh, du hast's ja auch durchgemacht.«

Aber sie schüttelte den Kopf und strich sich übers Haar und ihre Augen wichen nicht von dem Müller. Es lag aber etwas darin, als ob sie den Sohn auf die Kniee zwingen wollten.

»Geh,« sagte der wieder. Und auf einmal schüttelte er sich: »Ich heirat' sie, sag' ihr's!«

Da schob die kleine Frau ihren Stuhl weg und nahm ein schwarzes Tuch von der Kommode. Dann ließ sie die Hände wieder sinken und lachte kurz. »Heiraten? – Die nimmt heute nacht noch einen anderen; du kommst zu spät.« 44

Dann ging sie ganz allein den schon dunkelnden Weg durch den Wald. Ihr Sohn wollte ihr das Geleit geben. Aber sie wies ihn scharf zurück und sagte, ihr graue mehr, wenn er heute neben ihr schreite.

Der kalte Wind schnitt der alten Frau durch Mark und Bein. Aber sie ließ sich nicht aufhalten. Hätte sie des lahmen Birkers Haus nicht gewußt, so hätte sie es heute gefunden, weil des Doktors Chaischen und ein Trupp Breithofer davorstand. Sie machten der alten Müllerin Platz, als sie zur Türe schritt.

Wenig später kam die Frau mit dem Doktor wieder heraus und stieg zu ihm ins Chaischen. Niemand fragte etwas. Der dicke Braune zog an, und die Breithofer blieben unter sich.

Des Doktors Gesicht war sehr rot. Seine Nase noch röter.

»Frau Klotz,« sagte er, »der junge Herr kommt billig davon. Sogar die Leichenkosten für Mutter und Kind sind nur sein guter Wille, und er kann sie sparen, wenn er Lust hat.«

Die alte Frau gab nicht sogleich Antwort. Sie ordnete etwas an dem florenen Tüchlein, das ihren Kropf bedeckte.

»Er hat sie heiraten wollen; aber ich habe ihm gesagt, das sei nichts,« sagte sie dann und schaute zur Seite.

Der Doktor machte den Mund auf und wieder zu. Dann brach's aus ihm heraus: »Ja, Himmeldonnerwetter, dann hätte ich ihm doch schon vorher gesagt, er soll sie laufen lassen!«

Die Mutter des Johannes Klotz schwieg darauf.

Am kalten Grund stieg sie aus und bedankte sich.

Es war jetzt ganz Nacht, und der Doktor kletterte heraus, um die Laternen am Wagen anzuzünden. Eine 45 dunkle Gestalt stand am Hoftor. Er tat nicht, als ob er sie sähe, er tat überhaupt nicht, als ob er an etwas anderes dächte, als an die wackeligen Chaisenlaternen. Aber als er wieder in seinen Wagen stieg, da seufzte er auf wie einer, dem das Herz schwer in der Brust liegt; und als er das Leitseil schüttelte, sagt er laut in die Nacht hinein: »Fort, Brauner, die Luft riecht nach – –«

Man verstand das letzte Wort nicht mehr im Knirschen der Räder.

✤           ✤           ✤

Stumm schritt die dunkle Gestalt neben der kleinen Frau gegen die Haustüre. Stumm gingen die zwei die steile Stiege hinauf.

Ein langer, gerader Gang führte durch den Wohnstock. Eine blecherne Laterne von Urväterzeiten erhellte ihn spärlich. Zwischen den niederen Türen mit ihren Beschlägen und ausgeleierten Schlössern standen gewölbte Truhen und mächtige Schränke, deren ausladende Gesimse bis an die Decke reichten. Dazwischen schimmerte die weißgetünchte Wand und vorne, der Stiege gegenüber, war ein Mühlrad gemalt mit der alten Umschrift: »Ehrlich währet am längsten.«

Neben diesem Mühlrad und dieser Schrift stand die kropfige Frau schweratmend still. Sie hatte die zerarbeitete Hand auf die Brust gepreßt, wie wenn sie das Hämmern und Klopfen dadrinnen gewaltsam unterdrücken möchte.

»Ich wünsch' dir Glück,« sagte sie, ohne zu ihrem Begleiter zurückzusehen, »ich wünsch' dir Glück! Du kommst billig davon. Sogar die Leichenkosten sind dein freier Wille, und du kannst sie sparen, wenn du Lust hast.«

Der Müller blieb stehen, wo er stand, und sagte kein Wort. 46

Da drehte sich die alte Frau langsam um und schaute zu ihm auf, der viel größer war als sie. Sie zog ihr Tuch eng zusammen, als sei ein großes Frieren in ihr, und murmelte: »Ein Bub wäre es gewesen. Er ist erstickt. Das Mädchen ist verblutet. Schreib's auf, wenn du's nicht im Kopf behalten kannst. Für später.«

Dann stieg sie vollends ihre Treppe zum Oberstock empor und blickte nicht mehr zurück. Sie lag in jener Nacht mit klappernden Zähnen in ihrem Bett und dachte, der kalte Wind sei ihr zu tief durch Mark und Bein gegangen.

In der anderen Stubenecke schlief fest und gut ihr Gatte, der heute in Jakobshof auf dem Rathaus die Jagd auf weitere fünf Jahre gepachtet hatte.

Sie horchte auf seine tiefen, ruhigen Atemzüge. ›Fünf Jahre,‹ dachte sie, ›fünf Jahre lang will er noch mit der Flinte laufen. Und ist doch schon bald siebzig. Wie sonderbar! Ich bin doch viel jünger und werde schon in fünf Wochen davongehen. Aber das kommt davon, weil ich den großen Kropf habe. Und der Kropf kommt, weil ich meine Kinder so herb gehabt habe. Und das Kinderhaben kommt, weil ich ein Weib bin. Und ich will kein Weib mehr sein, kein Weib mehr – –.

Und sie fing an, sich ihre langen, noch immer schönen Weiberhaare zu raufen und dazu laut zu rufen: »Kein Weib mehr, kein Weib mehr –«

Davon wachte der alte Müller auf, zündete Licht an und fand sie glühend von Fieber. Er holte seinen Sohn herbei, und im Schrecken und in der Verwirrung merkte er gar nicht, daß der Johannes in seiner Lodenmontur auf dem Bette lag, und daß auf dem Tisch der Wein verschüttet war, wie wenn es Wasser wäre, das nichts kostet. Die Mägde weckte man. Das alte Regele, 47 die Stundenläuferin, die mehr als vierzig Jahre im Haus war, erschien zuerst auf dem Plan, denn sie war von jener guten Sorte, die immer Oel auf der Lampe haben, auch wenn man sie zu irdischen Dingen ruft.

Sie schaute über ihre Herrin hin und rief: »Wecket de Mühlemichel, do mueß d'r Doktor her und dös glei'!«

Aber die Kranke schien dies zu hören. Sie richtete sich auf und schaute ängstlich um sich. »Der Doktor nicht! Der Gothe nicht!« rief sie und streckte die Hände aus.

»Ach was,« sagte das Regele und drückte sie zurück, »d'r Gothe hot no kein'n g'fresse, und sei' G'schäft verstoht er.«

Bei Tagesgrauen fuhr der Doktor in den Hof. Nicht in dem Zuckeltrab, den sein Brauner fertig brachte, sondern von einem der schweren, jungen Mecklenburger gezogen, die sonst vor den Mehl- und Holzwagen gingen. Dem Mühlemichel perlte der Schweiß unter der Pelzkappe, so hatte er an dem Gaul zu halten gehabt.

Die Kranke war ohne Besinnung und sprach viel. Von kleinen Kindern kam drin vor und von Weibernöten und von Jagdpacht und Leichenkosten. Der Doktor befühlte und beklopfte und behorchte sie. Er meinte, eine Lungenentzündung werde daraus werden, die sie sich gestern geholt habe.

Dabei sah er langsam vom alten Klotz zum jungen. Der Alte riß die Augen auf, der Junge schlug sie nieder. Keiner sagte ein Wort.

Der Doktor behielt recht.

In den nächsten Wochen machte er oft den Weg in den kalten Grund. Diesen einsamen Weg durch die Elsterbachschlucht, über den jeden Abend, wenn er zurückfuhr, die großen Rabenheere ihre Flüge machten, ehe sie im Bergwald einfielen. Manchmal, wenn der dicke 48 Braune langsam tat, schrieb der Doktor etwas in sein Buch. In das schwarze, schmierige Buch, darin er Rechnung führte über die, die ihm unter die Finger kamen.

Die Müllerin war zäh. Oft meinte man, das letzte Säftlein müsse vom Fieber aufgeleckt sein, und oft hatte sie ganz gute Stunden. Das Regele besorgte in der Hauptsache die Pflege. Sie hatte ein Herz voll unbewußter Treue, Arme voll unbewußter Kraft und den Mund voll unbewußter Bibelweisheit. Darum machte sie ihre Sache gut am Bett der zusammengebrochenen Frau.

Fünf Wochen nach dem Tod der Kathrine ging's zu Ende.

Am Abend war der Doktor da.

»Schlafen Sie wohl, Frau Klotz, schlafen Sie recht wohl!« sagte er, als er ging. Dann beugte er sich noch ganz nahe über sie und setzte hinzu: »Sie sind müd genug, ich weiß es längst.«

Sie schaute ihn mit seltsam stillen Augen an, als ob sie sein doppelzüngiges Wort durch und durch verstanden hätte und dankbar dafür wäre.

»Ja,« sagte sie, »ich will schlafen. Denn ob ich auch wache, ich mache die Welt nicht anders.«

Das Regele stand daneben, strich übers Kissen und murmelte: »Bist du doch nicht Regente, der alles führen soll; Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl –«

Die Müllerin sagte »Amen« und legte sich auf die Seite. Sie ist dann nicht mehr aufgewacht.

Vater und Sohn hatten verstörte Gesichter, als der Morgen über die tote Frau schien. Sie sahen beide eher aus, als ob sie einen Schlag aufs Hirn als aufs Herz erlitten hätten. Das Regele aber schickte nach den Leuten, die zu des Todes Dienerschaft gehören. Denn 49 der Gewaltige hält es wie andere große Herren: wenn die Beute liegt, dann schreitet er weiter und überläßt alles Notwendige denen, die sein Gefolge ausmachen.

Es war aber eine merkwürdige Sache mit der Müllerin. Als sie im Sarg lag, hatte sie sich mächtig gestreckt, und der große Kropf war fast völlig verschwunden. Verjüngt und verschönt lag sie da, friedlich und guter Dinge. Das Leichenweiblein, die Beth von Jakobshof, schüttelte verstohlen den Kopf und sagte dem Regele, daß das nicht viel Gutes bedeute. »Wie e' Braut sieht se aus. Die holt sich bald de' Hochzeiter.«

»Halts Maul!« murmelte das Regele, »d'r alt Klotz hot erst d' Jakobshofer Jagd uf fünf Johr nei pachtet –«

Die Beth hielt das Maul.

Der Doktor Gothe schaute lange über die Tote hin. Manchmal hatte dieser Mann merkwürdig viel übrige Zeit. Dann klopfte er dem jungen Müller auf die Achsel. »Herr Klotz,« sagte er, »der Frau ist's wohler als seit langem.« Dabei war sein Gesicht rot und seine Nase röter.

✤           ✤           ✤

Diese Geschichten und Begebenheiten waren der Berg, an dem der junge Gaul stät tun sollte.

Eine Zeitlang tat er wirklich stät.

Ein stiller Winter ging am kalten Grund vorüber. Und als im Frühjahr und Sommer die Pflanzensetzerinnen von Breithof und Hohenweiler im Wald draußen mit der Arbeit anfingen, da guckte der Mühlemichel nach ihnen, nicht der Herr.

Vielleicht wäre es auch für den Mühlemichel besser gewesen, er wäre daheim geblieben. Das Regele sah ihm oft mit unguten Augen nach, wenn er, Holunderblust 50 an der mehlstaubigen Kappe, mit dem schwarzen Spitzerhund über den Steg hinter der Mühle schritt. »Was einer im Sinn hat, das siehet man ihm an den Augen an, es sei Guts oder Böses,« sagte sie vor sich hin und zog die Stalltüre zu mit einem ehrlich bekümmerten Gesicht.

Der lahme Birker aber, der Vater der rothaarigen Kathrine, fing in jenem Sommer das Trinken an. Die von Breithof sagten, das sei der Jammer um seine Tochter. Die Jakobshofer aber meinten, das Geld, das der junge Klotz von Zeit zu Zeit schicke, sei schuldig, und der junge Klotz solle kein solcher Esel sein, sonst bringe er auch noch den Vater unter den Boden mit lauter Gutheit.

Gegen den Herbst hin hatte der Michel keine Weiber und Mädchen mehr zu kontrollieren; der junge Klotz sparte sein Geld, und der lahme Birker trank nicht mehr. Ueber die Gräber der Kathrine und der Müllerin wuchs das Gras, und von dem bewußten Berg lag die größte Steigung schon hinter dem jungen Gaul.

Da kam, als er eben den Kopf schütteln und in den Zaum beißen wollte, noch einmal eine Anhöhe.

Friedrich Klotz, der aufrechte Mann, dem kein Mensch seine neunundsechzig Jahre ansah, starb ganz kurzerhand von heut auf morgen. Abends Fieber, morgens kalt. Wieder holte der Mühlemichel mit seinem Mecklenburger den Doktor, und der kam angefahren mit flatterndem Haarschopf. Aber er sah, daß da alles aus und nichts mehr zu tun sei, als Amen zu sagen, wie nach dem Abendsegen.

»Was ist's denn, was war's denn?« stammelte der Sohn, der zerschlagen unten am Bett stand. 51

Der Doktor schüttelte den Kopf. »Der Tod ist's – vorher war's das Leben, – was hilfts, wenn ich dem Graben, der dazwischen liegt, einen Namen gebe –«

In den Schein schrieb er dann »Herzlähmung«.

Die Beth von Jakobshof tat still ihre Arbeit. Als sie nach vollbrachtem Werk unten in der Stube am Tisch saß und das Regele herzutrug was Recht und Brauch ist, da strich sie mit den verhutzelten, kühlen Händen über den Tisch und murmelte: »Was han i' g'sagt, Regele? D'Braut holt bald d'e Hochzeiter.«

Die Magd nickte und stemmte die Arme auf den Tischrand. »Und er hat doch so gern g'lebt und hat d'Jakobshofer Jagd no' auf fünf Johr pachtet. – Lang zu jetzt!« sagte sie dann aufmunternd zu dem zusammengesunkenen Weiblein, das vor sich hinstarrte, als gebe es auf der Welt keinen Tisch mehr mit vollen Schüsseln. »Lang zu jetzt, iß und trink! In der Bibel steht: wenn du tot bist, so hast du ausgezehret.«

Mit einem tiefen Seufzer schob die Beth ihre Haube zurück, schenkte sich von dem hellroten Wein ein und machte sich an das reichliche Mahl wie ein Arbeiter, der seines Lohnes wert ist. Und über dem Essen und Trinken kam ihr der Glaube an des Lebens sieghafte Macht wieder.

»Denk' an mi',« sagte sie zu der alten Magd, »jetzt kommt d'r junge Herr eher ans Heirate'. Jetzt kann er nach sei'm eigene Kopf raussuche'.«

Das Regele schaute sich um, ob die Türe gut zugemacht sei.

»Jo« sagte sie, »e' schwarze und ^ braune und e' rothaarige. Jetzt kann's jo nett werde' im kalte' Grund. In d'r Bibel heißts: ›Schöne Weiber haben manchen betöret.‹« 52

Die Beth schüttelte die Brosamen aus der Schürze und schwenkte den Weinrest im Glas.

»A was!« murmelte sie in der gelassenen Unbekümmertheit, in die der Hellrote sie versetzt hatte, »Jugend muß vertobe'. Wart du no, bis d'r Johannes an die Recht' kommt, no wurd er scho' zahm werde'. Grad sottiche fresset oft später aus d'r Hand.«

Die Magd setzte zum Sprechen an und schwieg dann wieder. Vielleicht wußte sie zu wenig, vielleicht auch zu viel.

✤           ✤           ✤

Jeden Mittwoch morgen fuhr der Mühlemichel in die Stadt, das war immer so gewesen, seit der kalte Grund steht. Entweder war Mehl fortzubringen, Holz zu fahren oder Korn zu holen. Vielleicht haben die früheren Knechte anders über die Sache gedacht; der jetzige wußte nichts Lieberes als den Morgen des Mittwochs. Ein Wagen voll weißer Säcke, davor die Mecklenburger mit den Schellen und der Spitzerhund, der auf den Hinterfüßen unter den Gaulsköpfen tanzte. Nebenher schritt der Mühlemichel in wiegendem Ententrott. Das blaue Hemd mit den weißen Zwickeln reichte ihm fast bis an die Stiefelschäfte, am runden Hütlein steckte ein Tannenreis, und die Pfeife hing zwischen den Zähnen. Die lange Geißel trug er aufrecht im Arm, und über dem ganzen Mann lag die Sicherheit dessen, der die Lage beherrscht.

Wenn der erste graue Tagesschein durch die Waldschlucht kroch, brach der Michel auf. Die Nußhäher in den Ebereschen am Straßenrand erwachten vom Quitschen und Aechzen des schweren Wagens, vom Schellengeläut und Hundegebell. Die Wildtauben in den Tannen reckten die Köpfe, murrten und flatterten auf. Eichhörnchen liefen mit buschigen Schwänzen ärgerlich über 53 den Weg und an rissigen Stämmen empor, um dann mit den blanken Aeuglein mißbilligend hinter dem Höllenspektakel herzublicken.

Wenn man unten im Tal aus dem Wald herauskam, war der volle Tag da, und die Wiesen glitzerten im Tau. Ueber dem Flusse lag weißlicher Dunst, und auf der morgenstillen Straße tauchte bisweilen ein einsamer Mensch auf, der ausging an seine Arbeit und an sein Ackerwerk, wie zu den Zeiten des Mose.

Im grünen Tal ging es aufwärts, der Stadt zu. Der Hund hatte sich heiser und müd gekläfft, die Schellen klangen leiser, der Wagen ächzte weniger auf dem ebenen Weg. Und wenn die Straße sich hart an den Fluß drängte, hörte man des Wassers geduldiges Rauschen und Strömen, das aus der entschwundenen Nacht in den Morgen hereintönt und wieder der kommenden Nacht unter die Flügel kriechen wird.

An der Kurve bei der Brücke stand ein Wirtshaus. Dort blieben die Mecklenburger von selber stehen und schüttelten die Köpfe, daß die Schellen tanzten. Eine junge Magd mit zerzaustem Kopf trug dem Michel den Schnaps herzu. Sie tauschten einen Morgengruß von hahnebüchener Sorte, und was der Michel dann sonst noch sagte, war kitzelig, wie wenn einer seinen Schatz mit der Mistgabel liebkost. Aber es tat seinen Dienst, denn die Zerzauste lachte laut in die Morgenkühle hinein, strich sich über den Wuschelkopf und knöpfte die Jacke zu. Der Michel aber schmunzelte, als ob er zwanzig und nicht bald sechzig Jahre auf dem breiten Rücken trüge.

Ueber die Brücke ging's mit Peitschenknallen. Dann vorbei an den Lohgruben und Arbeitsplätzen der Gerber. Am langgestreckten Grasgarten des Spitals entlang führte die Straße. Etliche altersblöde Insassen schlurften 54 schon in dieser Herrgottsfrühe hinter dem Zaun über die Kieswege. Wenn der Michel diese verschrumpften, mummelnden Männlein sah, lief ihm etwas lautlos übers Herz, wie ein Wolkenschatten über einen Weiher gleitet.

Aber dann ging's um die Ecke vor das Haus des Engelbäcken, wo der erste Sack Mehl abzuladen war. Der Engelbäck war ein schlechter Zahler, darum gab's für den Knecht ein gutes Trinkgeld und eine Schale voll Kaffee in der warmen Backstube. Da verblaßte das Bild der Spitalmännlein vor dem Jetzt und seinen Genüssen.

Weiter ging dann die langsame Fahrt durch das kaum erwachte Städtlein. Manchen Gruß, manchen Zuruf bekam der Knecht vom kalten Grund zu hören, wenn er neben dem stattlichen Gespann durch die Straßen schritt und vor den Häusern der Kunden halt machte. Alles Neue, was sich in der Welt zutrug, erfuhr an diesen Mittwochen der Mühlemichel. Mit jedem Bäckerknecht, der ihm die schweren Säcke abladen half, tauschte er Rede und Gegenrede, von den Mägden ganz zu schweigen. Was Wunder, daß des Michels Herz an diesen Fahrten hing.

Einmal aber war's, an einem Mittwoch im frühen Lenz, da erklärte der Müller dem Knecht, daß er heute mitfahren werde, um selbst nach dem Rechten zu sehen. Der Michel schaute auf, als traue er seinen Ohren nicht. Was dem nicht alles einfiel! Aber er wagte nicht, ein entschiedenes Wort gegen seines jungen Herrn Plan zu sagen. Er kannte ihn allzuwohl, diesen Johannes Klotz, den er selbst vor Jahren das Peitschenknallen gelehrt, und dem er bei manchem Streich bis auf den heutigen Tag die Stange gehalten hatte. Er kannte ihn und wußte, wo die haarscharfe Grenze lag, über die 55 hinaus kein Mühlknecht bei diesem Herrn gehen durfte, wenn er seinen Platz nicht riskieren wollte.

Kühl war dieser Morgen und von verdrossenem Aussehen. Dem Michel war's, als könne der Tag nicht viel Gutes bergen. Und als oben an der Steige zwei Hasen den Weg kreuzten, da schüttelte der Knecht den mehlstaubigen Kopf und riet seinem Herrn bescheiden zur Umkehr. Aber der lachte und schlug mit dem Stock an die Röhren der Reitstiefel.

An dem Wirtshaus bei der Brücke standen die Mecklenburger und schüttelten die Schellen. Und die zerzauste Magd kam mit dem Schnaps. Aber heute kredenzte sie ihn dem Herrn zuerst, und erst, als der ihn nicht mochte, kam der Knecht an die Reihe. Es wurde weiter kein Wort gewechselt, nicht geschmunzelt und nicht gekichert.

Die Spitalmännlein sahen heute armseliger aus als je, und beim Engelbäcken gab's kein Trinkgeld, weil der Müller ein ernstes Wort vom Bezahlen redete.

Verkehrt war der Tag, seiner Reize entkleidet, um jeden Glanz gebracht. Mürrisch tat der Mühlemichel, was er sonst willigen Herzens tat. Da wurden die stäubenden Säcke schwer wie Blei, und alles ging langsam von statten. So langsam, daß vor dem Hause des Bäckers Schwarz am Markt der Herr vom kalten Grund selbst mit zupackte in kaum verhehlter Ungeduld. Und da geschah das Einzige, was den Knecht an diesem verdorbenen Mittwoch freute: der Müller blieb mit seiner Uhrkette irgendwo am Wagen hängen. Ein heftiger Ruck, und die goldene Uhr lag auf dem Pflaster. Der Bäcker Schwarz, der daneben stand, hob sie auf und besah sich den Schaden. Dann deutete er in die Gasse, die unfern zwischen spitzgiebelige Häuser hineinlief. 56

»Dort drinne' wohnt d'r Neuhaus, der betet au' um sei' täglich Brot. Dem tät i' se bringe', Herr Klotz!«

So brachte Johannes Klotz vom kalten Grund seine Uhr zu Albrecht Neuhaus in der Wassergasse. Der Mühlemichel erhielt Befehl, allein weiterzufahren. Er trat nahe zu seinem Herrn. »Han i's net g'sagt: zwei Hase' über de' Weg – – –«

»Fahr zu!« sagte der Müller, und er war zu ärgerlich, um zu lachen.

Das war der Mittwoch im frühen Lenz, der anfing, als könne er nichts Gutes bergen.

Sie waren alle drei in der Stube, als der Müller klopfte. Aber nur die schwarze Liesel rief »Herein!«

Albrecht Neuhaus saß mit dem Rücken gegen die Türe, den weißen Kopf tief über die Arbeit gebeugt, die Lupe vor dem Auge am Werktisch. Der Krüppel drehte sich langsam auf seinem hochgeschraubten Stuhl, und nur die Liesel sah gleich von vorneherein dem Mann unter der Türe mit prüfenden Augen entgegen. Dann legte sie ihre Arbeit weg und stand auf. Sie trug an jenem Tag ein schwarzes Kleid, das ihr kurz und eng geworden war. Jung sah sie darin aus und unfertig, wie ein großes Kind am Einsegnungstag. Die Haare strich sie sich aus der Stirne und trat vor gegen die Türe.

Johannes Klotz hielt seine zerbrochene Uhr in der Hand. Aber er dachte nicht sogleich daran, daß er deshalb gekommen war. Da lief unter der blassen Haut der schwarzen Liesel die Blutwelle hin, die ihrem Gesicht den seltsam dunklen Ton gab.

»Sie wünschen?« fragte sie kurz und fast hochfahrend.

Da lächelte der Herr vom kalten Grund und wußte von nun an, weshalb er dastand. 57

Des Müllers Uhr war ein Erbstück, keine Dutzendware. Albrecht Neuhaus nahm sie in die Hand, machte sie auf und betrachtete sie. Dann schob er an seinem Käppchen und versuchte, dem Krüppel das Werk zu erklären. Derweil standen die zwei andern stumm nebeneinander. Einige Wochen würde es dauern, bis die Uhr gründlich gemacht wäre.

Der Müller nickte. »Ich werde von Zeit zu Zeit nachfragen.«

Das war der Mittwoch, an dem die Hasen oben über die Steige liefen.

Im blauen Kreuz beim Abendschoppen erzählte der alte Neuhaus dem Doktor Gothe zufällig von des Müllers wertvoller Uhr. Der pfiff durch die Zähne. »Glaub's,« sagte er kurz, »das ist ein Fressen für einen Uhrmacher.« Und dann, als sie vom Sirius und von den Ringen des Saturn geredet hatten, fügte er noch hinzu: »Die Klotz vom kalten Grund sind reich, sehr reich, schwer reich.«

Aber der alte Mann hörte nicht mehr recht hin, weil es für ihn Zeit war zu gehen.

✤           ✤           ✤

Es kamen nun die Wochen, da die Stürme der Tag- und Nachtgleiche über die Biberschwänze hinheulten.

In den Wäldern um den kalten Grund brach viel Morsches und Altes zusammen, und die Nächte waren erfüllt vom Krachen im Holz, vom Tosen des Elsterbachs und von anderem, das den jungen Müller nicht schlafen ließ. Zuweilen schritt er durch die niederen Stuben, die die Mutter so sonderbar hastig geräumt hatte, als könne nicht schnell genug Platz gemacht werden für die Nachfolgerin. Wo war sie wohl, diese Müllerin, die nach der Frau mit dem Kropf im kalten Grund einziehen sollte? 58

Er sah dann immer einen zarten, blassen Hals vor sich, der aus dem kleinen Ausschnitt am schwarzen, verwachsenen Einsegnungskleid herausschaute. Sonst sah er nichts. Aber dieser Hals machte ihm das Blut heiß in stillen Nächten. Und am anderen Tag sah er dann nach, ob die Uhr noch nicht fertig wäre.

Einmal war sie fertig, die schwarze Liesel selbst reichte sie ihm hin. Sie war allein in der Stube. Vor einem großen, offenen Schrank, auf dessen Brettern tausenderlei Dinge durcheinander lagen, kniete sie, als der Müller eintrat. Sie sprang empor, die dunkle Blässe im Nacken und im abgewandten Gesicht, und sie schlug hastig die Schranktüren zu, als ahne sie, daß der Klotz vom kalten Grund an eine andere Ordnung gewöhnt sei.

Dem Müller war irgend etwas unbehaglich; aber er wußte nicht recht, was. Das florene Tüchlein um der Mutter Kropf fiel ihm ein, das immer so sorglich und akkurat gelegt war, und die Schränke und Truhen, die im langen Flur daheim standen, und in denen jedes Stück an seinem Platz lag seit Urzeiten. Aber wie das Mädchen dann vor ihm stand mit dem kühlen Gesicht und den hochmütigen Augen, da sanken die klugen Bedenken zusammen, und trotziges Begehren flackerte über sie hin.

»So,« sagte der Mann, als er seine fertige Uhr in Händen hielt und bezahlt hatte, »nun wäre ich zum letztenmal dagewesen.«

Das Mädchen sah ihn an in ruhigem Erstaunen. Und auf einmal senkte sie den Blick vor dem seinigen.

Da nahm Johannes Klotz seine kostbare Uhr und schleuderte sie mit Wucht zu Boden, daß Glas und Deckel klirrten. Dann hob er sie auf und legte sie vor das Mädchen. 59

»Hier,« flüsterte er, »ich frage wieder danach, solang bis sie fertig ist. Es eilt mir nicht.«

Dann ging er, und die schwarze Liesel stand reglos hinter dem Tisch, und in ihren aufgestützten Händen war ein leises Zittern.

An jenem Abend spielten die zwei Musikanten ein neues Lied zusammen. Der Schulmeister hatte es gemacht. Es hatte eine wehmütige Weise, wie sie in den Seelen derer aufklingen, die wohl Blumen sehen überm Bach, aber keine Brücke, die hinüberführt.

Als es verklungen war, blieb es ganz still in der Stube. Dann fragte der Krüppel laut und in Ungeduld: »Warum sagst du nichts, Liesel?«

Es war so dunkel, daß niemand die Tränen sehen konnte, die lautlos dem Mädchen übers Gesicht rieselten. Dann schluckte sie und entgegnete mit einer Stimme, die einen fast grellen Klang hatte: »Was soll ich sagen? Ich versteh' ja nichts –«

Ernst Eisenreich, der Schulmeister, packte am Tisch seine Geige in den Kasten. Er hielt inne und schaute nach der dunklen Ecke, wo das Mädchen saß.

»Ein Lied, meine ich,« sagte er stockend und leise, »das kann doch jeder verstehen«.

Die schwarze Liesel lachte. »Ja, das meinen Sie. Ich meine wieder, andere Sachen müsse jeder verstehen –«

»Ja,« fiel der Krüppel ein, »schuften und Geld verdienen – –«

Das Mädchen sagte nichts darauf. Sie wandte nur ihr Gesicht von den beiden weg dem Fenster zu. Und ihre Augen blickten weit offen in die sinkende Nacht hinaus.

Vor dem Zubettgehen, als schon die Lampe gelöscht und die Liesel im Begriff war, in ihr Stübchen zu gehen, drehte sie sich unter der Tür um. 60

»Die Uhr vom Klotz vom kalten Grund ist abgeholt und bezahlt worden. Aber jetzt ist sie schon wieder da. Er hat sie aufs Neue fallen lassen –«

Sie zog die Türe hinter sich zu und hörte nicht, was Vater und Bruder zu dem Ungeschick des Mannes sagten.

✤           ✤           ✤

Das war ein heißer Sommer in jenem Jahr. Sogar in der Elsterschlucht und im kalten Grund gab es glühende Tage und schwüle Nächte. Da reift denn alles fast schneller, als es soll.

Das Regele tat schwer, alle die Mannsleute in der Mühle zu hüten und auf dem rechten Weg zu erhalten. Der junge Herr und der alte Michel, das waren die schlimmsten. Aber wenn auch der Knecht hinter jedem Rock her war, er tat doch seine Arbeit und blieb auf dem Posten; während der Müller tagelang fort war, mit der Flinte durch den Wald strich oder sonst sich herumtrieb.

Die Magd schüttelte den Kopf. Ihr schien's, als könne da nichts Gutes herauskommen. Und als ihr der Mühlemichel verriet, daß er jetzt schon ein paarmal ein Stümpchen vom feinsten Mehl bei einem Uhrmacher in der Wassergasse habe abladen müssen, als er Mittwochs zur Stadt fuhr, – da dachte sich das Regele, daß da wieder etwas mit einem Frauenzimmer im Werk sei, und sie verhehlte ihre Meinung dem schmunzelnden Michel nicht.

Er kratzte sich im staubigen Haar. »Glaub's selber. Aber du, Regele, woher weißt denn du alle die Lumpereie'? In d'r Stund passiert doch so Dengs net? –«

Die Magd schaute ihn ruhig an. »I' bin au' net meiner Lebtag in d' Stund' gange'. I' bin jung gwe' und net anderst als du jetzt no' bist, du alter Esel. Aber i' bin g'scheit worde' mit d'r Zeit und dank's mei'm 61 Herrgott – –« Sie sprach ganz unbefangen und sicher und nickte dazu mit dem Kopf.

Der Knecht lachte. »'s denkt mer no', Regele, wie du's triebe' host. Bloß vo' mir host nie nix wisse' wölle' –«

Sie nahm die Schürze auf und fegte die Brosamen von dem Tisch, vor dem sie stand.

»Jo,« sagte sie, »und du hättest erst könne' eine brauche', wie i' eine bin.«

»I'? Warum?«

Sie schüttelte ihre Schürze und sah ihm fest ins Gesicht. »I' tät dir's sage', aber in d'r Bibel heißt's: ›Offenbare dein Herz nicht jedermann, er möchte dir übel danken.‹«

Da trottete der Knecht unzufrieden von dannen, und das Regele ging ihrer Arbeit nach mit der zornigen Sorge um den Müller im Herzen, die sie schon oft gespürt hatte, seit die kleine Frau mit dem Kropf nicht mehr da war, um zu sorgen und zu zürnen.

Und dann kam der Tag, da der Müller vor die alte Magd trat und sagte: »Regele, jetzt bin ich Bräutigam, und du kannst mir Glück wünschen.«

Sie sah ihn mit erschrockenen Augen an, hielt sich am Besenstiel und kniff die Lippen zusammen. Dann, als er erwartungsvoll vor ihr stand, fragte sie kurz: »Auf wie lang? –«

Der Unmut flackerte ihm übers Gesicht; aber er hielt an sich und lachte. »Diesmal wird's Ernst; im Herbst ist Hochzeit –«

Sie stellte gemächlich den Besen weg und streifte ihren aufgesteckten Rock hinunter. »Herr Klotz, daß bei dere Hochzich doch au' d'r Pfarrer dabei ist! – Net, daß 's wieder geht wie – –«

»Sei nicht frech,« fuhr der Müller auf, »oder –« 62

Aber sie ließ ihn nicht ausreden. Sie machte eine fast wegwerfende Bewegung und fiel ein: »›Wo diese würden schweigen, so würden die Steine reden.‹ I' laß mir meiner Lebtag mei' Maul net zubinde'. Was i' weiß, des weiß i', und was i' g'sehe han, des han i' g'sehe. Die alt' Frau wär' net unterm Bode', wenn manches net passiert wär'. – Aber jetzt ist's scho' wie's ist, und mir soll's recht sei', wenn wieder e' Frau ins Haus kommt. Aber recht muß se sei' – recht –«

Der Müller sah mit gerunzelter Stirne an der Magd vorüber auf das Dach, wo die paar weißen Tauben saßen, die der Habicht bis heute noch verschont hatte. Er lachte kurz. »Was heißt denn ›recht‹ nach deinem Kopf?«

Sie trat hart vor ihn hin und sah zu ihm auf. »Tätet Sie meh' in d'r Bibel lese', no' wisstet Sie's. – No wär' überhaupt manches anderst. Ein häuslich Weib ist ihrem Manne eine Freude und macht ihm ein sein ruhig Leben. Ein tugendsam Weib ist eine edle Gabe und wird dem gegeben, der Gott fürchtet. Er sei reich oder arm, so ist's ihm ein Trost und macht ihn allzeit fröhlich. Ein schön' Weib, das fromm bleibt, ist wie die helle Lampe auf dem heiligen Leuchter –«

»Hör' auf,« sagte der Müller. »Das weiß man von keiner vorher –«

Aber die Magd hörte nicht hin. »Es ist nichts Lieberes auf Erden, denn ein züchtig Weib. Ein freundlich Weib erfreut ihren Mann, und wenn sie vernünftig mit ihm umgehet, erfrischt sie ihm sein Herz. Aber: ein waschhaftig Weib ist einem stillen Mann, wie ein sandiger Weg hinauf einem alten Mann. Laß dich nicht betrügen, daß sie schön ist, und begehre ihrer nicht darum –« 63

Der Müller hob die Hand. »Da ist keine Not, Regele! Waschhaftig ist sie nicht.« Seine Brauen runzelten sich. »Zu still ist sie eher –«

Die Magd schwieg einen Augenblick, dann fuhr sie fort: »Wenn das Weib den Mann reich macht, so ist da eitel Hader, Verachtung und große Schmach – –«

Jetzt lachte der Müller plötzlich laut und schallend auf. Lauter und schallender, als daß es nach eitel Fröhlichkeit geklungen hätte. »Herrgott,« rief er, »wegen ihrem Reichtum können wir miteinander leben wie die Engelein.«

Die Magd nahm das Tuch ab, das sie um ihr ergrauendes Haar gebunden hatte, und wischte sich damit über das heiße Gesicht. »Wem g'hört sie denn, wenn i' froge' därf?« murmelte sie mit plötzlich hervorbrechendem Mißtrauen oder Mißbehagen.

»Dem Neuhaus in der Wassergasse drunten gehört sie, dem Uhrmacher – –«

Das Regele band sich langsam das Tuch wieder um Stirne und Haar. Dann ließ sie die Arme an den Seiten herunterfallen und schaute zu ihrem Herrn auf.

»Also i' wünsch' Glück! Kenne tu i' se jo net; aber i' heirat se jo au' net. Wenn no Sie se kennet! Daß se von d'r Stadt ist und nix hot, des ist mir immer no lieber, als wenn sie von do hobe wär' und nix hätt'. – Und jetzt muß i' in' Stall – –«

Sie schritt über den Hof zur Stalltüre und schaute nach dem Michel aus, daß sie dem das Nötige mitteile zum Weitergeben.

Johannes Klotz aber stieg die Treppe empor zu den halbgeleerten Zimmern, die die Mutter für ihre Nachfolgerin vor der Zeit geräumt hatte. Dann rief er dem Michel und einem der Mahlknechte und hieß sie, die 64 Stücke aus den oberen Stuben wieder herunterschaffen und an die alten Plätze stellen. Nun mochte sie kommen, die Braut und mochte sehen, daß er nicht gelogen hatte, als er ihr sagte: »Nichts brauchst du mir mitzubringen, nichts, als dich allein.«

✤           ✤           ✤

Vor dem Haus in der Wassergasse stand das Fuhrwerk vom kalten Grund. Nicht der Wagen mit den weißen Säcken, der in letzter Zeit öfters da gehalten hatte, sondern eine leichte, etwas altväterische Chaise, vor der die Mecklenburger fast allzu wuchtig wirkten. Der Mühlemichel saß auf dem Bock, hatte ein Sträußlein roter Astern an der Geißelspitze und trug statt des Hemdes mit den Zwickeln ein feiertägliches, tuchenes Wams und seinen Sonntagshut.

Der Schmied und die Schuster standen unter den Türen ihrer Werkstätten und hinter jedem Fenster sah man neugierige Gesichter. Oben aber in der Stube, wo sonst auf dem einen Tisch Spitzen und Bänder, auf dem anderen Uhrfedern, Räder, Werkzeuge und Bücher lagen, war merkwürdige Ordnung geschaffen, und ein Korb voll prächtiger Rosen füllte den ärmlichen Raum mit fremdwirkendem Duft und Glanz.

Die schwarze Liesel stand vor diesen Rosen. Sie trug ein weißes Kleid von dünnem, billigem Stoff, durch das der Nacken und die Arme bläßlich schimmerten. Ganz reglos sah sie auf die Blumen nieder. Schmal war ihr Gesicht und heiß. Ein grübelndes Bohren lag im Ausdruck dieser schärfer gewordenen Züge. Ein Bohren, fast eine flackernde Angst, die das Mütterliche und zugleich Kindliche aus den Zügen des Mädchens scheuchte.

Und dann drückte sie auf einmal scheu ihr Gesicht in die leuchtenden Blüten. 65

Hinter der Tochter trat jetzt Albrecht Neuhaus in die Stube. Er trug feiertägliches Gewand und ein neues Käppchen auf dem weißen Haar. Sein faltenreiches Gesicht mit dem klugen, bartlosen Mund war jünger als sonst. Die Liesel drehte sich um und schaute ihm entgegen. Und dann ging sie auf ihn zu und hing an seinem Hals. Er streichelte ihr die Arme in stummer Zärtlichkeit.

»Mädelchen, mein Mädelchen,« stammelte er dann, »jetzt fährst du in der Kutsche, in der goldenen Kutsche!«

Sie richtete sich auf. Ihre Augen waren heiß und blank. »Ja, Vater, und du auch und Heiner auch –«

Hinter den beiden stand der Krüppel. Auch er steckte im Sonntagsgewand; aber sein Gesicht hatte einen fast feindlichen Ausdruck. Er schwenkte den kleinen runden Hut in der Hand und sagte: »Mehr als zwei gehen nicht in eine goldene Kutsche. Ich steige zum Ernst Eisenreich ein, der will seine Lieder auch nicht für die Katze machen.«

Er wandte sich um und ging auf die Gasse, wo der Mühlemichel mit der Geißel knallte. Zu dem stieg er mühselig auf den Bock.

Dann fuhr Albrecht Neuhaus mit seinen Kindern durch die Wassergasse, und die Nachbarn sahen zu. Es war kein eigentlicher Neid unter ihnen. Sie hatten in dem Uhrmacher von jeher zu wenig ihresgleichen gesehen.

Der Schmied und die drei Schuster traten zusammen. »Da,« sagte der eine, »zu was man's bringen kann, wenn man eine schöne Tochter hat! Das ist besser, als alte Stiefel flicken –«

»Der Klotz ist ein Sakkermenter,« meinte der Schmied, »der legt sein Geld auf die rechte Art an.« 66

Sie lachten und nickten und schlurften in ihre Werkstätten. Nur der Schmied ging ins Wirtshaus.

✤           ✤           ✤

Die Mecklenburger griffen aus und ließen die kleine Stadt rasch hinter sich. Schwer dröhnten die Hufe jetzt auf der harten Straße, die durchs morgenstille Flußtal und dann die Elsterbachschlucht empor führte. Ein frischer Luftzug trug den Duft gemähten Grases mit sich. Er kam über die feuchten Wiesen am Wasser her und war wie ein Grüßen des sommerhellen Morgens, ein Grüßen an die Städter in dem Wagen aus der Mühle.

Langsamer ging's den Berg empor. Die Blöße tauchte auf, wo der große Windbruch unter den Tannen gehaust hat. Die abgeschälten Stämme lagen übereinander wie Streichhölzer. Weidenröschen standen dazwischen in langen, schmalen Strichen, und die Glocken des roten Fingerhutes leuchteten. Bald drängte die Schwüle des Tags die Morgenfrische vom Weg hinein unter die Tannen, wie eine steigende Flut, die stumm und unaufhaltsam um sich greift.

Die zwei in der Kutsche sprachen wenig. Der Alte schaute mit glänzenden Augen um sich. Das Mädchen ließ wie in dumpfem Traum die Blicke über die Steine gleiten, die am Straßenrand in endloser Reihe vorüberzogen.

Der Krüppel sah bald zurück in der Schwester Gesicht, bald über sich in den Himmel, der tiefblau über dem Wald stand. Zuweilen drehte der Michel auf dem Bock sich um und deutete mit dem Peitschenstiel nach rechts oder nach links. »Dort, der Steinbruch g'hört zum kalte' Grund.« Oder: »Von da an bis ganz 'nüber g'hört älles mei'm Herre' –« 67

Stolz sagte es der Knecht, und er musterte dabei seine Fahrgäste, die aus dem ärmlichen Haus in der Wassergasse stammten. Aber wenn auch der alte Mann aufhorchte und den Reichtum des Müllers voll Anteilnahme sich zeigen ließ, die, die die Sache am meisten anging, blieb kühler, als es dem Mühlemichel recht war. Ein Zug von Unmut legte sich nach und nach auf sein Gesicht. –

Und dann trat hinter der einsamen Geschirrhütte am Straßenrand einer rasch hervor, wie ein Wegelagerer, der sich auf seine Beute wirft. Er trug Reithose und Stulpenstiefel, Jägerjoppe und die Flinte am Riemen über der Schulter. Sein Gesicht war rot, und heiß, und heißer noch waren seine Augen, die das Mädchen im Wagen suchten.

Der Michel grinste und nickte und riß die versunken trottenden Gäule zurück. »Herrgottblitz,« murmelte er, »er hot's nemme verwarte' könne.«

Johannes Klotz stand am Kutschenschlag und lüftete den Hut.

»Endlich,« sagte er, »endlich –« sonst nichts.

Albrecht Neuhaus streckte freudig die Hände aus. »Guten Tag – nun sind wir da.« Der Krüppel lüftete den Hut und murmelte einen Gruß. Aber der Müller sah das nicht und hörte nicht. Er schaute nur die Liesel an, die reglos und erblaßt mit halbgeschlossenen Augen saß, wie eine, die den Sturm über sich brausen läßt und stille hält.

»Du,« murmelte er und legte seine braune Rechte auf die kleinen weißen Hände, die das Mädchen gefaltet im Schoß liegen hatte.

Da schaute sie auf mit einem scheuen Glanz in den Augen. 68

»Grüß Gott, steig ein – –« stammelte sie verwirrt und befangen.

Johannes Klotz lachte sein lautes helles Lachen. »Steig du aus, Liesel, der Morgen ist wundervoll, und der Weg nicht mehr weit.«

Sie schaute dem Vater, dem Bruder ins Gesicht in seltsamer Hilflosigkeit, dann sprang sie auf und aus dem Wagen, ehe der Müller Hand anlegen konnte.

Der Michel aber fuhr in der selben Sekunde zu, als sei der Wagen federleicht geworden. Mit einem grinsenden Schmunzeln sah er noch einmal zurück, ehe er um die Kehre bog, und er sah die zwei voreinander stehen, mitten im Weg.

Das aber sah er nicht mehr, wie der Mann das Mädchen plötzlich an sich riß. »Du, du! Daß du doch endlich da bist! Nicht geschlafen hab' ich diese Nacht.« Er küßte ihr Gesicht, ihren bloßen Hals, ihre Arme. Sie ließ es geschehen, lächelnd und wehrlos. Und unter den Küssen, die ihr fast den Atem nahmen, dachte sie plötzlich, daß dieser wilde, unbeherrschte Mann ein großes Kind sei, ja, ein großes Kind.

Da war es ihr, als ob sie auf einmal Grund unter den Füßen verspüre. Ein Gefühl von Sicherheit und Ueberlegenheit überkam sie, in dem das zitternde Bangen vor dem Manne unterging. Sie sah ihn an mit großen, lächelnden Augen: »Wie bist du närrisch, du –«.

Er küßte aufs neue ihren Mund. Er fühlte, daß er in dem kühlen Mädchen etwas wachgeküßt hatte, und er wollte den Augenblick nützen. Er meinte, es sei das Weib, das sich rege. Sie hielt seine Arme fest und bog sich zurück.

»Laß's sein jetzt, Johannes, es ist genug; du drückst mich tot –«, sie sagte es mit ruhig lächelnder Abwehr 69 und machte sich frei wie eine Mutter, die ihren stürmischen Knaben von sich tut. –

Da stampfte er mit dem Fuß. »Du, du bist – – –« In ihr war plötzlich eine Sorglosigkeit, ein Uebermut, den sie sonst nicht kannte. Sie legte dem Müller die Hand auf den Mund. »Still, was weißt denn du, was ich bin.«

Dann küßte sie ihn kurz an die Wange. »Komm, wir müssen dem Wagen nach –«. Sie nahm ihn an der Hand und zog ihn mit sich fort.

Da griff er nach dem Flintenriemen und schritt an ihrer Seite dahin mit einem unfreien Lachen. Dann fing sie zu fragen an und wurde nicht satt, von der Mühle zu hören. Nie, bis zum heutigen Tag war sie so gesprächig, so offen und unbefangen gewesen. Wie ein verscheuchter Vogel war sie sonst dem Müller vorgekommen. Scheu und unnahbar. Heut war sie plötzlich zahm und voll Zutrauen.

Der Mann schaute sie dann und wann von der Seite an. Er hatte ein Gefühl, als sei sie ihm früher fast lieber gewesen, als so in all ihrer Seelenruhe. ›Das kommt davon‹, dachte er, ›weil sie jetzt sicher ist, daß ich sie heirate.‹

Des Mädchens Gedanken gingen andere Wege. Oder vielmehr sie gingen gar nicht, diese Gedanken. Sie lagen auf einer blauen Flut und ließen sich wohlig tragen. Zwischen blumigen Wiesen und blühendem Gelände trieben sie hin und fragten nicht nach Richtung und Endziel. Armut und Sorgen hatten jetzt ein Ende. Der Vater brauchte sich nicht mehr um Pfennige zu schinden, der Heiner durfte Flöte blasen und vielleicht noch Geige lernen, wie der – 70

Da gab es einen großen, bösen Stoß, und das Gedankenschifflein hing fest an einem Felsen, der unsichtbar ragte unter der blauen Flut.

Man sah die Mühle jetzt auftauchen hinter der letzten Kehre. Drei weiße Tauben saßen auf dem dunkeln, moosigen Dach, und die Fenster am Wohnhaus blinkten.

Johannes Klotz zog das verstummte Mädchen an sich. Da riß sie sich los und kehrte das Gesicht ab.

»Wenn jemand heruntersieht –«

Die alte Scheu, der alte Widerstand war wieder da.

Der Mann lachte leis. Es war ihm lieber so. Er würde schon fertig werden, auch mit dieser da.

✤           ✤           ✤

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Einen Tannenkranz hatte Regele über die Türe gehängt und ein Willkommen darin. Das Willkommen war uralt. Es hing zu anderen Zeiten an einem Balken unter dem Dach. Aber der Tannenkranz war frisch und grün.

Die Chaise stand ausgespannt im Hof, und vom Stall herüber winkte der Vater dem Mädchen zu, als sie jetzt mit dem Müller herzu kam.

Gaffend standen die Knechte, unter ihnen der Michel mit lachendem Mund, als sei ihm manches Vergnügliche vertraut, von dem die anderen nichts wußten. Das war ein festlicher Tag.

Einmal, als die Braut allein durch den langen Flur ging, trat das Regele ihr entgegen. Sie sah an ihr empor mit ruhig prüfenden Augen.

»Fräule,« sagte sie, »Sie hänt Courage, daß Sie de Klotz vom kalte Grund nemmet –«

»Warum,« fragte die junge Braut und schaute nach der Türe, hinter der die anderen waren.

Die Magd folgte dem Blick, lachte und schüttelte den grauen Kopf. – »Er därfs höre', der Herr, was i' 71 z' sage' han – i' sag's ihm ins G'sicht, wenn's sei' mueß. Sie, Fräule, wenn Sie so dostandet in ihrem weiße Kleidle, und i' denk', daß Sie mein Herre heirate' wöllet, no kommt mer's grad vor, wie wenn eine von unsere Taube auf 'm Dach sage' tät: I nemm de Habicht! Und derweilst hot d'r Habicht siebezeh' g'holt vo' zwanzig, und die letzte drei holt er au' no', eh' d'r Herbst kommt.« Sie lachte hart auf und legte die Hand auf der Liesel blassen Arm: »Angst will i' Ihne keine mache'; aber i' sag bloß so viel: d' Klotz send e' rauhe Sort', b'sonders für ihre Weiber, und 's mueß eine schon fest und zäh' sei', wenn se Stand halte' will. Aber wenn sich eine auf de liebe Herrgott verläßt und net verschrocke' ist, no ka's jo sei', daß se fertig wurd' mit mei'm Herre.«

Das Mädchen sah ohne Lächeln in der eifrigen Magd Gesicht. Sie wollte etwas Ablehnendes sagen oder etwas Scherzhaftes, aber sie fand die Worte nicht. Ein Unbehagen beschlich sie. Sie hatte das Gefühl, als verwirre die Grauhaarige die Fäden, die so glatt gelaufen waren. Aus der Wassergasse heraus Herrin vom kalten Grund werden und für Vater und Bruder besser und müheloser als seither sorgen können, das war ein Schicksal so blau und heiter wie der Sommertag, der heute über der Welt lag. Wie kam die Alte dazu, von Wetterwolken zu reden?

Die Magd wandte sich ab und schritt ihrer Küche zu. »Nix für ungut,« sagte sie über die Schulter zurück, »aber wenn i' net g'schwätzt hätt', i' glaub', i' hätt' en Kropf kriegt, so groß wie mei' alte Frau ein' g'hät hot. Die hot au' net g'schwätzt und hot älles in sich ›nei' g'fresse‹.«

Die schwarze Liesel ging zu den anderen zurück in die festlich aufgeputzte Stube, in der die Tannenreiser 72 hinter den Rehgehörnen steckten und zwischen den Flinten und Büchsen, die in langer Reihe wohlgeordnet an einer der Wände hingen.

Auf dem blanken Sofa von Rindleder hinter dem mächtigen runden Tisch saß der alte Uhrmacher und betrachtete eine Dose aus Silber, in die ein Frauenbildnis eingelassen war. Der Hausherr stand neben ihm und schaute ihm über die Schulter.

Ein mächtiger Strauß von roten Rosen prangte auf dem Tisch zwischen dem alten Porzellan, den gemalten Tassen und Kannen, aus denen man Kaffee getrunken hatte. Behaglich sah das aus, friedlich und wohlhabend.

Dem Mädchen wurde das Herz leicht, und sie trat hinter den Verlobten. Langsam fuhr sie ihm mit der Hand durchs dichte Haar, und indem sie's tat, war ein Erstaunen in ihr, fast eine leise Scham, daß sie das tun konnte bei diesem fremden Mann.

Er richtete sich auf und sah sie an. Eine helle Lohe ging über sein Gesicht. Hinter des Vaters Rücken neigte er sich zu ihr und küßte sie auf den Hals. Dann preßte er ihr Handgelenk, daß es schmerzte.

Sie stand verwirrt mit klopfenden Pulsen. Fortgezerrt fühlte sie sich, irgendwohin, wohin sie nicht wollte. Dicht schmiegte sie sich an den alten Mann und sah auf die Dose nieder.

»Wer ist's?« fragte sie, ohne das Bild darauf recht zu sehen, ohne daran zu denken.

Albrecht Neuhaus sah über die Brille weg zu ihr auf und lächelte.

»Meinst wohl, es sei eine alte Liebe von deinem Liebsten?« neckte er.

Sie schüttelte den Kopf, nahm die Dose in die Hand und legte sie wieder weg. 73

»Johannes,« sagte sie dann nachdenklich, »warum hältst du denn weiße Tauben, wenn doch alle der Habicht holt?«

Der Müller schaute sie seltsam an, dann lachte er.

»So ist's im kalten Grund der Brauch von der Sündflut her. Wenn man das abschaffen könnte, die da hätte es abgeschafft –,« er deutete auf das Bildnis.

»Wer ist's,« fragte die Liesel zum zweitenmal.

»Meine Mutter, als sie jung war wie du.«

Lang schaute das Mädchen auf das kleine Bild. Sie sah ein schmales und feines Gesicht mit klaren Augen und offener Stirne. Der schlanke Hals sah aus einem dunklen Kleid mit zackigem Spitzenkragen.

Diesen weißen, zarten Mädchenhals mußte die Liesel anschauen. »Ist's die, die den Kropf gehabt hat?« fragte sie nach langer Zeit fast ängstlich.

Der Müller nahm ihr die Dose aus der Hand. Er lachte, aber es klang nicht frei. »Ja, später dann –,« sagte er.

Gegen den Abend, als die Schwüle unter dem breitenfelder Wind, der die Sonne dort oben hinabgeleitet, gewichen war, nahm der Müller seine Braut am Arm. »Komm Liesel, ich muß dich den Jakobshofern zeigen.«

Sie sah ihn erstaunt an, als müsse sie sich besinnen. ›Wie wenn er mich gekauft hätte‹, dachte sie plötzlich, und sie fühlte einen Widerstand, ein Unbehagen in sich. Aber dann schritt sie an seinem Arm aus der Stube, und Vater und Bruder folgten.

Unter der Küchentüre stand das Regele, trocknete sich die nassen Hände an der Schürze und fragte: »Herr, hänt Sie au' unser alte Uhr scho' 'zeigt?«

Ueber des Müllers Gesicht lief ein Schatten des Unmuts. 74

»Koch zu Abend, wir sind bald zurück,« sagte er kurz.

Aber die Alte ließ sich nicht so leicht einschüchtern. »Des hot Zeit,« meinte sie ruhig. »Unser Uhr muß mer g'sehe' han. Die hot scho' viel Leut' g'falle'. Erst neulich 'm neue Pfarrer.«

Der Müller runzelte die Stirne. »Ich habe dir gesagt, du sollst den alten Kasten in Ruh lassen, sonst schlag' ich ihn zusammen.«

»O,« entgegnete unbewegt die Magd, »des hot d'r alt' Müller scho' g'sagt und hots bleibe lasse'.«

Sie tat eine Türe neben der Küche auf und ließ die Gäste in eine schmale Kammer treten, die von alten Schränken und Truhen fast angefüllt war. Süßlich roch es da, wie nach welken Rosen, Fenchel und flächsenem Tuch, in dem noch die Schlichte des Webers klebt. In der oberen Ecke, neben einem grünlichen Fensterlein, das gegen den Bach ging, stand eine Uhr in hohem, plumpen Kasten. Dorthin schritt die Magd und legte die Hand an das uralte Gehäuse. »Des ist se,« sagte sie. »Gucket Sie se no an!«

Der Uhrmacher und seine Kinder traten vor das merkwürdige Stück, der Müller lehnte am Türpfosten mit finsterem Gesicht. Der Uhrkasten war ungefüg, wie mit der Axt zugehauen. Das Werk stand, die Zeiger schienen verrostet. Aber auf den Flächen und Leisten des alten Holzes liefen zierliche Malereien, flatternde Bänder und wehende Kränze in feinen Farben, verblichen und doch licht und klar. Unter dem gelblichen Zifferblatt mit seinen großen, plumpen Zahlen war ein See gemalt. Zahllose kleine, zackige Wellchen, um deren Rand ein Geranke von Rosen lief. Ein breites Lichtband, das die Wellen flimmern machte, führte wie ein glänzender Weg über den See in eine Ferne, in der der 75 aufgehenden Sonne Strahlen spitz wie Nadeln emporragten.

Die drei Gäste der Mühle schauten mit hellen Augen. Allen dreien war es gegeben, die Freudigkeit zu spüren, die aus eines guten Meisters Werk strömt in unversiegbaren, geheimnisvollen Strahlen. Der alte Mann rückte an seinem samtenen Käppchen, als wolle er's abnehmen.

»O,« sagte er, »alle Achtung! Aber dem Maler mehr als dem Uhrmacher.«

»Wie schön,« rief leise die Liesel, »schad', daß die Uhr in der Kammer da steht.«

Die Magd ließ die Augen nicht von ihrem Herrn und sagte: »Höret Sie's? Jetzt verzählet Sie au', worum se do steht.«

»Herrgott,« stieß der Müller mit geröteter Stirn hervor, »laß den alten Plunder in Ruh und tu deine Arbeit.«

Die Braut wandte sich verwundert um. »Erzähle, Johannes, was ist's mit der Uhr?« Sie ging auf ihn zu und sah ihm fragend in die Augen.

Da deckte er ihr die Hand übers Gesicht und sagte mit kurzem, nicht unbefangenem Lachen: »Muß ich dir alles sagen, du?«

Sie machte sich frei und nickte: »Du mir, ich dir.«

Da trat das Regele einen Schritt her: »Z'wenig und z'viel verderbt älles Spiel. Aelles beileib net; aber doch immer 's Nötigst'.« Sie wandte sich ab, deutete mit ausgestrecktem Arm nach der Uhr und begann: »Also die Uhr ist arg alt –«

»Halt,« fiel der Müller ein, »dann doch lieber ich, wenn schon einmal erzählt sein muß.«

Er nahm die Hand der Liesel und trat vor die Uhr. »Die Uhr ist sehr alt. Die Malereien darauf soll eine 76 Müllerin gemacht haben, die in den kalten Grund gekommen ist wie –«

»Wie d' Lerch' in' Hühnerstall,« fiel die Magd ein.

»Sie war nicht am rechten Platz, die Frau, sie hat nicht hergepaßt,« fuhr der Müller fort, »darum ist's auch nicht gut gegangen mit ihr – –«

»Nix, nix,« wehrte seltsam erregt das Regele ab, »des ist net schuldig. Der Müller von domols muß einer gwe' sein von d'r siebenten Bitt. G'walttätig wie e' Stier, gottlos wie e' Türk und eifersüchtig wie zwei Türke'. Dazu selber hinter de' Weiber her – –«

Der Müller stampfte mit dem Fuß auf. »Schweig doch, ich rede.«

»Jo, aber wie,« warf ruhig die Magd hin.

»Es ist nicht gut gegangen,« fuhr der Müller fort und man sah, wie er sich beherrschte. »Die Frau soll zuletzt nur noch in dieser Kammer hier gelebt haben.«

»Ei'g'sperrt,« fiel die Alte kurz ein.

»Und da soll sie an dieser Uhr gemalt haben, die ihr ein Knecht von der Mühle, irgend ein frommer Fridolin, gemacht haben soll.«

Der Müller schwieg und nahm den Arm der Liesel, als sei nun die Geschichte aus.

Da nickte die Magd mit dem Kopf und sagte mit ärgerlichem Lachen: »I' han mir's denkt, daß Sie dere saubere Sach' de' Schwanz 'rausreißet, wie d' Bube de' Eidechse. Fräule', 's ist no net aus: D' Müllere hot g'molt und g'molt an ihrer Uhr bis zu ihrem Tod. Und wie's zum Sterbe' g'gange' ist, do hot se zum Müller g'sagt: ›Die Uhr soll für mi' schwätze', wenn i' scho' lang unterm Bode' lieg'. Die Zeiger sollet die Stund' bringe, wo die Sonn' aufgeht und älles Unrecht an de Tag kommt.‹ Und kaum ist die Frau unterm 77 Bode' g'we', do hot der Müller die Uhr g'stellt, hot d' G'wicht ausg'hängt und Wasser übers Werk g'schüttet, daß älles verrostet ist. – So, hot er g'sagt, jetzt sollet die Zeiger gehe'. – Und seither steht se do in dere Kammer, und jedem Müller vom kalte' Grund ist se e' Dorn im Aug' – jeder weiß worum, und keiner hot d' Courag', daß er se mache' läßt oder z'sammehaut.« – Sie lachte; aber es klang nicht frei, und fast herausfordernd schaute sie auf ihren Herrn.

Der drückte die Liesel an sich und flüsterte: »Ich lasse sie machen, Liesel, wenn du lang genug mein eigen bist.«

Der alte Neuhaus stand immer noch bewundernd vor dem Gehäuse. Er hatte kaum hingehört auf die Erzählung der Magd. Auch verstand er nur schwer die breite Mundart der Alten. Aber der Krüppel hatte kein Wort verloren. Alles, was aus Tageshelle und Nüchternheit in die leisen Schatten des Geheimnisvollen ragte, das war ihm wie das Kräutlein Baldrian den streifenden Katzen: es zog ihn an mit unwiderstehlicher Gewalt und schuf ihm halb Pein und halb Wollust.

»Das wäre eine Arbeit für mich,« sagte er leis und fast erstaunt über die eigene Rede.

Sein Vater lachte. »Heiner, dein Ehrgeiz fliegt nicht hoch. Das Werk ist von der gröbsten Sorte.«

Dem Sohn flog ein Rot übers Gesicht. Aber er sagte nichts.

»Kommt,« rief der Müller, »das Gerümpel steht gut in der Ecke.«

Sie gingen. Der alte Mann wandte noch ein paarmal den Kopf. Die Magd schloß hinter ihnen die Tür.

»So,« sagte sie, »des muß mer g'sehe' han –« Dann rief sie dem davonschreitenden Brautpaar nach: »Ganget g'wiß auf de' Kirchhof. Die Tote' sind so 78 g'späßig, die wöllet z'erste ihr Ehr', sonst gebet se kei' Ruh!«

Den Fußpfad durch die Schlucht stieg das Paar allein empor. Der Bach hat dort einen felsigen, bösen Weg, den er murrend und unmutig schäumend überklettert, und von dem er da und dort in kleinen Tümpeln zitternd ausruht. Eintönig füllte das leise Tosen den Wald. Der Müller hatte den Arm um das Mädchen gelegt; aber sie schritt so leicht und eilig dahin, als führe sie den, der sie führen wollte.

»Warum so schnell?« flüsterte er, »bist du nicht gern allein mit mir?«

Da hemmte sie den Schritt und wollte etwas sagen. Aber als sie in sein Gesicht sah, rieselte ihr ein seltsamer Schauer, eine leise, unbewußte Scheu über den Leib, und sie redete Dinge, die weitab lagen, und eilte weiter.

Von den Jakobshofer Dächern stieg der Abendrauch, als der Müller seine Braut durch die Gassen führte. Auf den Höfen und unter den offenen Scheunetüren standen Leute und grüßten. Selten fiel ein weiteres Wort. Es war wenig Gemeinschaft zwischen Dorf und Mühle.

Der erste, der herbeikam, war der Stundenwilhelm, ein gelernter Glaser, der einen kurzen Fuß hatte und zuweilen auf seinem Handwerk, zuweilen anders arbeitete. Es hieß von ihm, er sei schwach im Kopf von Mutterleib an. Er schüttelte den beiden die Hände und wünschte ihnen mit freundlich glitzernden Augen den Segen Gottes. Der Müller zog lachend den Beutel und wollte dem Manne ein Geldstück schenken. Aber der schüttelte fast traurig den Kopf und humpelte weiter.

Am Haus des Schultheißen stieg das Paar die steinerne Staffel empor, über den alten, halbtauben 79 Hund hinweg, der träg auf der Schwelle blinzelte. Hinter einer der Türen im steingeplatteten Flur waren Stimmen zu hören. Eine laute und eine leise Männerstimme. Der Müller hörte die laute und sagte: »Das ist der Schulze.«

Das Mädchen hörte die leise, und ein frohes Gefühl wollte in ihr aufwallen, so, wie wenn man in der Fremde unvermutet ein Stückchen Heimat antrifft.

Aber dann fiel ihr plötzlich ein, daß sie diese Stimme in der letzten stürmischen Zeit gar nicht mehr gehört, nicht auf sie geachtet hatte. Wie ein Wirbelwind hatte des Müllers stürmisches Werben sie losgerissen von allem Vertrauten und Ruhigen. Wie Schuldgefühl kam es da über sie, Schuldgefühl und Scheu vor der Stimme da drinnen.

Die Türe ging auf, und zwei ungleiche Männer schauten dem Paar entgegen. Der Schultheiß, untersetzt und breit, mit rotem, bartlosem Gesicht, auf dem ein Schmunzeln aufstieg. Der andere war groß, aber allzu schmal von Gestalt. Sein junges Gesicht mit dem Christusbart war von fast krankhafter Blässe, und seine Augen schauten drein wie Kinderaugen, die etwas Schreckhaftes erblicken.

Der Schultheiß trat her zu einer lauten, wortreichen Begrüßung. »Heut gibt's aus,« rief er lachend, »e' neuer Schulmeister und e' neue Müllere an ein'm Tag.« Er winkte mit dem Kopf gegen den Blassen hin. »Der Herr hot sei' Stell' ei' g'sehe'. Er will in unserer gute' Luft Schulmeister werde', daß er rötere Backe' kriegt.«

Das Mädchen schaute auf. Es war, als ob sie auf eine Erklärung warten oder sich auf etwas besinnen würde. 80

»Ja,« sagte mit raschem Erröten Ernst Eisenreich, »ich will es da oben versuchen. Ich bin nie so recht gesund in der Stadt.«

Immer noch schaute ihn die Liesel an, ob er nicht noch etwas sage. Etwas von den vergangenen Spielabenden in der Wassergasse. Aber er sprach mit dem Müller schon von ganz anderem. Von Schülerzahl und Besoldung und Wochenstunden.

Da hatte sie das wunderliche Gefühl, als ob da eine Türe zugegangen, eine Gelegenheit für immer verpaßt sei. Als ob es ein Geheimnis gebe zwischen ihr und dem Freund des Bruders. Ein Geheimnis, das dieser Mann gewahrt haben wolle. Auch sie sprach jetzt von Stadtluft und Höhenluft. Aber immer klang ihr dazwischen wie ein leises Strömen das Geigenspiel, von dem nur sie und der blasse Schulmeister wußten.

Der Schultheiß rief seine Tochter herbei, die ihm, dem Witwer, das Hauswesen führte, daß auch sie die Müllersbraut begrüße. Wie in einem Wirbel stand die schwarze Liesel. Sie ließ sich beglückwünschen, sie gab Antwort, sie lächelte.

Zum Pfarrer wollten sie jetzt noch gehen, der als lediger Mann mit seiner Mutter hauste.

Der Schultheiß lachte. »Den treffet Se net. Der hockt drauße ins Totegräbers Baumgarte' und molt de' alte Forstwart Rall, wie er leibt und lebt.«

Laut lachte der Müller. »Weiß Gott,« sagte er, »wenn ich nicht der Johannes Klotz vom kalten Grund wäre, dann möchte ich Pfarrer von Jakobshof sein.«

»Do hänt Se recht,« meinte der Schultheiß, und er hatte einen unguten Zug im Gesicht, »die Herre könnet's prestiere. D'r letzt' hot Schmetterling' g'fange, und d'r 81 jetzig' molt Bilder. I' glaub', uns do' rauf schicket se die, wo se sonst im Ländle net brauche' könnet.«

Der Müller legte ihm lachend die Hand auf die Schulter. »Die Herren denken halt, wir da oben seien so wie so schon ein Stück näher am Himmel, da brauchen wir nicht auch noch den besten Pfarrer.«

»Es muß einer kein schlechter Pfarrer sein, weil er Bilder malt,« sagte jetzt der Schulmeister leise, »ich meine oft –,« er stockte und schwieg dann, wie wenn ihn sein Reden gereut hätte.

»I' mein', e jeder Schuster soll bei sein'm Leiste' bleibe', sonst gibt's en Sakkermentsdurcheinander auf der Welt,« fiel der Schultheiß hastig und ärgerlich ein, und es war leicht zu merken, daß er sich nicht zum erstenmal zornig ereiferte um den malenden Pfarrer. Der Schulmeister widersprach nicht mehr.

Sie gingen weiter durchs Dorf, der Müller und seine Braut. Viele Augen sahen dem Mädchen nach, das schlank und fein in dem weißen Kleid neben dem Manne dahinschritt.

»Des 'st a andere, als die rot' Kathrine,« sagte ein Bursche, der mit ein paar anderen zusammenstand.

Sie lachten alle. Einer spuckte in die Hände und streifte den Aermel auf, als wolle er an eine schwere Arbeit gehen. »Herrgott,« sagte er halblaut, »wenn mer Geld hot wie d'r Klotz vom kalte Grund, no hot mer holt d' Auswahl, die rote und die schwarze ka' mer no han.«

Die Brautleute gingen am Pfarrhaus vorüber und schauten hinauf zu den spiegelnden Fenstern.

»Ist's nicht heute, so ist's ein andermal,« sagte der Mann, »dem Pfarrer kommen wir immer noch früh genug, der hat sein Leben für sich.« 82

»Taugt er nichts, der Pfarrer?« fragte die Liesel, wie man fragt, wenn man ein Gespräch nicht einschlafen lassen will.

Der Müller lachte leis. »Uns zwei kann er zusammengeben und taufen kann er auch. Mehr will ich nicht von ihm. Die Jakobshofer sollen sehen, wie sie mit ihm auskommen. Das weiß ich, daß ihm ein gemalter Bauer lieber ist als ein lebendiger. Aber ich nehm's ihm nicht übel. Mir geht's auch so.«

Er drückte des Mädchens Arm und sah ihr ins blasse Gesicht, so daß sie die Augen niederschlug und wieder die bange, beklemmende Scham über sich niederrieseln fühlte, wie heute schon oft.

»Komm,« flüsterte er, »kehren wir um. Sie haben dich jetzt alle angegafft.«

Sie schaute mit großen Augen über die staubige, gerade Gasse hin, als suche sie etwas. Sie hatte eine dumpfe Scheu, mit dem Mann an ihrer Seite wieder in die Einsamkeit hineinzuschreiten, wo der murmelnde Bach und der verschwiegene Wald allein den versteckten Weg begleiteten. Wie ein gescheuchter Vogel, der der haschenden Hand entrinnen will, suchte sie einen Ausweg.

»Komm,« sagte sie da, »auf den Friedhof müssen wir noch, zu deinen Eltern.«

Der Kirchhof von Jakobshof liegt mitten zwischen den Krautäckern, als sei er ihresgleichen. Nur die Hecke von niederen Tannen und die große Verwilderung zeigen an, daß da drinnen der Pflug nicht geht, und daß der Streifen Landes anders bestellt ist als das weite Feld ringsum. Die weißen Schmetterlinge flattern über die öde Stätte, und in der Tannenhecke haben die Schnecken ihren Unterschlupf. So ist für Menschenohren nicht viel Lärm draußen, denn auch die Jakobshofer, 83 denen die anliegenden Aecker gehören, arbeiten schweigsam um die Toten her.

An jenem Abend, als die zwei die alten Müllersleute besuchten, war kein Mensch weit und breit. Nur ein Weiblein, ein verhutzeltes, kleines, richtete sich von einem Grab auf, von dem sie mit kraftlosen Händen das Gras gerauft hatte im Vorübergehen. Ihr zahnloser Mund murmelte einen Gruß, ihre trüben, wässerigen Augen folgten langsam den beiden, die auf das hochragende Kreuz zuschritten, das die Stätte bezeichnete, wo die Klotze vom kalten Grund zahm und gebändigt lagen wie andere müde Leute.

Efeu deckte die Gräber, an die der Mann das Mädchen führte. Dunkel und dicht war das Geranke; eine stumme und strenge Scheidewand zwischen denen, die fertig waren mit ihrem Tagewerk, und den beiden, die das meiste noch vor sich hatten.

Der Müller nahm den Hut vom Kopf und fuhr sich durchs buschige Haar. Fast ungeduldig tat er das, wie einer, der einen Brauch mitmacht, hinter dem sein eigenes Bedürfnis und Empfinden nicht steht.

Stumm und reglos stand die schwarze Liesel. Sie schaute den Efeu an und mühte sich, einen Faden zu finden, der von ihr zu den zwei Toten da unten führen möchte. Aber es wollte ihr nicht gelingen. Wie wenn ihre Seele vor einer glatten Mauer stünde, an der kein Pförtlein wäre, so fühlte sie. Fremd, verschlossen, unnahbar blieb ihr das Doppelgrab. Da ging sie langsam um das bronzene Kreuz herum, ein einziges blühendes Blümlein zu suchen. Ihr war, als sei der blütenlose strenge Efeu schuldig an der kühlen Fremdheit, über die sie nicht hinüberkam. Doch sie fand keine Blüte auf der Stätte der Klotze. 84

Dicht dabei aber, der Hecke zu, lag ein Grab, das trug ein weißes Holzkreuz und eine Wirrnis von halbverwilderten Blumen. Lustig sah es aus, wie ein lachendes Gesicht, das über die finstere Miene der Müllersgräber spottete. Das Mädchen bückte sich nieder und brach von den gelben Ringelblumen, die bis über den Weg wucherten. Und sie legte das Sträußchen zwischen den Efeu auf dem Grab der Müllerin. Rasch tat sie das und freudig, wie man tut, wenn das Herz Befehle gibt.

Der Mann stülpte den Hut auf und schob sie weg. Er bückte sich nieder und warf die Blumen über den Weg. Vielleicht war davon sein Gesicht so rot.

»Laß doch,« sagte er hastig und hart, »das fremde Zeug da –«

Die schwarze Liesel schaute ihn an und wollte etwas sagen. Aber er schritt schon davon und rief zurück: »Komm jetzt.«

Da, wie er so kurz und grußlos vom Grab seiner Eltern davonging, hatte das Mädchen das seltsame Gefühl, als sei jetzt auf einmal der dünne Faden da, der von ihrem eigenen Herzen zu den Toten, besonders zu der toten Mutter dieses Sohnes führe. Hastig, als dürfe es der Mann nicht sehen, winkte sie mit der Hand einen Gruß nach dem bronzenen Kreuz und schritt zwischen den auf den Weg verstreuten Blumen dem Müller nach.

Das Weiblein aber mit den wässerigen Augen kam hinter den Gräbern hervor und sammelte mit ihren verkrümmten, erdigen Händen die gelben Blüten. Sie tat sich nicht schwer mit dem Bücken, weil sie halb erdwärts gewachsen war unter den Jahren, die an ihr hingen wie allzuviel Früchte an einem Ast, den man nicht stützt. Der murmelnde Mund der Alten bewegte 85 sich, wie sie da sammelte und auflas; aber es war schwer zu verstehen, was sie sagte, weil es nur für sie selber gemünzt war.

Aber als sie heimging und ins Dorf kam und der Stundenwilhelm sie fragte, woher sie den schönen Strauß habe, da sagte sie deutlich: »Vo' 's Birkers Kathrine ihrem Grab.«

Das Brautpaar schritt talab durch die Einsamkeit. Der Müller hatte eine Falte auf der Stirne und war einsilbig. Die schwarze Liesel aber sprach von den Toten. Und wenn sie es nicht wußte, so fühlte sie es doch, daß sie damit eine Brüstung baute um eine Stelle, an der der Sturz droht, wenn einen ein Schwindel anfällt.

Wald und Bach allein schauten auf den Weg, den der Klotz vom kalten Grund mit einem schönen Mädchen ging, das versprochen hatte, sein zu werden. Aber ganz Jakobshof hätte können zwischen den Tannenstämmen hervorschauen – die Liesel wäre nicht sicherer gewesen als jetzt, da sie von den Toten redete.

Dem Uhrmacher und seinem Sohn wurde indessen die Zeit nicht lang im kalten Grund. Der alte Mann war in einer freudigen Gehobenheit, wie einer, dem starker Wein das müde Blut anregt. Nicht der augenscheinliche, sichere Reichtum, der in der Mühle steckte, war es zumeist, der Albrecht Neuhaus bestach. Es war mehr noch die Seßhaftigkeit des alten Müllergeschlechtes, die starre Bodenständigkeit dieser Klotze, die unbewegt und wurzelstark auf ihrer Scholle saßen, während sein eigenes Leben und das Leben seiner Kinder ein unsicheres Dahinwirbeln mit jeglichem Wind gewesen war. Das Samtkäppchen auf dem Kopf, schritt der frühzeitig gealterte Mann durch Haus und Mühle, Stall und Hof. Nicht spähend, nicht habgierig blickten seine prüfenden 86 Augen. Er wollte sich nur satt trinken an dem Bewußtsein, daß sein Kind, seine junge Tochter nun einrücke in die Reihen dieser Festgewurzelten.

Heiner, der Krüppel, aber stand hinten am Bach und lauschte, wie die Wasser tosten. Er hatte nicht die wunschlose Freude in sich wie sein Vater. Diese merkwürdige Freude, die mit jedem, auch dem kümmerlichsten Boden vorlieb nimmt und nur dort niemals mehr aufkeimt, wo Verbitterung über die Furchen gegangen ist.

Aber auch dem Krüppel erschien dieser Verlobungstag wie ein Spalt an der Mauer, die bisher sein Leben all zu eng umzirkt hatte. Mit seinen großen, dunklen Augen schaute er in die grünen Deicheln, in denen das saugend fortgezogene Wasser seinem Schicksal entgegenströmte. Und der glatte, gläserne Strang, zu dem der zerfahrene Elsterbach sich in diesen Rinnen zusammentut, er wuchs unter den starren Blicken des Krüppels zu einem endlosen Wogenschwall an, zu einem grünen Strom ohne Ufer, der die Welt füllte.

Da kam von hinten her der Mühlemichel und legte dem Versunkenen die Hand auf die Schulter. »Net so lang ins Wasser gucke', sonst guckt d'r Teufel raus!« sagte er ohne Lachen.

Der Krüppel wandte sich um. Auch er lachte nicht. Ihm saß das Lachen überhaupt nicht locker. »Heißt es so bei euch da oben?«

»So heißt's und so ist's,« entgegnete der Knecht mit Nachdruck, »i' könnt' manch's Stückle verzähle' von so' Sache', wenn i' net jetzt nach meine Gäul' gucke' müeßt.«

Da schritt Heiner Neuhaus hinter dem Knecht her durch die hohen Brennesseln dort am Wasserrad und an dem Schuppen vorbei, in dem der Bahnschlitten vom 87 kalten Grund den kurzen Sommer verträumt, nach dem Gaulsstall. Langsam, aber unweigerlich schritt er, wie einer, den man am Seil hat.

Der Michel sah nach den Gäulen, hatte einen Strohhalm im Mund und stellte sich an, als wüßte er nichts. Denn es ist nie gut und ratsam, Geschichten vom Teufel oder aus des Teufels weitem und finsterem Reich aus freien Stücken zu erzählen.

Der Heiner aber verstand das Betteln gar schlecht. Auf seinem Drehstuhl hinter dem nüchternen Werktisch hatte er so manches heiße Verlangen hinunterwürgen müssen, daß er Uebung darin erlangt hatte, wie der Gaukler im Feuerfressen.

So dauerte es eine gute Zeit, bis die zwei nebeneinander saßen auf der breiten Futtertruhe, hinter der die Mäuse ihr Spiel trieben. Zähen Tropfen gleich fielen die Worte aus des Knechtes Mund. Nach und nach erst kam schönerer Fluß hinein, und verstaubte, spinnwebumwobene Geschichten zogen grinsend vorüber.

Die Mecklenburger rieben bisweilen die schweren Köpfe an ihren Raufen, so daß das leise Klirren der Ketten herüberklang. Dann und wann stampfte bedächtig ein Pferdehuf, und das Pfeifen der Mäuse kam hinter der Truhe hervor.

Der Krüppel saß und lauschte und starrte. Da war eine ganz neue Welt, die ihm ihre versteckten Pforten auftat. Eine Welt, wie eine Musikantenseele sie braucht: keine Wand, die nicht zerfließe, wenn man daranklopft, keine Decke, die sich nicht zerteile, wenn man auffliegen will von der müdemachenden Erde, kein Hindernis, das nicht fiele, wenn die Seele blindlings davonstürmt wie ein Renner, der sein Zeichen hört. 88

Die eintönige, heisere Stimme des Knechtes ward für den lauschenden Heiner zum strömenden Wasser, in das er unverwandt starrte, bis ihm der Teufel feueräugig daraus entgegensah.

Wenn aber einer gern erzählt und der andere gern zuhört, dann haben zwei Schiffe ihre Enterhaken ineinandergeschlagen und ist kein Loskommen mehr.

✤           ✤           ✤

Die Sonne war längst hinunter, als der Uhrmacher mit seinen Kindern zur Heimfahrt in die Kutsche stieg. Der Mühlemichel steckte seinen Gäulen noch einmal frische Sträuße an die Köpfe und sich einen neuen Busch Rosmarin an den runden Hut. Es war ihm leicht und wohl ums Herz. Der volle Weinkrug, der auf dem Abendtisch der Knechte gestanden, und der ganze festliche Tag hatten ihm die Erdenschwere abgestreift.

Das Regele trat in den Hof und sah ihm prüfend zu, wie er anspannte.

»Michel,« sagte sie und deutete auf seinen Strauß am Hut, »Michel, halbe so viel wär au' no' gnueg. D'r größt' Busch macht no' net de glücklichste' Hochzeiter.«

Er lachte und blinzelte. »Di' plogt d'r Neid, weil du siehst, daß wieder e mol zwei z'sammekommet und du bleibst übrig.«

Die Magd schob ein Chaisenpolster zurecht und nickte ruhig. »Des wird's sei'. Mi' wird d'r Neid ploge, wenn i' sieh, wie d'r Habicht e' Taub' holt. Esel alter,« fuhr sie erregt werdend fort, »man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.«

Der Müller mit seinen Gästen trat jetzt aus der Haustüre. Er hatte den Arm um das Mädchen gelegt, und seine Augen flackerten. 89

Albrecht Neuhaus stieg in die Kutsche mit einem leisen, halb müden, halb behaglichen Aechzen. Wie ein Traum war ihm dieser Tag, und wie ein Traum stand es vor ihm, daß noch viele solche Tage folgen würden. Der Krüppel kletterte auf den Bock. Sein blasses Gesicht rötete sich bei der Anstrengung; er kam hinauf und saß stumm und zufrieden neben dem Knecht wie ein Wanderer, der viel Durst gelitten hat und nun neben der Quelle sitzen bleibt, die ihn sättigte.

Immer noch ließ der Müller das Mädchen nicht los. Die Knechte unter den Stalltüren hatten rote Gesichter und lachten hinter dem Rücken der Beiden. Das Regele schüttelte den grauen Kopf, und die zwei auf dem Bock schauten sich um nach den Säumenden.

»Liesel,« flüsterte der Müller, »bleib' gleich da!«

Da war's, wie wenn das Mädchen, das ein heißes Gesicht hatte, aus einem Traum erwachte. Sie machte sich frei und reichte der Magd die Hand, dann stieg sie hastig in den Wagen.

Der Müller stand am Schlag. »Sag' ein Wort,« murmelte er, »dann fahre ich mit, der Abend ist so schön.«

»Ja,« sagte die Magd, die Ohren hatte wie ein Wiesel, »der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar. Kennet Sie des Lied, Fräule'? – Ihr aber meine Sinnen, auf, auf, ihr sollt beginnen, was eurem Schöpfer wohlgefällt.« Die Alte sprach laut und feierlich, wie wenn sie verhindern wollte, daß eine andere Stimme die ihre übertöne, ein anderer Wille den ihren überbiete. Da lüftete der Müller den Hut und trat zurück vom Wagenschlag. Die Mecklenburger zogen jählings an.

Johannes Klotz stand neben der Magd im Hof und schaute auf die Straße hinaus. Hart wie Stahl war der 90 Glanz in seinen Augen und hart das ganze blühende Gesicht.

»Eins wenn ich wüßte,« murmelte er, ohne es zu wollen. Da legte ihm die Alte die Hand auf den Arm. »Herr,« sagte sie leis' »i' weiß, was Sie wisse' möchtet! Sie möchtet wisse', ob die dort Sie wege' ihrem Geld nimmt oder net.« – Sie suchte in seinen Augen und fuhr dann fort: »Und Sie möchtet wisse', ob die dort net' scho' e'mol en' andere' Schatz g'hät hot.«

Jäh wandte sich der Müller um. »Du – –«

Die Alte hob beide Hände. »Still, Herr, still! I' sieh' durch Bretter und Wänd'.« Sie schaute sich um, ob die Knechte von den Türen weg seien. Dann reckte sie sich auf und stand dicht vor dem Müller. »Herr Klotz,« sagte sie, »'s Mädle hot e' saubers G'sicht und e' schöne Postur. Aber wisset Sie denn au', ob se' e' Gottvertraue hot und so – –«

Jetzt lachte der Müller wie befreit. »Ich frag' sie, wenn ich sie einmal für mich allein habe.«

Die Magd nickte fast drohend. »Froget Se se des, eh's z'spät ist! Von dere Frog' aus sieht d'r Mensch über Berg und Tal wie vom 'e Turm 'runter. Wenn er aber des net frogt, no stolpert er blindlings fort wie d'r Narr im Sack. So blind wie Sie –«

Sie wandte sich zum Gehen; da trat der Müller neben sie. »Regele,« stieß er hervor, »Du bist heute schon ein paarmal frech geworden. Nimm dich in acht! Wir Zwei sind nicht verheiratet.«

Sie lachte. »Noi, Gott sei Dank! Heut' könnt' i' no' mei' Bündel schnüre', wenn i' wöllt'. Aber i' han scho' z'viel erlebt im kalte' Grund, und meine Zeiche' stimmet no' net. I' bleib' do, bis für mi' Zeit ist.« Sie stand und schaute ihrem Herrn fest und gerade in die Augen, 91 als fordere sie ihn ruhig zum Stoß heraus. Da kehrte sich der Müller ab und schritt über den Hof.

Im dämmerigen Flur entzündete die Magd die Ampel. Durchs Küchenfenster kam der vertragene und verwehte Hall der Jakobshofer Betglocke. Die Alte legte die Schwefelhölzer hinters Herdrohr und betete halblaut, indes sie sich die Aermel aufstreifte, um das Geschirr abzuspülen: »Liebster Mensch, was mag bedeuten, dieses späte Glockenläuten? –« Und als sie damit fertig war, setzte sie noch mit jählings gefalteten Händen hinzu: »Herr Gott, schick' in de' kalte' Grund e' Müllere, wie wir fe' brauchet.«

✤           ✤           ✤

Schwül und still lag im Bergwald die Dämmerung. Ein hagerer Mann schritt einsam auf der Straße zu Tal. Als ihn die Kutsche vom kalten Grund von hinten her überholte, drückte er sich reglos an einen der Bäume am Straßenrand. Der Mühlemichel und Heiner sahen ihn da stehen wie einen dunklen Schatten. Rasch blickten sie sich in die Augen als zwei Wissende. Die Gäule griffen flinker aus.

Die Liesel aber, die auf der andern Seite saß, bemerkte nicht diesen Spuk an ihrem Weg. Mit großen, heißen Augen starrte sie in den nächtlichen Wald. Ihre Hand lag warm in der des Vaters.

Stumm schritt der neue Schulmeister von Jakobshof hinter dem Wagen her, dessen Geräusch ihm in der Ferne verhallte.

✤           ✤           ✤

Im Oktober, als die nassen Morgennebel die Elsterbachschlucht füllten, hatte der Müller vom kalten Grund Hochzeit im Lamm zu Jakobshof. 92

In glasiger Bläue stand an jenem Tag der Himmel über der Höhe, und die mächtigen Birnbäume vor dem Dorf ragten mit ihrem sterbenden Laub wie lodernde Feuerbrände in die grellklare Luft. Die Breithofer und Jakobshofer Tauben, die jetzt nach der späten Ernte freien Flug hatten, fielen scharenweis auf den Stoppeläckern ein und hielten eine zweite Nachlese, wo die Beth, das emsige Leichenweiblein, die erste gehalten hatte. Still und ehrfürchtig, als umständen sie das Lager eines selig Sterbenden, dem das letzte, schönste Lächeln das Antlitz verklärt, ragten die Tannen drüben am Höhenrand. Vor dem Jakobshofer Kirchlein trugen die Ebereschen übervolle, glühende Dolden. Wenn die Spatzen in den Zweigen rumorten, rollten die Beeren über den Weg, den der Müller und seine Braut zu nehmen hatten.

Die Liesel trug wieder ein weißes Kleid. Aber heute war es von Seide und kostbar. Johannes Klotz selbst hatte es gekauft und bezahlt. In den dunklen Haaren saß der Myrtenkranz. Drunten im kalten Grund in einer feuchtkühlen Stube hatte ihn die Liesel sich selbst aufgesetzt. Niemand war da, ihr zu helfen. Niemand, als der Heiner, der sein Festgewand trug wie einen Opferschmuck. Mit seinen langen, bleichen Fingern half er ungeschickt, den Kranz ins Haar der Schwester heften.

»Liesel,« sagte er, und es war, als ob den Scheuen ein Schluchzen würge, »vergiß mich nicht!«

Sie ließ die Hände sinken. Ihre dunklen Augen irrten durch den unwirtlichen Raum wie in erschrockenem Staunen. Dann riß sie heiß den Bruder an sich und küßte ihm das Haar wieder und wieder wie einem kleinen Knaben.

Der Pfarrer, der die zwei zusammengab, war ein großer Mann mit leicht sommersprossigem Gesicht und 93 rötlichem Haar und Bart. Seine Augen blickten klug und lebendig. Aber das, was er redete, klang etwas abwesend, als sei seine Seele nicht ganz bei der Sache.

Der neue Schulmeister spielte die Orgel. Er sollte sie spielen, bis der letzte Fuß die Kirche verlassen hatte. Aber Ernst Eisenreich spielte auch noch, als vor dem Lamm der Balthes mit seinen Kumpanen den Tusch blies, der das junge Paar willkommen hieß. Als alle dahingezogen waren, ihrem eigenen Glück nach, da blieb er einsam zurück und spielte weiter und weiter wie im Traum.

Heiner der Krüppel stand und sah hinauf nach der Orgel. Aber der Hochzeitszug nahm ihn mit, wie vorüberströmendes Wasser fortschwemmt, was am Ufer liegt.

Jählings brach der Schulmeister endlich sein Spiel ab, holte die Geige über seinem Bett und ging dem Wald zu.

In den Augen der Braut war ein fieberiger Glanz. Ungut und fremd kleidete den Müller das feierliche Gewand. Als die Wirtin vom Lamm die erste Lampe im rauchigen Saal entzündete, flüsterte die Liesel: »Komm, Johannes, ich kann nicht mehr.« An den aufgeschichteten Fackeln vorüber eilte sie scheu zum Hof hinaus. Hinter ihr blieb der Lärm der bäuerlichen Gäste. Der Müller holte sie ein und lachte. »Nimm mich mit,« flüsterte er heiß, und legte den Arm um sie, »wir finden den Weg ohne Fackeln.«

Der Braut stockte der Fuß. Ihr war, als müsse sie die Hände ausstrecken und etwas von sich schieben, was fremd und sinnverwirrend da herantrat. Wie ein erschrecktes Wild starrte sie einen Augenblick in die verdämmernde Ferne. Dann schmiegte sie sich an den Gatten. 94

Der Mühlemichel und der schwarze Balthes schalten. »Heimblose' hätt' mer ihne' solle', sonst gibt's kein Glück!« sagte der Schwarze. »Jo,« murmelte Michel, »und heimzünde', sonst kommt d'r Karre in' Grabe'.« Aber ein neuer Schoppen brachte die beiden über ihre Bedenken hinüber.

Einsam, wie außerhalb der Welt, lag der Weg, der über die stillen Aecker hin zum Wald führte. Die Nebel stiegen lautlos aus leeren Schollen, welke Blätter rieselten langsam nieder, wo immer ein Baum am Wegrand stand.

Die zwei, die hastig gegen den Wald hin schritten, sprachen nicht. Der Liesel lag es wie ein Band um die Kehle, und ihr Herz hämmerte. Der Mann ging mit weiten Schritten neben ihr und lächelte, indem er auf das unruhige Rauschen und Rascheln des starren Kleides lauschte.

Schmal und finster wurde der Pfad im Wald. Ein Tannenast streifte über der Liesel Haar und verfing sich. »O, mein Kranz!« sagte sie leise.

Er lachte und trat zu ihr. »Laß den Kranz; Müllerin bist.«

Drüben rauschte der Bach, sonst war nichts mehr zu hören, nicht einmal das Rascheln des bräutlichen Kleides.

Da kam von jenseits des Baches, von dem grünen Hang, den oben der Schwedenfelsen krönt, auf dem das letzte Licht eines jeden Tages und der erste Glanz jeder hellen Nacht liegt, ein singender, langhingezogener Ton und dann eine leise Liederweise, wie sie die Liesel vor vielen Wochen gehört hatte, wenn der Heiner und der Andere miteinander die Feierabende vergeigten. – 95

✤           ✤           ✤

Schneereich und bitter kalt war jener erste Winter, den die Liesel im kalten Grund verlebte. Die Mühle feierte, der Bach lag unter Eis, und die Holzknechte mußten mit ihrer Arbeit warten, bis der Schnee im Wald zusammensank, so daß ein Durchkommen war. Mit Holzsägen und Futterschneiden brachten die Knechte die kurzen Tage hin, und das Regele und die junge Beimagd saßen im Schafstall und spannen.

Dieser Schafstall war ein weites Gemach zu ebener Erde, rechts von der Haustüre. Er hatte gekalkte Wände, eine weiße Balkendecke und glatten, tennenartigen Lehmboden. Trübe, kleine Fenster waren oben, fast unter der Decke, angebracht, und im Hintergrund führte eine Türe zu den schmalen, langgestreckten Kammern der Knechte. Vor langen Zeiten, als auf der Jakobshofer Hochebene noch ödes Weideland war, hatte dieser Raum als Schafstall gedient, in dem die Herden untergebracht wurden während der härtesten Winterszeit. Auch jetzt hieß er noch der Schafstall, obgleich der uralte Waldschütz Rall in seiner Jugend den letzten Schäfer vom kalten Grund als einen Greis gekannt und die letzten Schafe dieses Greises gar nicht mehr gesehen hatte.

Das niedrige Tor gegen den Hof hinaus wurde längst nicht mehr geöffnet; aber auf den Flur hatte man eine Türe gebrochen, deren hohe Schwelle nun auch schon abgetreten war von schweren Knechtsschuhen. Ein großer Tisch mit umlaufendem Fußgestänge stand jetzt in dem Raum, dazu lehnenlose Holzbänke für Knechte und Mägde. In eine der oberen Ecken hatte man einen gewaltigen Ofen gestellt, von dessen eisernen Kacheln blankgewichste, schwarze Schriftzeichen und Bilder breit gegen den Tisch hergrinsten.

Aber vielleicht nur einmal im Jahr, vielleicht nur an 96 dem rauhen Spätherbsttag, an dem das Regele zum erstenmal die ungefügen Klötze und Stumpen aus den Wäldern des kalten Grundes in den Ofen schob, daß sie darin fortglosten sollten den ganzen Winter hindurch, – vielleicht nur an diesem Tag schauten Knechts- oder Magdsaugen auf die eiserne Schrift.

Es stand aber da zu lesen:

Krieg' ich mein' Sach' zur rechten Zeit,
So spend' ich Wärm' voll Dankbarkeit.
O Mensch, nimm Gottes Gaben hin
Mit einem dankerfüllten Sinn.

Und dann weiter unten:

So lang' du warm bist, Mensch, bedenke,
Daß du schon bald erkalten mußt.
Drum sorg', daß warm man an dich denke,
Wenn du in kühler Erden ruhst!

Nur das Regele stand öfter vor dieser Schrift, und auch sie erst so oft, seit sie die weißen Haare hatte. War doch das Frommsein über das innere Wesen der Alten gekommen, wie die Reife über einen harten und grünen Apfel kommt. Frühlingsstürme, Sommerhitze, Gewitter und Herbstnebel waren über die derbe Frucht gegangen und hatten sie auf dem besten und natürlichsten Weg langsam reifen lassen, so daß sie jetzt fertig war bis ins Mark. Ein ander Ding, als die notreifen, zeitlosen Früchte, die aus manchem Garten mit kranken Farben grüßen.

Ein ganz stilles Leben war es so im kalten Grund in jenem Winter. Das Knirschen der Sägen im Schuppen und das Surren der Rädchen im Schafstall klang zu einförmig Tag um Tag, als daß es einen Bruch in die 97 große Ruhe, die über der schneegefüllten Bergschlucht lag, hätte reißen können.

Im Wohnstock aber, dort, wo die blanken Fenster mit neuen, teuren Vorhängen geschmückt, die weiten, niederen Stuben mit allerlei modischem Gerät gefüllt worden waren, ging's fast noch stiller zu.

Wohl schritt die Liesel zuweilen, wenn sie allein war, durch die Räume, als suche sie etwas. Aber sie tat das leise und scheu. Die Schränke und Truhen musterte sie durch, in denen jedes Stück an seinem Platze lag, den das Regele auswendig wußte. Langsam senkte sich aus dieser großen, alten Ordnung eine bange Lähmung auf das Uhrmacherskind aus der Wassergasse.

Dort unten, bei dem weltfremden Vater und dem Bruder mit seiner Musikantenseele, war sie es gewesen, die die Fäden in die Hand genommen und für die beiden gesorgt hatte. Hier oben aber gab es gar kein persönliches Einspringen. Da waren Brauch und Herkommen und uralte Ordnung an die Stelle eines sorgenden Herzens getreten, wie eine tote Maschine an die Stelle einer lebenswarmen Hand. Das Regele stand aber an dieser Maschine und ließ niemand nahe kommen.

So war eine Lücke in das Leben der Liesel gekommen, die sie empfand, ohne sie zu verstehen. Das ruhelose, dumpfe Suchen war in ihr, das ein Tier umtreibt, dem man aus der Zahl seiner Jungen eines wegnahm.

Sie kam in jenem Winter zuerst oft zu ihrem Gatten, das Verlorene zu suchen. Aber die Liebe des Johannes Klotz hatte nichts von jener Kindlichkeit an sich, die echte, beste Mannesliebe hat. Der Müller mißverstand das, was suchend an ihn herantrat. Er wußte nicht, daß der Weg von der bangen, früherblühten Mütterlichkeit der Liesel zum vollen Weibsein behutsam und mit 98 vorsichtigem Schritt gegangen sein wollte, wie alle Wege, die auf letzte Höhen führen. Er schritt derb zu und sah nicht, wie er Blüte um Blüte zertrat, die immer wieder hervordrängten.

Die Müllerin ward blaß in jenem Winter, und dunkle Ringe lagen um ihre größer werdenden, bangen Augen. Die Knechte lachten und flüsterten, wenn sie ihr nachsahen, und die junge Magd lachte auch. Das Regele aber sah dieses Lachen der Sechzehnjährigen, und sie schlug ihr eines hinter die Ohren, daß die Zöpfe flogen.

Wie die kurzen Tage und langen Nächte über die einsame Mühle hinzogen, da kam in die Seele der Liesel eine harte, unerträgliche Klarheit. Der Dunst, der blau die Ferne verhüllt hatte, sank und zerstob und ließ Nacktheiten sehen, die glotzäugig und tückisch das neue Leben umlagerten. Oft stieg ein bitterer Groll in dem jungen Weibe auf. Ein Groll gegen Vater und Bruder und alle Menschen. ›Warum hat mir niemand das gesagt, das – –?‹ so schrie es in ihr. ›Man hat mich hineingehen lassen, blind und töricht wie ich war. Ich habe dem Johannes etwas sein wollen. Etwas – aber das nicht. Er braucht mich nicht, ach, er braucht mich nicht, so wie ich's meinte! Er wirft mir alles hin, was ich freiwillig bringe, und er drückt mich in den Schmutz und raubt mich aus und läßt mir nichts – nichts als furchtbare Scham.‹

Und manchmal starrte sie von ihrem Platz am Fenster aus in den verschneiten Hof und sagte sich hart: ›Deinen Vater, deinen Bruder hast du reich machen wollen. Niemand hat dich gezwungen, niemand. Des Müllers Geld hat dich zuerst gelockt.‹

›Zuerst!‹ rief dann etwas in ihr dagegen. ›Aber dann ist auch ein Anderes dagewesen an dem Müller. 99 Ein Anderes, das aber jetzt nicht so ist, wie ich es meinte. Es muß irgendwo stecken, das richtige Andere. Irgendwo, irgendwo – –‹

Hinter all dem Bitteren, das ihr die Seele wund machte, standen so die glühende Sehnsucht, ein wartender, inniger Glaube, ein zähes Harren von heut auf morgen.

Und sie suchte, bohrte und verzehrte sich in Unruhe. So wurden ihre Augen groß und umschattet und war nichts zu lachen dabei.

Aber auch der Müller steckte nicht in wunschlosem Glück. Er, der sein Wissen von Frauenliebe an jedem Wegrand gesammelt hatte, fand sich in seinem scheuen Weibe nicht zurecht. Er fühlte, daß etwas wie ein Mantel um ihre junge Gestalt lag, ein Mantel, der seiner starken Hand nicht wich. Da war oft eine grimmige Ungeduld in ihm und oft ein klopfendes Mißtrauen.

Ob sie nicht mehr nach dem kalten Grund als nach seinem Besitzer geschaut hatte, die arme Tochter des Uhrmachers? Etwas wurde hart wie Stein in dem Müller, wenn er das dachte.

Und weil kein Mensch anders sehen kann, als mit seinen eigenen Augen, so fraß sich in Johannes Klotz langsam und ihm selbst fast unvermerkt der Argwohn fest, die Glut, die sein junges Weib für ihn nicht habe, müsse nach anderen Seiten strahlen. Nach der Seite der Ihrigen, des Vaters, des Bruders, oder wohin? Er fühlte die Kluft, die zwischen ihm und dieser fremden Sippe bestand, aber er konnte oder wollte die Brücke nicht finden.

Ungleich, jäh, bald rauh und hart ward da der Müller zu seinem jungen Weib, bald riß er sie an sich, als sollte sie ihm genommen werden. 100

Und eines tat er, was ganz gegen Klotzische Art war. Er tat es geradezu mit zusammengebissenen Zähnen, ungern und in trotzigem Kampf mit den eigenen Neigungen. Aber er tat es, weil er glaubte, damit einen Ausfall durchs Tor zu machen und einen lauernden Feind tief zu treffen: er hielt die Hand fest auf dem Beutel. –

Albrecht Neuhaus und sein Sohn hausten weiter in der Wassergasse. Das Weib des Schusters Lorenz, der sich wegen der überzahlten Kalbfelle aufgeknüpft hatte, tat ihnen die nötige Handreichung. Die Liesel hatte dies alles noch in die Wege geleitet, ehe sie aus der Armut in den Reichtum übersiedelte. Einsilbig und unfroh tat die Fremde, was der Liesel leicht und willig aus der Hand gegangen war. So war es ein schlechter Tausch für die zwei Uhrmacher, an die nach und nach die Notwendigkeiten und Nüchternheiten des Tages, die die Liesel stillschweigend gescheucht hatte, zudringlich herantraten.

Mehr als zuvor mußten die beiden am Werktisch sitzen. Aber die Hände arbeiten schwer, wenn die Seele abseits schweift. Stumm und uneingestanden warteten da vielleicht Vater und Sohn auf das neue Leben, das vom kalten Grund aus in die Enge der Stube strömen sollte.

Die Türe zur Kammer der Liesel blieb geschlossen. Früher war sie immer offen gewesen. Bald schaute der Vater, bald der Heiner hinüber, ob sie nicht aufgehe.

Wenn der frühe Abend sank, trat der alte Mann ans Fenster und suchte die Sterne. Der Krüppel holte die Flöte. Aber er scheute sich, sie zu blasen. Denn mit den Tönen kamen böse Gedanken. Da war die Liesel mit dem fremden Müller davongegangen. Der Eisenreich hatte 101 sich zum Schulmeister von Jakobshof machen lassen, weil – nun weil er auch seinen eigenen Glückswegen nachging. Ihn aber, ihn hatten sie zurückgelassen wie einen Stein am Weg. Bitterer, schmerzlicher fast als an die Schwester dachte der Krüppel an den Geiger.

Stumm, die Flöte in den Händen, saß er in der Dämmerung und grübelte hinter seinem Leben her, bis der schweigsame Vater die Lampe anzündete und sich an seine Berechnungen machte, wie an einen heiligen Abendsegen, der als guter Schluß hinter dem mühevollen Tagewerk steht. Diese Berechnungen aber galten der großen Uhr mit den Planetenbahnen, zu der der Müller vom kalten Grund das Geld leihen sollte, wenn es dereinst soweit wäre.

Eifrig und versunken saß der alte Mann. Glücklich wie die sind, denen Gott das Brot aus der Hand nimmt, auf daß sie lechzend und hungrig bleiben sollen nach den Früchten des Paradieses, die nahe vor ihren Augen hängen.

✤           ✤           ✤

Es mag aber einer das kunstvollste Werk der merkwürdigsten Uhr zusammensetzen können und doch nicht wissen, was die Stunde geschlagen hat.

An einem Februartag, als der Tauwind fremd und zudringlich in die Gassen der kleinen Stadt hereingefegt kam, mußte des Schusters Lorenz Weib den Doktor Gothe rufen, weil der alte Neuhaus einen ganz besonders schweren Anfall von Atemnot gehabt hatte. Erschöpft saß der alte Mann in seinem hölzernen Stuhl, als der Doktor kam.

Der setzte sich, als das Nötigste getan war, auf den Tischrand und ließ die Füße baumeln. Seine kleinen, 102 klugen Augen blickten scharf unter den buschigen Brauen hervor, und auf der Nase lag der mattrote Glanz.

»Herr Neuhaus,« sagte er, »im kalten Grund gibts weiche, gute Stühle mit Polstern und Armlehnen, wie ein kranker Mann sie braucht. Da tät ich mir einen besorgen.«

Der Kranke gab keine Antwort.

»Und eine Pflegerin, eine tüchtige, geschulte Person ließe ich mir von meinem reichen Schwiegersohn verschreiben,« fuhr der Doktor fast lauernd fort.

Wieder sagte der Alte nichts. Er schaute nur vor sich nieder mit einem sinnenden Ausdruck im bleichen Gesicht, als müsse er in die Erinnerung zurückrufen, wo und wann schon ähnliche Wünsche, ähnliche Hoffnungen und Erwartungen durch seine Seele gegangen seien.

»Für einen guten Tropfen Wein müßte mir meine Tochter sorgen,« fing der Doktor aufs neue an, und in seiner Stimme war leiser Aerger, »eine gesündere und sonnigere Wohnung könnte auch nichts schaden. Zum Teufel auch, man gibt doch sein Mädchen nicht her, wie man einen alten Kittel wegwirft, auf den kein schmieriger Jude mehr bietet.«

Albrecht Neuhaus hob jetzt den Kopf und lächelte. Ein feines, versonnenes Lächeln voll leiser und selbstvergessener Schalkhaftigkeit. »Was wollen Sie?« sagte er. »Sie haben mich nicht lang gefragt, die zwei. Wenn Jugend und Liebe ihren Handel abschließen, steht's dem Alter nicht an, die Preise zu machen. Ich weiß, meine Liesel gibt sich nicht zu billig.« Er lächelte stärker und inniger, wie hinter einem Glück her.

Der Doktor schaute ihn lange schweigend an. Dann seufzte er und rutschte vom Tisch herunter. »Meinetwegen,« murmelte er, als ziehe er seine Hände zurück 103 von Dingen, bei denen man seine Anteilnahme abgelehnt habe. In sein Büchlein aber schrieb er an jenem Februarabend, als er einsam am Schreibtisch seiner überheizten Stube saß: »Der Herrgott hat allerhand Kostgänger. Da sind Leute, denen wird jeder Glanz zu Dreck, sobald sie nur hinschauen. Und andere, die sehen in jedem Dreck nur Glanz. Und so ist der Neuhaus einer. Wenn den der liebe Herrgott einmal in die Hölle schickt, der sieht bei den Teufeln die Schwänze nicht und hält sie alle für holdselige Engelein. Und wenn sie grunzen und quieken, dann meint der, sie singen eitel Hallelujah.«

Zwei Tage später stand der Doktor wieder vor dem alten Mann. Diesmal redete er nicht lang von bequemeren Stühlen und besserer Pflege. Er sah wohl, daß für beides die Zeit vorbei war, und er befahl nur, man solle die Müllerin vom kalten Grund herbeirufen so bald als möglich.

Da lächelte der Kranke. »Sie hat es ja leicht, zu kommen,« meinte er leise, »sie kann in der eigenen Kutsche fahren. Ich hab's nie so gehabt.«

Der Doktor hielt seine Hand fest. »Meister Neuhaus,« sagte er fast feierlich, »sie haben's noch besser gehabt; sie hatten Flügel – –«

Der alte Mann sah ihn sinnend an und schloß dann die Augen.

Und die Müllerin kam in der eigenen Kutsche. Johannes Klotz war auf der Jagd im verschneiten Wald, als man die Tochter zum Vater rief. Sie kam und trug das verwachsene, schwarze Kleid, in dem sie immer am Tisch gesessen war hinter Blumen und Spitzen und Bändern. Sie kam, wie wenn sie nie weg gewesen wäre; nur ihr Gesicht war schärfer, schmäler geworden, der Glanz ihrer 104 Augen war von anderer Art als einst, da sie noch alle Fernen in flimmerndem Dunst sah.

Der alte Mann schaute ihr entgegen aus seinen hochgetürmten Kissen. Da war sie an seinem Bett und hielt ihn umschlungen und preßte seine dürftige Gestalt in ihren jungen Armen. Es war wie ein Sturm, der über die beiden ging. Unten aber stand der Krüppel, totblaß und regungslos.

»Mädelchen, mein Mädelchen,« stammelte der kranke Mann, als sie ihn losließ. Er hatte sie immer so genannt.

Da weinte sie auf, laut und hilflos wie ein Kind, das in der Nacht von jäher Angst befallen wird.

Als der Vater diese Laute hörte, versanken vor seinem müden Geist die letzten Jahre, in denen ihm die junge Tochter mehr eine Mutter als ein Kind gewesen war. Mit geschlossenen Augen hob er die Hand. »Mußt nicht weinen, mein Mädelchen! Du hast ja nur geträumt.« Leise sprach er und ganz zärtlich. Auf seinem eingefallenen Gesicht lag weicher Glanz.

Die Liesel sank auf die Kniee und legte ihren Kopf aufs Bett. Ein Schluchzen schüttelte sie, das sie nicht meistern konnte.

Da trat der Krüppel her und streichelte ihr Haar mit zitternder Hand. »Liesel,« murmelte er, »so nicht, so nicht.« Er sagte das in der merkwürdig herzbeklemmenden Angst, die Kinder befällt, wenn sie selbstsichere Große, zu denen sie in allen Nöten kamen, zusammengebrochen und hilflos sehen.

Die Liesel richtete sich auf und sah in des Bruders verstörtes Gesicht. Dann schlang sie die Arme um seine verkrüppelte Gestalt und schmiegte den Kopf an seine Brust, als suche sie Ruhe und Schutz. 105

Vielleicht ist in jener Stunde der Krüppel ein Mann geworden, so gut er's werden konnte, weil es zum erstenmal war, daß ihn jemand brauchte.

Als die Dämmerung sank, war der alte Albrecht Neuhaus dem Licht zu gegangen. Die in der Stube standen reglos, als wäre der Vorhang zurückgerauscht ins Allerheiligste.

Da ward ein Schritt im dunklen Flur laut, und der Müller trat nach kurzem Klopfen ein. Er trug noch Lodenjoppe und Jägerhut und brachte einen Strom von Kälte und Schneeluft mit. Betroffen stand er in der halbdunklen Stube.

»Wie steht's?« fragte er in die Stille hinein.

Da nahm ihn der Doktor, der immer noch da war, sachte am Arm und zog ihn rückwärts in die andere Stube.

»Gut steht's für alle,« flüsterte er, »nur für die zwei da drinnen nicht.«

»Er ist tot?« fragte leis der Müller.

Der Doktor lachte ganz kurz und seltsam. »Erraten –«

Johannes Klotz legte seinen schneenassen Hut auf den Tisch, der mit Arbeitsgerät und Büchern bedeckt war.

»Schad' um den alten Mann,« murmelte er, »er ging zu früh.«

Der Doktor nahm ein weißes Blatt vom Werktisch. Kaum sah man noch die krausen Linien, die es bedeckten.

»Bei Gott, er ging zu früh,« sagte er leise. »Er hätte diese Uhr noch fertig machen sollen, diese Uhr mit den Planetenbahnen, zu der er viertausend Mark nötig hatte.«

Der Müller gab keine Antwort. Auf seinem unbewegten Gesicht war nicht zu lesen, ob er aus den Worten des andern etwas heraushörte. Er sah sich um in der unordentlichen Stube und holte die Lampe herbei, die 106 er in einer Ecke stehen sah. Mit ungeschickten Händen machte er Licht. Der trübe Schein fiel auf eine böse Wirrnis, wie man sie liegen gelassen hatte, als die Krankheit kam. Der Müller schob alles zusammen mit kurzer, unmutiger Gebärde. »Eine polnische Wirtschaft,« murmelte er.

»Ja,« sagte der Doktor, »sie hat gefehlt da unten in der Wassergasse, die neue Müllerin vom kalten Grund.«

Der Müller öffnete den Mund und schloß ihn wieder, wie wenn er ein Wort just vor dem Entschlüpfen noch eingefangen hätte. Dann schritt er zur Türe, wo der Tote lag.

Der Doktor aber ging leis davon. Auf der dunklen Treppe murmelte er: »Wer sein Weib mit Geld tut kaufen, siehet bald das Glück entlaufen.«

In jener Nacht blieb auf Befehl des Müllers der Mühlemichel bei den Geschwistern und bei dem toten alten Mann. Johannes Klotz setzte sich auf den Kutschbock und fuhr heim, um sein Gewand zu vertauschen und für die Müllerin zu holen, was not tat.

Die Gäule trotteten müd' durch den einsamen Wald. Sie hatten heute schon böse Wege vor schweren Holzwagen gemacht. Der föhnige Wind fraß weite, schwarze Flecken in das Schneekleid der Bachschlucht. Zerrissene Wolken jagten unruhig vor dem abnehmenden Mond vorüber.

Der Müller hielt die Zügel locker. Er dachte nicht an die Gäule, die den Weg allein fanden. Er dachte darüber nach, wie er, der Klotz vom kalten Grund, zu diesen halb landfremden dreien in der Wassergasse gekommen war. Sie hatten eine besondere Art und standen unter den andern beisammen, als seien sie sich selbst 107 genug. Wie kam's doch, daß er gerade dieses blasse, schwarzhaarige Mädchen für sich haben wollte?

Heute, da er sie wieder unten in der alten Armut gesehen hatte, im verwachsenen, dürftigen Kleid, das sie trug, als er sie zum erstenmal erblickte, heute war das alte Verlangen aufs neue emporgeflammt. Was half es ihm, daß sie sein Weib war, wenn sie doch nicht zu ihm gehörte, nicht ihm zuerst gehörte?

Er gestand sich's nicht zu, aber es war etwas wie Befriedigung in ihm, daß der alte Mann den Platz geräumt hatte. Sie hatte jetzt keine Heimat mehr, die Liesel, als bei ihm. Den blassen Heiner mit seinen unbequemen Augen würde er schon auf irgend eine Weise aus dem Weg schaffen. Nur ihn sollte sie dann noch haben, nur ihn. –

Die drei, die dem alten Mann die Wache halten wollten, saßen in der Stube um den Tisch, an dem vorzeiten die Liesel gearbeitet hatte. Zuweilen stand die Müllerin auf und ging hinein in den andern Raum, wo der Mond durchs unverhangene Fenster auf den friedlich schlummernden Mann blickte, der sich in den goldenen Gassen dort oben immer so gut ausgekannt hatte. Die andern waren dann ganz still und schauten nach der Türe mit jenem lauschenden Ausdruck, den eine Mutter hat, die über die Betten ihrer Kleinen hinhorcht. Und nichts rührte sich dort drinnen. So gut war des Männleins Schlaf in jener Nacht.

Heiner hatte seinen Drehstuhl ganz nahe neben den Knecht geschoben. Der Michel mit seiner heiseren Stimme war schwer zu verstehen, wenn er so leis und gedämpft sprach, wie diese Stunden es erforderten.

Er erzählte aber von den Geschichten, die oben am Schwedenfelsen passiert sind in jener gottsjämmerlichen 108 Zeit, da dem Herrgott die Wahl schwer war, ob er es mit den Päpstlichen oder den Lutherischen halten solle. Weshalb er die Rotten ihre Sache allein ausfechten ließ und sich dreißig Jahre lang zurückzog von der Welt, so daß sie in der Zeit ganz des Teufels war.

Damals sind über die Höhe von Jakobshof her zweimal die Schweden gekommen. Verwildert sind die gewesen wie Katzen, wenn sie im Wald hausen. Sie haben nach keinem Glauben mehr gefragt und nicht, ob Freund oder Feind. Rauben, schänden und mordbrennen war ihr Tagwerk, wo sie hinkamen. Darum ist alles vor ihnen in die Wälder geflohen wie vor der Pest oder dem Teufel selber. Einmal ist die Sache glimpflich abgelaufen. Da haben sie nur den Breitenfelder Polizeidiener erschlagen, weil der im Backhaus vor dem Ofen stehen geblieben war, in den sein Weib Brot und Kartoffelkuchen geschoben hatte, als die Flucht losging.

Das zweite Mal aber ward's blutiger.

Da war ein frommer Pfarrer in Jakobshof, der war von gutem Alter; aber sein Weib war jung und sehr schön. Der Pfarrer hatte drei Freuden auf der Welt. Das war das Geigenspielen und das Predigen und sein Weib. Wie dann die Schweden kamen, hätte er mögen nichts retten als sein Weib, seine Kanzel und seine Geige. Da ist er hingekniet und hat den Herrgott gefragt, wie er das machen solle. Doch dem Herrgott war damals alles einerlei, wie's zuging auf der Welt, und er hat dem Mann keine Antwort gegeben.

Der Pfarrer aber verlor den Kopf, als er merkte, daß ihn der Herrgott im Stich ließ, und er fragte den ersten besten, der ihm über den Weg lief, was er denn tun solle? 109

Der Gefragte war ein fremder Mann mit einem schwarzen Bart und einem bleichen Gesicht, der ein Felleisen trug und einen fliegenden Mantel, wie wenn er von weit her käme. Der stand still und sah dem ratlosen Pfarrer ins Gesicht und sagte: »Droben zwischen den Felsenspalten – soll dein Weib sich ruhig verhalten; – deine Fiedel trag ich dir – sicher aus dem Kampf herfür. – Auf der Kanzel sollst du stahn, – wenn der Schwede rückt heran.«

Da gab der Pfarrer dem fremden Mann seine Geige. Sein Weib aber führte er hinaus auf den Hang, wo die zerklüfteten Felsen sind mit den Höhlen, die in den Berg hinein gehen wie Löcher in den Brotteig. Dort hat er sie versteckt und hat ihr Brot und Wein hingestellt und eine Decke zum Schlafen und einen Kienspan zum Leuchten. Vor die Höhle aber hat er einen Stein gewälzt, wie die Juden vor des Heilands Grab. Er selbst ist zurück nach Jakobshof, hat seinen Kirchenrock angezogen und ist auf die Kanzel gestiegen wie zum Predigen. Er ist aber kaum droben gestanden, da sind die Schweden vom Tal herauf gekommen, stracks auf Jakobshof zu. Und ist der rote Hahn auf jedes Dach geflogen, und kein Hund lebendig davon gekommen, außer wer geflohen war.

Wie aber alles schändlich zerstört war bis auf die Kirche, an die sie sich nicht hergetrauten, wollten sie weiterziehen, Hohenweiler zu. Da kam einer mit einem bleichen Gesicht und einem schwarzen Bart, der ein Felleisen trug und einen wehenden Mantel, der schrie: »Mir nach, wer gut schwedisch ist!« Und er nahm eine Geige ans Kinn und spielte ihnen auf und führte sie so zur Kirche; er selber blieb außen stehen. Da drinnen aber stand der Pfarrer auf der Kanzel und reckte die Hände aus und betete und predigte. 110

Wie sie das sahen, wollten sie davon wie Hunde, denen man Wasser auf den Schwanz gießt. Aber der im Mantel lachte und schrie, sie sollen den Alten nicht fürchten und sollen ihn fragen, wo er sein schönes, junges Weib habe.

Da stürzten sie wieder hinein und die Kanzeltreppe hinauf und fielen über den Pfarrer her und rissen ihn herunter und schrieen, wo er sein Weib habe.

Dem Pfarrer lief das Blut übers Gesicht, daß er nicht mehr aus den Augen sah. Sie trieben ihn vor sich her mit Püffen und Stößen und schrieen immerzu: »Wo, wo?« Da sank er zusammen in seinem Blut und seufzte: »Ich hab' sie dem Herrgott übergeben.« Und verlor die Sinne. Der aber im Mantel fing an zu geigen wie toll und schrie: »Dann ist sie mein; ich bin jetzt der Herrgott auf Erden.«

Als die Schweden das hörten, ließen sie ab, nach dem Weib zu fragen und zu suchen, und stoben davon wie Spatzen vom Futtertrog, wenn der Hahn daherkommt. Von dem im Mantel aber hat man nichts mehr gesehen.

Am Morgen nach dem blutigen Tag kamen die Jakobshofer zurück aus den Wäldern. Da fanden sie ihren Pfarrer nicht weit von der Kirche im Blut liegen. Es war aber noch Leben in ihm, und sie taten ihm alle Handreichung, so daß er wieder zu sich kam.

Da fragte er zuerst, ob die Schweden fort seien, und ob die Kanzel noch ganz wäre. Aber sie war zerbrochen wie Anzündholz zusamt der Stiege. Danach fragte er nach seiner Geige, ob die keiner gebracht habe. Aber in ganz Jakobshof wußte niemand etwas von des Pfarrers Geige. Da verhüllte er sein Haupt und weinte und sagte: »So bin ich betrogen und find' auch mein Weib nicht mehr.« 111

Sie fragten ihn aber, wo er sie versteckt habe. Da gab er ihnen ganz genau Bescheid und sagte, wie er einen Stein vor das Felsenloch gewälzt habe. Und sie zogen aus und suchten und kamen wieder und sagten, der Stein sei noch vor der Höhle gewesen und Brot und Wein, Decke und Kienspan unversehrt; aber von dem Weib sei keine Spur zu finden.

Da ließ der Pfarrer nicht nach. Bat und flehte, bis sie ihn hinaustrugen auf einer Bahre. Es war eine mühselige Sache durch die Felsen hin, und sie kamen kaum vorwärts. Danach, da sie den Wunden in der Höhle niederstellten, befahl er ihnen, den Kienspan anzuzünden. Und sie leuchteten in jeden Winkel und in jede Spalte, und er folgte ihnen mit den Augen.

Und in einer Ecke rieselte das Wasser vom Stein und sprühte gegen das Licht. Das zischte auf und erlosch. Und in demselbigen Augenblick hörte man in der Ferne Frauenlachen und Geigenspiel, als käme es mitten aus dem Berg. Da tat der Pfarrer einen tiefen Seufzer. Und als sie den Kienspan wieder entzündet hatten, sahen sie, daß der Mann tot war und kein Atem mehr in ihm.

Da trugen sie ihn heim und begruben ihn in der Kirche und schrieben auf seinen Grabstein:

Sein Amt, sein Weib, sein Saitenspiel
Hat er dem Herrn befohlen.
Bös ist die Zeit
Und Gott ist weit
Tät all's der Teufel holen.

Doch du, der du das lesen tust,
Denk nicht, daß all' verdorben!
Wenn Gott auch säumt
Und schläft und träumt:
Er ist drum nicht gestorben. 112

Seit dazumal heißt die Höhle an dem Hang überm Bach die Schwedenhöhle und ist seitdem schon allerlei dort geschehen. Auch hört man oft Geigenspiel und Frauenlachen, wenn man in einer stillen Nacht vorübergeht.

✤           ✤           ✤

Der Krüppel lauschte mit großen Augen auf des Knechtes leises und eintöniges Erzählen. Und auch die Müllerin, deren Innerstes sich zuerst gesträubt hatte, in den Stunden dieser Nacht den fremden Dritten neben sich zu haben, auch sie saß stumm mit gefalteten Händen und ließ die leisen Reden des Alten wie ein Schlummerlied um die wunde Seele spielen. Eine tiefe Müdigkeit, in der sich alle Schmerzen lösten, kam über sie. Sie legte den Kopf auf den Tisch. Auf ihrem schwarzen Haar spielte der Lampenschein, der blasse Nacken schimmerte. So lauschte sie und lauschte, wie man rinnendem Wasser lauscht.

Als der Michel fertig war mit seiner Geschichte, hob sie den Kopf. »Ich hab auch schon einmal das Geigenspiel gehört,« sagt sie verträumt.

Da schaute der Alte erschrocken auf und schluckte, als ob er etwas hätte sagen wollen.

Lang nach Mitternacht erlosch die Lampe in der Uhrenmacherstube. Es war kein Oel da, sie nachzufüllen. »Im kalte' Grund wär' e' ganz' Faß voll,« murmelte der Knecht.

Da legten sich die drei, so gut es ging, zum Schlafen zurecht und sprachen nicht mehr, bis der Morgen grau durch die kleinen Fenster stieg.

✤           ✤           ✤

In der Wassergasse ist das Schild weg, das den Namen Albrecht Neuhaus trug. Vielleicht ist sonst noch 113 etwas da von dem alten Mann, irgendeine Spur, wie sie die Guten geräuschlos graben, wo immer sie vorübergehen. Man weiß das nicht.

Für Heiner, den Krüppel, hat der Müller sorgen wollen. Der Doktor riet, ihn in eine gute Musikschule zu schicken, weil er nun doch diesen Teufel im Leib habe. Johannes Klotz stimmte zu, denn diese Musikschule war weit weg vom kalten Grund, sehr weit. Aber der Heiner hob den bleichen Kopf und wußte schon, was er wollte. Nach Jakobshof würde er ziehen, würde eine billige Stube mieten, Uhren flicken so viel zu flicken wären, und daneben die Flöte blasen, so lang es ihm Gott der Herr vergönnen wollte.

Der Müller lachte geärgert. »Und leben wirst du von der Luft, die dort oben besonders stark ist.«

Der Doktor fuhr sich durchs lange Haar und sagte: »Vom Essen und Trinken wird er leben, wie andere Leute auch. Warum soll der Schwager vom reichen Klotz da etwas Besonderes haben! Respekt, daß er auf eigenen Füßen stehen will.«

Dann legte er dem Krüppel die Hand auf die Schulter: »Selig der Mann, der die Prüfung bestanden! Ich hab' geglaubt, Heiner, Sie würden alles hinwerfen und der Sakkermentsmusika mit einem Juhschrei in die Arme laufen. Ich sag Ihnen, Sie tun gut, daß Sie bei den Uhren bleiben. Hält man sie drunten, die Musika, so bleibt sie süß und ein Herztrost wie eine junge Geliebte; zieht man sie aber herauf und läßt sich mit ihr kopulieren, dann sitzt sie einem im Genick wie eine gierige Hexe und drückt einen zu Schanden. Und den Eisenreich finden Sie droben wieder, den Geiger. Heiner, Heiner, ich glaub' fast, Sie ziehen aufs Glück aus, wie nur je ein fahrender Ritter.« 114

Die kleinen, feuchten Augen des Doktors funkelten, und der rötliche Schimmer seiner Nase vertiefte sich, als er so eifrig auf den Krüppel einsprach.

»Den Eisenreich – ist das der neue Schulmeister?« fragte der Müller.

Der Doktor nickte. »Schulmeister oder wie man ihn heißen will. Er ist einer von denen, die den Menschenkittel tragen und dabei doch nur Lieder sind, die dem Herrgott zu weit aus dem Herzen heraufstiegen, so daß sie fest wurden wie der Mörtel an der Luft.«

»Du kennst ihn, den Schulmeister?« wandte sich der Müller an den Krüppel.

»Er hat manchen Abend mit mir gegeigt.«

»Dann kennt ihn die Liesel auch?« fragte der andere weiter und lächelte.

»Sie ist immer dabei gewesen,« entgegnete der Krüppel.

Da ist ein Samenkorn in eine Furche gefallen, die weit und gierig offen war seit langem.

✤           ✤           ✤

Ganz am Ende vom Dorf, Hohenweiler und dem Kirchhof zu, hatte der Totengräber Jakob Sauer sein Häuslein. Sein Geschlecht war eingesessen zu Jakobshof und das Amt in der Familie seit Menschengedenken. Der jetzige Totengräber aber war kinderlos. Dazu sein Weib, die Kätter, so schwerhörig, daß sie beim stärksten Donnerschlag »Herein« rief und aus der Türe schaute, wer geklopft hätte.

Der Totengräber ertrug seine Kinderlosigkeit und sein Weib, wie ein vernünftiger Mann einen Regenschauer erträgt. Er schlug sich den Kragen hoch und dachte: ›Als zu!‹ Die Pfeife brachte er selten aus dem Mund. Sie war schwer und klobig und hatte ihm die Unterlippe 115 breit heruntergezogen. Eine starke Nase sprang unter eckiger Stirne vor, und die Augen lagen in knochigen Höhlen. Bartlos, von angegrauten Stoppeln bedeckt, war das breite Kinn, und die kurze Zipfelmütze saß auf mißfarbenen Haaren. Er war ein kräftiger Mann, der Totengräber; aber langsam, fast träg von Bewegungen. Vielleicht weil die, denen er die Stätte zu bereiten hatte, ihn niemals hastend bedrängten.

Die reichliche Zeit, die sein Amt ihm ließ, füllte er als ein freier Mann nach seinem jeweiligen Ermessen aus. War der Winter trocken, so zog er mit den Holzmachern in den Wald, war er naß, so half er irgendwo beim Dreschen. Im Sommer gaben ihm die eigenen Aeckerlein Arbeit genug, und wenn es etwa nicht genug war, so zog er das Wenige in die Länge.

Die Kätter machte es umgekehrt. Die drängte alle Arbeit zusammen, wie der Geizhals die Groschen im Strumpfsocken. Nie genug konnte sie haben, und wenn sie noch mitten im Ernten stand, dann dachte sie schon wieder ans Säen. Ohne die Kätter wäre der Totengräber schwerlich zu dem neuen Häuslein gekommen, das mehr Stuben hatte, als man brauchte, so daß man die eine dem Rall, dem neunzigjährigen Waldschützen, die andere dem Schwager des Müllers vom kalten Grund vermieten konnte.

Ueber ebene Ackerbreiten hinüber sah man von diesen hinteren Stuben aus den fernen Wald und den Fußweg nach der Mühle, der wie eine Schlange unter die Tannen schlüpfte. Eine Wiese mit alten, windschiefen Bäumen lag seitwärts vom Haus und vorne, am kleinen Hof vorüber, ging der Hohenweiler Weg, der zugleich der letzte Weg jedes Jakobshofers ist. 116

Die Knechte vom kalten Grund führten das bißchen Hausrat auf die Höhe, und die Müllerin räumte dem Bruder die helle Stube ein. Sie tat es mit jener ruhelosen Emsigkeit, mit der man für ein zugefügtes Unrecht Entschädigung leisten will. Drunten im kalten Grund war so mancher leere Raum, in dem dieser einsame Mensch hätte unterkriechen können. Aber die Liesel hatte nicht den Mut, für den Bruder zu sprechen und zu bitten. Sie hatte nicht den Mut der eigenen Seele gegenüber, da sie immer noch schamhaft verhüllen wollte, was sich klarer und nackter aus dem neuen Leben herausschälte: daß die Ehe mit dem Müller nicht der Glücksquell war, aus dem auch noch andere mittrinken konnten.

✤           ✤           ✤

Und nun kam jener Sommer, in dem alle Rosen aufblühten im Lebensgarten des Heiner Neuhaus. Kein Abend ging mit stillem Glühen hinter die fernen Tannen, an dem nicht der Krüppel und der Schulmeister miteinander in der Stube des Totengräberhauses musiziert hätten.

Durch die offenen Fenster gegen den Kirchhof und den fernen Wald hin schallten die Weisen der beiden. Und ein fieberndes Suchen und Vorwärtsdrängen war oft in den zweien, wie bei Goldgräbern, die auf eine reiche Ader gestoßen sind, deren Flimmern sie von Tiefe zu Tiefe lockt. Da vergaßen sie die Welt und das bißchen Schulmeister- und Uhrmachersein. Ihren Seelen wuchsen die Schwingen, die alle Kinder Gottes in die Heimat tragen.

An solchen Abenden stand der Forstwart Rall, der Neunzigjährige, in der Nebenstube am Fenster und nickte mit dem schneeweißen Kopf wie ein Weidenbusch, an den das Wasser allzu ungeberdig strömt. Ihm hatte niemand 117 je Lieder gesungen, als der Wald, wenn der Wind obenher ging. Aber doch war es dem Alten, als ob ihn aus dem Spiel der beiden Musikanten das Handwerk grüße. Er hatte auch das Zeichen in der Seele, das Frau Musika kennt, und auf das hin sie eintritt, wie der Stromer ins Haus, das sein Vorgänger markiert hat.

Aus dem zahnlosen Mund des Alten kam ein kleinwenig die spitze Zunge. Die schleckte und züngelte da hin und her, wie wenn sie am Honig wäre. Und die nassen Aeuglein unter den weißen Lidern wurden blanker als zuvor und schwangen sich auf, von der Erde, die unter den neunzigjährigen Füßen lag, nach dem weiten und lichten Himmel, der nur von ewiger Jugend weiß.

Und wieder einmal, als der Westen wie in Flammen stand, schritt von Jakobshof heraus ein Mann, der Malgerät trug. In des Totengräbers Baumgarten setzte er sich zurecht, und der alte Rall stand so, daß der ganze Abendglanz um seine armselige Leibeshülle lag wie ein goldener Mantel. Die taube Kätter sah es vom Hof aus und schüttelte den Kopf. »Ei'mol ließ i' mir's jo g'falle', wenn d'r Pfarrer so en verhutzelte Kerle mole tät; aber ällemol wieder und ällemol wieder! –« sie ging ins Haus und brummte fort.

In der Stube stimmte der Krüppel die Flöte und der Schulmeister die Geige. Der Pfarrer aber im Baumgarten drückte Farben auf die Palette. So haben sie alle drei die Flügel geputzt und probiert, ehe sie aufflogen. Droben über allen Bergen haben sie sich getroffen und einen glückseligen Flug getan miteinander. Keiner hat den andern lange gefragt, wie man auf mühseligen Erdenwanderungen fragt: ›Von wannen kommst du und wohin willst du?‹ Mit glänzenden Augen und sehnsuchtsvollen Seelen schwangen sie sich höher und höher. 118

Die zwei Musikanten spielten von einem zerfetzten Blatt, das dem Schulmeister gehörte. »Liebe, die für mich gestorben,« stand obenan. Und Wolfgang Amadeus Mozart daneben. Ein Name wie viele. Wie der Ueberhang vom Baum dem Nachbar über dem Zaun gehört, so gehört, was hereinragt aus dem Ewigen, der Erde, und muß irdische Namen und Zeichen tragen.

Der Pfarrer brauchte des Neunzigjährigen Gestalt für ein Bild, das daheim angefangen auf der Staffelei stand. Es sollte von jenem Abend reden, da man den Herrn zu Grabe trug. Reglos saß der Pfarrer, den Pinsel in der Hand. Er malte nicht; aber sein Bild wuchs und erblühte dennoch unter dem Spiel der beiden wie eine Wunderblume.

Auf diese Art kamen die drei zusammen weit draußen vor den Toren der Welt. Aber auch innerhalb Etters kannten und schätzten sie sich von da an und steckten viel beieinander.

In Jakobshof hieß es alsbald, mit dem neuen Schulmeister habe man auch keinen Extrafang getan. Wenn mit Geigen und Dudeln etwas geschafft wäre, dann hätte man können den schwarzen Balthes zum Schulmeister machen. Ueber den malenden Pfarrer war man sich längst schon einig. Daß der Krüppel die Flöte blies, erregte kein weiteres Aergernis. Denn wenn einer bresthaft ist, dann kann man von ihm nicht verlangen, was man von Gesunden verlangt. Und wenn einer der Schwager ist vom Klotz, dann kann er in der Ernte Purzelbäume schlagen und auf dem Faulbett liegen und hat doch im Winter satt zu essen.

An manchem Abend in jenem Sommer, wenn in Heiners Stube ein Fest war, kam das andere Kind des toten Uhrmachers den schmalen Fußweg vom kalten Grund herauf. 119

Nicht sicher und hochgemut kam sie. Sie glich eher jener Königstochter im Märchen, die mit dem Bettelnäpfchen unterm Kleid ins Festhaus kommt, um da heimlich vom Ueberfluß zu holen für ihre verschämte Armut. Sie saß dann neben dem Pfarrer und lauschte dem Spiel der beiden, das, wie die Ernte draußen auf den Aeckern, von Tag zu Tag mehr zur vollen Reife hindrängte. Still und wunschlos saß sie da und vergaß die Erde; ein echtes Kind des toten Männleins, das die Sterne kannte und die Steine nicht sah.

Und wenn die zwei lange genug gespielt hatten, streichelte die Müllerin dem Bruder den Kopf in heißer Zärtlichkeit. Der Schulmeister packte seine Geige ein und schaute nicht hin nach den Geschwistern.

Im hellen Abendschein schritten oft die vier miteinander gegen den dämmernden Wald. Die drei Männer sprachen von ihrer Kunst als von etwas ganz Heiligem, das aus fremden Tiefen herüberstrahlt, und das sie nur auffassen und spiegeln, aber nicht meistern konnten wie irdisches Licht. Dazu lohte der Himmel von gelben Flammen, und die weite Höhe lag stillgeworden im letzten Tagesglanz.

Einmal hat auch der Pfarrer gefragt, ob Herr Klotz keine Freude an der Musik habe, weil er nie mit heraufkomme? Da schaute die Liesel auf wie ein Schlafwandler, den man anruft. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte etwas von viel Arbeit und vielen fremden Leuten, die den Herrn brauchen. Und plötzlich blieb sie stehen. »So, nun ist's genug. Ich muß jetzt rascher gehen.« Sie gab jedem die Hand in seltsamer Hast und eilte davon, indes die andern langsam umwendeten.

Den dunklen Pfad unter den Tannen mußte sie nehmen und zu Tal steigen. Die drei aber durften im 120 Glanz und auf der Höhe bleiben. Sie schaute zurück, ehe sie hinabstieg. Ihre dunklen Augen schimmerten. Die drei gingen ruhig dahin. Nur einmal wandte der eine den Kopf, der, der etwas abseits ging und einen Geigenkasten trug.

✤           ✤           ✤

Gründlich scheuchte der Sommer die Ruhe und Einsamkeit aus der abgelegenen Mühle. Von einem fremden Getriebe umbrandet, stand die Liesel. Sie hatte den Willen, zuzugreifen. Aber scheu und unsicher tat sie es, wie man in einem wildfremden Haus die richtige Türe sucht. Und da war niemand, der ihr den Weg wies.

Zum Regele ging die Müllerin. »Regele, saget Ihr mir, wo man mich am nötigsten brauchen könnte. Ich will nicht das fünfte Rad am Wagen sein neben euch.«

Die Alte schaute auf: »Ich bin fürs G'schäft do, und Sie für de Herre'.«

Der Liesel klopfte das Herz. Es stieg ihr heiß in die Augen. »Arbeiten will ich mit Euch, Regele! Ihr nehmt mir alles aus den Händen.«

»'s gibt immer no' genug z' schaffe',« sagte fast hart die Alte, »wartet Sie no, bis e' mol Kinderhemedle z' nähe und Windle z' wäsche sind.«

Die Müllerin ließ die Arme sinken. Ihre Augen irrten hilflos durch den Raum. »Nein,« sagte sie verstört, »nein.«

Da drehte sich die Magd um und schaute, ob niemand sonst sie hören könnte. »Frau,« murmelte sie, die nassen Hände vorgestreckt, »Frau, Kinder sind eine Gabe Gottes, und Leibesfrucht ist ein Geschenk. I tät net nei' sage', i' tät mi Sünde' fürchte'. –«

Sie wandte sich ab und fuhr mit dem Besen in einen Kübel voll Kartoffeln, die zum Waschen im Wasser 121 lagen, und achtete nicht mehr darauf, wie die Frau mit schweren Füßen aus der Küche ging.

✤           ✤           ✤

Klar stand der Himmel über dem Wald, und zwischen Felsen und Farnen sprühte der Bach. An jenem Hang unter der Schwedenhöhle, wo die rote Kathrine noch junge Fichten setzen half, reiften die Erdbeeren und raschelten die Eidechsen. Der Müller war viel mit der Flinte dort draußen. Vielleicht dachte er an jenen Sommer, an jene Rothaarige. Wollen doch alle Toten zäh ihre Ehre haben.

Einmal hörte er Geigenklänge aus der Höhle kommen. Er schaute hinauf. Die Geschichte fiel ihm ein, die der Michel schon dem Buben erzählt hatte, und die jeder Jakobshofer wußte; von dem Teufel, der im Berg geigt und eines andern Weib bei sich hat, die man lachen hört.

Den Teufel fürchtete er nicht. Und doch stieg er nur langsam und scheu empor zu der Höhle. Im Steingetrümmer versteckt, im tiefen Waldesdämmer, lag der Eingang. Daneben jene Platte, die der Pfarrer soll vor seines Weibes Asyl gestellt haben.

Die rote Kathrine hatte kichernd aufgeschrien und hatte ihm ihre rauhe, abgearbeitete Hand entzogen dazumal. Sie fürchtete sich vor dem toten Pfarrer, vor dem Teufel und vor dem lachenden Weib im Berg. Sonst vor nichts.

Seit jenem Sommer hatte Johannes Klotz die Höhle nicht mehr betreten. Heut schlich er leise, nach Jägerart durch die Felsen. Er wußte selbst nicht, warum er das tat. Gab es doch nichts zu beschleichen und nichts zu jagen da oben. Die Flinte trug er unter dem Arm, als ob er in diesem toten Gestrüpp und Getrümmer zu Schuß zu kommen hoffe. 122

In der Höhle auf einem Stein saß der neue Schulmeister. Er ließ Geige und Bogen erst sinken, als ein Schatten vor den Eingang fiel. Johannes Klotz trat ein und grüßte laut. Dann schaute er sich langsam in der Höhle um, die in ihrem vorderen Teil mit halbem Licht erfüllt und in der Tiefe fast dunkel war. »So,« sagte er alsdann mit klingender Stimme, »da steckt man und geigt mir das letzte Füchslein aus dem Revier.«

Der Schulmeister stand auf. Er blickte verwirrt, fast erschrocken. »Weiß Gott,« sagte er, »daran hab ich nicht gedacht. Es klingt da innen so prächtig. Doppelt so stark klingt's. Durch einen Zufall hab' ich's entdeckt –«

Der Müller lachte bei des Mannes hastiger Rede. Er nahm die Flinte vor, entlud sie und steckte die Patrone in die Tasche. »Doppelt so stark,« sagte er, »glaub's wohl, wenn doch der Teufel mitspielt.«

Der Schulmeister kniete und legte seine Geige in den schwarzen Kasten, der neben dem Steinsitz am Boden stand. Sorglich tat er das und liebevoll, wie man ein Kind bettet. Ein Stück roten Samt deckte er zuletzt über die Saiten. Der Müller schaute zu, und auf einmal durchzuckte ihn etwas, als ob er unversehens einen elektrischen Draht berührt hätte, den er aber nirgends bloß liegen sah, von dem er nicht wußte, wo und wie er lief. »Sie spielen oft mit meinem Schwager?« fragte er.

»Ja,« entgegnete der andere, »wir lernen zusammen.«

»Und meine Frau kennen sie auch?«

Der Schulmeister stand auf und nahm den kleinen Geigenkasten unter den Arm. Vielleicht war von dem Niederknien sein bärtiges Gesicht ein wenig gerötet. Vielleicht erschien es auch dem andern nur so. »Ja,« sagte er, »sie war oft dabei, wenn ich mit Heiner spielte.«

»Und auch jetzt hört sie's noch gern –« 123

»Ja,« entgegnete der Schulmeister, »das ist eine Liebe, die nicht kalt wird.«

Der Müller lachte. »Schade, daß ich nichts spiele, Sie könnten sonst auch in den kalten Grund kommen. Aber ich bin unmusikalisch wie ein Uhu. Ich kenne kein Instrument als dieses da.« Er klopfte an die Flinte, die ihm über die Schulter hing.

Der Schulmeister schaute hinaus auf die zitternden Schatten, die vor der Höhle über den Sand hinspielten. »Das ist auch etwas,« sagte er, »einer kann nicht alles haben.«

Wieder lachte der Müller. »So mein' ich auch. Im Liedlein schon heißt's:

Denn also ist der Weltenlauf,
Wohin man immer schaut:
Der Eine spielt zum Tanze auf,
Der Andre küßt die Braut.«

Der Schulmeister trat hinaus ins Freie. Es war, als habe er nicht gehört, was der Müller sagte, der hinter ihm herkam. Er schaute in das Felsengewirr hinein, das an manchen Stellen so getürmt war, als müsse der nächste Sturm alles stürzen.

»Das mag ein Tag gewesen sein,« sagte er und streckte die Hand aus, »als alle diese Brocken durcheinander wirbelten.«

Der Müller spürte einen seltsamen Aerger, wie wenn er von einer Türe fortgewiesen worden wäre, durch die er Einlaß heischte. Zäh verharrte er. »Sie haben mir damals im Haus des Schulzen, als wir uns trafen, gar nicht gesagt, daß Sie mit meiner Frau und den ihrigen bekannt seien.«

Der andere gab nicht sogleich Antwort. Immer noch schaute er wie nachsinnend über die Felsen hin. Dann 124 entgegnete er unfrei: »Ich dachte, Ihre Braut würde Ihnen das sagen, – ich wußte nicht –«

Der Müller lachte. »Na ja. So wichtig ist das ja nicht. Sind Sie jetzt gesünder als in der Stadt?«

»Es geht mir besser,« antwortete der Schulmeister, »der Wald und die freie Höhe und meine Geige machen mich nach und nach gesund.«

»Ja, ja,« sagte lachend der Müller, »man macht seltsame Kuren heutzutag.«

Der Schulmeister bahnte sich einen Weg durch die Steintrümmer. Als er auf gerodetem Grund stand, wandte er sich zurück nach dem andern, der hinterher kam. »Also es stört Ihre Jagd nicht, wenn ich dann und wann in der Höhle geige?«

Der Müller nahm die Flinte auf die andere Schulter. Es lag wie leichter Spott in seinen Mienen. »Sie stören mir die Jagd bis jetzt nicht im geringsten. Wenn es je dazu kommen sollte, würde ich's Ihnen sagen. Ob Sie da drinnen geigen, oder ob der Teufel geigt, wie die Jakobshofer sagen, das ist den paar Füchsen und Eichhörnchen da oben einerlei. Und mir auch. – Jeder hat sein eigenes Pläsier, in dem Loch da drinnen und sonst in der Welt –« Er brach ab und lachte, indem er den Hut zog. »Adieu, Herr Lehrer. Grüßen Sie den Heiner, wenn Sie ihn sehen.«

Ohne noch einmal zurückzublicken, stieg er rasch durch die jungen Fichten am Hang hinab. Der andere wandte sich um und schritt mit seinem Geigenkasten auf der Hochfläche dahin wie einer, den nichts treibt und nichts zieht.

✤           ✤           ✤

Als der Müller damals heimkam, holte er den Kasten herbei, in dem er das Putzzeug verwahrte für seine 125 Flinten und machte sich an die Arbeit, die er keinem andern überließ. Da sah er plötzlich jenen Draht, den er oben in der Höhle berührt und mit seinen suchenden Gedanken nicht entdeckt hatte. Einen Lappen von leuchtend rotem Samt hielt er in der Hand. Den hatte ihm die Liesel gegeben, als er sie um ein Stoffstückchen bat, seine Flintenläufe damit zu ölen. »Da,« sagte sie, »ein letzter Rest vom alten Glück.« Und sie lachte dabei, als ob sie die Jahre der Armut verhöhne, die hinter ihr lagen. So hatte er damals verstanden. Damals.

Er faltete den Lappen unbenützt zusammen und legte ihn in den Kasten zurück. Ein harter Glanz war in seinen Augen. Er sagte nichts zur Müllerin. Seine Eifersucht glich jenen Vögeln, die jegliches, was sie erhaschen und schleppen können, zusammentragen zum eiligen Nestbau.

✤           ✤           ✤

Da wartete nun das Regele lang auf Windeln und Kindergeschrei, während Winter und Sommer über den kalten Grund gingen. Vielleicht warteten auch noch andere; aber niemand so dringlich wie sie. Sie sah am deutlichsten die Dürre überhand nehmen, und sie spähte nach den Windeln aus, wie der Prophet nach jenen Wölkchen, nicht größer denn eines Mannes Hand. Aber nichts zeigte sich, als eine öde Ferne.

Da schaute die alte Magd oft mit harten und oft mit müden Augen hinter der Müllerin her, die still und kühl, als könne sie nicht einwurzeln im kalten Grund, ihrer Wege ging. »Herrgott,« murmelte sie oft mit Kopfschütteln, »sie paßt net für de Klotz, sie paßt net. Und wenn sie dazu keine Kinder kriegt, no ist's verspielt –«

Wenn aber die Augen der Magd den Müller trafen in jenen Zeiten, dann blitzten sie zornig auf. Der war 126 mehr als je mit der Flinte unterwegs und ließ die Mühle den Knechten. Bei seinen Waldarbeitern stand er stundenlang. Und lang genug auch bei den Mädchen in der windüberstrichenen Saatschule. Zwischen den Sämlingen, die daumenhoch in schnurgeraden Reihen standen, streiften kichernd die Setzerinnen, und wenn ihnen beim Knien an der Erde ein Käfer oder eine Spinne über den blauleinenen Rock lief, dann gab es ein Schreien, und der Müller versagte nicht seine Hilfe. Das alles sah das Regele und noch anderes, was sie ganz ähnlich vor vielen Jahren gesehen hatte, als der alte Müller und sie selbst und die tote Frau mit dem großen Kropf noch jung waren. Es war wie ein Kreislauf in der Mühle.

Wenn der Herr aus dem Wald heimkam und nach der Frau fragte, dann ward ihm oft und öfter der Bescheid, daß sie nach Jakobshof gegangen wäre zu ihrem Bruder. Da ward meist dem Müller der zuvor schon heiße Kopf noch heißer.

Wenn aber zwei auf einen Weg gestellt sind und nicht den gleichen Tritt haben, dann kommen sie bald auseinander und immer weiter voneinander weg.

In Jakobshof war es eine bekannte Sache, an der ein jeder Aergernis nahm, daß in des Totengräbers Haus in der hinteren Stube dem Herrgott manche schöne Stunde gestohlen wurde mit Flöten, Dudeln und Geigen. Ein paarmal in der Woche kamen da der Pfarrer, der Schulmeister, die Müllerin und ihr Bruder zusammen. Wer's nicht sah oder hörte, der konnte das vom Totengräber erfahren, der seine Worte und seine Zeit in dieser Sache nicht sparte und, als ein echter Faulenzer, immer Aergernis nahm, wenn andere feierten. Auch der Doktor Gothe soll halbstundenweis und noch länger Gaul und Wägelein am Straßenrand gelassen und in der Stube 127 zugehört haben, wenn die Musikanten spielten. Was aber anderswo gilt in der Welt, meinte der Totengräber, das müsse auch für Jakobshof gelten: Müßigang sei aller Laster Anfang. Und man werde schon sehen, wo das noch hinführe.

✤           ✤           ✤

Heiner Neuhaus und der Schulmeister schauten sich nicht um in Jakobshof. Sie wußten nicht, was man von ihrem Treiben dachte und redete. Sie führten ihr Leben wie in der Einsamkeit. Nur die Müllerin, so oft sie kam, ward stillschweigend aufgenommen in den engen Bund.

Musikanten haben besondere Fühlfäden an der Seele. Sie schütteten über die Liesel das Schöne, das Schönste, was sie hatten, verschwenderisch aus, als wüßten sie, wie nüchtern der kalte Grund war.

Dem Schulmeister flammte das bärtige Gesicht, wenn er vor der Müllerin geigte. Seine hohe, zu schmale Gestalt neigte sich vornüber, seine bleichen Finger zitterten. Wie wenn er in die Kniee sinken und der stillen Lauscherin seine Lieder bringen wolle, so war das oft. Da wurde der Frau das einsame Herz warm in fremder Freude. Ihr war's, als müsse sie die Augen schließen und die Hände ausstrecken nach dem, was ihr geboten wurde von diesem kränklichen Mann.

Aber nur ein Schmerz blieb ihr dann, ein wundes Verlangen nach etwas Unbekanntem, Unbegriffenem. Des Krüppels dunkle Augen gingen stumm vom Freund zur Schwester. Er wußte nicht, was er wünschte, was er herbeisehnte. Aber er wußte, daß er den Müller haßte, diesen starken, herrischen, gesunden Menschen, dem die Liesel angehörte.

Scharf und rauh ist die Luft auf der Höhe. Vielleicht hatte der Schulmeister doch nicht gut daran getan, sich 128 nach Jakobshof zu melden. Er war der Festeste nicht; von Kind auf nicht. Und seine Eltern waren früh gestorben. Der Doktor sagte, an Krankheiten, die sich oft vererben: die Mutter an Entbehrungen und Sorgen und zu viel Arbeit, der Vater an einem Lederriemen, den er sich um den Hals gelegt hatte draußen im Wald. Ob Jakobshof der rechte Ort war für einen also Belasteten? Stiller und blasser wurde der Schulmeister im dritten Winter. Aber als ziehe sein Leben in die Geige über, so klang sein Spiel.

Der Pfarrer von Jakobshof, der schüchterne und ungewandte Mann, den man auf der Höhe nicht anders als »Malerpfaff« nannte, steckte viel zusammen mit dem Schulmeister. Und des Pfarrers kleine, entschlossene Mutter sorgte sich in jenem Winter um den Geiger, denn sie sagte, er spiele zu schön für die Jakobshofer, das gehe nicht gut aus.

Auf der nassen Wiese beim toten Feld begegnete der Doktor in seinem Wägelein der Müllerin. Da stieg er aus und schritt neben der Frau her. »Frau Klotz,« sagte er kurz und geradewegs nach seiner Art, »wenn Sie und ihr Heiner dem Eisenreich etwas zulieb tun können, dann tun sie's, sonst reut sie's hinterher, wenn's zu spät ist –«

Die Müllerin blieb stehen und schaute dem Doktor ins rote Gesicht. »Was ist mit ihm?«

»Nichts ist. Aber er ist jetzt fast so alt, wie seine Mutter war, als sie am Entbehren starb. Er gefällt mir nicht. Diese Langen, Blassen müssen in seinen Jahren Fett ansetzen und Weib und Kinder haben. Er gefällt mir nicht –«

Die zwei schauten den Weg entlang, der am toten Feld hinführte. Auf einer Seite Fichtenschonung mit einem Streifen schlechter moosiger Lärchen davor, auf 129 der andern Seite Brachacker und steinige Heide, auf der hie und da ein schmutziger Tümpel alten, zusammengelaufenen Wassers lag. Grau und tief hing der Himmel, und fern und nah war nichts, was nach Hoffnung aussah. Wenn das Roß den Huf hob, gab es ein schnalzendes Geräusch im zähen Schmutz, und der Wagen ächzte gleichmäßig und unverdrossen neben den beiden.

»Sie kennen ihn schon lang?« fragte leise die Frau.

»Genau so alt er ist,« gab der Doktor zur Antwort.

»Er hat gar niemand mehr?«

Der Doktor lachte. »Er dauert Sie wohl? Sparen Sie Ihr Mitleid. Die Eisenreich wollen das nicht. Das sind stolze, starrköpfige Kerle, wenn es ihnen auch kein Mensch ansieht und zutraut. Man meint, sie verdösen ihr Leben, und derweil schmieden sie an ihrem Schicksal. Haben Sie vom Lappenschneider etwas gehört?«

Die Müllerin schüttelte den Kopf.

»Das war sein Vater,« erklärte der Doktor. »Lappenschneider hat man ihn im Städtchen geheißen, obwohl er kein Schneider war. Ein Sattler war er. Aber auch das nicht, wie andere. Man hätte ihn hinter die Bücher lassen sollen, denn dahin führte ihn die Fährte, die er in der Nase hatte. So hat er, ungeschickt und zerfahren, das schönste und beste Leder zu Lappen zerschnitten. Er ist zurückgekommen an Ansehen und Vermögen. Ein ungeschickter Handwerksmann ist wie ein Ehrloser in der Zunft. Den Spottnamen hat man ihm aufgetrieben. Eine Zeitlang ist er in eine Riemenfabrik gegangen als gewöhnlicher Arbeiter. Aber auch da hat er das Leder zerschnitten. Da tat er seinen letzten Streich. Im Nonnenwald hat er sich aufgehängt an einem Riemen, der zu sonst nichts taugte. Zu seinen Häupten an den 130 Baum mit Reißnägeln angeheftet, fand man ein weißes Blatt, darauf stand:

Mich hat der Teufel oft geritten.
Hab' manches Leder bös zerschnitten.
Heut' will ich sehn, ob ich's nicht zwinge,
Ich schneide meine letzte Schlinge.
Dann hab' ich, wenn sie hält und trägt,
Die Meisterprüfung abgelegt. –

Ich hab den Zettel selbst gelesen. Er hat dem Mann zu einem ehrlichen Begräbnis verholfen. Man sah daraus, daß der Lappenschneider nicht normal war. Vorher hatte das kein Mensch gemerkt. Wenn zu sonst nichts, so ist das Dichten doch dafür gut, daß dadurch eines Menschen verborgene Narrheit ans Tageslicht kommt.«

Der Doktor schüttelte ein wenig am Zügel, den er lässig in der Hand trug, und schaute an den Rohrstiefeln hinunter, die schmutzig waren bis hoch in die Schäfte. Er schmunzelte. »Wie wird meine Schwester sich freuen, wenn ich ihr diese Stiefel heimbringe. Sie hat sich von jeher gottheillos gefreut, wenn ich ihr etwas Derartiges heimgebracht habe. – Für den einzigen Buben des Lappenschneiders hat man dann gesorgt, daß er ins Seminar kam. Später, als Hilfslehrer, hat er in meinem Haus eine Stube gehabt. Das Uebrige wissen Sie.«

Die Müllerin schaute auf. »Ja, das weiß ich. Sie haben ihn zu uns geschickt, daß er mit meinem Heiner geigen soll.«

»Geigen soll,« bestätigt mit sonderbarem Ton der Doktor. »Und jetzt geht er her und tut mehr, als ich sage. Meine Schwester behauptet, der Eisenreich sei ein Kind mit einem Bart im Gesicht. Was weiß denn die! Sie 131 sagt auch von mir, ich sei ein Säugling in Rohrstiefeln. Die sieht immer nur obenhin. Der Eisenreich kommt mir aus der Hand wie ein Aal. Ich muß ihn ziehen lassen. Aber Sie, Frau Klotz, Sie und Ihr Bruder – –«

Er vollendete nicht. Heftig, fast wie Wasser, das über den Rand wogt, wenn das Gefäß zu stark angestoßen ward, kam zuletzt die Rede. Am Ueberlaufenden merkte die Liesel, was im Becher war. »Sie halten viel von ihm,« sagte sie leise.

Der Doktor schüttelte wieder ein wenig am Zügel. »Ich habe Ihren Vater gekannt, Frau Klotz. Im Blauen Kreuz sind wir oft nebeneinander gesessen, und er hat mir von Sonne, Mond und Sternen erzählt. Und Ihren Bruder habe ich hören die Flöte blasen. Da ist mir's gekommen: Gothe, das wäre ein Klima für des Lappenschneiders bärtigen Buben. Da wäre dem wohl, wie einem Kind im Bad. Und ich habe ihn in die Wassergasse geschickt. Ich kann das Herrgottspielen nicht lassen. Die Anna sagt, das bringe mich noch einmal tief in die Tinte. Mag sein. Aber ceterum censeo: Sie und Ihr Heiner sind vornedran in dem Geigerherzen – –«

Der Doktor stieg rasch in seinen Wagen und trieb das Roß an. Kaum einen Gruß warf er zurück. Stumm sah die Frau hinter dem Gefährt her. Und als sie den Fuß wandte und neben den kahlen Lärchen zurückschritt, da klang ihr ein Wort im Ohr, als trage es der Wind übers tote Feld her: ›Siehe, wie hat er ihn so lieb gehabt.‹

✤           ✤           ✤

Jakob, der Totengräber, ging in diesem Winter oft am Schulhaus vorüber.

Man schlug dazumal draußen am langen Hau das Besoldungsholz für den Pfarrer. Da gab es Befehle vom Schultheißen zu holen, der nicht sehr weit vom 132 Schulhaus entfernt wohnte, wenngleich nicht gerade am Weg. Weil aber der Totengräber ein Mann war, der gern viel Geschäfte auf einem Gang abmachte, so scheute er den kleinen Umweg nicht und trat im Vorübergehen ein paarmal beim Schulmeister ein, zu sehen, wie weit es mit dem wäre.

Einmal traf er ihn allein, frierend und hustend neben dem Ofen sitzend. Da dachte er, daß das eine harte Mühsal geben könnte, wenn die Sache mitten in den Winter fiele, da der Boden oft metertief gefroren ist.

Aber ein andermal fand er die Müllerin in des Schulmeisters Stube. Sie saß am Tisch, auf dem ein Körbchen stand mit guten Dingen, und neben ihr stand der Schulmeister, zeigte ihr Gedrucktes oder Geschriebenes und dachte an kein Sterben.

Das Holz, das Jakob am langen Hau für den Pfarrer schlug, war nicht von der besten Sorte. Der Boden ist dort draußen feucht und moorig. Da wächst splitteriges Zeug. Der Waldschütz Rall, der Neunzigjährige, stand mit seinem Stock auf dem ausgefahrenen Weg neben dem Schlag und sah seinem Hauswirt zu bei der gemächlichen Arbeit. Geduldig stand er und sah auf die fliegenden Späne und auf den dünnen, zitternden Stamm, der fallen sollte. Und er hörte mit seinen guten, alten Jägerohren am Klang der Axt und am Knirschen im Stamm, daß da kein vollwertiges Holz fiel.

Und als der Totengräber einmal wieder verschnaufte und sich mit dem roten Sacktuch über die raschtriefende Stirn fuhr, da sagte der Alte: »Jakob, zu meiner Zeit hätt' mer so e Holz net für de' Nachtwächter g'schlage', geschweige für de' Pfarrer.«

Der Totengräber steckte das Sacktuch hinter den Schürzenlatz und spuckte in die Hände. Dann aber griff 133 er nicht zur Axt, sondern mit der Pfeife im Mund kam er langsam gegen den Greis her. Er schaute sich um, als ob er zu seiner Rede keine Horcher brauchen könne. Die Augen unter dem knochigen Schädel zwinkerten.

»Waldschütz,« sagte er, »sellmols sind andere Zeite' gwe'. Jetzt send d' Pfarrer keine Pfarrer meh. Jetzt send's Bildermoler. Und d' Schulmeister sind keine Schulmeister meh. Die send Musikante. Und d' Müllersweiber sitzet bei de ledige Mannsleut auf de' Stube 'rum – do ist au' e schlecht's Holz no' gut gnug. –«

Der Neunzigjährige schaute mit seinen wimperlosen Augen in das Brombeergeranke, das seine winterharten schwarzgrünen Blätter über den moorigen Boden schob. »Jo,« sagte er langsam, »'s sind andere Zeite'. D' Pfarrer betrügt mer mit 'm Holz und de rechtschaffene Leut schmeißt mer von hinte' her de' Dreck an de' Kittel. I' bin bloß froh, daß i' alt gnug bin. Für mi' ist die neu' Mode nix.«

Er wandte sich ab und ging weiter an seinem Stock mit steifen Knien und kleinen Schritten und doch eilends, als wolle er keine Erwiderung hören. Aber nicht alle auf der Höhe gaben dem Totengräber eine grobe Antwort, wenn er auf seine Weise von der Verderbtheit der Welt redete.

✤           ✤           ✤

Auf Weihnachten ging's zu. Die Sonne kam nicht mehr so weit am Himmel herauf, daß sie bis auf den Grund der Elsterbachschlucht gesehen hätte. Aber ein lauer, unruhiger Wind strich Tag um Tag über die Tannen hin und ließ keinen fröhlichen Winter kommen.

Unfroh schritt der Mühlemichel an jenem Mittwoch neben seinen Gäulen bergan, dem kalten Grund zu. Es war kein guter Tag gewesen heute, und so, wie der 134 Alte die Zeichen verstand, war auch für die nächste Zeit nicht viel Frohes zu hoffen.

Zuerst war die Kette am Radschuh gerissen, und der Michel hatte sich die Hand verbrannt beim Zufassen. Dann ging auf dem Marktplatz ein voller Mehlsack auf und verstäubte einen Teil von seinem Inhalt im wirbelnden Föhn. Danach hatte der schwarze Mühlspitz des Engelbäcken weißen Kater gewürgt, daß der das Schnaufen vergaß, und zuletzt stieß der Michel sein Glas um, als er beim Bier saß.

Jetzt, wie er durch den dunkelnden Wald schritt, bedachte er die Schwere der Zeit und die merkwürdige Härte des Lebens, die einem jeden immer wieder an die Rippen drückt, auch wenn er meint, sein Bett sei noch so gut und weich geschüttelt. Es fiel ihm ein, wie oft er nun schon den Weg zu Tal und wieder zu Berg gefahren sei, und wie oft er ihn wohl noch fahren werde. Und wie es dann weiter gehe, wenn das Fahren ein Ende hätte? Mühevoll und nutzlos erschien ihm sein Leben im Dienst der Klotze vom kalten Grund.

Und wie er nun von der eigenen Sache hinüberkam in die seines Herrn, da fand er nicht viel Besseres. Des reichen Müllers Glück sprengte auch noch lang nicht den Reifen. Keine Kinder im Haus und kein Erbe da für die Mühle, die seit den ältesten Zeiten den Klotzen gehört hatte. Und die Frau still und fremd, wie wenn sie ihre Heimat nicht da hätte. Dazu der Schwager ein Krüppel und ein Einschichtiger, der seinen Weg für sich ging und die Mühle fast mied.

Der Michel hob die Peitsche und sah auf. Da stand einer am Weg zwischen den Randsteinen, als hätte er gewartet. Und der Knecht erschrak, weil es gerade der 135 war, an den er eben gedacht hatte. »Helf Gott,« sagte er halblaut, »des ist d'r Herr Heiner.«

Der Krüppel hob den Kopf und verzog das blasse Gesicht. »Muß Gott helfen, wenn ich einem über den Weg komme?« fragte er und schritt neben dem Knecht bergan. Die Gäule aber, als hätten sie den Verwachsenen erkannt, der oft schon bei ihnen in den Ständen gewesen, drehten immer wieder die schweren Köpfe, und das Bimmeln ihrer Schellen füllte lärmend den dunkelnden Wald.

Der Krüppel fuhr sich an die Ohren. »Michel, wie könnt Ihr das hören – stundenlang –?«

Der Alte lachte. Wiegend trug er die Peitsche in der geschlossenen Faust. »Solang i's hör', ist's lang recht. Heut han i' 's auf em ganze Weg no' net g'hört. Heut ist e lumpiger Tag. Soll mi' wundern, wenn heut net ebbes passiert ist in d'r Welt. Net anderst ist der Tag, als damals der Montag im April, wo in d'r Nacht drauf die siebe' Kreuz am Breithofer Weg sind verschwunde' gwe', wie d' Maus aus d'r Fall –«

Er hob das mehlstaubige Gesicht, nahm das Hütlein ab und witterte in den lauen Wind, als suche er die Spuren von jener Nacht, die ihm unvergessen war. Und ohne daß der Krüppel ihn darum fragte, hub er an zu erzählen, wie es gewesen war.

Sieben steinerne Kreuze standen bei Breithof unweit von der alten, verlassenen Straße am vergrasten Rain. Sie waren grau von Alter und ohne Zeichen. Alle gleich groß, mehr breit als hoch und alle gleich weit voneinander und gleich tief in den Boden gesunken im Lauf langer Zeiten. Es kamen aber Herren aus den Städten, um die Kreuze zu sehen und herauszubringen, was ihre Bedeutung sein möchte. Sie sagten alle, daß 136 da etwas Blutiges müsse geschehen sein, denn über Blut und Tod steht das Kreuz, wie der Nebel über nassen Wiesen. Doch was und wann und wie, das hat keiner der Herren herausgebracht.

In Breithof aber war ein frommes Weibsbild. Eine Jungfer, schon hoch in Jahren. Die war als Magd mit einem Pfarrer ins Dorf gekommen und nach dem Absterben ihrer Herrschaft einschichtig dageblieben. Die hatte Augen für besondere Sachen, wie's manche Leute haben. Sie hat oft in der Nacht, Sommer wie Winter, auf den sieben Kreuzen sieben blaue Flammen gesehen, wie wenn Schwefel brennt in einem guten Faß. Und bei Tag, wenn sie hat wollen zu den Kreuzen hinlaufen, dann hat sie's dort nicht gelitten. Ganz von selber haben ihre Füße umgekehrt und sind vom Rain weggelaufen. Und wie sie es hat verzwingen wollen, da ist es gewesen, als drehten sich ihr die Knöchel in den Gelenken, so daß sie niedergestürzt ist in großen Schmerzen. Mit seinen geladenen Holzwagen ist der Michel oft die neue Breithofer Straße gefahren, von der aus man die Kreuze stehen sehen konnte in Reih und Glied, wie dicke, graue Männlein, die die Arme ausstreckten nach rechts und links.

Am vierten April aber, an einem Montag vor achtzehn Jahren, hat der Michel auf der Breithofer Platte buchene Scheite holen müssen. Erst gegen Abend ist er fortgekommen, weil an selbigem Tag der Föhn wie Spülwasser über den Wald kam und alle alten Butzen Schnee aufschleckte, so daß der Elsterbach jäh anschwoll und jede Mannsfaust im Haus fest zupacken mußte, um Gefahr abzuwenden. Wie ein Aschensack war der Himmel an jenem Tag, und der Knecht nahm die Laterne mit, denn es würde vielleicht Nacht werden, ehe er zurück wäre. 137

Die Gäule, zwei schwere Grauschimmel, sechsjährig, waren den Tag im Stall gestanden. Dazu stach sie der Hafer, weil der Müller selig fast unvernünftig gut füttern ließ. Da ratterten sie nun mit dem leeren Wagen den Berg hinauf und über das steinige Römersträßle der Breithofer Platte zu, wie wenn der Teufel hinter ihnen wäre. Der Michel aber dachte: wartet nur erst, bis ihr die buchenen Scheite geladen habt, dann tut ihr schön stät.

Auf der Höhe war ein Sturm, daß der Knecht sich setzen mußte auf seinem Wagen, sonst hätte es ihn über die Leitern genommen. Seine Kappe, ein schlotteriges pelziges Ding, aber warm am Kopf, die ihm der Müller geschenkt hatte, die trug der Wind über die Furchen, daß es aussah, als sei ein Hase vor hetzenden Hunden aufgegangen und setze nun im Zickzack feldein.

Auf der Breithofer Platte waren zwei alte Holzknechte, der Semme und der Veit von Hohenweiler, die jetzt beide lang tot sind. Den einen hat am roten Hang eine Tanne erschlagen, ein Bäumlein, kaum dicker als ein rechter Bohnenstecken. Aber es traf ihn von hinten über den Kopf, wo jeder Mensch eine weiche Stelle hat von Mutterleib an.

Den anderen, den Veit, hat der Schnaps kaput gemacht und auch der Zorn, denn er hat einmal einen Hundertmarkschein gefunden und hat nicht gewußt, daß das Geld ist. Da hat er ihn seinem Enkel gegeben zum Spielen, und der hat eine tote Maus hineingewickelt und hat sie so begraben auf der Blöße hinter dem Haus. Später, wie Veit einmal erfahren hat, was so ein Schein für ein Ding ist, da hat der Bub das Grab der Maus nicht mehr gefunden. Der Veit aber, der hat die ganze Blöße umgehackt und umgewühlt und ist gewesen wie ein Narr. Wenn man ihn gefragt hat: Veit, was suchst? 138 dann hat er geschrien: Die Maus, die Maus! Da hat ihn der Doktor Gothe lassen einsperren im Spital und hat ihm keinen Schnaps mehr gegeben, und so ist er gestorben.

Diese zwei waren auf der Breithofer Platte und haben dem Michel geholfen, die buchenen Scheite zu laden. Und sie sagten noch: »Michel, heut wird's spät, und du hast keine leichte Fahrt bei dem Wetter.« Aber der Michel war um achtzehn Jahre jünger dazumal und lachte über die beiden alten Kerle, die ihre Pudelkappen über die Ohren zogen und mit geschulterten Aexten und geduckten Köpfen gegen den Wind angingen in die sinkende Nacht hinein.

Der Michel ging neben seinen Gäulen nach der anderen Seite. Es hat der Wagen gekracht, wie wenn er brechen müßte, so gut war er geladen. Und den Grauschimmeln hat die Haut an den Schenkeln gestrafft und gezerrt, so mußten sie ziehen. Ueber den Wald und das Jakobshofer Feld her aber kam's schwarz wie ein frühes Wetter. Dem Michel zauste der Sturm das bloße Haar, wie wenn Hexenkrallen da durchführen. Gepfiffen hat der Michel zuerst und laut gesungen, wie ein Bäckenbub, der Wecken über Land trägt, wenn's noch nicht taget. Aber dann ist er nach und nach still geworden.

Von den Gäulen ist der Dampf gegangen, obgleich dort die Straße noch eben ist. An des krummen Ulrichs Sandgrube, dort wo die Wacholderbüsche stehen, hat er die Laterne am Wagen angezündet und die Gäule verschnaufen lassen. Sie haben da schon Augen gemacht wie die gestochenen Ochsen und mit der Haut gezittert wie zur Bremsenzeit. Denn das Vieh ist nur in ein paar Stücken dümmer als der Mensch, sonst aber in allem gescheiter. Wie es weiter gegangen ist, haben sie erst 139 nicht anziehen wollen. Und als der Michel schimpfte und schrie, fraß der Sturm seine Worte auf.

Da hat er den Schimmeln über die Hinterbacken gezündet, und sie sind angesprungen, daß alles krachte.

Das Stück Straße von der Sandgrube bis zur steinernen Ruhbank war damals ausgefahren wie ein Langholzweg, weil da aller Sand gefahren wurde zum Talheimer Schulhausbau. Aber die Gäule schafften sich durch und an der Ruhbank vorbei auf die glatte Straße, immer wie wenn sie Feuer an den Schwänzen hätten. Das aber darf nicht vergessen sein, daß bei der Fahrt auch der Spitz dabei war, der schwarze Mühlspitz, der nicht von den Gäulen ging, wie das Kind nicht von der Mutter Rock. Aber seit ein paar Tagen schon war er dösig und still. Und auch an jenem Montag schlich er nur so hinterher ohne Freudigkeit und tat keinen Beller. Der Michel sah nicht viel nach ihm um, denn er dachte, dem Hund sei übel, weil man in der Mühle geschlachtet hatte und allerlei fettes und fleischiges Zeug in den Hundekübel gekommen war.

Aber als man an der Ruhebank vorüber und dort war, wo man bei Tag die sieben Kreuze sehen konnte, da fing der Hund auf einmal wie rasend an zu bellen und zu heulen. Erst drückte er sich an den Michel, dann sprang er den Gäulen unter die Füße und auf einmal rannte er mit schrillem Gewinsel rechts in den Wald hinein und kam nicht wieder.

Wie es aber weiter ging, das weiß heutigestags der Michel nicht recht zu sagen. Die Gäule taten einen mächtigen Satz. Da ging ein Poltern an, wie wenn die buchenen Scheite übereinander kollerten. Dann flog ihm eines an den Kopf, daß er umtaumelte. Und dann rannten die Gäule, und der Michel rannte auch, und aus 140 dem hin- und hergestoßenen Wagen tropften die Scheite wie Sand aus dem Sack. Der Schein der Laterne tanzte im Zickzack über den Weg und oft weit hinein links übers Feld und rechts in den Waldrand und hoch hinauf an den Tannen. Es klirrte und ratterte und fauchte, und dann fing's an zu blitzen, daß die ganze Höhe blau war wie Schwefelbrand und wieder schwarz wie in einer Kuh. Und der Donner hörte nicht mehr auf. Ein Schlag und ein Rollen fort und fort. Aber kein Tröpflein Regen. Die Gäule sausten rechts hinein und die Steige hinab. Ein paarmal hörte der Michel sie lautauf wiehern, wie er keinen Gaul mehr hatte wiehern hören seit anno siebenzig, wo er dabei war, als sie sich bei Sedan die Schwänze abfraßen und dann erschossen wurden.

Dann sind sie im kalten Grund im Hof gestanden, der Michel und sein Gespann. Die Knechte sind mit den Laternen gesprungen, und der Müller riß oben das Fenster auf, daß ihm's der Sturm aus der Hand schlug.

Es hat zuerst kein Mensch gefragt, sondern sie standen alle da mit aufgerissenen Augen und guckten die Gäule an und den Michel, von denen das Wasser und der Dampf ging und denen die Flanken schlugen, allen dreien. Und dann haben sie geschrien und haben alles wissen wollen. Aber der Michel hätte nicht den Mund auftun können, nicht um zehn Karlin. Und wenn nicht das Regele gekommen wäre mit einem Buddel Schnaps und gegen das Hoftor hin geschrien hätte: alle guten Geister loben Gott den Herrn, – dann hätte vielleicht in jener Stunde den Michel der Schlag gerührt, denn es lag wie ein eiserner Reifen um seine Brust.

Aber die Rede der Magd und der Schnaps, die haben dem Halbtoten gut getan. Und auch das tat ihm gut, daß er sah, wie der jüngste Mahlknecht, – ein 141 leibarmes Männlein aus dem Bayerischen und stockkatholisch, – wie der das Kreuz schlug vor seinem weißen Gesicht und über der Brust.

So hat denn nach einer langen Zeit der Michel im Schafstall, wohin sie ihn geführt haben, reden können und alles hertun, haarklein. Der Müller und die Müllerin standen auch daneben, und lang hat niemand ein Wort gesagt.

Dann zuletzt, wie der Müller gemerkt hat, daß sie alle jetzt ihn angucken wie die Schafe den Kreuzweg, da hat er gesagt: »Die Gäule sind lang gestanden, und das schwere Wetter spürt das Vieh. Reibet sie jetzt gut ab und lasset sie noch saufen vor der Nacht, und morgen sucht man das Holz.«

Der Michel hat nichts Weiteres darüber gesagt. Aber die Gäule haben nicht gesoffen. Das Maul haben sie in den Kübel gestreckt und dann wieder angefangen zu zittern über den ganzen Leib und fertig. Und die ganze Nacht hat sie der Michel stampfen hören.

Am Morgen, der trüb und fahl heraufkam, ist der Müller selbst mit allen Knechten fort, das Holz zu suchen. Man fand die Scheite zerstreut am Weg bis hinauf auf Breithofer Markung. Ueber dem Rain am alten Weg flog ein Schwarm Raben, und man hörte das harte Rauschen ihrer Flügel, wenn sie umschwenkten. Sie schrien aber nicht, wie sie sonst tun.

Und als der Müller mit seinen Knechten dorthin kam, da war der Boden weitum zerwühlt, wie von hartem Kampf; von den sieben steinernen Kreuzen jedoch war keines mehr da, und keine Spur davon zu finden. Da kam die Männer alle ein Grausen an, daß sie einander stumm ins Gesicht sahen. Der Müller hat sich zuerst abgewendet, ist sich mit dem Schnupftuch über die Stirn 142 gefahren und ist hinüber gegangen an den Waldrand. Dort hat er dem Spitz gepfiffen, scharf und laut in den Wald hinein. Aber kein Hund ist gekommen, und es hat ihn nie jemand wieder gesehen.

Aus den Städten kamen danach die Herren, guckten den leeren Platz am Rain an und gingen wieder. Bei allen ledigen Buben auf der Höhe hat der Landjäger Haussuchung gehalten, und in jedem Haus hat er peinlich ausgefragt in der Sache. Und wie er zu dem schwarzen Balthes, dem Musikanten und Malefizspitzbuben, gekommen ist, da hat der in seiner preußischen Soldatensprache gesagt: »Jawohl, zu Befehl, Herr Serschant, ich hab die sieben Kreuz. Aber ich hab sie schon zusammengeklopft zu kleinen Brocken, wie ich sie brauch' in den Kaffee. In meiner Zuckerbüchs in der Tischschublad sind sie.« –

Da hat der Landjäger gemerkt, daß der Balthes Schindluder mit ihm trieb, und ist gegangen, und es ist nie etwas herausgekommen bis auf den heutigen Tag. –

Das war die Geschichte jener Nacht nach dem Montag im April, da der Föhn warm wie Spülwasser über den Wald und durch die Elsterbachschlucht kam.

Heiner Neuhaus schritt neben dem erzählenden Knecht. Auch er hörte jetzt die Schellen der Gäule nicht mehr und trieb reglos dahin auf dem dunklen Strom, den er mit seltsamer Brünstigkeit liebte. Er erschrak fast, als der Michel aufhörte zu sprechen und mußte sich umsehen wie ein Erwachender, der durch fremdes Land gefahren ist und nun die Gegend mustert. Sie waren an der zweitletzten Kehre und dem kalten Grund schon nahe.

Da legte der Krüppel dem Knecht die Hand auf den Arm. »Michel, Ihr müßt mir einen Gefallen tun. Ich 143 bin Euch eigens entgegengegangen, um Euch darum zu bitten.«

Der Alte gab keine Antwort. Er wiegte nur die Peitsche stärker in der Hand, fast als wenn er zum Schlag ausholen wollte.

»Ich möchte ihr eine Freude machen, der Liesel, meiner Schwester,« fuhr der Krüppel fort und blieb stehen, so daß auch der Knecht hinter den Gäulen zurückblieb.

Es war ein Verwundern in ihm, ein leises Sichsträuben, daß der Krüppel nach ihm griff, dieser Einsame, der doch nicht zum kalten Grund gehörte.

»Ja – und –?« fragte er kurz.

»Ihr habt eine alte Uhr in der Mühle,« begann Heiner eindringlich, »eine alte, große Kastenuhr, in der das Werk verrostet und zerbrochen ist. Die möchte ich wieder machen auf Weihnachten. In der Kammer steht sie, wo die Truhen und die Schränke sind. Rosen sind darauf gemalt und ein See. Es ist ein gutes Stück und schad um sie, daß sie beim Gerümpel steht. Aber wenn ich sie machen soll, dann muß ich sie in meiner Werkstatt haben. Ihr fahrt so oft leer nach Jakobshof, Michel, wenn Ihr Holz holt dort oben. Ihr könnet sie mir bringen. Aber sie soll nichts davon wissen, meine Schwester. Sie freut sich dann viel mehr. Sie ist da wie ein Kind. Der Vater und ich – –« Er schwieg plötzlich. Es kam ihm zum Bewußtsein, daß er an etwas rührte, was keinen Knecht aus dem kalten Grund anging. »Wollt Ihr?« fragte er dann fast herrisch und schritt weiter.

Der Michel lachte. »Wenn's mei'm Herre' recht ist, ist mir's au' recht.« 144

Da schaute der Krüppel seitwärts in den Wald hinein, so daß der Knecht all das Harte, das ihm ins Gesicht trat, nicht sehen konnte. »Den hab' ich nicht gefragt,« sagte er kurz, und dann fügte er seltsam gezwungen hinzu: »für den soll es auch eine Ueberraschung geben.«

Sie bogen jetzt um die letzte Kehre. Der Knecht knallte mit der Peitsche, daß das Echo von den Wänden der Schlucht kam. Schwarz stieg die Mühle auf. Da und dort glänzte ein Licht. Der Hund im Hof fing zu toben an. Da gab der schwarze Spitz, der seitdem stumm und müd auf dem leeren Wagen gelegen war, seine Antwort. Er stand mit gestellten Ohren auf und kläffte wütend gegen den Genossen hin.

Da lachte der Knecht. »Mohrle, du hast Courage; aber bloß von weitem und wenn d'r andre an d'r Kette ist.«

Heiner schnalzte mit dem Finger gegen den kläffenden Hund. »Sei still, der andre ist groß, und du bist klein.«

Dann nahm er den Knecht am Arm. »Also wollt Ihr, Michel, oder wollt Ihr nicht?«

Der hob wiegend die Hand mit der Peitsche. »Lieber wär mir's, i' dürft de' Müller froge'. Mer weiß nie – 's ist net gut Kirsche' esse' mit ihm –«

Der Krüppel sagte lange nichts. Dann hub er an, als ob es ihm herzlich sauer werde: »Ich will ihr ja nur eine Freude machen, meiner Schwester. Und ihm – wenn's nicht sein kann – –«

Der Michel nickte. »E' Freud', jo! D' Freud' ist für d' Leut, was der Haber für d' Gäul. Aber im kalte Grund kommet d' Gäul besser auf ihre Koste', als d' Leut. Es wird kei' Sünd sei', wenn i' au' emol für d' Müllere e' Fuhr tu. – I' bring die Uhr, Herr Heiner, wenn net d'r Teufel dazwische' 145 kommt –«

Die Gäule setzten sich jetzt, wie aus dem Schlaf erwacht, in einen schweren Trab, dem nahen Stall zu, so daß die beiden Männer hinter dem schütternden Wagen zurückblieben.

Der Knecht schaute dem Gespann nach, das scharf und sicher auf das offene Hoftor zuhielt. Heiner Neuhaus aber blickte nach dem Licht, das aus dem Fenster im Wohnstock seinen stillen Schein in den Abend sandte. Ein bitteres Einsamsein flutete gegen seine Seele her. Es brannte aus seinen Augen, die bei dem Licht dort drüben die Schwester suchten. Aber dann wandte er sich um und ging davon mit einem kurzen Gruß an den Knecht, der hinter den Gäulen herging.

✤           ✤           ✤

Wie ein Markstein am Weg ist's für eines Hauses Herrin, wenn sie den Baum zum Feste putzt. Sie steht und liest die Nummer auf dem Stein und besinnt sich, was der Weg brachte und was er fürder bringen wird. Zum drittenmal deckte die Liesel das weiße Leinen über den Tisch mit dem Fußgestänge, der im Schafstall stand.

Im ersten Winter war sie mit Eifer und Freude ans Werk gegangen. Das Regele schüttelte damals den Kopf, als sie hörte, daß die junge Frau im Sinn hatte, alle die Leute, die man seitdem an Weihnachten mit Geld abfertigte, ins Haus kommen zu lassen und ihnen im Schafstall einen Baum zu schmücken. Der Müller aber lachte und gestattete es. Alles Ungebräuchliche, was sein junges Weib ihm ins Haus trug, war ihm damals noch wie Gewürz, das den Gaumen kitzelt und das Blut heiß macht.

Unbeholfen umstanden am heiligen Abend die Geladenen den brennenden Baum und den Gabentisch. Nur Albrecht Neuhaus, des Müllers Schwiegervater, 146 schaute froh und unbefangen wie ein Kind in den Lichterglanz. Ihm, in dessen Innerstem nie Dürre gewesen, ihm fehlte der Sinn für die großen und kleinen Gewaltsamkeiten, mit denen sich andere, und wären es seine eigenen Kinder, Wasser und Wässerlein auf dürres Land zu leiten suchten. Er nahm die Hände seiner Beiden und trat mit ihnen unter den brennenden Baum. »Liesel, Heiner, wie haben wir's gut jetzt –« Und er lächelte und freute sich den ganzen Abend und sprach mit jedem der scheuen Leute ein gutes Wort und merkte es gar nicht, daß alles abrollte wie Wasser vom Entengefieder.

Als die Müllerin den Baum zum zweitenmal schmückte, war der alte Uhrmacher tot. Niemand sagte seinen Kindern mehr, daß sie es jetzt so gut hätten, und niemand ging unbefangen einher unter den Holzknechten und Weibern und Mädchen. Der Müller stand abseits, hielt die Hände auf dem Rücken und hatte um den Mund und in den hellen Augen etwas Lächelndes, das keine Weihnachtsfreude war. Das Regele saß hinten neben dem Kachelofen, stützte die Arme auf die Knie und sah zu, wie die Dinge liefen.

Die Lichter am Baum tropften, zuweilen knisterte ein versengtes Aestchen, und ein Funken sprühte durch die dichten Zweige. Dann rissen die Weiber die Augen auf, und die Knechte murmelten etwas.

Die Müllerin in ihrem schwarzen Trauerkleid stand Hand in Hand mit ihrem Bruder am Tisch. Sie wußte vielleicht nicht, wie fest sie des Krüppels Finger preßte. Fast wie ein Kind, das sich im Dunkeln fürchtet. Sie wollte etwas sagen, etwas tun. Aber da fühlte sie, daß ihr das Weinen ganz oben in der Kehle saß, wie ein Vogel vor des Käfigs Tür. Da wagte sie nicht, sich zu rühren. 147

Das Regele aber stampfte jetzt mit dem Fuß und stand auf. Mit einem erbosten Blick streifte sie den lächelnden Müller. »Singet doch ebbes, Leut! Zu was hänt ihr denn eure Mäuler. Standet doch net do wie d' Opferstöck!«

Der Müller lachte hellauf, so daß sich die Köpfe nach ihm wandten. »Ja,« rief er, »singet doch! Ihr müßt meiner Frau ihr Fest nicht verderben! Tut heut, wie wenn ihr städtisch wäret.«

Das Regele hörte mit den mißtrauischen Bauernohren gar wohl den Unterton in ihres Herren Rede. Aber ohne sich weiter daran zu kehren, trat sie vor an den Tisch neben die Geschwister, und mit einer schmetternden, aber kräftigen Stimme fing sie an: »Fröhlich soll mein Herze springen.«

Verwundert gafften die Leute, dann fiel unsicher der Mühlemichel ein und nach ihm tropfenweise die übrigen. Aber nicht alle kannten den Text. Viele mußten ausspringen nach der ersten Strophe, oder sie brummten und summten mit im Schlepptau der anderen. Dünn und verloren, wie ein einsames Rinnsal, das nicht zum Bach werden kann, kam der Sang zu Ende. Die Magd ließ die gefalteten Hände sinken. Hart und verächtlich blitzten ihre Augen über den stummen Kreis. »Von der Lüderlichkeit, wenn mer g'sunge hätt', oder e' Soldatelumpeliedle – do hättet Ihr besser mittu' könne'. –«

Die Leute lachten und grinsten. Eines der Mädchen, die bei des neuen Schulmeisters Singchor war, sagte: »D'r Schulmeister sollt do sei' und derzue spiele', no gings flotter.«

Da wandte die junge Frau den Kopf und sah nach der Sprecherin. Es war, als ob sie rasch etwas sagen wollte; aber sie blieb stumm. 148

Der Müller nahm jetzt die Hände vom Rücken und trat an den Tisch. »Beim Blitz, Liesel,« sagte er und schaute sein Weib seltsam an, »den Schulmeister hast du vergessen. Den hättest du sollen einladen zum Fest. Der hätte den rechten Zug hinein gebracht in die Geschichte.«

Der Krüppel streifte sich das lange schlichte Haar aus der Stirne und sah mit den ernsten Augen seine Schwester an. »Ja, Liesel, das wäre schön gewesen. Er hat sonst niemand.«

»Ueber's Jahr,« sagte da die Müllerin, wie man ein Kind vertröstet. Dann füllte sie den Leuten die Körbe, und das Regele half dabei und sorgte, daß alle möglichst rasch aus dem Haus kamen.

Und heuer war's das drittemal.

Die Mägde trugen Körbe herbei mit Nüssen und Aepfeln, mit Lebkuchen, Springerlen und Huzelbrot. Aber nach Alltagsmühe schmeckte die ganze Arbeit. Vor Wochen schon hatte das Regele gefragt, ob man auch heuer »die Kirbe« habe. Und der Müller erkundigte sich mit Lachen nach dem Festprogramm.

Da kam es wie zäher Trotz über die junge und einsame Frau. Wie wenn sie mit diesem Fest ein letztes Stücklein ihres eigenen Wesens in der fremden Welt der Mühle zur Geltung bringen müßte.

»Ja,« sagte sie der Magd, und sie zwang sich, ruhig und sicher zu bleiben, »wir werden auch heuer und jedes Jahr ›die Kirbe‹ haben.«

Das Regele nickte mit dem Kopf. »Gut so. Aber auf Johr 'naus tät i' nix behaupte'. Oder i' tät sage': So Gott will und wir leben –«

Dem Müller tat auf seine lachende Frage die Frau zu wissen, daß sie diesmal den Schulmeister bitten werde, zu kommen und seine Geige mitzubringen. 149

Es dunkelte früh im Schafstall. Durch die hochliegenden Fensterlein blickte die Müllerin zuweilen hinauf an den schweren Himmel. Immer noch lag kein Schnee, und der föhnige Wind strich manche Nacht über die Schlucht. Zuweilen wehte es lau und fremd um die Mühle, wie aus einer Ferne her, in der nichts Vertrautes daheim ist. Hinter dem Haus am Bach reckten Schneeglöckchen die Köpfe aus der schwarzen Erde, und im Holunder trieb der Saft.

Und auch im Blut der Menschen gärte die Unruhe, dieweil auch sie unter Sonne und Wind stehen.

Die Körbe waren jetzt alle herbeigeschleppt, die Müllerin blieb allein in dem öden Raum. Draußen im Hausflur fing die Jungmagd an, die Treppe zu putzen, und sie sang dazu mit halblauter Stimme ein Lied, in dem von einem treulosen Schatz und von des Liebchens Kammer die Rede war.

Die Frau im Schafstall ließ die Hände sinken, lauschte und sann.

Das war nun einmal so in der Mühle: von dem blutjungen Ding da draußen an bis hinauf zum Herrn kannten sie solche Lieder und hatten den Sinn voll davon. In der Wassergasse hatte am Weihnachtsabend, wenn die Lichter am kleinen Baum erloschen waren, der Vater aus seinen Büchern vorgelesen, von den Wundern des Sternenhimmels, von den Tiefen des Alls, die kein Menschengedanke ausmißt.

Die Müllerin trat gegen die Türe hin. Der Singsang da draußen war ihr plötzlich unleidlich. Sie wollte hinausrufen, da hörte sie von oben an der Treppe her die Stimme des Regele: »Bist still, Lumpemenschle! Oder sing ebbes rechts! Denn uns ist heute der Heiland geboren.« 150

Jäh verstummte die junge Sängerin. Man hörte nur noch das Scheuern und Klopfen der Bürste auf den Treppenstufen. Da atmete die Frau auf und konnte wieder an die Arbeit gehen. ›Ja‹, dachte sie, ›still mit dem wirren und schmutzigen Zeug, das man im kalten Grund Liebe heißt. Ich will nichts mehr davon hören. Ich will keinen Schmutz an mir. Ich will einen reinen Weg gehen –.‹

Ihres Heiners Stube fiel ihr ein, in die die Abendsonne schien. Sie hörte die Lieder klingen, die der Krüppel und der kranke Mann zusammen spielten. Sie sah den sommersprossigen Pfarrer mit glänzenden Augen übers Feld hinblicken nach den fernen, schwarzen Tannenwipfeln, die gegen den lohenden Himmel standen. Dort gehörte sie hin, zu jenen dreien; dort wehte die Luft, die sie brauchte.

Das Regele kam und zündete die breitschirmige Lampe an, die über dem Tisch hing. Sie tat es unwirsch, und der Zylinder klirrte in ihrer Hand. Dann stand sie und schaute mit gerunzelter Stirn nach der runden Flamme, als sei ihr weiter nichts wichtig. Die Müllerin band papierene Rosen an den Baum und achtete der Magd nicht.

Da fragte die Alte über die Schulter: »Bis wann soll's denn heuer losgehe'?«

Die Frau wandte den Kopf und fand sich nicht gleich mit ihren Gedanken zurecht. »Wann der Herr heimkommt,« sagte sie dann.

»Wann kommt der heim?« fragte zäh und fast hämisch die Magd.

Die Müllerin schaute auf die Alte. Sie fühlte das Feindselige, das ihr hier entgegentrat, und konnte sich's nicht recht deuten. »Er ist auf die Jagd nach Hohenweiler; wenn's dunkelt, wird er aus dem Wald müssen.« 151

Das Regele lachte. »Dunkeln tut's schon lang. I' schätz', heut hot 's no' gar net 'taget. Wenn i' en Ma' hätt', der ging mir net auf d' Jagd am heilige Obed.«

Sie schraubte an der Lampe, als sei da etwas nicht in Ordnung, und wandte das Gesicht nicht gegen die Frau.

Die Müllerin blieb stumm. Sie vermochte sich nicht zu entrüsten gegen die Alte.

Da trat diese her und legte dem jungen Weib die Hand auf den Arm. »Frau,« sagte sie, »wenn mer zweispännig eing'schirrt ist, darf mer net einspännig laufe' wölle' – d'r Handgaul g'hört zum Sattelgaul –«

Nicht zum erstenmal hatte die Liesel das Gefühl, als ob die Magd helläugig durch Mauern und Hüllen sähe. Stumm und scheu schaute sie ihr ins runzelige Gesicht.

Da blickte sich die Alte um, als ob sie Lauscher fürchte, und sagte hart: »I' sag' net, daß mei' Herr sei, wie er sei' soll; aber i' sag: Allei' ist er au' net schuldig, wenn's nix ist. Wer en Klotz heiratet, d'r muß au' mit eme Klotz hause'.«

Ein hilfloser, erschreckter Ausdruck lag auf der Müllerin schmalem Gesicht. Sie fand kein Wort der Abwehr.

Und die Alte fuhr fort, indem sie noch näher an die stille Frau herantrat: »D' Klotz wöllet Weiber mit Blut im Leib. Lieber z' heiß als z' kalt. Weiber, wo Kinder krieget und Kinder wöllet. D'r kalt' Grund ist no' nie e' Kloster gwe'. – Sie denket z' viel nebe' naus, Frau! Sie hänt de gute Wille net und net de guete Glaube'. D' Mühle g'hört de Klotz seit Noahs Zeite. Mei' Herr braucht en Soh'. 's lauft manche Hagar 'rum in Jakobshof. Er braucht no z' winke, d'r reich' Müller. I' tät 152 ihn meh' bei mir halte'. Mir käm er net am heilige Obed auf d' Jagd –. Er müeßt' mir meh daheim sei' Freud' han und sei' Plaisier.«

Hastig, stoßweise sprach zuletzt die Magd, wie wenn lang Gestautes ans Licht drängte, und sie hatte die Hände hart auf der Müllerin Arm liegen.

Die papierenen Rosen in der Liesel Hand zitterten. In die Augen kam ein heißer Glanz. Alles, was sie da hörte aus dem Mund der Magd, hatte irgendwo versteckt in ihrem eigenen Innern gewohnt. Nicht so deutlich. Nicht so in Form gebracht. Gärend nur und suchend. Unter der Alten harter Rede erst war's zu Kristallen zusammengeschossen. Sie sah auf einmal ihr Leben von der anderen Seite. Von der Klotzschen Seite her.

›Er ist betrogen‹, dachte sie, ›er ist betrogen, so gut wie ich.‹ Sie wußte nicht, daß ihre Augen größer und dunkler wurden, wie vor Schrecken, und daß ihre Lippen zitterten. Wie ein verstörtes Kind schaute sie der Magd ins Gesicht.

»Ich bin kein Weib für ihn? –« murmelte sie in banger Frage.

Die Alte antwortete nicht. Ihr faltiger Mund schloß sich ganz eng und herb zusammen, als ob etwas nicht ans Licht dürfe.

Sie nahm die Schürze auf und fuhr damit über den Tisch, auf dem ein paar Tannennadeln lagen. Dann trat sie weg, wie zum Fortgehen. Und auf einmal kehrte sie zurück und sagte langsam und feierlich: »'s kann sich kei' Mensch anderst mache', als er ist; aber die Hanna, dem Elkana sei' Weib, hat sich de' Samuel 'rausbetet. Bete' ka' jede. Sie därf nur weit genug im Elend stecke' –« 153 Die Müllerin wandte sich ab und griff in den Korb mit den Rosen.

Ernüchternd und fremd klang ihr der Alten Rede. Sie fühlte wieder das unerbittliche Alleinsein in der eigenen Welt, nachdem sie einen Augenblick lang geglaubt hatte, da sei ein Weggenosse. Und zugleich kam sie ein Neid an auf die Magd, die ein Allheilmittel kannte für alle Nöte des Lebens. »Regele,« fragte sie nach einem langen Schweigen, »Regele, wie wird man denn fromm?«

Die Magd fuhr mit den Händen in den Nüssekorb, der neben ihr auf der Bank stand. Das helle Schettern der Nüsse klang durch den Raum. »Weiß i' 's?« sagte sie mit kurzem Auflachen. »'s Kraut will Rege' und 's Korn will Sonn. De Flachs muß mer verrupfe, und 's Gras muß mer wachse' lasse'. Jedes Ding will sei' Sach' auf sei' Art, wenn's ebbes werde' soll. Und d' Leut net anderst.«

»Wie seid dann Ihr fromm geworden, Regele?« fragte nach einiger Zeit die Müllerin.

Die Magd schaute mit kurzem und mißtrauischem Blick nach der Frau. »I' bin net fromm,« sagte sie dann mit einem Kopfschütteln, »i' bin bloß gscheit worde' mit 'm Alter, wie 's Frieders Schimmel. I' weiß, ob i' hist muß oder hott – meh' net.«

Sie fing jetzt an, die Teller auf dem Tisch mit Nüssen und Aepfeln und Gebäck zu füllen. Sie tat's mit Geräusch und mit zorniger Hast. Und dann hielt sie wieder inne und schaute in das blasse Gesicht der jungen Frau. »Wisset Se,« knurrte sie hervor, »wisset Se, was i' glaub?«

Die Müllerin schüttelte den Kopf und fragte nicht. 154

Da trat die Alte ganz nahe her und sagte halblaut: »I' glaub, je meh' mer durch de' Dreck mueß, je meh' sucht mer sich e saubers Plätzle. Des ist die ganz G'schicht mit 'm Frommwerde! Sauber, sauber will mer's han – kein Dreck um d' Füeß!« Sie schüttelte hart der Müllerin Arm und ging davon, die Türe hinter sich zuschlagend.

Und hinter der verschlossenen Türe rief sie dann noch laut zurück: »Machet Se, Frau! 's ist nemme lang bis Obed.«

✤           ✤           ✤

Die Nacht sank rasch, vom böigen Wind lau durchströmt. Die Holzleute und Pflanzensetzerinnen kamen mit ihren Laternen und großen leeren Körben. Der Hofhund tobte an der Kette, und unter der Haustür lärmte der schwarze Spitz. Tiefer und lauter als sonst rauschte der Bach durch die sternenlose Nacht.

Die Müllerin stand oben im Wohnzimmer, wo der Tisch gedeckt und mit Tannenreis geschmückt war. Sie trug seit langer Zeit zum erstenmal ein helles Kleid. Eines von denen, das sie mit wenig Kosten und geschickten Händen drunten in der Wassergasse gemacht hatte. Ein stiller und froher Glanz war in ihren Augen, und der unjunge Zug in dem schmalen Gesicht hatte einer scheuen Freude Platz gemacht.

So wartete sie auf die drei Männer, die kommen sollten. Unruhig ging sie durch das weite, niedrige Zimmer und ordnete da und dort etwas, was schon in Ordnung war. Vielleicht – vielleicht wurde von heute an etwas anders in der Mühle. Sie sagte sich das nicht; aber sie fühlte so. Ein unbewußter Vorsatz, eine stumme Sehnsucht machten ihre Augen glänzen wie von Festesfreude. 155

Zum erstenmal würden der Schulmeister und der Heiner heute miteinander in der Mühle musizieren. Das war, wie wenn man ein Stückchen Helle aus des Krüppels durchsonnter Stube in den düsteren kalten Grund leiten würde.

Anders als zuvor lärmten jetzt die Hunde. Ihr Herr war heimgekommen. Die Müllerin hörte seinen Schritt auf der Treppe. Sie hörte, wie er die Flinte an die Wand hängte, draußen im Flur neben der Türe.

Eine Bangigkeit wollte über ihr Frohsein gehen. Aber sie zwang sie zurück und fuhr mit zitternden Händen über ihr festliches Kleid. ›Heut‹, dachte sie, indem sie die Augen auf die Türe richtete, ›heut soll ein Neues zwischen uns beginnen.‹

Aber er tat die Türe nicht sogleich auf. Er rief der Jungmagd, daß sie ihm trockene Schuhe bringe. Und dann hörte die Frau die Sechzehnjährige im Flur kichernd auflachen.

Die Liesel strich immer noch über ihr Kleid und hielt ihr bewillkommnendes Lächeln fest. Alles wollte sie zwingen heute, alles hinüberlenken auf den sauberen Weg.

Der Müller trat herein. Seine Stirne war rot, seine Augen heiß und unruhig, als komme er von einem scharfen Trunk.

Da trat die Liesel verwirrt herzu, und die Blässe auf ihrem jungen Gesicht war von anderer Art als sonst.

Der Mann schaute mit einem raschen Blick über die festliche Stube und den gedeckten Tisch hin. Dann lachte er auf sein Weib herunter und nahm mit einem festen Griff ihren bloßen Arm.

»Du,«sagte er heiser, »du hast dich aber schön gemacht.« Und er riß sie an sich und ließ sie wieder los, daß es fast wie ein Stoß war. Die Liesel lächelte. Es 156 war ihr, als ob jemand leise sage: ›Wer einen Klotz heiratet, der muß auch mit einem Klotz hausen.‹

»Weihnachten zulieb –« sagte sie.

Der Müller lachte laut. »Ja,« rief er, »das weiß ich wohl, daß es mir zulieb nicht geschah.«

Sie strich sich mit beiden Händen über das schöne dunkle Haar und schaute ihn mit einem flackernden Blick an. »Doch,« sagte sie dann leise, »ich tat's auch dir zulieb.«

Er gab keine Antwort. Mit einem seltsamen, fast grausamen Ausdruck blickte er sie an und pfiff leise durch die Zähne.

Dann sah er auf die Uhr und ließ sie repetieren. »Sie sind nicht pünktlich, deine Musikanten. Hast dir auch eine gute Sorte eingeladen. Denen geht der Atem aus, bis sie da herunter kommen.« Er lachte und dehnte sich und schlug sich an die breite Brust, daß es dröhnte. »Einen merkwürdigen Geschmack hast du, Liesel. Wenn einer nicht einen Buckel hat oder die Schwindsucht oder rote Haare und Sommersprossen, dann hat er bei dir nichts zu hoffen.«

Die Müllerin senkte den Kopf. Sie wußte nicht recht, wie sie sich wehren sollte, weil sie den Angriff nur fühlte und nicht verstand.

Der Mann legte ihr die Rechte um den feinen, blassen Hals, der aus dem kleinen Ausschnitt des Kleides hervorsah. »Du wirst dich bös erkälten, Liesel,« sagte er und drückte, als ob er sie würgen wollte. Dann ließ er sie los und schritt an den Tisch, auf dem die Gedecke mit Tannenzweigchen geschmückt waren.

Er nahm das grüne Reis von seinem Teller und legte es auf den gegenüber. 157

»Da,« sagte er, »dem seltenen Gast gebührt die doppelte Ehre. Für mich genügt's auch so. Ich mache mir nichts aus Faxen und Firlefanz.«

Die Müllerin fühlte, wie die alte, müde Stumpfheit wieder gegen ihre Seele herflutete, die sich hoffend und sehnend geweitet hatte. Sie wollte sich wehren mit allen Mitteln, auch mit solchen, die sie bisher verschmäht hatte. Von allen Tellern nahm sie den grünen Schmuck und legte ihn auf ihres Mannes Gedeck. Dann schaute sie ihm ins Gesicht und sagte leise: »Da! Du sollst alles haben, weil du gar nichts gewollt hast –«

Er hörte wohl die Erregung in ihrer Stimme und sah, wie unter ihrer Haut das Blut kam und ging. Einen Augenblick lang blieb er still und reglos. Dann nahm er die grünen Zweige, ballte sie in der Faust zusammen und warf sie in die Ecke.

»Laß!« sagte er hart. »Ich mag das Zeug nicht, das schon auf allen Tellern herumgekommen ist.« Und er wandte sich und schritt hinaus.

Die Liesel sah ihm nach wie etwas Fremdem, Unbegriffenen, das einem den Weg kreuzt und weiterzieht.

Dann nahm sie das Tannengrün vom Boden auf und warf's in den Ofen und sah zu, wie es aufglühte und zu Asche ward. Von einem Nagel an der Wand nahm sie ein Tuch und legte sich's um den bloßen Hals, als sei ihr kühl geworden.

Das Regele tat jetzt die Türe auf und ließ die beiden Freunde eintreten. Sie hatten beide zerzauste Haare, als ob sie barhaupt durch den stoßweisen Wind gelaufen wären. Ihre Augen leuchteten in frohem Glanz wie Bubenaugen nach einem gelungenen Abenteuer.

Die Müllerin sah sie an, wie sie nebeneinander standen mit ihren Instrumentenkasten. Hochgewachsen, hager, 158 bärtig der eine, der andere mißgestaltet, mit scharfem, knochigem Gesicht, und beide die scheue Freude in den Zügen.

Die warme Mütterlichkeit, die in der Mühle nirgends ein Körnchen Boden fand, wachte auf in der Liesel. Sie streckte den beiden die Hände hin und grüßte froh. Dann nahm sie ihnen die Instrumente ab in sorglicher Geschäftigkeit. »So,« sagte sie herzlich, »nun wollen wir ein frohes Fest miteinander feiern.«

Der Krüppel sah sich in der Stube um. »Dein Mann ist nicht da?« fragte er kurz.

Die Liesel hörte wohl das Lauernde in des Bruders Wort. Sie fühlte, wie die zwei sich feind waren in jedem Atemzug.

»Alles ist schon unten im Schafstall. Ich werde jetzt den Baum anzünden und unsere Leute beschenken.« Sie sprach rasch und mit einer unwahren Freudigkeit, die sie festhalten wollte um jeden Preis.

Der Krüppel sah über den gut gedeckten Tisch hin, an dem vor des Müllers Platz ein uralter, weiter Armstuhl stand.

»Liesel,« sagte er und zupfte die Schwester am Kleid, »wenn unser Vater einen solchen Stuhl und einen solchen Tisch gehabt hätte!«

Sie gab keine Antwort. Ein Schatten wie von Müdigkeit ging über ihr Gesicht. Dann fragte sie den Schulmeister: »Was macht die Geige?«

Er schaute sie an mit den stillen, kindlichen Augen, die so zurückgesunken und umschattet unter der breiten Stirn lagen. Etwas Wissendes und Ueberlegenes stand darin geschrieben. Und ein unbewußtes Erbarmen, wie es aus den tiefen und lauteren Quellen fließt, die sich in den Losgelösten und Wunschlosen erschließen. 159

Er lachte, und man sah unter dem dunkeln Bart die weißen Zähne. »Gut macht sie, gut. Sie weiß, daß bald der Feierabend kommt und nutzt die Zeit aus.«

Die Liesel legte ihm die Hand auf den Arm und wollte etwas sagen, da trat der Müller ein.

Er sah die zwei voreinander stehen und lächelte. »So,« rief er laut »das ist ja schön, da wären ja die Gäste. Da kann die Komödie jetzt beginnen. Diesmal geht's mit Musikbegleitung vor sich. Es wird immer lustiger im kalten Grund.«

Die dröhnende Stimme des Mannes hatte einen unguten Ton, der selbst der Liesel fremd und neu war. Sie schaute den Müller scheu an, ob er vielleicht betrunken sei; aber er hatte sich schon abgewandt, dem Heiner zu.

»Na, Schwager,« sagte er mit lautem Lachen, »blüht das Geschäft? Aber das braucht's bei dir nicht. Du hast deine guten Nebeneinnahmen.«

Niemand gab eine Antwort. Der Krüppel hob das bleiche Gesicht und schaute mit scharfen Augen auf den Müller.

»Na ja,« schrie der, »das ist ja keine Schande. Ist ein ehrlicher Erwerbszweig wie jeder andere. Wer unter euch ohne Sünde ist usw. usw. –«

Eine sonderbare Stille entstand, in die hinein das Tosen des Baches und das pfeifende Heulen des Föhns klang.

Da strich sich der Krüppel mit der weißen, fast frauenhaften Hand das lange Haar zurück und sagte: »Ich will nichts von dir, ich bin zu meiner Liesel gekommen.« Es klang ganz seltsam. Fast wie der angstvolle Mut und verzweifelte Trotz des Hilflosen vor dem gewappneten Feind. 160

Der Müller trat ihm näher und lachte. »Bloß ists zufällig mein Dach, unter das du gekommen bist. Mein Dach und meine Stube und mein Tisch. Ich gönne dir's, Hungerleider. Ich bin nicht so, daß ich an Weihnachten nichts verschenke. Aber du sollst dir nicht einbilden, ich wisse nicht, daß du der Kuppler bist zwischen denen da – du –«

Die Liesel stand jetzt neben dem Müller. Ihr Gesicht war ganz verzerrt, ihre Augen loderten von Empörung.

»Du,« rief sie und schüttelte des Müllers Arm, »du bist betrunken, du sprichst im Rausch –«

Er machte sich los, indem er ihr einen Stoß gab. »Nein, der Rausch ist verflogen bei mir, das ist's. Ich habe mit dem Totengräber einen Fuchs herausgetan im Hohenweiler Wald. Und da habe ich gleich noch allerlei anderes herausgeholt. Donnerwetter, da hat's ausgegeben! Mein Weib sitzt bei einem allein in der Stube. Mein Weib steckt bei einem in der Schwedenhöhle und läßt sich vorgeigen – ha ha ha – dort drinnen ist das Geigen daheim; ich kenn's auch, du – der Teufel ist dabei.«

»Ich war dabei,« sagte fast eintönig der Krüppel.

»Na also,« schrie lachend der Müller. »der Teufel oder ein Kuppler. Was herauskommt ist immer das gleiche.«

Er packte die Liesel am Handgelenk. Die ganze Wildheit der Klotze flammte in seinem vollen Gesicht auf. »Ich hab' die Unkosten, du, – und die andern haben die Freude. Bei mir tust du, wie wenn dir das Blut eingefroren wäre, und unter den ledigen Männern ist alles ein Lächeln und Streicheln. Zum Heiraten war ich dir gut, und das andere suchst du bei andern, und der Krumme da hilft dir dazu. Deshalb hat er seine eigene Wohnung 161 dort oben haben müssen – Sippschaft, verfluchte – hergelaufene –«

Die Stimme versagte ihm. Seine hohe Gestalt wankte, so daß er sich am Tisch hielt.

Keines sprach ein Wort. Wie ein Orkan, ein jäh dahinschießendes Wildwasser war der Ausbruch. Da konnte niemand an ein Aufhalten, ein Ablenken denken.

Und in diesen furchtbaren Bann hinein tat das Regele die Türe auf, streckte den Kopf in die Stube und rief: »Kommet Se, Frau, zündet Se de' Baum a', die Leut wartet scho' lang genug, die wöllet wieder heim.«

Und als sie ausgesprochen hatte und alles so grabesstill blieb, da trat sie herein und schaute von einem zum andern. Und die alte, bäuerische Magd, der im Innern kein Licht leuchtete, als ihr schlichtes Verstehen für alle Menschlichkeiten, sie tippte der Müllerin an den Arm. »Frau, was hänt Se? Ist Ihne' übel?«

Und ehe die Liesel eine Antwort hervorwürgen konnte, trat die Alte auf den Müller zu und sagte laut und streng: »Herr, hänt Sie wieder en Krangel drei' nei' g'macht? Grad heut, wo's heißt: Siehe, ich verkündige euch große Freude – –«

Der Müller nahm sie am Arm und deutete gegen die Türe. »Hinaus, du!« sagte er heiser. »Heute ist ausgeschwätzt, heut ist's Ernst.«

Die Magd machte sich los und blieb stehen. Mit festem, hartem Blick sah sie auf ihren Herrn. »So,« sagte sie langsam, »wird's jetzt Ernst? Ja, ja; er kommt für jeden, d'r Ernst, und wenn d' Buberei no' so lang dauert. Gottes Mühlen mahlen langsam –«

»Hinaus!« schrie der Müller.

Sie blieb stehen, wie sie stand, und ihre Augen funkelten. »I' gang, wenn's für mi' Zeit ist. Ihne' 162 z'lieb bin i' scho' lang nemme im kalte' Grund. Für die tot' Frau tu i's –«

Der Müller machte die Türe auf. Sein Gesicht war plötzlich kreideweiß.

Da schrie die Müllerin angstvoll auf: »Geht, Regele!«

Die Magd schaute sie an. Wie Mitleid ging's über ihr runzeliges Gesicht. »Frau,« sagte sie, »i' mein', Sie sollet gehe'. – An mir hot sich scho' d'r alt' Müller d' Zähn' ausbisse'; i' fürcht' kein Klotz vom kalte' Grund. I' weiß z' viel. Aber Sie, Frau, Sie – –«

Der Müller schob sie hinaus und drückte die Türe hinter ihr zu.

»Kanaille,« murmelte er.

Man hörte den festen Schritt der Magd auf dem steinernen Flur und dann vorne auf der Treppe, wo er langsam verklang.

»So,« sagte der Müller, »und jetzt kann gehen, wer nicht in den kalten Grund gehört.«

Wieder tat er mit bleichem Gesicht die Türe weit auf.

Da trat zuerst der Krüppel hinaus, ohne sich umzusehen, und hinter ihm der Schulmeister.

Mit wirrem Blick stand die Liesel. Und auf einmal nahm sie die beiden Instrumentenkasten, die noch auf der Kommode standen; dann schaute sie wie in Angst in der Stube umher. Das Bild ihres Vaters, das neben der Türe zur Schlafstube hing, holte sie mit zitternden Fingern von der Wand, nahm die Schürze auf, als ob sie ein Bündel Holz trüge, und wollte den beiden folgen. Aber der Müller hatte schon die Türe hinter ihnen geschlossen und stand mit dem Rücken dagegen.

»So,« sagte er, »das Haus ist sauber und bleibt sauber. Einem Klotz tanzt kein Weib auf der Nase. Du gehörst daher, und die zwei gehören nach Jakobshof. Ich gebe 163 dir mein Wort, daß ich der Axt den Stiel drehe. Kannst du dich nicht hüten, so werde ich dich hüten, daß mein Weib nicht länger in der Bauern Mäuler herumkommt.«

Mit ihrer Last in der Schürze stand die Liesel. Ihre Augen waren groß und irr, als fände sie sich aus einem bösen Traum heraus nicht zurecht. Dann schluchzte sie auf einmal auf und würgte hervor: »Laß mich, du, laß mich! Ich will nichts von dir, ich will zu meinem Heiner.« Sie wußte nicht, daß sie fast die gleichen Worte im gleichen Tone sagte, wie vorhin der Krüppel.

Der Müller gab keine Antwort. Aber er trat auf sie zu und nahm ihr ab, was sie in der Schürze hielt. Das Bild warf er auf den Tisch, dann die Flöte und dann die Geige.

Zerbrochene Teller klirrten. Ein Glas rollte auf den Sitz des Armstuhls und von dort zu Boden, ohne in Scherben zu gehen.

Von der Müllerin wich die Betäubung. Sie reckte sich auf. Ihr blasses Gesicht sah plötzlich um viele Jahre gealtert aus. Herb und streng und verächtlich. »Du,« sagte sie merkwürdig ruhig, »du bist wie ein Tier. Wie ein Tier bist du, das keine Vernunft hat. Ich will wieder zu Menschen gehen –«

Er lachte kurz und sah sie an. »Ja, ich bin wie ein Tier, weil ich mein Weib für mich will. Weil ich keinen zweiten Gockel im Hof will. Aber das, daß ich dich aus eurer Gottsarmut herausgeholt und zur reichen Müllerin gemacht habe, das war doch wohl menschlich. – Daß ich dich dahinleben lasse im Nichtstun und dich halte wie eine Prinzessin, das ist doch menschlich – nicht –?«

Die Liesel schaute ihm unverwandt ins verzerrte Gesicht. Eine stille Hoheit umfloß sie, als sie jetzt sagte: »Du hast mir nicht mehr gegeben, als ich dir. Ich bin 164 immer so stolz gewesen als Mädchen und so für mich. Und du hast mich genommen und du hast –« Ihre Stimme bebte auf einmal, sie fand nicht weiter. Es war, als ob sie in Dornen geraten wäre.

»Was hab' ich –« fragte hart der Müller.

Da riß sie sich los aus der Scham und aus der Verwirrung, die sie hielten, und sie warf ihm lodernd ins Gesicht: »Du hast mich wie eine Dirne gehalten und hast mir alles weggerissen, was rein und gut an mir war. Mir hat niemand gesagt, daß das so ist, wenn ich dich heirate –«

Der Müller lachte auf und sah ihr starr ins Gesicht. »Ja, ja. Du hast geglaubt, wir singen Psalmen miteinander, Tag und Nacht. Das wollen ja die Weiber – zu dem heiraten sie.«

Er wandte sich ab und schlug den Deckel am Geigenkasten hoch. »Oder hätten wir geigen sollen miteinander, he – wäre das eher dein Fall?«

Er schüttelte den Lappen von rotem Samt, warf ihn dann zur Seite und nahm die Geige ans Kinn. »So etwa, du, so –«

Schrille, kratzende Töne erklangen, wie ein jammernder Schrei.

Da trat die Müllerin her und griff nach dem Instrument. Aber ehe sie es fassen konnte, schwang er es hoch und schmetterte es hart auf die Tischkante, daß die Wirbel krachten und die Saiten klirrend vom zersplitterten Steg schnellten.

Die Liesel preßte jäh die Hände aufs Herz, als ob ein großer Schmerz sie peinige. Alle die Abende voll Frieden und Glanz und Schönheit zogen an ihr vorüber und grüßten sie zum letztenmal. Und der stille, kranke Mann, dem diese Geige das einzige Glück gewesen war, 165 erbarmte sie in der tiefsten Seele. Ein stöhnender Laut des Mitleids kam von ihren Lippen.

Dann fuhr sie auf und riß die zerstörte Geige an sich. »Du Teufel!« schrie sie auf. »Mich richtest du zuschanden, so laß die andern! Was hat dir der Schulmeister getan und mein Heiner? Bei denen ist's wie im Himmel, und im kalten Grund ist die Hölle.«

Sie schluchzte plötzlich und drückte den Kopf an die Geige. Und wie sie da stand, ganz fassungslos und gehetzt, da klang vom Schafstall unten der Choral herauf, den die Leute sangen: »Fröhlich soll mein Herze springen.«

Wie bitterer Hohn grinste ihr das Fest ins Gesicht, das sie in der Mühle hatte einpflanzen wollen als ein kleines grünes Reis aus dem Garten ihrer Jugend in der Wassergasse.

»Geh,« sagte der Müller, »geh, sing mit. Dein Fest ist's. Ich geb' nur das Geld dazu her und das Lokal –« Er schritt zur Türe und wandte sich noch einmal zurück. Und als er sie reglos stehen sah mit der zerbrochenen Geige, da zuckte er die Achseln und ging hinaus.

Von drunten aber klang jetzt hinter dem Weihnachtslied her ein getragener Sang, den der stoßweise Wind überpfiff und überheulte, als wolle er ihn nicht gelten lassen.

✤           ✤           ✤

Festen Schrittes und mit unbewegtem Gesicht war das Regele in den Schafstall gegangen. Dort zündete sie mit ruhiger Hand den geschmückten Baum an und tat den Leuten, die nebenan in den Knechtskammern harrten, die Türe auf.

»So,« sagte sie, »heut' gib i' euch euer Sach'. D'r Frau ist's so arg übel, und d'r Müller ist grad erst vom Fuchsgrabe komme. Gebet eure Körbe her, packet ei' und ganget!« 166

Der Mühlemichel kratzte unzufrieden in seinem mehlstaubigen Haar und fragte: »Also singet mir heut' net mitenander, Regele?«

Sie schaute ihn mit scharfem und prüfendem Blick an. »Könntest denn du's heut' besser als fernd?«

Er nickte. »Will's meine. Unsere G'sangbücher hänt mer heuer dabei, geltet, ihr Mädle –«

Die Mädchen kicherten und zeigten lachend ihre Bücher her. Es war, als ob ein milder Schein über das Gesicht der alten Magd ginge.

»Also wenn's so ist, no muß au' g'sunge werde'.« Aus des Michels Hand nahm sie das Buch und suchte und blätterte. Dann bestimmte sie: »Nummer fünfundvierzig: Gott ist getreu.«

Die Mädchen sahen sich an. Eine lachte laut auf. »Das ist e' Sterblied, aber kei' Weihnachtslied.

Die Alte schaute auf. »Halt dei' Maul, Kätterle, die hot jo niemand g'frogt.«

Aber auch der Mühlemichel widersetzte sich. »Regele, e anders! Mer denkt sonst immer an d' Beth und an de Leiche'wage'.«

Da lachte die Magd und schaute von einem zum anderen: »Recht so, so braucht mer Helde! Net e mol denke' könnet ihr ans Sterbe', net e mol von weitem dran denke'. – Zu was send ihr Leut' worde'? Euch hätt' könne' d'r Herrgott als Küh' und Ochse' auf d' Welt komme' lasse.«

Und sie befahl: »Singet: Fröhlich soll mein Herze springen –« Dann aber, als so der Weihnacht Genüge getan war, mußte sie doch noch her, die erste Strophe von ihrem liebsten Lied: »Gott ist getreu.«

Widerstrebend nur sangen die Leute mit. Fremd und ohne Anteil brannten die Lichter am Baum daneben. 167 Ein merkwürdiges, scheues Schweigen folgte dem freudigen Sang. Da begann die Magd den Leuten ihre Körbe vollzupacken und sie abzufertigen.

Die Kerzen flackerten noch, als der Schafstall leer war von allen Geladenen.

Das Regele saß allein auf der Ofenbank, vornübergeneigt, die Hände auf den alten Knien. »So,« murmelte sie vor sich hin, »des wär' jetzt au' vorbei. I' schätz': 's nächst Johr brennt kei' Baum im kalte' Grund. Drum muß d'r Mensch immer sage: So Gott will und wir leben –«

Reglos blieb sie sitzen, bis der letzte glimmende Docht am Baum erloschen und das leiseste Knistern in den Zweigen verstummt war. Dann seufzte sie schwer, stand ächzend auf und ging davon.

Die Leute aber mit ihren Körben schritten in schweigendem Zug den schmalen Fußweg empor. Einige trugen Laternen, und der unruhige Lichtschein lief huschend unter den Tannen fort und über das Felsgeröll hin, das den rauschenden Bach säumte.

Einer der Holzhauer, der der lauwarmen Nacht zum Trotz den dicken Wollschal doppelt ums Kinn gewickelt trug, schwenkte sein Licht und wendete sich um zu denen, die hinter ihm schritten.

»Han i' jetzt recht oder net?« sagte er mit seiner heiseren Stimme. »Im kalte' Grund ist's net, wie's sei' soll –«

Ein zögerndes Gemurmel antwortete ihm, aus dem heraus eines der Mädchen sich vernehmen ließ: »Wenn d'r Klotz e' anders Weib hätt' – –«

Ein junger Holzknecht lachte: »Vielleicht di', Meile? Sag' ihm, er soll's mit dir probiere'.« 168

Sie gab ihm einen Stoß, daß er einen Schritt zur Seite trat. »Wer weiß, ob's net g'scheiter wär'.«

Wieder lachte er. »Mußt halt warte, bis d' Reih an dir ist. Z'erst kommet die Rote, no die Schwarze, no die Helle – er kommt an älle' 'rum, d'r Klotz.«

Sie traten jetzt vom Bergweg hinaus auf die Hochebene. Ein jäher Windstoß löschte die Hälfte der Laternen, und die Röcke der schreitenden Weiber flatterten. Glockenklänge kamen unruhig und zerhackt über die Aecker, und in den großen Birnbäumen, die ihre kahlen Aeste reckten, weckte der Föhn ein sausendes Dröhnen. Man sah ferne ein paar Lichter glänzen und den spitzen Kirchturm von Jakobshof hart und schwarz vor dem tiefgrauen Himmel stehen.

Der mit dem Wollschal drückte bedächtig sein Licht aus, das der Sturm noch verschont hatte. »I' weiß net,« sagte er langsam, »aber i' mein': 's ist viel verkehrt z' Jakobshof. D'r Pfarrer ist e Moler, d'r Schulmeister ist e Musikant, d' Müllere ist – –«

»Ach was,« fiel die Junge von vorhin ein, »wenn des e Müllere ist, no bin i' e Prälat.«

»Jo,« rief stehenbleibend das Nachtwächtersweib von Hohenweiler, das im Geruch großer Naschhaftigkeit stand, »jo, die mit ihre Stadtbräuch! Die soll uns unser Geld gebe', wie früher, und soll uns daheim lasse'. Hätt' i' mei'm Ma' e paar Küchle backe', heut obed –«

»Und dir au' e paar –« fiel ein Knecht ein.

Aber sie fuhr unbeirrt fort: »No hätt mer doch ebbes Warms g'hätt.«

Alle lachten. Nur eine von den Weibern sagte verächtlich: »Um's Küchlebacke ist mir's net. Aber i' bin net gern dabei, wenn mer Sterbelieder unterm Christbaum singt. Viel Gut's bedeutet des net.« 169

Sie nickten stumm mit den Köpfen und gingen weiter und bei der Wegkreuzung auseinander ohne vieles Grüßen und Händedrücken.

Drunten in der Mühle aber schafften der Michel und ein Mahlknecht einen schweren Kasten vom Leiterwagen im Hof in den Schafstall.

✤           ✤           ✤

Es waren aber zwei zuvor den gleichen Bergweg, den die Weihnachtsgäste aus der Mühle heimwärts zogen, durch die Nacht gegangen.

Sie hatten keine Laterne. Doch sie strauchelten nicht. Wie wenn ein Fieber sie vorwärts triebe, so strebten sie den felsigen Pfad empor ohne Tasten und Zögern. Erst oben auf der grauschwarzen Ebene war's, als ob sie die Richtung verloren hätten. Keiner hatte bis jetzt ein Wort gesprochen, keiner zurückgeblickt. Und nun standen sie mitten auf dem Weg wie zwei Schatten in der fahlen Nacht.

Schwer und hörbar ging der Atem aus des Schulmeisters Brust.

Da hob der kleine Heiner beide Fäuste gegen den kalten Grund. »Du Teufel, du Teufel, du Teufel.«

Dreimal sagte er's, und es kam wie ein Zischen aus seinem Mund.

Mühsam zog der andere die Luft ein. Er hatte beide Hände vor die Brust gepreßt, die nicht ruhiger werden wollte.

Da trat der Krüppel ganz nahe an ihn und sah zu ihm empor. In dem blassen Gesicht loderten die Augen. »Verfluch' ihn auch, den Satan. Er macht uns alle elend.«

Der Schulmeister aber ließ die Hände sinken und sagte: »So wollt' ich, daß ich uns alle erlösen könnte.« 170

Der Krüppel ließ kein Auge von dem bärtigen Gesicht. »Ja,« stieß er hervor, »uns alle erlösen, endlich, endlich.«

Sie schritten weiter. Der Wind stöhnte hinter ihnen im Wald. »Horch,« sagte der Schulmeister, »Erlkönig.«

Und mit einem Ruck blieben sie beide wieder stehen. »Die Geige.«

Ratlos, hilflos wie Kinder schauten sie in die Nacht hinein, zurück nach der waldigen, finsteren Tiefe, wo ihnen so brutal Gewalt geschehen war.

»Komm,« sagte nach langer Zeit leise der Krüppel, »ich hole sie dir morgen. Meine Liesel läßt ihr nichts geschehen.«

Da murmelte der Schulmeister: »Wenn nur auch meine Geige deine Liesel schützen könnte.«

Heiner schritt fürbaß. Das Herz war ihm voll Bitterkeit, und die einsame Nacht schien ihm plötzlich irgendwo ein lauschendes Ohr zu haben, in das hinein er alles sagen müßte, was er nie zuvor gesagt hatte.

Vor dem Schulmeister hergehend, fing er halblaut an zu reden: »Schützen, ja, schützen hätte man sie sollen, die Liesel. Wie blinde Katzen sind wir gewesen, der Vater und ich. Wir haben uns warmgehalten an ihr, und derweil hätte man sie schützen sollen. Die ist ja wie ein Kind gewesen, als sie sich dem da hingeworfen hat, dem Untier da. Die hat nicht gewußt, was er von ihr will. Die hat gemeint, er will ihr den Kopf in den Schoß legen und sich streicheln lassen und fertig. O Liesel, wir sind schuldig, der Vater und ich – –«

Es klang wie unterdrücktes Schluchzen.

»Heiner!« rief der Schulmeister.

Der Krüppel sah zurück und blieb stehen. 171

»Heiner,« sagte der Große scheu und leise, »hat sie ihn denn nicht aus Liebe genommen?«

Es blieb eine Zeitlang ganz still; man hörte den harten Atem des kranken Mannes.

Dann sprach der Krüppel mit veränderter Stimme: »Doch, doch aus Liebe. Natürlich aus Liebe. Meinst du, meine Liesel habe es wegen dem Geld getan –? Sei doch kein Narr! Meine Liesel, die gar nie an sich selber gedacht hat. – Aber es ist nicht die Liebe gewesen, die der Schandkerl braucht, der jede Magd im Arm hat. Es ist die Liebe gewesen zu unserem Vater, der nie auf einen grünen Zweig gekommen ist. Und die Liebe zu mir, der ich ein elender Krüppel bin. Solche Liebe war's. Von dieser Sorte hat sie auch wollen dem Müller schenken. Sie ist ja wie eine Mutter, die Liesel, wie eine Mutter. Das weißt du doch auch, du –«

Schneller, aufgeregter als am Anfang hatte er zuletzt gesprochen, und er stand ganz nahe neben dem andern.

»Ja,« sagte er leise, »die Liesel ist wie eine Mutter, das weiß ich auch.«

Der Krüppel packte ihn am Arm. »Und darum plagt sie der Kerl. Darum plagt er sie und dich und mich. Gottlob,« brach er leidenschaftlich aus, »Gottlob, daß mein Vater tot ist –«

Der Schulmeister ging weiter gegen die Birnbäume zu und ließ den andern hinter sich. »Ja,« murmelte er, »das ist gut, daß er tot ist; er könnte ja doch nicht helfen.«

Hinter ihm sagte der Krüppel etwas. Aber es war nicht zu verstehen. Ein Windstoß riß es über die Aecker hin.

Sie kamen jetzt nahe ans Totengräberhaus. Da wandte sich der Schulmeister zurück: »Gute Nacht, Heiner. Es ist anders gekommen, als wir gemeint haben.« 172

»Ja,« sagte der hart, »es kommt so oft anders, als man meint.«

»Nun müssen wir die Weihnacht für uns feiern.«

»Ja, ganz für uns.«

»Unsere Instrumente wenigstens, wenn wir sie hätten –«

Da lachte der Krüppel schrill: »Ich finde schon, was ich brauche.«

Der Schulmeister sah ihn lange an. Aber nur den Umriß des blassen Gesichts ließ die graue Nacht erkennen. »Du bist jung, Heiner, und gesund,« sagte er dann langsam und wie in Gedanken. »Dich braucht deine Liesel.«

Der andere lachte aufs neue. »Natürlich braucht sie mich. Wer sagt denn, daß sie mich nicht brauche? Und ich will ihr jeden Tag zu Diensten sein. Ich will es gut machen, daß ich nicht auf sie geachtet habe, als es Zeit war.«

Der Schulmeister preßte seine Hand plötzlich ganz fest. »Ja,« sagte er, »achte auf sie, jetzt noch. Sie ist so allein in der Mühle bei dem da. Meine Geige kann sie doch nicht schützen –«

»Die hol' ich morgen,« sagte der Krüppel schnell.

Der andere schüttelte den Kopf. »Es eilt nicht so. Es ist mir nicht ums Geigen. Wir haben immer gegeigt und gespielt, und deine Liesel ist bei dem da drunten gewesen wie –«

»Ja,« fiel der Krüppel ein, »man lebt so hin und merkt nichts, und auf einmal steht man ganz hart vor – vor etwas – und –«

»Gute Nacht,« sagte der Schulmeister und schritt davon, ohne sich umzusehen.

Es war eine einsame, menschenleere Gasse, durch die er heimging. Da und dort schimmerte ein Licht auf einen 173 reingefegten, zum Fest bereiten Hof. Die Beth, das alte Leichenweiblein, schlüpfte an dem Mann vorüber und grüßte und sah ihm nach, wie er die paar Steinstaffeln am Schulhaus langsam hinaufschritt wie ein Mühseliger und Beladener. Sonst sah ihn niemand heimkommen.

Er zündete ein Licht an in seiner großen kahlen und kalten Stube.

Der spärliche Schein fiel auf die paar einfachen Möbel, auf die hellen, fast leeren Wände.

Fremd, wie neugierig schaute der Schulmeister sich um. Er trat vor sein Bett, über dem sonst die Geige hing. Er hatte, in den Kissen sitzend, sie oft gespielt in diesem letzten, bösen Winter. Was früher tief innen gelebt und in den dunklen und verborgenen Schächten der Seele gerieselt hatte, das war hervorgebrochen ans Licht, seit der Felsen zermürbt und geborsten.

Mit heißen Augen starrte der Schulmeister auf die leere Stelle an der Wand.

Sie war ein Teil von ihm selber, diese Geige. Der beste Teil. Lebendig war sie und angefüllt mit Freude und Schönheit. Alles übrige war dumpf, gebunden und ohne Fröhlichkeit. Und dieser beste Teil war jetzt dort unten bei der Liesel. Der Schulmeister fühlte eine große, stille Zufriedenheit. Es war ja jetzt ganz gut so. Für seinen schweren und mühseligen Teil wußte er einen Platz, und für den lichten und freudigen Teil war gut gesorgt bei jener Frau.

Er setzte sich an den Tisch. Eine Menge beschriebener Notenblätter lag ringsum. Beim Weggehen vor ein paar Stunden hatte er sie achtlos umhergestreut, als er froh hervorsuchte, was drunten in der Mühle gespielt werden sollte. In seine Rocktasche griff er. Da war noch 174 die dicke Rolle, die ihm im Gehen gegen die Füße gebaumelt hatte, so daß der Krüppel, der hinterher kam, seinen Spaß daran hatte.

Beide Ellbogen stützte der Schulmeister auf den Tisch. War das vor Stunden gewesen oder vor vielen Jahren, daß er mit Heiner durch den Wald ging, und daß sie zusammen lachten und sich freuten wie zwei Buben, denen die Mutter den Baum schmückt?

War nicht früher einmal die Welt rein gewesen, ein kühles und fremdes, aber doch helles und sauberes Haus? Und jetzt war soviel Schmutz in allen Ecken! Schmutz an jeder Freude, nach der man griff.

Ein Gefühl ödester Einsamkeit überkam den Brütenden. Seine Mutter fiel ihm ein, die ihn so früh allein gelassen. Sein Vater, der hilflos und ungeschickt die Waffen im Kampf seines engen Lebens führte, bis er dann endlich doch fast wie ein Sieger mit keiner schlechten Gebärde durchs letzte Pförtchen hindurchschlüpfte.

Der Schulmeister lächelte. Dieser Vater war auch ein jämmerlich einsamer Mensch gewesen. Trotz Weib und Kind und Nachbarschaft. Das zählte da gar nicht mit.

Es war dem Sohn, als ob ihm jener Mann, an den er seitdem immer mit herber Bitterkeit, fast mit Verachtung gedacht hatte, aus der Ferne zunicke: ›Siehst du nun, wie das ist, das Einsamsein? Siehst du, wie einem alles unter den Fingern zu Schmutz und klebrigem Pech werden kann, daß man gar keinen Weg mehr sieht und keine Rettung? Ja, ja, das ist so bei uns. Du bist auch von meinem Blut.‹

Der Schulmeister richtete sich auf. Es fror ihn bis ins innerste Mark. Wenn er seine Geige gehabt hätte, jetzt hätte er sie von der Wand genommen. Aber es war leer über dem schmalen Bett. Hilflos gingen seine 175 Augen durch die Stube. Da sahen im Lichtkreis der Lampe schwarze Notenköpfe vertraut, wie grüßend, her.

Er streckte die Hand aus nach einem der halb aufgerollten Blätter, wie man sie nach einem Freunde streckt, den man im Gewühl fremder und drohender Gestalten auftauchen sieht. »Liebe, die für mich gestorben,« stand oben an dem Blatt und »Wolfgang Amadeus Mozart«.

Da nahm der Schulmeister einen Bleistift, der neben der Lampe lag, und schrieb etwas auf den weißen Rand des Notenpapiers.

Dann saß er lange und schaute das Geschriebene an mit gefurchter Stirne, wie einer, der schwere Gedankenarbeit tut.

Auf einmal begann die Lampe trüber zu brennen, als gehe ihr Oel zu Ende. Da strich der Mann durch, was er geschrieben, und schob die Rolle von sich mit einem halben Aechzen.

Niemand aber weiß, wann das Licht in der kalten Stube völlig erloschen ist.

✤           ✤           ✤

So ist kein Christfest je erlebt worden in Jakobshof und Breithof und Hohenweiler, wie das, an dem es auskam, daß sich der Schulmeister erschossen habe. Schon in der Nacht, die man die heilige nennt, nahm das Tosen in der Luft überhand. Es war kein Föhnsturm mehr mit vereinzelten, ausatmenden Stößen, es war ein wildes Rumoren ohne Ruhepausen, das von all den aufhorchenden Menschenohren auf der Höhe keines verstand, und vor dem doch manches Herz merkwürdig bange ward. Die Kinder aber, und von ihnen wieder die unmündigsten, die kaum erst stammeln konnten, die spürten das Grauen am deutlichsten, und sie schrien 176 gellend auf, ohne daß die Mütter den Grund kannten. Auch die Hunde in ihren Hütten, das Vieh in den Ställen, – alle Kreatur war voll Unruhe in jener Nacht.

Und am Morgen vor der Kirchenzeit ging das Weib, das dem Schulmeister aufwartete, in die Stube. Nicht um ihn zu holen. Denn er hatte schon den ganzen Winter für den Dienst auf der Orgel einen Ersatzmann.

Nur sehen wollte sie, wie es sei mit dem Frühstück und mit dem Feueranmachen.

Da lag der Schulmeister noch im Bett, das Gesicht gegen die Wand gekehrt.

Sie aber schlich sich zum Ofen und machte Feuer an, daß die eisernen Kacheln krachten.

Sie räumte auch den Tisch zusammen und sammelte die Papiere auf, die am Boden verstreut lagen.

Sie tat alles so leis, als man es tun kann mit neuen genagelten Schuhen an den Füßen. Und als ein paarmal die Dielen bös knarrten unter ihrem Tritt, da schaute sie erschrocken hinüber nach dem Bett an der Wand.

Aber der dort lag, rührte sich nicht.

Da dachte sie, er werde nach der bösen, ruhelosen Nacht einen tiefen Morgenschlaf gefunden haben.

Und es war auch so.

Vor dem Davongehen trat das Weib hinüber zu dem einsamen Schläfer, und da sah sie in seiner Schläfe ein kleines Loch. Ein bißchen schwarz und ein bißchen blutig. Sie tat keinen Schrei. Sie war ein verwitwetes Weib, das einen Säufer zum Mann und zwei wüste Raufbolde zu Söhnen gehabt hatte.

Da war ihr ein blutiger und bleicher Mannskopf nichts Fremdes. 177

Ganz still stand sie an dem stillen Bett. Ihre Hände, an denen noch Ofenruß klebte und die immer ein wenig zitterten, legte sie ineinander, ganz oben vor der Brust.

Den grauhaarigen Kopf senkte sie, wie wenn sie sich vor dem Sturm ducken wollte. Und so hat sie vielleicht gebetet. Weil doch immer da, wo gar nichts mehr für Menschenkraft zu tun bleibt, ein bißchen Beten das Letzte und das Beste ist.

Dann ging sie davon. Die Schulhausstaffeln langsam und mit schweren Füßen hinunter und nur um die Ecke in das rosig getünchte Häuslein, darin die Beth wohnte. Das kleine, bewegliche Leichenweiblein war fertig zum Kirchgang. Das Seidenband im steifen Zöpfchen, die Bändelhaube ums alte und noch so blühende Gesicht, das schwarze Kaschmirtuch kreuzweis über Brust und Rücken gebunden, so stand sie in der Stube vor dem mächtigen Ofen und rührte noch ein letztesmal das Sauerkraut um, daß es nicht anbrenne.

Aber als sie das Gesicht des Weibes sah, das ohne anzuklopfen eintrat, da schob sie den irdenen Topf fast jäh zurück und warf den Kochlöffel auf die Ofenbank.

Da ward in der Stube der Beth zum erstenmal das laut, was im Schulhaus drüben so ganz leis und abseits und in aller Stille sich abgespielt hatte, als eine Sache, die Gott und eine einzige Menschenseele angeht.

Und von Stund an nahm jeder von Jakobshof und Breithof und Hohenweiler den Mund voll, und sie schlugen mit ihren plumpen Hämmern den Fall breit wie altes Blech, und war ein Klirren und Rasseln und Dröhnen unter den Dächern da droben, als ob etwas Rechtes geschafft würde.

Der Pfarrer hat erfahren, was geschehen war, als ihm eben seine Mutter in der Wohnstube die Beffchen 178 umband. Denn unten in der Sakristei saß ein uralter, rissiger Ofen, der rauchte wie ein Kohlenmeiler, so daß der Pfarrer vorzog, daheim im nahen Pfarrhaus den Ornat anzulegen, solange die Winterkälte im Kirchlein lag. Des Pfarrers Mutter war eine kleine, zierliche Frau, die sich auf den Zehen recken mußte, wenn sie dem hageren, großen Sohn die Handreichung tat beim Ankleiden. Sie trug auf schneeweißem Haar ein Häubchen von schwarzen Spitzen, dazu auf der großen Nase eine goldene Brille, hinter der die Augen klug und etwas scharf blickten, als ob sie gewohnt seien, ringsum nach dem Rechten zu sehen.

Und weil sie als eines armen Oberlehrers Frau acht Kinder geboren und, früh verwitwet, sechs großgezogen hatte, so war nichts zu sagen gegen die helle Schärfe in diesen alten Frauenaugen.

In dem schwarzen Taffetkleid, das von ihres ältesten Sohnes Investitur herstammte, stand sie auf den Zehen hinter dem Pfarrer, als die Beth mit der Magd hereinkam und das Geschehene hastig erzählte.

Es ward zuerst eine große Stille in der Stube. Die Frauen sahen auf den Pfarrer, als ob der in diese quälende und dunkle Sache Licht und Frieden bringen müsse.

Aber er stand da mit völlig erblaßtem Gesicht und weit geöffneten Augen.

Sonst hatte er den steten, zusammengefaßten Blick der geborenen Maler, der keinen Weg ohne Ziel und keinen ohne Beute tut.

Nun aber war eine verwirrte Angst, ein hilfloses Flackern in diesen Augen.

»Oh,« stieß er dann hervor, »oh, er ist immer ein so feiner Mensch gewesen –« 179

Die alte Oberlehrerin sah mit seltsamem Blick auf ihren Sohn. Mit dem gleichen, halb gerührten und zärtlichen, halb belustigten Blick, mit dem eine Mutter ihr Kind ansieht, das einer ernsten und bedeutsamen Sache auf kindliche, treuherzige Weise beikommen will.

»Er hat gewußt, daß er nicht zu heilen ist, da hat er in einer bösen Stunde ein Ende gemacht,« sagte sie, zu Beth hingewendet. Und nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Wir wollen keinen Stein auf ihn werfen.«

Der Pfarrer gab sich einen Ruck und trat ganz nahe an das Leichenweiblein. Es war, als ob ihn ein neuer Gedanke ganz belebt hätte.

»Vielleicht ist er nicht tot, Beth, vielleicht hat er es gar nicht selbst getan. – Er hat doch seine Musik gehabt –«

Das Weiblein fuhr sich mit der Schürze über die Nase.

»Tot ist er, und e' Löchle hot er im Kopf, und sei' Pistol hot er bei sich im Bett. – Sei' Geig' hängt nemme do. Aber die hätt' do au' nix g'holfe'.«

Der Pfarrer sank trüb in sich zusammen. »Ich will zu ihm, ich will ihn sehen, ich glaub's nicht,« sagte er leis und mutlos.

Da sind die vier schweigend aus der Stube gegangen wie gescholtene Kinder und über den gepflasterten Hof hinten her ans Schulhaus.

Dem Pfarrer lüpfte der Wind das rote, naßgekämmte Haar, das glatt und spiegelnd über der blassen Stirn lag, und zauste den Ornat und die frischgeplätteten Beffchen, die noch nicht recht saßen, wie sie hätten sitzen sollen.

Das Taffetkleid der alten Frau rauschte und knisterte neben dem Sohn. Und hinterher kamen mit flatternden Haubenbändern die Beth, die, ohne daß sie's vielleicht wußte, ihr großes Gesangbuch kirchgangbereit im Arm trug, und die Pfarrmagd, die über das 180 Sonntagsgewand die grobe Arbeitsschürze gebunden hatte. Sie gingen stumm und geduckt und ohne Hast den kurzen Weg und sahen oder beachteten nicht, wie neben und hinter ihnen schon andere dem nämlichen Ziel zustrebten, jenen Bienen gleich, die in der Ferne merken, wenn irgendwo ein Honigtopf zerbrochen ist.

Aber an der Türe, hinter der der Schulmeister lag, wachte die Beth auf aus ihrer Versunkenheit und wies kraft ihres Amtes alle die Zaungäste zurück.

Die Magd aber in Angst und Scheu und die Beth aus Bescheidenheit blieben an der Türe innen stehen und ließen den Pfarrer und seine kleine Mutter allein an das Lager treten.

Sie gingen langsam hinzu und standen stumm und reglos neben dem Manne, dem die Weiber schon das bißchen Blut und das bißchen Ruß von der Schläfe gewaschen hatten.

Und im Stehen an diesem stillen Bett verloren des Pfarrers Augen das Unruhige und die Augen der Frau die rasche Schärfe. Mutter und Sohn gaben sich in den Bann des tiefen, versöhnten Friedens, der auf dem bleichen Gesicht lag.

Draußen begannen die Glocken zu läuten, läuteten ein paar Minuten und verstummten jäh, als sei ein Schrecken in das klingende Erz gefahren.

Dann gingen die Türen in allen Gassen, und es fing ein stummes, seltsames Gelaufe an, dem sich wie in Neugier und ohne fürwitziges Bellen die Hunde anschlossen und die Kinder, die unter dem hellen, frischgestrählten Haar verängstigte Gesichter hatten.

Vor dem Schulhaus aber und auf der Staffel gab's ein schiebendes Gedränge ohne viel Lärm. Dann und wann ging wie eine weitergegebene Losung ein Wort 181 durch die unruhigen Reihen, ein leises Wort, das ein Kopfschütteln auslöste oder ein trauriges Nicken. Und über all dies hin wehte der laue Wind, der oft etwas wie ein Schluchzen durch die Gassen trug.

Es ward aber Kirchenzeit, und der Pfarrer blieb immer noch hinter der verschlossenen Tür.

Die Uhr schlug vom Turm, und bei den klingenden Schlägen schauten viele empor, als fühlten sie es als eine straffe Härte, daß nicht auch die schreitende Zeit haltmachte bei solchen Gelegenheiten.

Der Stundenwilhelm stand etwas abseits von den andern. Er hatte die Kappe abgenommen wie in der Kirche, und seine kleinen, geröteten Augen blickten unruhig und gequält bald die Gasse hinunter, bald hinüber auf die geschlossenen Fensterläden an des Schulmeisters Stube.

Es war zu sehen, daß er sich nicht zurechtfand im wilden Strudel des Geschehens. Er, der die paar Schwalbennester im Dorf vor beschleichenden Katzen hütete, er, der für jede Kuh, die in den Jakobshofer Ställen vor dem Kalben stand, betend vor den Schöpfer trat, er war ganz zerschlagen von dem Unbegreiflichen, das da über Nacht gekommen war und den glatten Gang der Dinge wild zerrissen hatte, daß die Fetzen flatterten.

Und auf einmal fing er an, die Kappe in den blauroten Händen zu drehen und mit weinerlicher, singender Stimme zu klagen: »Es ist mir leid um dich, mein Bruder Jonathan; ich habe große Freude und Wonne an dir gehabt; deine Liebe ist mir sonderlicher gewesen, denn Frauenliebe ist –«

Die Jakobshofer schauten hinüber auf den Wilhelm, dem der Wind durchs Haar fuhr und den kurzen Kittel an den Schößen faßte. 182

Da und dort verzog sich ein Mund, als sollte es ein Lachen geben, aber es wurde nichts Rechtes. Das Unheimliche, das die Narren und die Heiligen Gottes haben, lag um den klagenden Kretin.

Und die Gasse herauf kam jetzt der Heiner Neuhaus.

Barhäuptig kam er, aschgrau im Gesicht. Seine großen, grellen Augen gingen über die Menge hin und sahen sie nicht.

Man machte ihm Platz. Eine Gasse bis hin zu den steinernen Staffeln und der braunen Tür.

Und da schritt er hindurch, rasch, ohne Zögern.

Wie er aber oben stand vor der Tür und nach der messingenen Klinke griff, da sank auf einmal sein schwerer Kopf vornüber gegen das braune Holz, und man hörte ein Aechzen.

Der Pfarrer mit seiner Mutter trat jetzt aus der Schulhaustür.

Er sah aus wie durchfroren und durchschüttert. Mit dem Uhrmacher stieß er fast zusammen. Sie standen dann voreinander, hilflos und verscheucht wie Gehetzte, die nicht mehr weiter können.

Da fuhr des Pfarrers Mutter dem Krüppel über den Kopf und sagte: »Es ist ihm wohl –«

Und dann winkte sie mit der Hand über die Menge hin und gebot laut: »Gehet jetzt, es ist Kirchenzeit, der Frieder soll läuten.«

Ein langer, dürrer Mensch machte sich aus dem Haufen los und steuerte mit schnellen Schritten der Kirche zu. Dann begannen die Glocken zu läuten, lauter fast und dringlicher denn sonst, als hätten sie, oder als hätte der lange Frieder begriffen, daß der Gaul sich muß desto mehr in die Stränge legen, je tiefer der Karren im Graben steckt. 183

Langsam zogen die Jakobshofer der Kirche zu.

Der Pfarrer und seine Mutter schritten voraus. Die Magd aber lief über den Pfarrhof, die losgebundene Arbeitsschürze in der Hand, ihr Gesangbuch in aller Eile zu holen.

Nur die Beth war noch bei dem Toten.

Als aber der Heiner Neuhaus in die kahle Stube trat, da nahm auch sie ihr Buch vom Tisch des Schulmeisters und ließ die zwei Freunde allein. –

In der Kirche war heute keine rechte Ruhe. Vielleicht klang das Singen nicht ganz so dünn und verschleppt wie sonst, weil doch aus aufgerüttelten Seelen leicht die Blasen steigen, wie aus geschütteltem Trank.

Aber als der Pfarrer die Kanzeltreppe erstieg, schlugen alle die Bücher zu mit ganz anderer Erwartung denn sonst. Danach, da alles stand und das Scharren der Füße, das Räuspern und Husten schneller als sonst verstummt war, war es der Wind, der langgezogen und winselnd um den Turm heulte, als wollte er heute vor allem Menschenwort gehört sein. Der Pfarrer stand da droben mit schief geneigtem, blassem Kopf, horchend und selbstvergessen.

Nach viel zu langem Warten fing er zu beten an. Aber es klang dumpf und ohne Hall, als wäre eine würgende Hand an des Sprechenden Kehle gelegt.

Die Oberlehrerin hatte ihr knisterndes Festkleid sorglich um sich ausgebreitet. Ihre kleinen, zerarbeiteten Hände in den schwarzseidenen Halbhandschuhen lagen gefaltet in ihrem Schoß. Die goldene Brille saß ganz tief auf der großen, männlichen Nase.

Und über diese Brille hinweg sah die alte Frau mit zwingendem Blick auf den Sohn. ›Wolf‹, dachte sie, ›mein Bub, jetzt nimm dich halt zusammen! Du hast 184 doch gesehen, daß der Schulmeister im Frieden ist. Jetzt laß ihn! Zerre ihn nicht vor den hartholzenen Bauern noch einmal auf aus seinem guten, tiefen Schlaf! Von den Engeln auf dem Felde und dem Kind in Bethlehems Stall hast du zu reden. Die dunklen Wogen alle, die gegen dich herbranden, die gehen keinen Jakobshofer an und keinen Filialisten; die trage nur heim mit dir. Dorthin, wo du deine allerbesten Predigten hältst, die gemalten, die dir von selber aus der Quelle fließen, ohne Schwengel und Pumpe.‹

So dachte die Mutter, und ihr scharfes, altes Gesicht wandte sich nicht von dem Sohn.

Da mußte der herschauen, und es ward still in ihm.

Er las den Text und sprach von dem Kind im Stall und kein Wort von dem Schulmeister.

Die Breithofer aber, die auf der linken Empore saßen, die sagten nachher untereinander, eine Krähe hacke der andern die Augen nicht aus, und als sich der Schlosserkarl von Breithof gehenkt habe, da hätten die Jakobshofer Kirchenwände andere Worte gehört.

Des Totengräbers Kätter strich sich das glatte Haar noch glätter unter die Haube, deren breite Bänder sie von den tauben Ohren zurückgeschoben hatte, als sei da etwas gewonnen.

»So,« sagte sie zum alten Waldschützen und zu ihrem Mann, die neben ihr über die Gasse schritten; »so, es hot ihm ebbes g'hört dem Schulmeister; aber gar so arg hätt's der Pfarrer net mache' solle'. – Er ist halt e kranker Mann gwe' und hot net 'nausg'sehe' –«

Der Totengräber lachte. Sein hartes Gesicht sah ohne die Pfeife noch härter aus. »Du Kuh, du dumme!« murmelte er. 185

Der Waldschütz blieb einen Augenblick stehen. Seine steifen, dürren Kniee in den Lederhofen zitterten, und seine wimpernlosen Aeuglein gingen in die Ferne. »Weiß Gott,« sagte er leise, »e' guets Wörtle hätt' heut scho' dem Schulmeister g'hört! Wer so hot geige' könne, der kann net 's Teufels sei'.«

Die Beth aber ging eilends heim in ihr kleines Häuslein. Sie rührte ihr Kraut um, zog einen andern Kittel und eine andere Schürze an, hielt ihre einsame Mahlzeit und wusch das Geschirr.

Hastig tat sie alles, und ihre rotgeäderten Bäcklein blühten wie Rosen.

Und als sie beim Geschirrspülen war, da hielt der Deckel nicht mehr dicht, der über ihrem brodelnden Innern lag, und sie fing an, mit sich selber zu reden.

»Herrgott,« sagte sie, »hätt's jetzt dem Pfarrer 's Maul verbrennt, wenn er nur e' einzig's Wörtle g'sagt hätt' vom Schulmeister? Hätt' er meintweg' g'schimpft wie e Rohrspatz! No net grad gar nix, wie über e tote Katz! Aber wenn halt d' Pfarrer Moler send, no hänt se de Kopf net bei ihrem G'schäft. Sei no z'friede', Schulmeister! Sobald i' g'spült han, komm i' zu dir und bet mit dir. Wenn i' no noch nie en schlechtere als di' hätt' ei'wickle müesse!«

Murmelnd führte sie ihre hastige Arbeit zu Ende und ging, die Türe hinter sich abschließend, was sie immer nur tat, wenn sie besuchenden Nachbarsweibern andeuten wollte, daß sie aus dienstlichen Gründen und für längere Zeit abwesend sei. Mit kurzen, schnellen Schritten ging sie dem Schulhaus zu und die Staffeln empor.

Aber als sie leise in den hallenden Flur und vor des Toten Türe trat, da hörte sie drinnen sprechen, als 186 redeten zwei miteinander. Sie horchte eine Zeitlang, ohne etwas zu verstehen. Aber als sie ohne zu klopfen auftat, war nur der Heiner Neuhaus da. Denn den andern durfte man doch nicht mehr rechnen. –

Einen Stuhl hatte sich der Krüppel an den Tisch geschoben, und da saß er, den Kopf über ein Blatt gebeugt, auf dem Noten standen.

Er sah auf, als das Weib eintrat und sein Gesicht war verschwollen wie vom Weinen, entstellt wie von Martern. Die Beth nickte einen stummen Gruß. Ob sie ein redefertiges Weib war, sie merkte auch, wenn die Zeit zu schweigen da war.

In einer merkwürdig behutsamen Art schritt sie an dem Lebendigen vorüber zum Lager des Toten, und es war nicht recht zu unterscheiden, ob ihre Lindigkeit diesem oder jenem sollte gelten.

Wie es der Tote aufnahm, war nicht zu sehen. Aber Heiner Neuhaus bekam auf einmal zitternde Lippen wie Kinder, ehe sie zu weinen beginnen. Und dann stand er auf und ging aus der Stube.

Die Beth sah hinter ihm her nach der Türe, fuhr sich langsam mit der Hand über die Nase und sagte laut: »Den packt's hart.«

Dann zog sie sich den Stuhl neben das stille Bett, faltete die spröden Hände, schnaufte ein wenig und fing an zu beten: »Lieber Herrgott, hab' ein Einsehe' mit dem Schulmeister!« Aber sie kam nicht weiter. Der Wind rüttelte wilder als je an Läden und Türen und an den kahlen Ebereschen da draußen.

Da schaute sie verstummt auf den stillen Mann, der die Türen dieser unruhigen Welt hinter sich zugemacht hatte. Ein Sinnen und Grübeln kam über sie, wie das möglich sei, daß zu dem winzig kleinen Löchlein an dem 187 blassen Kopf nun all das junge Leben, das Geigenspiel, die Freundschaft mit dem Krüppel und dem Pfarrer, das Orgeln in der Kirche und die ganze Schulmeisterei sollten hinaus sein.

Ganz unmöglich kam es ihr auf einmal vor, daß nur der einzige kurze Schuß den Schulmeister hingestreckt habe. Und plötzlich fiel ihr ein, daß ja noch kein Doktor an dem Bett gestanden sei, daß noch alles mögliche zu tun war.

Sie stand auf und beugte sich über das Lager. »Schulmeister, sobald älles b'sorgt ist, bete' wir miteinander.« Sie strich sacht über die weiße Decke und ging auf den Zehen hinaus. Und ehe sie die Tür schloß, wirbelte ein Windstoß noch hastig herein, der ihr fast die Klinke aus der Hand riß.

Sie sah das Papierblatt vom Tisch weggefegt werden und aufs Bett hinüberflattern, und sie fing an zu murren, daß der Krüppel bei solchem Wetter die Haustüre offengelassen habe beim Weggehen. Das Blatt ließ sie liegen.

✤           ✤           ✤

Am frühen grauen Nachmittag trat Doktor Gothe an das Bett.

Der Schultheiß war dabei und die Beth, der Pfarrer und der Ulrich vom Gäßle, der Schreiner.

Die vier standen stumm neben dem Tisch, als der Doktor ans Lager hinschritt.

Der Schultheiß blickte nicht anders als sonst: so, als sei er jeder Lage gewachsen und als könne ihn nichts überraschen.

Der Pfarrer hatte ängstliche Augen, die blank und unruhig hinter dem Doktor hergingen. 188

Die Arme in die Hüften gestemmt, stand die Beth mit ernster Amtsmiene, bereit, vorzutreten, wann es gewünscht würde.

Der Schreiner aber kratzte sich mit dem zusammengelegten Maßstab bald im Haar, bald an seinem linken Arm und blickte sich dabei in der Stube um, ob die Türen, das Fußgetäfel und Holzwerk, das er vor Jahren beim Schulhausneubau geliefert, noch fugenlos und im Stand sei. Er war sich als ein nüchterner und hellsehender Mann völlig klar darüber, daß seine Rolle in der Schulmeistersaffäre durch das Gutachten des Doktors auf keinen Fall beeinflußt werden könne. Ob einer auf diese oder jene Art dahingestreckt lag – das hölzerne Kleid brauchte er immer.

Doktor Gothe hängte ganz sachte seinen Schlapphut unten hin an den Bettpfosten. Dann rieb er rasch die Hände ineinander, als wolle er sie gelenkig machen, und beugte sich über den Toten. Dem aber war das Blatt Papier mitten auf die Brust gewirbelt, so daß es dalag, wie des Hohenpriesters geheimnisvolles Schild.

Der Doktor hatte in seinen kleinen, raschen Augen den Blick für solche Dinge. Er nahm das Blatt empor und sah es an und stand reglos, ein Zucken im Gesicht. Weil aber die andern nur den breiten, ruhigen Rücken sahen, so plagte sie weiter keine Neugier, was fürder wohl mit dem Papier geschehen könne.

Nur der Pfarrer trat einen Schritt vor.

Doktor Gothe legte das Blatt zusammen und steckte es in die innere Brusttasche in seinem alten Rock, wo auch das schwarze Buch steckte. Dann machte er weiter in seiner stillen Arbeit.

Zuletzt richtete er sich auf und winkte kurz dem Schreiner. »Da, Ulrich, nimm ihm das Maß; aber nicht 189 knapp! Der wächst nach seinem Tod noch, der Schulmeister. Bei seinem Vater war's auch so – es ist ein Erbstück.«

Der Schreiner sah den Sprechenden seltsam an. Aber aus dem geröteten Gesicht schauten des Doktors Augen nicht, als ob es sich um schlechte Späße handle.

Und der Ulrich nahm das Maß reichlich, schrieb alles in sein Buch und reichte dieses dann dem Doktor hin. »Wenn i' jetzt no' zwei Zoll zugib, wird's no' recht?« fragte er.

Der Doktor nickte ohne Lächeln, fast müd' mit dem Kopf, winkte gegen die Tür und sagte: »Mach' voran, Ulrich, es ist kein Wetter jetzt für die Toten.«

Da stülpte der Schreiner seine schwarze Kappe auf und ging.

Der Doktor setzte sich an den Tisch und schrieb einen Schein, den er dem Schulzen übergab.

»So, Herr Schultheiß, das wär' nun das Nötige. Wir können ja morgen weiter verhandeln. Heute ist Festtag. Ich danke Ihnen.«

Der Schultheiß schaute auf den Toten hinüber und sagte mit seiner lauten, unbewegten Stimme: »Also Selbstmord wegen unheilbarer Krankheit –«

Der Doktor machte eine Bewegung mit dem Kopf, daß ihm das lange Haar in die Stirne fiel.

»Ganz richtig,« sagte er, »ganz richtig. Nur sind einige Komplikationen da, die den Fall zu keinem gewöhnlichen stempeln. Das Pathologische in der Psyche, diese Psychose, wissen Sie, dazu hereditäre Belastung, neurasthenische Erscheinungen, Neuropathie, etwas Hypochondrie – kurz, der Schuß im Kopf ist das wenigste.«

Der Pfarrer schaute verwundert und verwirrt, der Schultheiß ruhig und fest auf den Doktor. 190

»So, so,« murmelte er; dann nahm er seinen Hut vom Tisch und ging mit kurzem, ernstem Gruß, seinen Stammtisch im Lamm wieder aufzusuchen, den er dieser amtlichen Schau im Schulhaus zulieb verlassen hatte.

Die Beth wartete kaum bis sich die Tür hinter dem Gestrengen geschlossen hatte. Dann trat sie auf den Doktor zu und legte ihm voll Eifers die Hand auf den Arm. »Net wohr, Herr Doktor, es hot ihm no' ebbes anders g'fehlt, dem Schulmeister? An dem Löchle im Kopf ist er net g'storbe. Des is jo e' Löchle, kaum größer als e' Erbs. I' hans doch denkt, er müss' no' e' innerlichs Leide' g'hät han, e' ganz versteckts, wo kei Mensch nix dervo' g'wißt hot. Sei' Kranket auf der Brust hätt' ihn au' no' lang net umbracht.«

Sie sprach ganz erregt, und die geäderten Bäckchen waren röter, die hellen Augen belebter als je.

Der Doktor strich sich das Haar aus dem Gesicht und nickte langsam.

»Sieh,« sagte er, »die Beth ist gescheiter als ein Schulze. Die sieht von selber, was ich dem erst langes und breites auf lateinisch habe sagen müssen. Ja, weiß Gott, innen, ganz innen hat's dem Schulmeister gefehlt. Der liegt nicht da als so ein ganz gewöhnlicher Selbstmörder.«

Sie schauten jetzt alle drei zu dem stillen Mann hinüber, der nicht ja und nicht nein sagte zu all dem, was sie über ihn und sein Leiden und sein Verschulden verhandelten. Ganz reglos blieb sein bleiches Gesicht, das der dunkle, wenig dichte Bart umrahmte, und die Hände lagen friedlich gefaltet auf der weißen Decke.

»Beth,« sagte jetzt der Pfarrer ganz leise, »gelt, Ihr lasset uns jetzt ein wenig allein bei ihm.« 191

Der Doktor nickte, ohne sich umzusehen, und das Weiblein blickte von einem der Männer zum andern.

»I' weiß scho',« meinte sie dann kopfnickend, »die Herre wöllet mit ihm bete – i' gang glei'.«

Und sie schüttelte und strich noch ein weniges an der Decke des Toten und ging dann, die Türe so leise zuziehend wie eine Mutter, die ihr ruheloses Kind eben mühselig eingeschläfert hat und nicht sicher ist, ob der Schlaf schon tief sei, oder ob sie von einem furchtsamen Stimmchen zurückgerufen werde.

Es rief sie niemand.

Die beiden Männer standen stumm neben dem dritten. Nach langer Zeit sagte der Doktor, und es war, als ob ein schwerer Seufzer hinter seinem Worte herklänge: »O Lappenschneidersbub!«

Der Pfarrer nickte und fragte: »Haben Sie gelesen?«

Da zog der Doktor jenes Papier aus seiner Tasche, faltete es langsam auseinander und sah lange darauf hin.

»Requiem von Wolfgang Amadeus Mozart« stand da, und unten mit Bleistift geschrieben und wieder ausgestrichen eine weitere Strophe:

Liebe, die sich tot gekränket,
Die für hartgequälten Herzens Ruh
Gerne in ihr Grab sich senket,
Zürn' ihn nicht, ob sie das Falsche tu. 
Einmal will im Tod ich sagen,
Was ich sonst nicht sagen kann:
Hört dies Herze auf zu schlagen,
Starb für dich der treuste Mann.

Die Schrift aber und der dicke Strich, der hindurchging, waren verwischt von Tränen.

Kein Laut in der Stube. Nur draußen des stoßweisen Windes Wimmern und in des Toten Bett 192 zuweilen ein ganz feines Knistern wie von rieselndem Sand. Denn er lag auf frischem Roggenstroh, der Schulmeister. Und wenn einer tot ist und auf Stroh liegt und eine tote Mutter hat, dann kann man immer dieses Knistern hören, weil Mutterhände das letzte Bettstroh in Ordnung halten.

Der Doktor steckte das Papier ein und nahm seinen Schlapphut vom Bettpfosten. Und ohne den Pfarrer anzusehen, fragte er: »Verstehen Sie nun das?«

Nicht sogleich und dann sehr leise kam die Antwort: »Für die Frau vom kalten Grund.«

Der Doktor sah den andern rasch an und blickte dann wieder nach dem Toten hin. »Ja,« murmelte er, »ich brachte ihn in das Uhrmacherhaus, damit ihn der Krüppel zum Musiker mache. Jetzt hat ihn auch noch die Schwester zum Dichter gemacht. Ich habe einmal wieder gut gezielt und schlecht getroffen. Der Müller vom kalten Grund, dieser Stier, der jedes Blümlein zertrampelt, muß über den Weg gekommen sein. Das da sind seine Fußstapfen. Sie sind mir nicht fremd. Ein paar Jahre noch, dann wäre wahrscheinlich der Mann dort sowieso um die Ecke gewesen. Aber der Sprößling des Lappenschneiders hatte das Heroische im Blut. Er hat nicht warten können. Nicht zahm sterben wie andere Leute. Hinter einem sanften Geigensolo her dieser schmetternde Posaunenstoß. – Der Vater hat es ähnlich gehalten. Nur war's dort statt der Geige ein Dudelsack.«

Der Doktor warf plötzlich seinen Schlapphut aufs Bett und beugte sich tief über den Toten hin. – Du, du, du –« er sagte sonst nichts. Wie erstickt klang's.

Da rieb der Pfarrer sich hastig die Stirne und hatte ganz hilflose, verstörte Augen. 193

Sie setzten sich danach beide an den Tisch. Der eine hüben, der andere drüben, als seien sie zu Wächtern bestellt in der kalten Stube.

»Ich meine,« sagte der Doktor mit wieder fest gewordener Stimme in die Stille hinein, »es ist das Beste, wenn ich ihn hinunterholen und neben seiner Mutter begraben lasse. Die Dickköpfe da oben legen ihn sonst in die Ecke neben den Schlosserskarle, der sein Leben verludert hat mit Schnaps und Weibern und einer Schlinge aus Hanfseil. Und die sogar hatte er seinem Nachbar gestohlen.«

Der Pfarrer gab nicht sofort Antwort. Auf seiner breiten Stirne unter dem glatten Haar stieg es finster auf. »Nein,« sagte er dann hart: »bei uns soll er bleiben; ich werde sorgen, daß er einen ehrlichen Platz bekommt.«

Der Doktor schaute über den Tisch hin und spielte mit einem Bleistift, der auf der Platte lag. Er nickte ein paarmal und lächelte. Dann warf er den Stift weg und sagte: »Weiß Gott, man sollt' meinen, es sei nicht allzu schwer, einem Dorf klar zu machen, was für ein Unterschied ist zwischen dem Schlosserskarle und dem dort. Aber ich halte jede Wette, es heißt in Jakobshof: Gehenkt ist wie erschossen.«

Der Pfarrer nickte. Sein blasses Gesicht begann etwas Farbe zu bekommen. »Ja, sie sind wie hartmäulige Rosse.«

Der andere fuhr sich rasch durchs Haar. »Lieber den Tannen im Wald wollt' ich predigen, als denen da. Aber des Pfarrers Sache ist's jetzt, den toten Schulmeister den Bauern aus den Mäulern zu reißen. Und wenn er das nicht fertig bringt, dann soll er ein Besenbinder werden oder ein Kesselflicker, oder zu was er sonst das Zeug hat.« 194

Der Pfarrer gab keine Antwort. Er hatte den Bleistift ergriffen, der ihm auf der Tischplatte entgegengerollt war, als ihn der Doktor wegwarf.

Und ganz langsam begann er damit auf das helle Holz zu zeichnen, ganz langsam, aber mit prachtvoll sicheren Strichen.

Zuweilen hob er scheu den Kopf und scheu sah er hinüber auf das Bett und wieder auf seiner Hände Werk.

Der Doktor riß plötzlich die kleinen Augen auf und spitzte den Mund, als ob er pfeifen wolle. Aber er blieb ganz still, und nur der Föhn wimmerte vor den Fenstern. Da ward auf dem Tisch eines hageren, bärtigen Mannes ausgemergelter Kopf und darum die Krone von Dornen, die der größte König dieser Welt getragen hat, ein Vorläufer all der kleineren Brüder, die sie auf Erden schleppen sollen.

Klar und rein kam das Bild heraus. Hinter den eingesunkenen, geschlossenen Augen, um den schmalen und festgepreßten Mund lag eine Welt voll Schmerz und Liebe. Des Heilands eigenste Welt auf den Zügen des unbeholfenen Schulmeisterleins von Jakobshof.

Und als der letzte Strich getan war, da deckte der Pfarrer die Hand vors Gesicht und schluchzte.

Nicht im Leid um den Toten, sondern aus der zitternden Erregung heraus, die den packt, der sich schaffend als das Werkzeug einer großen, heiligen Kraft fühlen durfte. Der selige Schmerz des Zermürbtseins von seiner Kunst trieb dem Pfarrer die Tränen in die Augen und das Schluchzen in die Kehle.

Der Doktor hatte ein feuerrotes Gesicht. Er stand auf von seinem Stuhl, und die Hand, die er auf die Tischplatte stützte, zitterte heftig. 195

»Sie,« stieß er ganz rauh hervor. »Sie sind auch einer von den Gottgezeichneten. Auch so ein Lappenschneidersblut. Warum sagen Sie denn, daß Sie ein Pfarrer seien, Sie – –? Behalten Sie ihn da, den Schulmeister. Schaffen Sie ihn unter den Boden. Ihnen ist da ein Bruder gestorben. Den werden sie schon nicht verschimpfieren lassen.«

Er lief nach seinem Hut, stand an dem Bett still, sah von dem blassen Kopf nach dem Abbild auf dem Tisch und wieder auf den Toten.

Dann brach's aus ihm heraus: »Ernst, Ernstle, du Bub – der da, der Pfarrer, kennt dich. Besser noch, als ich dich gekannt habe. Ich bin doch immer ein Stümper – er tut dich in Ehren unter den Boden –«

Rasch kehrte er sich ab und schritt ohne Gruß zur Türe. Der Pfarrer aber stand von seinem Stuhl auf und ging, ohne noch einen Blick auf das Bild oder das Modell zu werfen, hinter dem Doktor her, als fürchte er sich, allein bei dem Toten zu bleiben.

Sie gingen die Gasse hinunter, in der Staub und welke Blätter vor dem Wind hertanzten und da und dort scheue Menschengruppen am Weg standen.

Der Doktor rasch voraus mit kurzem Tritt, der Pfarrer ein wenig zurück, wie ein Bub an des Vaters Rockschoß.

Vor dem Wirtshaus stand des Doktors Chaischen noch eingespannt. Der dicke Braune hob seinen Kopf dem Herrn entgegen und fing an, mit dem Huf zu scharren.

Der Wirt eilte herzu und nahm dem Gaul die Decke ab. Und indem er sie umständlich zusammenlegte, gingen seine Augen von dem einen der Herren zum andern.

»Ist er also richtig tot?« fragte er dann vorsichtig. 196

»Maustot,« entgegnete kurz der Doktor und setzte den Fuß aufs Trittbrett.

Der Wirt stopfte die Gaulsdecke hinten zwischen das zurückgeschlagene Verdeck. »Sternsakkerment,« murmelte er gut hörbar, »und selber, selber – –«

Da zog der Doktor den Fuß noch einmal zurück und stand stramm und aufrecht.

»Was, selber –!« stieß er zornig hervor. »Seid Ihr gescheiter als ich? Und ich weiß heut nicht, an was er eigentlich gestorben ist. Vielleicht weil heuer der Wind im Dezember weht, wie sonst im Frühling, oder weil er seinen eigenen Buckel noch nicht gesehen hat. Vielleicht auch, weil da oben die Stiere jedes Blümlein zertrampeln, oder weil er ein Leiden in sich gehabt hat, das einen Gaul umbringt. Ich weiß es nicht, und Ihr wisset's auch nicht. Nur nicht sein Maul in Sachen hängen, die man nicht versteht. Was über dem Schulmeister seinen Tod zu sagen ist, das will ich schon in den Schein schreiben. Ihr Jakobshofer möget von seinem Leben reden, das eines rechten und braven Mannes Leben gewesen ist.«

Das Chaischen ächzte in allen Fugen, als der Doktor jetzt hastig wie im Zorn hineinstieg und sich zurechtsetzte. Er nahm Leitseil und Peitsche und nickte dem Pfarrer zu, der wortlos neben dem Wirt stand.

Dann zog der Braune an, und der Wind ließ des Wagenlenkers langes Haar, des Gaules Mähne aufflattern.

Langsam ging der Pfarrer den Weg zurück.

In des Schulhauses Türe aber schlüpfte die Beth, die keinen ihrer stillen Kunden so allein wissen wollte.

Beim letzten Licht des kurzen Tages, das die Stube noch füllte, sah sie, was der Pfarrer auf den Tisch 197 gezeichnet hatte. Erschrocken stand sie, und sie hob die Schürze, als wolle sie alles wegwischen.

»Der Herr Christus!« kam es ihr vom Mund, und dann setzte sie ganz langsam, fast traurig hinzu: »Soll des jetzt 'betet sei'?«

Sie ließ die Schürze sinken und sah mit aufgestützten Händen auf das Bild.

Lang stand sie so vor dem hageren Kopf mit der Dornenkrone. Dann holte sie ein Tüchlein und deckte es über des Toten Gesicht.

»I' gang' für heut',« murmelte sie dabei, »aber der Herr Christus bleibt bei dir –«

Und sie schloß leise beide Fensterläden, zog die Türe hinter sich zu und drehte den Schlüssel um.

Als sie aber schon auf der Gasse war, stand sie noch einmal still und sagte: »Ei, jetzt han i' erst au' wieder net mit ihm 'betet.«

Aber sie kehrte nicht zurück und lächelte vor sich hin.

Der Doktor fuhr heim durch den dunkelnden, einsamen Wald. Das festgebremste Wägelchen ächzte auf der steilen Steige, und obenher fuhr der unruhige Wind.

Der Braune ging fast im Schritt, als sei er am Einschlafen; aber der Doktor rüttelte ihn nicht auf.

Ihm eilte nicht, aus der Einsamkeit wieder hinaus zu kommen.

Ein paarmal blätterte er und las in seinem Schreibbuch. Dann steckte er's ein und sah gedankenvoll seitwärts, wo die Tannenwipfel aus der dunkel werdenden Bachschlucht aufstiegen.

Und er fing an, in das Geknarre und Geächze seines Wägeleins hinein laut mit sich selber zu reden, wie es in der Einsamkeit gern seine Weise war. 198

»Sieh, sieh, dieser Pfarrer! Auch so ein Zweifarbener: außen grau und innen rosenrot. Ich hab' wohl gewußt, daß sie ihn den Malerpfaffen schelten. Aber daß es so ist mit ihm, daß er so stark auf die Windseite hängt, das dachte ich nicht. Da muß es wohl ordentlich brausen und blasen in ihm. Heut hab' ich gesehen, wo sein Schatz ist; da ist gut wissen, wohin sein Herz neigt. Zu den Lederhosen und ihrem Seelenheil nicht.«

Er lächelte selbstvergessen vor sich hin. Dann schaute er wieder auf und murmelte: »Wer weiß denn, wer weiß denn! Pinsel und Stift ist auch nicht schlechter, als ein Maul voll Sprüche. Jeder soll den Pflugsterz nehmen, der ihm zunächst bei der Hand ist, dann wird mit der Zeit der ganze Acker umgebrochen. Ob Pfarrer, ob Maler, ob Doktor – alle schaffen wir am gleichen. Am Ast müssen wir sägen, auf dem wir sitzen. Der Pfarrer muß jedem seinen eigenen Herrgott, der Künstler jedem die eigene Freude, der Arzt jedem die eigene Gesundheit in die Hand drücken, so daß man auf der weiten Welt uns nicht mehr braucht. Noch ist der Ast schön dick. Es gibt noch lang zu sägen. Aber jeder tut, was er kann.«

Er schwieg und sank wieder in sich zusammen, und seine Gedanken nahmen trübere Wege. Sie gingen um den Schulmeister, dessen kurzes Leben nun verhallt war, wie einer springenden Saite Ton.

Seiner Schwester sagte der Doktor an jenem Abend nicht mehr, wie Ernst Eisenreich, ihr einstiger Hausgenosse, gestorben. Er meinte bei sich selber, es sei nicht gut, wenn tastende Finger über ein Bild geraten, dessen Farben noch nicht trocken sind. 199

✤           ✤           ✤

In jener heiligen Nacht aber, als der Müller sein Haus säuberte von ›Kupplern und Ehebrechern‹, saß die Müllerin in der weiten, einsamen Stube, wie ein Vogel, den der Sperber in eine dunkle Ecke gejagt hat und der sich zitternd nicht mehr hervortraut. Das Regele räumte in später Stunde den Tisch ab und trug das unberührte Essen hinaus. Sie ging mit finsterem Gesicht und festgepreßtem Mund ab und zu. Sie wußte, daß nichts mehr zu kitten ist, wenn die Scherben und Splitter in alle Ecken flogen.

Doch ehe sie zum letztenmal die Türe hinter sich zumachte, trat sie zu der stummen Frau, die in ihrem festlichen Kleid nahe beim Tisch saß, und redete kurz und hart und leise auf die Reglose ein.

Und dann ward's stiller im Haus, immer stiller. Der Wind stieß an alle Ecken, und unter seinem Druck toste der Bach und ächzte der Wald.

Zuweilen scharrte ein Gaul im Stall oder rasselte der Hund an der Kette.

Die Trümmer der Geige lagen auf dem Armstuhl des Hausherrn; ihres Vaters Bild hielt die Liesel im Schoß. Ein paarmal kam wie aus weiter Ferne der tiefe Schlag einer Uhr, der sonst nicht im kalten Grund gehört war. Aber die Frau dachte nicht nach über diesen Klang. Die Lampe über dem Tisch war das einzige Licht, das in der Mühle noch brannte. Ihr ruhiger Schein fiel in die Nacht hinaus.

Mitternacht war vorüber, als der Müller halb angekleidet unter die Türe der Schlafstube trat. In alle Ecken der Stube sah er, ehe er vor sein Weib trat. »Was treibst du noch?« fragte er rauh. »Geh zu Bett, ich tu' dir nichts.« 200

Da legte sie das Bild weg und stand langsam auf. Mit ihren rotgeweinten Augen sah sie ihn voll Verachtung an. Ihr Mund zuckte, ehe sie sprechen konnte.

»Du tust mir nichts,« sagte sie, »nein, du tust mir nichts. Sobald du mich anrühren willst, steht jetzt der andere zwischen uns. Du willst es so. Mir ist er gewesen wie mein Kind. Und du, du sagst, er soll mein Liebster sein. Du bist ein Tier, kein Mann. Nie wieder komme ich dort hinein –«

Sie sah wie in Grauen nach der halboffenen Türe des Schlafgemachs.

Da lachte der Müller und nahm sie am Handgelenk, als wolle er sie zwingen.

Aber sie riß sich los mit einem wilden Ruck. Verwandelt und verstört stand sie ganz hart vor dem großen, breiten Mann, und ihre Augen funkelten.

»Du,« schleuderte sie ihm zu, »ich bin die Rothaarige nicht, die um deine Liederlichkeit gestorben ist. Und keine deiner Mägde bin ich und keine Hergelaufene –«

Der Müller trat nicht zurück. Er hörte kaum, was sie ihm zurief. Er sah sie nur glühend und voll fremden, heißen Lebens vor sich stehen.

Ein Lächeln trat auf sein Gesicht. »Die schwarze Liesel bist du,« sagte er leis, »und mein bist du.«

Da gab sie ihm einen Stoß vor die halbnackte Brust, daß er zurücktaumelte, und sie rief: »Ich hasse dich, mir ekelt vor dir! Ich will wieder zu den andern gehen, zu den andern.«

Hilflos sah sie um sich, und ihr Blick fiel auf ihres Vaters Bild, das klug, rein und ruhig dreinschaute.

Da war es, wie wenn eine kühle Hand ihr auf die heiße Stirne gelegt würde. 201

Der verstörte Ausdruck in ihrem Gesicht wandelte sich, das Flackern in ihren Augen erlosch.

Sie tat einen Schritt und deckte die Hand auf das Bild und sagte merkwürdig ruhig: »Laß mich wieder fort, laß mich fort! Ich bin das Weib nicht, das du brauchst. Ich hab' kein Kind und hab' kein heißes Blut. Nur Heimweh hab' ich nach den andern.«

Unverwandt sah der Müller sie an, wie sie da neben ihres Vaters Bild stand, wie hinter einer hohen Scheidewand.

Dann stieg ihm wieder zu Kopf, was er so lange in sich hineingefressen hatte und was wie Gift in ihm wühlte.

»Nach den andern?« sagte er mit kurzem Lachen. »Nach welchen andern? Dein Vater ist tot – da hilft kein Heimweh. Deinen Bruder hättest du hier im kalten Grund haben können, wenn das Heimweh so mächtig war. Bleibt nur der Schulmeister.«

Er brauste plötzlich wieder auf. »Liesel, ich sag' dir, ehe ich dich dem oder einem andern lasse, sperre ich dich in die Kammer zu unserer Uhr, weißt du! Dann kannst du da weiter malen, wo die alte Müllerin stehen geblieben ist. Das war auch so eine, die sich nicht hat geben wollen. Aber die Klotze zwingen ihre Weiber. Da kommt keine mit dem Kopf durch die Wand, und wenn sie wäre wie eine Wildkatze.«

Die Liesel sah ihn an mit müden Augen.

»Ja,« sagte sie, »sperr' mich ein! Laß mich ganz allein in jener Kammer bleiben. Nur so nicht mehr, wie's war. Ich hab' das nicht gewußt, daß du schon so viele gehabt hast. Erst heute nacht hab' ich's erfahren. Ich meinte, ich sei die einzige, die dir verfallen war. Aber da sind viele, viele. Alle, die dir über den Weg laufen. Ich kann mich scheiden lassen, hat mir jemand 202 heute nacht gesagt. Du mußt mich frei geben. Ich habe mich so rein gehalten; es ist immer so rein bei uns gewesen –«

Sie schluchzte plötzlich herzbrechend auf und beugte den Kopf ganz tief auf ihres Vaters Bild und murmelte fort, irr und verstört wie ein Kind, das nicht mehr aus noch ein weiß. Der Müller schluckte ein paarmal. In seine Augen kam ein Flackern, das nichts Gutes bedeutete.

»So,« sagte er dann seltsam ruhig, »das weißt du also. Das ist ja gut. Mir liegt nichts daran, daß mein Weib in der Welt herumlaufe, dümmer als in Jakobshof die Sechsjährigen. Aber du bist vielleicht so gut und sagst mir, wer dich aufgeklärt hat über diese Sachen –«

Er trat ihr ganz nahe, und sie richtete sich auf und sah ihn an. Sie wollte sprechen; aber eine plötzliche Furcht schloß ihr den Mund.

Da schüttelte sie schweigend den Kopf.

Der Müller griff nach ihrem Arm und hielt ihn fest wie ein Schraubstock. »Du sagst mir's,« knirschte er.

Sie stieß einen leisen Ruf des Schmerzens aus und biß sich dann auf die Lippen, als wolle sie nun und nimmermehr ihr Geheimnis preisgeben.

Und in diese drohende, schwere Stille hinein kam wieder der laute und tiefe Schlag jener fernen Uhr. Nur ein einziger Schlag – die erste Stunde des Christfestes.

Da wurde die pressende Hand um der Liesel Arm locker. Der Müller schaute gegen die Türe, ein Staunen, einen Schrecken im Gesicht.

»– Die Uhr – was war das?« sagte er lauschend. 203

Die Frau gab keine Antwort. Auch sie lauschte hinaus, dem fremden, ungewohnten Schlag nach, den sie nie in der Mühle gehört hatte.

Der Mann blickte sich um in der Stube und tat dann die Türe auf. »Da hat doch irgendwo eine Uhr geschlagen,« sagte er halb für sich und horchte wieder.

Aber aus dem langen, dunklen Flur klang kein Laut. Nur das Fauchen des nimmermüden Windes strich ums Haus in langgezogenen Tönen.

Da machte der Müller die Türe wieder zu und riß an dem alten grünen Glockenzug, der noch von seiner Mutter Zeiten her neben den Rehgehörnen hing und in des Regele Kammer führte.

Neben dem schwingenden Strang blieb er stehen, und sein Gesicht, das gegen die Türe gerichtet war, hatte einen brutalen Zug.

Die Müllerin rührte sich nicht. Sie begriff, daß kein Aufkommen war gegen den gereizten Mann.

Schlürfende Schritte nahten sich der Türe; so, als stecke das Regele nicht fest in den hastig angestreiften Schuhen. Und sie kam herein, den grauen dünnen Zopf zerzaust, mit einer Hand noch an der Jacke nestelnd. Ihr rascher Blick ging über die Müllerin, dann erst schaute sie sich nach ihrem Herrn um.

Sie fragte nichts. Sie schüttelte nur kurz an ihrem wollenen Rock, als sei der nicht recht in Ordnung.

»So,« sagte der Müller, »bist schon da. Bist wohl mit den Kleidern im Bett gelegen, wie eine, die früh auf die Wanderschaft soll –« Er lachte bös und wollte weiter reden, aber die alte Magd fiel ihm dazwischen.

»I han immer Oel auf d'r Lamp' –« sagte sie kurz.

Da lachte er lauter als zuvor und trat ihr näher. 204

»Ja,« rief er, »eine kluge Jungfrau. Von der Jakobshofer Jungfernsorte, wo die jungen ludern und die alten beten. Sag' du –« er wollte fortfahren; aber wieder unterbrach ihn die Alte. Sie streckte die Hand aus und zupfte ihn am Aermel seines weißen Hemdes. »Büeble,« sagte sie, »Büeble, sei ganz still. I' erzähl dir sonst e G'schichtle.«

Es klang drohend, finster aus der leisen, verhaltenen Stimme; aber der Müller hatte das Ohr nicht für den Ton.

»Das ist deine letzte Frechheit gewesen!« schrie er, indem er zurücktrat. »Du packst zusammen –«

Die Alte strich jetzt mit beiden Händen das wirre, graue Haar zurück. Ihr Gesicht war wie von Stein, der Blick ihrer Augen von eiserner Härte.

»I' pack, ja – i' pack! Aber jetzt horch, Müller! No' keine sechzeh' Johr bin i' g'we', wie i' als Jungmagd in de kalte Grund komme be. – I' han kei' Mueter meh' g'hätt – scho' lang nemme. Bloß en Vatter, wo an d'r Eise'bah' g'schafft hot und äll Sonntich heimkomme ist. D' Woch' durch bin i von klei' auf g'we', wie d'r Vogel in d'r Luft.

»Und au' so lustig bin i' g'we', wie e' Vogel, – bloß net so schen. Und im kalte' Grund send Habicht g'we'. Habicht, soviel wie Mannsleut. Und einer von dene Habicht ist d'r allergrößt' und stärkst' g'we'. Der hot den Vogel packt. – Merkst du, wie's ist? – Soll i' dirs no' besser sage? – Du siehst ihm gleich, sellem Habicht. So gleich, wie aus 'm G'sicht rausg'schnitte. Soll i' dir's immer no' besser sage'? – Dei' Mueter ist domols krank g'wese' – fast e' Johr lang. Nach dene Zwilling, weißt, wo s'e ihren Kropf herg'hätt hot. Du bist no' gar net auf d'r Welt g'we' – no' lang net. – Mei' Kind ist au' e' Bue g'we'. 205

»In meiner Kammer bin i' g'lege', ganz allei'. Und des Kind auf mei'm Bett hot sich net g'regt. Und i' han denkt: drück' ihm sei' Hälsle zu, daß 's nie meh' schreit! Dei' Vater schlägt di' z' tot, und älle Knecht' spucket vor dir aus, und d'r Müller sächt: i' bin d'r Vater net, und d' Müllere stirbt vor Elend. –« Die Magd schluckte; aber ihre Stimme blieb ganz fest, als sie fortfuhr: »'s hot mir älles vor de' Auge tanzt, und heiß und kalt ist mir's üb'r de' Leib. Mei' Kammerfenster ist hell worde'. 's ist gege' Morge' gange' im Juni.

»I' han mir de' Schweiß abtrocknet und han zittert und han über des nacket Kindle' 'neiguckt, ob i's verwürge' soll und verstecke'.

»Und auf ei'mol geht mei' Kammertür auf, und d' Müllere steht do.

»Grad' unter mir hot se ihr Stub' g'hätt, wie heut no', und g'schlofe hot se fast nie in seller Zeit.

»In de' Strümpf' und in ihrem lange', weiße Kittel ist se dog'stande und hot ausg'sehe' wie g'storbe'.

»I' han mi' net rege' könne'. I' han bloß d' Auge' aufg'risse' und han denkt, mei' letzte Stund' sei do.

»Do ist se ganz langsam an mei' Bett her'komme, wie wenn se sich fürchte' tät, und hot leis g'fragt: ›Regele, lebt's doch no'?‹ So, wie wenn se älles wisse' tät, wie's mir g'we' ist und was i' im Sinn g'hätt han.

»Und wie sie's hot lebendig doliege' sehe', do hot se g'sagt: ›Gott sei Lob und Dank, i' bin no' recht komme'.‹ Und se hot d' Händ' für's G'sicht 'drückt und hot g'schluchzt zum Herzbreche' –

»Müller, i' kann dir net sage', wie mir's g'we' ist in dem Auge'blick. Wie wenn d'r Herrgott selber vor mi' hi' g'stande' wär' und hätt' g'sagt: ›Leb' no' e'mol; 206 aber komm' mir nemme unter d' Händ', du Weibsbild!‹ Aufg'fahre' bin i', und meine Zäh' hänt g'klappert, und i' han mi' g'hebt an meiner Frau. Aber schwätze' han i' net könne, schwätze' net.«

Sie schwieg.

Es war, als ob langgetrocknete Tränen, vergangene Schauer sie aufs neue packten und würgten. Ihr eingesunkener Mund zitterte heftig, und sie legte die runzeligen Hände ineinander, um sie sogleich wieder sinken zu lassen.

Sie mußte ein paarmal ansetzen, ehe sie leiser fortfahren konnte.

»Mei' Frau hot mi' und mei' Kind ins Krankehaus schaffe' lasse. I' weiß heut' net, wie se älles g'macht und fertigbrocht hot. Sie hot selber kaum auf de' Fueß stehe' könne'. Aber e' Weib kann viel, wenn se 's Herz auf em rechte' Fleck hot. D' Mannsleut' reißet d' Welt ei', und d' Weibsleut' bauet se wieder. D' Müllere hot für mi' meh' do, als e' Mueter tut. Für mein' Bue hot se 's Kostgeld zahlt, e' Johr lang. No ist er g'storbe'. – Sie hot mei' Schand zudeckt und hot mi' net ins Elend laufe' lasse und net verachtet. Wie i' wieder han schaffe' könne', hot sie mi' aus 'm Krankehaus abg'holt in d'r Chais. Und unterwegs im Wald hot se g'sagt: ›Regele, i' brauch dir keine Rede z'halte'. Du könntest jetzt en Mord auf em G'wisse han und könntest im Zuchthaus sitze – I' nimm di' wieder in mei' Haus. Vergiß die Stund in deiner Kammer net! I' bin e' Weib. Bin 's Weib vom Klotz vom kalte' Grund. Du weißt jetzt, was des heißt. I' trag' mein' Pack'. Leg du net au' no' Stei' derzue. I' bin die Stärkst' net. Und nemme g'sund.' –

»Frau, han i' g'sagt, i' will net selig werde', wenn i' des vergiß – 207

»Sie hot e' wenig g'lacht. ›Verschwör' net z'viel, Regele, du bist erst achtzehn und bist sauber.‹ Und no send ihr auf ei'mol d' Träne' übers G'sicht g'laufe. ›Regele‹, hot se g'sagt, ›warum ist's so! Warum muß e' Weib des alles schlucke' und trage'? I' bin au' achzehn g'we' und sauber. Jetzt bin i' krank und verunstaltet. Meine Kinder sind tot, und wenn i' heut' wieder ei's krieg, weiß i' net, ob mi' 's net 's Lebe' kostet. Regele, glaubst, daß mei' Pack' schwer g'nueg ist?‹

»So, Müller, jetzt weißt die Sach', wie's mit meiner Jungferschaft ist, und Sie, Frau, Sie wisset, warum i' fromm worde' bin, weil Sie mi' doch e' mol danach g'frogt hänt.

»Und ihr älle beide wisset jetzt au', worum i' net 'nausz'jage' bin aus em kalte' Grund. Worum i' a'gschmiedet bi' do, wo i's Lüderlichsei' g'lernt han und 's Bete'. Aber heut' gang i', Müller –« Sie hob die Hand, als wolle der Mann, der stumm neben dem Glockenstrang stand, etwas Unnötiges einwerfen, was sie nicht hören mochte – »Sei still, Bue! I' han di' auf 'm Arm g'hätt bei dei'm erste' Schrei. Die letzt' Sünd' will i' dir verspare, daß du mi' 'nausjagst, wie wenn i' g'stohle' hätt'. I' gang. Mei' Tag ist do. 's ist nix meh' z' verhebeaufzuhalten im kalte' Grund. D'Uhr schlägt wieder, und d' Sonn bringt älles an de' Tag.«

Sie wandte sich und legte die Hand auf die Türklinke. Dann schaute sie noch einmal zurück nach der Frau, die ihr reglos nachblickte, wie betäubt. »Ganget Sie, Frau,« sagte sie ruhig, »i' han Ihne' jo g'sagt: Sie könnet sich scheide' lasse', jeden Tag. Für Sie ist d' Mühle nix.« 208

Da riß sich der Müller empor und faßte die Alte am Arm. Es war ein schrilles Lachen, das er hervorstieß. »Also du bist die Sonne, die alles an den Tag bringt! Das habe ich wissen wollen. Deshalb ließ ich dich kommen. Dafür also haben dich die Klotz im kalten Grund gefüttert mehr als vierzig Jahre lang –«

Die Magd ließ noch einmal die Türklinke los und kehrte sich ganz um. Ihr Gesicht hatte einen fast heiteren Ausdruck. »Jo,« sagte sie, »im kalte' Grund geht's zu wie in d'r Bibel. Von d'r Magd heißt's: Der mein Brot isset, tritt mich mit Füßen; vom Herrn: Du hast dich auf deine Bosheit verlassen, da du dachtest, man siehet mich nicht; und von d'r Frau: Du bist wie ein verlassen und von Herzen betrübt Weib, und wie ein junges Weib, das verstoßen ist.«

Der Müller rief: »Stundenläufer! Das Maul voll Bibelsprüche und verlästert den Mann bei seinem Weib.«

Die Alte tat, als höre sie's nicht. »Frau,« sagte sie, zur stummen Liesel hingewendet, »Sie hänt mi' dauert von d'r erste' Stund' an. I' han aber denkt, wenn erst Kinder do sind, wird's bester. Drum han i' g'sagt, sie sollet um Kinder bete, wie's Samuels Mueter. I' selber han drum betet, die Johr 'rei'. 's sind keine Kinder komme' und d' Lumperei ist weiter gange' –

»Gestern obed bringt d'r Michel unser Uhr daher. D'r Herr Heiner hot se wieder g'macht, daß se wieder lauft. Und d'r Herr Pfarrer hot e' neue Sonn' an de' Himmel g'molt, und se ist wie neu.

»I' han nix g'wißt von d'r ganze Sach'. Der Michel sächt, d'r Herr Heiner häb' ihn so 'plogt, daß er 's Maul halte soll und kei'm Mensche' nix sage, daß 's e' rechte Freud' sei. 209

»Statt d'r Freud' hot's gestern obed die Sauerei 'gebe'. Do han i' g'merkt, daß 's Zeit ist. Und i' han das g'sagt, was i' für Recht g'halte' han. 's reut mi' net. Der Krug gehet zum Brunnen bis er zerbricht und: so diese würden schweigen, so würden die Steine reden. Nichts ist so fein gesponnen, es kommt ans Licht der Sonnen.«

»Herrgott,« schrie der Müller, »halt dein Maul; dir läuft's wie Wasser vom Brunnenrohr. Was läßt du mir die Uhr wegschleppen! Wenn ich Uhren gemacht haben will, so besorg' ich's selber. Und dann noch ist der Teufel drin –« Er lachte auf, höhnisch und grimmig, und er wies nach der Türe, durch die die Magd, ohne den Kopf zu wenden, ruhig hinausschritt.

Einen Augenblick stand er und sah ihr nach. Sein volles Gesicht war zornentstellt und doch anders als sonst, wenn die wilde Heftigkeit der Klotze darauf arbeitete. Etwas Ratloses lag neben dem Zorn. Die Blöße eines, dem unerwartet die Waffe weggerissen wurde.

Dann wandte er sich um mit raschem Ruck.

»Also geschieden willst du sein,« rief er, »geschieden, weil dir's die alte Kanaille geraten hat. Gut so! Hätt' ich ihren Rat befolgt, dann hätte ich dich gar nicht genommen. – Du siehst, sie meint's mit dir nicht besser als mit mir. Bloß horchst du mehr auf sie. Ich hab' sie reden lassen dazumal und hab' ein Weib gefreit, das mehr nicht gehabt hat, als das Hemd auf dem Leib. Ich hab' dies Weib genommen, weil es mir gefallen hat. Aus einem besseren Grund kann kein Mann ein Weib nehmen. Und du, – warum nahmst denn du mich? – Mit einem anderen hast du angebandelt gehabt. Aber der war arm wie eine Kirchenmaus. Dann ist der reiche Müller gekommen. Den Reichen nahmst 210 du, und der Arme hat dich. Und jetzt kommt dir die Verachtung für mich, und du willst geschieden sein –« Er lachte laut und gezwungen auf und fuhr sich über sein kurzgehaltenes Haar, unverwandt die Frau betrachtend.

Sie hob den Kopf und sah ihn ruhig an.

»Es ist ja alles nicht wahr,« sagte sie leis. »Ich hab' von keinem Mann gewußt vor dir. Zu meinem Vater und zu meinem Heiner hab' ich gehört. Die haben mich gebraucht. Der andere hat bloß gegeigt mit meinem Heiner, und ich habe zugehört –«

»Ja,« sagte der Müller, »beim Geigen zuhören, das ist alles. Ich bin auch nie zu etwas anderem in die Schwedenhöhle gegangen, und du auch nicht mit deinem Schulmeister.« Er lachte auf. »Wenn wir uns scheiden lassen, du, was wollen wir dem Richter als Grund angeben? Daß jedes auf eine andere Geige gehorcht hat –«

Die Frau sah ihn immerfort starr an, als hätte sie ihn nie gesehen. Und auf einmal sagte sie langsam: »Deine Mutter dauert mich. Deine Mutter hat viel getragen. Gut, daß ich kein Kind habe. – Ich habe auch einmal um ein Kind gebetet. – Gestern – gestern, als ich mich freute, daß alles sollte schön und neu werden in der Mühle –« Ihre Stimme ward unsicher, ihr Gesicht zeigte die tiefe Blässe der innersten Erregung, wie ein Schauer ging's über ihre junge Gestalt. Noch leiser fuhr sie fort: »Du wolltest's nicht. Du trittst alles zusammen in deinem Zorn. Du hast keine Vernunft. Das ist jetzt gut. Ich möchte keinen Klotz zum Sohn haben. Deine Mutter hat viel getragen –«

Die langsame und leise Art, in der sie wie träumend diese Worte sprach, klang dem Müller unleidlich. 211

»Laß meine Mutter aus dem Spiel,« stieß er hervor. »Wie darfst du dich neben meine Mutter stellen! Die war ein Weib. Ich aber habe mir eine Puppe gekauft, und nun willst du, daß ich nicht mit dir spielen soll. Nicht anrühren soll ich dich und soll dich behandeln wie ein Muttergottesbild. Und scheiden lassen willst du dich, und ich wäre dann der Schuldige! Ich wäre das Ungeheuer! Probier's! Du! Aber ich will dann auch sagen, wie du die Ehe geführt hast. Du warst mehr in Jakobshof als im kalten Grund. Mehr beim Schulmeister als bei mir. Dein Schulmeister muß mir als Zeuge her, und dein Heiner, der Schleicher, und meinetwegen auch der Malerpfaff. Das ganze Nest will ich ausheben, wenn's sein muß. Das ist dann die größte Freude, die ich in meinem Leben den Jakobshofern gemacht habe, denn die wissen auch, was sie an ihrem Pfaffen und ihrem Schulmeister haben, und ich an meiner Müllerin.«

Er lachte kurz und wandte sich ab, da klang wieder der Schlag der Uhr vom Schafstall herauf.

Der Müller sah sich wild um, als suche er nach etwas. Dann nahm er eine der Büchsflinten von der Wand und schritt aus der Türe.

Man hörte ihn gegen die Treppe gehen, wo er die Blechampel neben dem gemalten Mühlrad entzündete. Dann stieg er hinunter in den Schafstall und ließ die Türe hinter sich offen, so daß ein blasser Schein des ärmlichen Lichtes auf den langen, leeren, weißgedeckten Tisch und den geschmückten Tannenbaum fiel.

Nach Kerzen- und Tannenduft, nach Festtag und Frieden roch es in dem niederen Raum, in dem kein Laut sich regte, als das tiefe, ruhige Pendelschwingen einer Uhr, die nicht zu sehen war. 212

Lauschend stand der Müller; aber er lauschte nicht dem weihnächtlichen Frieden nach. Die Flinte hatte er am Lauf gefaßt und stand wie auf der Lauer.

In tiefer Schwärze lagen die Ecken des Raumes, den der Herr vom kalten Grund fast nie betrat.

Er schritt an dem Tisch entlang und klopfte mit dem Flintenkolben an des Mühlemichels Tür.

»Mach' Licht, Michel,« rief er, »ich muß die neue Uhr sehen.«

Der Knecht stand schon unter der Kammertüre und hob seine Leuchte hoch. Er fragte nichts und sagte nichts. Er sah nur seines Herren Gesicht an und wußte, daß seine Furcht und sein Sichsträuben in der Uhrengeschichte nur allzu wohlbegründet gewesen war.

Zwischen den Truhen der Knechte, mit einem großen, weißen Sack wohlverhangen, stand die Uhr.

Die beiden Männer schritten darauf zu wie auf einen Feind. Dann riß der Müller die Hülle weg.

Frisch und klar prangten die Farben; lebendig geworden ging das Pendel hin und her, als sei die tote Vergangenheit auferstanden und rege sich wieder und habe wieder Stimme bekommen und Bedeutung.

Fast scheu trat der Müller einen Schritt zurück. Der Michel aber begann Mut zu schöpfen. »Des hot er sauber g'macht, d'r Herr Heiner,« sagte er tastend, »und sogar d'r Pfarrer hot dran g'molt, daß unser Frau soll 'e Freud' han.«

Der Müller fuhr herum. »Schweig!« stieß er hervor. »Was haben die alle sich um die Freuden meiner Frau zu kümmern! Die Uhr ist mein, und keiner hat daran zu rühren. Da – –«

Und er hob die Flinte und schlug damit gegen den Uhrenkasten, daß klirrend und splitternd das neue 213 Zifferblatt, das Glas und das Werk in Stücke ging und das lebendige Schwingen verstummte wie in jähem Tod. Dem Knecht zitterte der Arm, der die Leuchte hielt.

Nicht aus Furcht vor dem Müller, dessen wilden, klotzischen Zorn er seit langem kannte.

Es war ihm unheimlich, daß das friedliche Tick-Tack so plötzlich und gewaltsam verstummt, das freundlich leuchtende Zifferblatt so jäh zur klaffenden Wunde geworden war.

»Herr,« stammelte er, ohne es zu wollen und zu wissen, »Herr, das bedeutet nix Gut's.«

Der Müller stieß den Flintenschaft auf den Boden auf.

»Das bedeutet, daß ich dich zum Teufel jage, wenn du mir noch einmal hinter meinem Rücken Geschichten machst. Für der Müllerin ihre Freuden sorg' ich allein. Das kannst du jedem sagen, der's wissen will.«

Er ging zur Tür. Oben an der Treppe besah er seinen Flintenschaft und löschte dann die Ampel an der Wand.

Laut, vielleicht unnötig laut schritt er zur Tür der Schlafstube und drehte hinter sich den Schlüssel um.

Als aber das graue Morgenlicht über den kalten Grund stieg, verließ er das Haus mit der Flinte.

In Jagdrock und hohen Stiefeln ging er drüben überm Bach in den Wald hinein, dem Christfest zum Trotz.

Am Tisch in der kalt gewordenen Stube hob die Liesel den müden Kopf von ihres Vaters Bild, auf dem sie endlich eingeschlafen gewesen war.

Sie sah sich um und fand sich nicht zurecht.

Dann sah sie die Geigentrümmer auf dem Armstuhl liegen.

Ein jäher Schmerz befiel sie. Ihr war, als ob der 214 Schulmeister hinter ihr sage: ›So schlecht hast du sie gehütet!‹ –

Unleidlich war es ihr plötzlich, die Trümmer zu sehen. Sie zog eine Schublade auf, legte alles hinein und deckte ein weißes Tüchlein darüber wie über das Gesicht eines Toten. Dann ging sie leis aus der Stube. – –

✤           ✤           ✤

Weithin über die Höhe zogen sich die braunen, kahlen Furchen der Jakobshofer Aecker, über die in diesem Winter noch kein Schnee gegangen war.

Wenn der Wind dahinfuhr, dann gab es ein leichtes Stäuben, so trocken war weithin das aufgerissene Land.

Und hinter der Tannenhecke im Kirchhof besah sich Jakob, der Totengräber, die schwieligen Hände, spuckte und fluchte.

Hart wie Stein war der Boden, dort wo der Schulmeister liegen sollte.

Neben draußen, dicht an der feuchthaltenden Hecke wäre er wohl lockerer gewesen. Aber der Pfarrer hatte befohlen, daß in der Reihe müsse gegraben werden, neben allen ehrlichen Leuten.

Das dürre Geranke verblühter Winden hing um die Gräber, und jeder anstürmende Windstoß weckte ringsum ein Schettern und Knistern, eine friedlose Unruhe, die wie ein böses Gerücht über die Hügel hinstrich.

Am Nachmittag des Johannistages brachten sie den Schulmeister daher und stellten ihn ab, dort wo das tiefe Loch im Rasen gähnte.

Der Pfarrer schritt hinterher in Barett und Talar, den ihm der Wind um die Füße schlug.

Danach kam die Müllerin vom kalten Grund. Die sah aus wie das Leiden Christi, und ein schwarzer Schleier flatterte ihr um den Kopf. 215

Der Heiner aber, der Uhrmacher, hatte Augen wie ein böser Stier, nicht anders. Man hätte nicht reden mögen mit dem, so sah er aus.

Der Doktor Gothe war da im Schlapphut, wie er zur Arbeit ging, und das Regele von der Mühle, von der es hieß, sie sei aus der Stelle gejagt worden.

Was Füße hatte in Jakobshof ging mit dem Zug, und die Fetzen der Glockenklänge jagten im Wind über die Aecker und die schreitenden Menschen.

Danach fing der Pfarrer zu reden an.

Er hatte das Barett abgenommen. Der Wind lüpfte ihm das glatte, rötliche Haar.

Sein Gesicht war blaß und voll Unruhe. Und voll Unruhe auch das, was er sagte. So, als ob Herz und Mund gesonderte Wege gingen und Angst hätten, zusammenzutreffen.

Aber einmal, als er von des Toten schlichtem Lebenslauf und seiner großen, durstigen Liebe zu allem Schönen und Reinen in dieser Welt redete, da hob er die Augen wie von ohngefähr über den Sarg und die Erde.

Und siehe da, er erblickte den Himmel, wie er fern über dem Rand der Jakobshofer Höhe grell und glühend flammte in Strahlen, die von einer fremden Sonne zu stammen schienen. Und da träumte ihm vielleicht blitzschnell, wie das im Traum so geht, diese Sonne scheine dort, wo es kein Leid mehr gibt und kein Geschrei. Er sah die schwarzen Tannen hochgereckt gegen die leuchtende Glut stehen. Sah die Raben wie Wundervögel auf den kahlen Aeckern und all das merkwürdige Licht über Jakobshof.

Ein Bild ward ihm alles, riesengroß, still, ehern.

Ein Bild voll von Farben und Wirklichkeiten, wie sie nur jenen Begnadeten einfallen, die da sind wie die 216 Werkzeuge Gottes, durch die er seine Gedanken will niederschreiben lassen in kleiner Menschenschrift.

Und da, als er solches sah, ward er aus dem unsicheren Pfarrerlein plötzlich ein kühner Mann, der ruhig seinen Mund und sein Herz auf einer Straße dahinziehen ließ.

Und er fing an zu reden von jenem Abend, da sie den verratenen Heiland zu Grabe trugen.

Die gähnende Felsengrotte am kahlen Hang malte er vor die Jakobshofer hin, dieses reine, kühle Grab, in das niemalen jemand geleget war, und in das beim letzten Abendglühen der stille Mann sollte gebettet werden, der soviel gelitten hatte, und der eines unreinen Todes hatte sterben müssen um seiner Liebe willen.

Der Doktor hatte seine Hände um den Schlapphut gefaltet und ließ kein Auge von dem Redner.

Sein rötliches Gesicht zuckte ein paarmal, dann und wann nickte sein Kopf kaum merklich.

Die Kinder des alten Neuhaus standen nebeneinander. Etwas abseits, etwas allein gelassen, als gehörten sie nicht zu den andern.

Der Krüppel schaute unverwandt auf den Sarg, auf dem der Wind das schwarze Tuch mit dem weißen Kreuz zerrte und hob, als wolle er es wegreißen.

Die Müllerin blickte weit hinaus in die grelle Abendglut, deren Widerschein auf ihrem blassen, reglosen Gesicht lag, als bestrahle es ein fernes Feuer.

Die von Jakobshof aber, die warteten und warteten, daß nun etwas komme von des Schulmeisters Löchlein im Kopf.

Und als nichts kam, da wußte niemand recht, ob die Reden, die der Pfarrer tat, nicht gotteslästerlicher 217 Art seien. Denn ein erschossener Schulmeister und ein gekreuzigter Heiland, das sind immerhin zweierlei Dinge.

Auch hat beim Schlosserskarle kein Mensch von einem Grab geredet, das voll Glanz und Frieden gewesen sei. Aber so sind die von der Stadt. Sie halten zusammen und hacken einander die Augen nicht aus.

Wie Raben, die vom leeren Futterplatz abstreichen, verloren sich nach und nach die schwarzen Scharen der Jakobshofer vom Kirchhof.

Einsam lag der Plan hinter der Hecke.

Nur Jakob, der Totengräber, schaufelte dort zu, wo er gestern aufgegraben hatte.

Sein schwarzer Rock hing nebendraußen an einem Kreuz, und der Wind blähte zuweilen die Aermel auf.

Es eilte dem Mann nicht sonderlich mit seiner Arbeit. Er wischte sich oftmals den reichlich rinnenden Schweiß ab und reckte die Knochenstirn und die große, scharfe Nase dem Wind zu, als schnüffle er wie ein Jagdhund.

»I' zahl' en Schoppe', wenn's jetzt net Schnee gibt,« murmelte er einmal,»d'r Wind läßt nach, sobald so einer unterm Bode' ist.«

✤           ✤           ✤

Und in der Nacht, als der Schulmeister zum erstenmal in seinem neuen Bett lag, verstummte das Winseln des föhnigen Windes, und der lang zurückgedrängte Winter trat seine Herrschaft an.

Er löste die Bänder der dicken, festgeballten Wolken, und weiße Wirbel stäubten hernieder, wie Flaum aus prallvoller Hülle.

In den Gassen jauchzten am Morgen die Kinder. Sie haschten die Flocken und ließen sich die kühlen Sterne auf Haar und Hände herniedertanzen. 218

Es schneite fort und fort. Den Tag hindurch, wieder in die Nacht hinein und weiter.

Draußen auf dem flachen Feld ragte bald nur noch ein Mäuerlein, ein Haufen zusammengetragener Steine oder ein einsamer Busch über die weiße Ebene. Kein Weg nach Breithof oder nach Hohenweiler hinüber war mehr zu sehen.

In ferner Runde säumten die Tannen den weißen See, in dem wie Inseln die drei Orte lagen.

Stundenlang saßen jetzt die Leute von der Höhe hinter ihren winzigen Fenstern.

Vom Pfeifenqualm umwogt sahen die Männer müßig hinaus in das weiße Gewimmel, das lautlos in die Gassen tanzte und ihnen die meiste Arbeit zudeckte.

Die Weiber schoben dickere Klötze in die eisernen Oefen, die plump auf dünnen Beinen aus der Wand hervortraten und ihre harte, stechende Wärme fast frech in die Stube strahlten.

Dieweil aber die Flocken den Jakobshofern die Arbeit der Hände zuschneiten, kamen den Leuten die Gedanken auf den Hals, wie sich die Grillen an die Sonne wagen, wenn die Tritte der Mähder verhallt sind.

Schnüffelnd und mißtrauisch ging nun männiglich heran an die Begebenheiten der letzten Tage.

Daß sich der Schulmeister erschossen hatte und vom Pfarrer trotzdem mit allen Ehren begraben worden war, das war noch lange nicht alles.

Man wußte, daß es in der Mühle böse Sachen gegeben hatte. Die Müllerin, hieß es, sei zusamt dem Regele vom Klotz hinausgejagt worden. Umsonst aber jagt ein Mann wie der Klotz kein junges und schönes Weib davon. Ja, wenn sie alt gewesen wäre und häßlich. – 219

Das war schon so: das Wesen, das dort draußen in des Totengräbers Haus jetzt schon so lang dauerte, das Geigenspielen und Beieinanderstecken und Faulenzen, das hatte nun eine Ende genommen mit Schrecken. Und die alte Mühlmagd war darunter hineingeraten, weil sie ihr Maul nicht halten konnte.

Die Müllerin, hieß es, sei draußen bei ihrem Bruder, und das Regele werde von der Beth beherbergt, die weitläufig mit ihr verwandt sei und Platz habe in ihrem einsamen Häuslein.

Wie auf einer Insel saßen die Jakobshofer in ihrer Bauernbravheit, und sie sahen kühlen Blickes zu, wie die andern in den Wirbeln ihrer merkwürdigen Sünden umhergezerrt wurden.

Der Müller aber vom kalten Grund stand ihnen nie so nah als jetzt, da er den Kampf aufgenommen hatte gegen das Ungebräuchliche, das sich einfressen wollte auf der Höhe.

✤           ✤           ✤

Im Pfarrhaus war eine große Stube, oben unter dem Dach. Früher, damals als der alte, schwerhörige Pfarrer noch zu Jakobshof mehr herrschte als wirkte, da schliefen in dieser Stube ein halbes Dutzend von den Kindern der Pfarrleute, und es war alles in der richtigen Ordnung.

Aber der heutige ledige Herr hängte und stellte Bilder an die gekalkten Wände, ausgestopfte Vögel hingen von der Decke, und viel ungereimtes Zeug füllte die Ecken.

Dazwischen stand dann der Pfarrer, malend und sinnierend, und wenn ein Gemeindeglied ihn zu besuchen kam, dann holte die alte Oberlehrerin den Sohn nicht aus der Studierstube, die unten lag, neben der 220 Haustüre, sondern sie rief mit ihrer hellen und entschlossenen Stimme über die Stiege hinauf: »Wolf, man will dich.«

Viele schüttelten die Köpfe, als sie zum erstenmal diesen ungebräuchlichen Namen hörten, und es schien ihnen von vornherein kein gutes Zeichen zu sein, wenn einer, der zum Hirten berufen ist, Wolf heißt.

Aber die Oberlehrerin ließ keinen im Zweifel, daß sie es ganz in der Ordnung finde, wenn ihr Sohn dort oben zwischen den Bildern stecke. Sie hatte eine kurze und bestimmte Art, einen Zaun um den Pfarrer zu ziehen, der alle Bauernhände fern hielt. Die Jakobshofer sagten, es heiße den Teufel bei Beelzebub verklagen, wenn man der Alten etwas über ihren Sohn sage, und sie gingen der weißhaarigen Frau eher aus dem Weg, als daß sie sie suchten.

Es haben denn auch wenig Leute von der Höhe einen Blick in die große Stube getan, in der der Pfarrer mit einem Stück Kohle über die Türe geschrieben hatte: »Dienet einander! Ein jeglicher mit der Gabe, die er empfangen hat!«

Das Fenster, das gegen Osten ging, war verhangen.

Durch die beiden an der Nordwand aber blickte die weiße, tiefverschneite Ferne und der Himmel, an dem ein winterliches, letztes Glühen stand.

Ein großes Bild war gegen das Licht gerückt. Unfertig war es noch, aber nicht unfertiger als ein Acker, auf dem die ersten vollen Aehren sich bräunen.

Der Pfarrer saß davor, hatte den Kopf tief gebückt und die Hand übers Gesicht gelegt.

Hinter seinem Stuhl aber stand der Krüppel, der Uhrmacher. 221

Sein scharfes Gesicht war fahl, seine dunklen, heißen Augen waren weit aufgerissen.

So starrte er das Bild an und atmete kaum.

Eine Grablegung war es.

Weiß schimmerte der mißhandelte Leib des Toten aus fahler Dämmerung.

Drei Männer hatten ihn angepackt. Männer, wie sie über die Jakobshofer Höhe schreiten. Der Totengräber mit seiner knochigen Stirn darunter. Einer, ein uralter, dem die Knie zu zittern schienen, stand abseits und blickte in das leere Felsengrab, als wolle er sorgend noch einmal nachsehen, ob es bereit sei für den mühselig Herbeigeschleppten. Er trug des Waldschützen zusammengeschrumpfte Züge; sein dünnes, weißes, strähniges Haar ward von einem Hauch des beginnenden Nachtwindes gegen den Felsen geweht.

Eine Frau lehnte hart am Grab. Eine noch junge Frau, der ein dunkler Schleier um den bleichen Kopf flatterte. Ihr Gesicht trug die Züge der Liesel, der Müllerin.

Es hatte einen zerbrochenen und jämmerlich ratlosen Ausdruck.

In eine Himmelsweite, die in blasser Röte verdämmerte, blickte die Frau.

Der Tote trug unter der blutigen Krone aus Dornen des erschossenen Schulmeisters Züge, wie sie auf den hellholzenen Tisch gezeichnet waren.

Im öden Felsgeröll, zur Seite des Weges, den die Träger mit ihrer Last gekommen, saß ein nackter Bettler. Er war verwachsen und reckte in drohend erhobener Hand eine Pfeife oder eine Flöte gegen die Stadt, deren Zinnen und Türme traumweit in düsterer Ferne ragten. 222

Sein dorthin gewandtes Gesicht war nicht zu sehen. Aber das dunkle Haar stand unverkennbar um des Heiner Neuhaus Kopf, und die hagere Hand, der knochige, ausgereckte Arm gehörten dem Krüppel. Neben ihm heulte ein elender Hund.

So waren sie alle beisammen auf dem Bild, die in Monden unbewußt dem Pfarrer geholfen hatten, Wasser aus dem Jakobshofer Felsen zu schlagen.

Er selbst aber, der Schöpfer, saß da wie ein Gebrochener und Zerriebener.

Heiner Neuhaus starrte und starrte und vermochte nicht zu reden.

Immer wieder zitterten ihm die Lippen und immer wieder schluckte er.

Denn ihm lag es tief im Blut, das Flügelrauschen zu hören, das um ein Werk großer und reiner Kunst ist.

Da stand nach langer Zeit der Pfarrer auf, trat an eines der hüllenlosen Fenster und blickte stumm hinaus in den Schnee.

Heiner Neuhaus fuhr sich über die Stirne, als sei ihm sehr heiß.

Und dann würgte er hervor: »Ja, so ist's gewesen.«

Der Pfarrer drehte sich rasch um, wie von einem Schlag berührt. Das glatte Haar hing ihm ins Gesicht, die Augen blickten verwirrt.

»Glauben Sie?« fragte er kurz, fast ängstlich.

Der Krüppel nickte ein paarmal. Es war wie ein Kampf in ihm. Und dann sagte er, ohne den Pfarrer anzusehen: »Ja, so ist's gewesen, ganz gewiß, so ist's gewesen –« Er wollte weiter reden, sein Mund bewegte sich, sein Gesicht war rot und heiß, da trat die Oberlehrerin unter die Türe und hinter ihr der Doktor, den Hut in der Hand, mit windzerzaustem Haar. 223

»So,« sagte die alte Frau ohne jeden Gruß, »jetzt sehen Sie selbst, wie er es gemalt hat, und ob er es anders hat malen können, und ob da etwas Gotteslästerliches dabei ist.«

Sie schob erregt und hastig den Doktor vor das Bild und kehrte sich dann zu ihrem Sohn. Man hörte die Empörung aus ihrer Stimme.

»Er kommt vom Schulzen. Der will krank sein. Und der sagt, du habest ein sündhaftes Bild gemalt, auf dem der erschossene Schulmeister als Heiland und die davongejagte Müllerin als Maria vorkomme.«

Sie achtete in ihrer Erregung des Krüppels nicht, der zurückgetreten war und mit verdunkeltem Blick gegen das Bild hinschaute.

Ueber des Pfarrers Gesicht ging ein unverkennbarer Ausdruck des Erschreckens. Fragend, fast hilflos blickte er seine kleine Mutter an, die seltsam kampfbereit vor ihm stand.

Er wollte etwas sagen, da trat der Doktor einen Schritt zurück und schleuderte achtlos und gedankenlos seinen Schlapphut aus der Hand, daß er mitten unter des Pfarrers Farbentuben fiel. Er fuhr sich rasch durchs lange Haar und stieß hervor: »Ei der Donner!«

Dann stand er still, und von seinem Schweigen ging etwas aus, das alle andern auch schweigen machte.

Auf einmal wandte er den Kopf und winkte den Pfarrer heran, wie ein Schulmeister den Buben vor die Wandtafel winkt. Sein Gesicht war rot und heiß, die Nase hatte ihren eigenen Glanz.

Und er streckte den Finger aus und deutete auf das Bild: »Da die Maria! Die ist wie ein winselnder Hund, der auf seines toten Jungen Blutspur fortschleicht. Sie 224 begreift nicht, warum sie es ihr erschlagen haben. Sie schleppt sich nur fort auf der Fährte und klagt.

»Und dann die Träger! Die erbarmen sich des toten Leibs und seufzen um den wackern Mann. Aber keiner ahnt, daß da ein König starb, der ihnen sein Reich hatte bringen wollen.

»Und dann der Alte vor des Grabes Tür! Er steht so nah dem eigenen letzten Schritt. Am liebsten ging er in die Kammer mit. Versteht er doch die wirre Welt nicht mehr, die ihre Guten unerbittlich würgt. Den Heiland aber ahnt er nicht im Toten.

»Nur dort der Hund! Der wittert mit der scharfen Hundenase, was Menschenblödheit nimmermehr versteht. Der heult den Schmerz, das Grauen laut hinaus, das eine ganze Welt beim Tode dieses Reinen fühlen müßte. Dem zuckt ein jeder Nerv im Strom des Schrecklichen, das von dem Kreuz die Erde rings umflutet.«

Der Doktor lachte kurz auf und fuhr mit dem deutenden Finger hinüber zu dem hockenden Krüppel am Wegsaum.

»Und der da, der Bettler da, der spürt sie auch, die ganze Teufelei. Dem hat der Tote vielleicht einmal gesagt: ›Stehe auf und wandle!‹ oder: ›Dir sind deine Sünden vergeben‹, oder: ›Steig eilends hernieder, ich will heute in deinem Hause einkehren.‹

»Er hat ja oft solche Dinge gesagt zu allerlei Elenden. Und da ist wohl in dem Krüppel die Freude aufgewacht und der Stolz und die Menschenwürde. Da hat er seinen Buckel vergessen und hat seine unverkümmerte Seele gespürt.

»Aber jetzt haben sie ihm den Bruder erschlagen. Haben den Leichnam vorübergeschleppt, daß da die blutige Spur im Sand zu sehen ist. 225

»Herrgott, kommt jetzt dem Bettler nicht zu nah, ihr, die ihr Schuld tragt am Tode dieses Gerechten! Er schlägt euch die Schädel ein mit seiner Bettelpfeife.« –

Ganz laut und voll Ingrimm sprach der Doktor, und er wandte sich um und gewahrte da erst den Krüppel, der, ein Flammen in den großen Augen, blaß und zitternd auf den Sprechenden starrte.

Einen kurzen, seltsamen Ton stieß Heiner Neuhaus aus, dann ging er aus der Tür, wie auf der Flucht.

Der Doktor schaute ihm nach und strich über sein Haar.

»Blitz,« sagte er, »ich habe nicht gewußt, daß er da ist. Aber er hat es hören dürfen, wenn er schon das Bild gesehen hat. Darf ein Maler in Herz und Nieren der Menschen sehen und hinschreiben, was er gefunden hat, so darf's ein Doktor nicht minder. Ich müßt' lügen, wenn ich tun wollte, als wäre mir des Albrecht Neuhaus Sohn ein Buch mit sieben Siegeln. Aus den Schweigsamen und Scheuen bin ich mein Lebtag leichter klug geworden, als aus den Schwätzern.«

Er lachte und suchte seinen Schlapphut aus des Doktors Farben hervor.

Die Oberlehrerin tippte ihn auf den Arm. »Und was ist jetzt, was sagen Sie dazu, daß der Schulmeister auf dem Bild ist und die Müllerin?« Sie schaute ihn über die goldne Brille hinweg voll Spannung an.

Der Doktor kehrte sich noch einmal langsam der Staffelei zu.

»Ich, – ich sage, wenn ich nur auch drauf wäre! Ich wäre gerne bei denen da an dem Felsengrab. An der fernen Stadt dort liegt mir nichts. Gar nichts liegt mir an denen, die nicht bei diesem Toten sind.«

Traurig und schwer klang, was der Mann sagte.

Es blieb still. 226

Die kleine Frau griff sich an die Haube, die ihr weißes Haar deckte. Dann glitt über ihr kluges und strenges Gesicht ein wehmütiger Schein. »Doktor,« sagte sie leise, »Sie und ich, wir können auch nicht gar weit sein. Vielleicht dort um die Felsenecke.«

Er schaute auf. Seine Nase leuchtete. »Ja, weit weg nicht. Ich glaube auch, mein Brauner hält dort hinter dem stillen Grab –«

Sie blieben wieder alle stumm, das verlorene Lächeln auf den Gesichtern.

Dann stülpte sich der Doktor den Hut auf. Er atmete tief, daß es wie ein Seufzen klang. Beide Arme stemmte er in die Seiten, und so stand er nochmals vor dem Bild.

»Leutlein,« sagte er dann halblaut, »wenn dieses Opus seinem Meister den pfarrherrlichen Hals bricht, mich soll's nicht wundern. Die Jakobshofer gehen nicht so leicht von ihren Grundsätzen ab.«

»Aber –« wollte die alte Frau einfallen.

Der Doktor fuhr lauter fort: »Der Schulze hat mir schon gesagt, daß der Herr Christus nicht gemalt habe und der Petrus nicht und der Paulus und alle Apostel auch nicht. Daß das Malen an sich für einen Pfarrer somit eine Ungebühr – das gotteslästerliche Malen aber eine unerhörte Sache sei. Ich habe nur immer ›Ja‹ sagen können, so gut hat der Mann mir alles aus der Heiligen Schrift belegt. Der alte Sünder hat von den Büchern Mose bis zur Offenbarung Johannis nach einer entlastenden Stelle für seinen Pfarrer gesucht und keine gefunden. Dadurch ist ihm jetzt die Bibel ans Herz gewachsen, wie schon Tausenden vor ihm und wohl auch Tausenden nach ihm, denn die Bibel ist das Buch, aus dem der Teufel seinen Widersachern den Strick dreht.« 227

Der Pfarrer nickte und lächelte bitter. Die blassen Sommersprossen verschwanden unter dem leichten Rot, das ihm übers Gesicht glitt.

»Kenn' ich, kenn' ich,« sagte er. »Mit der Bibel schlagen sie da oben Gott selber tot, wenn er ihnen ungeschickt über den Weg kommt. Aber ich will mich's nicht anfechten lassen. Ich habe gesucht und gesucht jahrelang. Doch ich konnte keinen Heilandskopf finden, bis ich den da liegen sah –« er schaute fast inbrünstig auf sein Bild, wie eine Mutter auf das Kind, um das sie viel heiße Schmerzen getragen.

»Glaub' ich –« murmelte der Doktor, »sie sind nicht dicht gesät, die, denen man ansieht, daß sie viel gelitten, viel geliebt und nie das Ihre gesucht haben –«

Sie standen alle drei vor dem Bild. Jedes einen grübelnden Zug im Gesicht, und doch offensichtlich jedes auf anderen Gedankenwegen.

Zuletzt schaute der Doktor zu dem größeren Pfarrer auf.

»Der Fehler ist schon gemacht. Jetzt heißt's nur abwarten.«

»Und die Moral: ehe du ein Bild malst, frage einen Schulzen um Rat.«

»Ja,« sagte die Oberlehrerin, und sie nickte ernsthaft mit dem Kopf, »einen Schulzen und einen Totengräber und den Gemeinderat und die Hebamme. Ich wollt', mein Sohn hätte mein Temperament.«

Der Doktor mußte lachen. »Was dann? Wie wär's dann?«

»Dann,« rief die kleine Frau voll Feuereifers, »dann müßten sie mir tanzen nach meiner Pfeife oder sich in die Winkel ducken, in die sie gehören. Muß schon ein Pfarrer eine starke Faust haben, so noch viel mehr ein 228 Künstler. Denn die stehen erst recht unter dem Menschenpack an Gottes Statt.«

Hinter der goldenen Brille funkelten die blauen Augen der Frau, und ihr kluges Gesicht zuckte.

Der Pfarrer legte ihr in warmer Aufwallung den Arm um die Schultern. »Mutter,« sagte er, »sieh, sie sollen ja nicht tanzen und nicht sich ducken, sie sollen nur froher, nur besser und freier werden – so mein' ich's –«

»O,« brauste sie auf, »so meinst du's, so meinte es der Schulmeister, so meinen's tausend Träumer, so hat's der Herr Christus selber gemeint; aber den Dank, den Dank kennt man –«

»Nein,« sagte da leise der Pfarrer, und sein glänzender Blick suchte das Bild und blieb dran hängen, »nein, den Dank kennt niemand sonst –«

Der Doktor wandte sich um. »Gut,« murmelte er, »aber wenn Ihnen demnächst die Steine durch die Scheiben fliegen, dann wundern Sie sich nicht –«

Er schritt zur Türe. Noch einmal kehrte er zurück und nahm fast feierlich den Hut vom langen Haar. »Daß wenigstens ich es nicht vergesse: Herr Pfarrer, ich danke Ihnen.«

Er schüttelte kurz und kräftig des Ueberraschten Hand und ging.

Die Oberlehrerin aber nahm ein Tuch, das am Boden lag, schaute noch eine Zeitlang scharf über die Brillengläser hinweg von großer Nähe auf das Bild und deckte es dann zu mit stiller Muttersorgfalt.

Dann ging auch sie schweigend aus der Stube.

Es hat aber keiner gesehen, wie sie draußen im kalten Flur einen Augenblick lang die kleinen alten Hände 229 inbrünstig ineinanderfaltete und den zahnlosen Mund fest zusammenkniff.

Dann schritt sie die Treppe hinunter.

✤           ✤           ✤

Seit alten Zeiten ist der Januar kein guter Monat für die Jakobshofer und ihre Nachbarn.

Im Januar ist die Sache gewesen, von der der Mühlemichel dem Heiner Neuhaus auf der Steige erzählt hat. Die Sache von dem Jäger mit der Hahnenfeder, der nacheinander sechs Jakobshofer Mädchen und Weibern bei dem alten Gemäuer im Falkenwald begegnet ist. Er hat allen Sechsen schöngetan und gesagt, er wolle ihnen einen Schatz zeigen, der gar nicht weit weg unter einem Felsen liege, und der ganz Jakobshof reich machen könne für alle Zeit.

Sie haben sich aber gefürchtet, alle Sechse, und haben ein Stoßgebetlein getan. Und alsbald ist der Jäger als ein riesiger Kolkrabe über den Schnee hingestrichen mit wüstem Schrei, und der ganze Weg hat nach Schwefel gerochen.

Aber eine war in Jakobshof, eine ganz arme Dirne, die nicht Vater und nicht Mutter hatte und mit ihrer blinden Ahne zusammen hauste. Sie ging taglohnen und kam in alle Häuser und hörte viel und sah noch mehr, denn ihre Augen waren blank wie Sperberaugen. Sie war gewachsen wie eine junge Tanne und kräftig wie ein Mann. Und sie mußte schwere Arbeit tun und weite Wege machen in Wald und Feld zu Tag- und Nachtzeiten. Da hat sie das Fürchten verlernt und hat eine rauhe und kurze Art angenommen.

Sie hat die Sache von dem Jäger gehört und hat gesehen, wie ganz Jakobshof gern den verborgenen 230 Schatz gehabt hätte, und wie alle doch zu feig waren, den Tanz zu wagen.

Da hat sie laut gelacht und hat in die Hände gespuckt und gesagt: »Her muß er, und wenn der Wald wackelt.« Aber die Frommen haben ihr vorgehalten, der Jäger könne vielleicht der Teufel selber sein, und der Schatz stamme dann aus der Hölle, und ihr Seelenheil sei vertan, wenn sie ihn hole.

Da hat sie noch lauter gelacht und hat gesagt: »Ich hol' ihn nicht für mich. Ich scher' mich den Teufel ums Geld. Aber euch drückt's ja das Herz ab, ihr Narren. Euch hol' ich den Schatz von Gold, und ich will den Jäger zum Schatz, den Jäger mit der Hahnenfeder.«

Da hat ganz Jakobshof sich verschworen, sie tu's auf ihre eigene Gefahr und kein Mensch denke daran, um solchen Preis reich werden zu wollen. Und es dürfe nicht sein.

Aber alle, die vordem die Dirne hart behandelt und knapp gehalten, die taten ihr jetzt jegliche Liebe und hätschelten sie und sahen ihr nach den Augen.

Auch die ledigen Burschen, die wohl zuvor schon nach ihrer schönen Gestalt geschaut, aber ihre große Bettelarmut gescheut hatten, die machten sich an sie heran bei der Arbeit und beim Tanz.

Und wenn sie zuvor die schwersten Garben hatte auf den Wagen bieten müssen, so nahm ihr nun jeder gerne die Gabel ab. Und wenn sie sonst beim Tanz abseits stand, so flog sie jetzt vorne hin in des Vornehmsten Arm.

Das ging ein Jahr so, bis wieder der Schnee lag in den zwölf Nächten.

Da war, wie alle Jahr, den Bauern das Blut verhockt und es kam über sie wie über den König Saul. 231

Sie wurden der Dirne gram, daß sie nicht voranmachte mit dem Schatz und dem Teufelholen, und daß sie die Warnung so ernst genommen hatte.

Und das Mädchen bekam bald zu spüren, wie der Bauern Sinn war.

Ihr vornehmer Tänzer, der mittlerweile ihr Schatz geworden war und an dem ihr ganzes Herz hing, so daß sie des unbekannten Jägers mit der Hahnenfeder vergessen hatte, der tat sie von sich mit höhnenden Worten.

Man ließ ihr wieder die schwerste Arbeit, das härteste Brot und die kärglichste Freude.

Da hat sie die Fäuste geballt und hat gellend gelacht und hat zu ihrer blinden Ahne gesagt: »Jetzt b'hüt dich Gott! Jetzt kenn' ich die Rott'. Da gibt's kein' Pardon. Alles find' sein' Lohn.«

Und sie ist fort in einer Januarnacht. Barfuß durch den Schnee. Keine Laterne hat sie mitgenommen. Aber der Jakobshofer Tänzer, der vornehme, der mit ihr immer vorne dran war, der ist in selbiger Nacht an einem hitzigen Fieber erkrankt. Er hat der Dirne ihren Namen geschrien und hat sie angefleht, sie soll ihm zu trinken geben und das Feuer vor seinen Augen wegnehmen und nicht immerzu den Jäger küssen.

Und am andern Tag ist der Bursch tot und kalt gewesen. Aber das Fieber nahm überhand im Ort, und war bald kein Haus, darin nicht eines krank lag. Nur ganz kleine Kinder wurden verschont und etliche leichte Gesellen, die von jeher den lieben Herrgott einen guten Mann sein ließen und nie einen Groschen im Beutel halten konnten. Dazu die ganz Alten, denen die Welt und ihre Lust entleidet war. Und alle, die im Fieber lagen, die sprachen vom Schatz unter dem Felsblock, daß er in den Händen brenne wie höllisches Feuer. 232

Jakobshof ist dazumal fast ausgestorben an mannbaren Leuten. Es ist geschrieben, die Krankheit sei die Pest gewesen; aber es war die Rache der Dirne.

Doch die blinde Ahne der Verschollenen, die fand in jenen Tagen mit ihrem Stock, daran sie über die Aecker ging, einen großen Hafen voll Goldstücke. Sie schleppte ihn heim und brachte ihn dem Pfarrer. Der stellte ihn über Nacht auf den Altar in der Kirche.

Und als er am nächsten Morgen danach sah, da war der Hafen zusamt dem Gold in ein Stück grauen, steinharten Mörtels verwandelt, wie man Brocken findet draußen in dem alten Gemäuer im Falkenwald.

Da hat der Pfarrer das alte Weib zu sich ins Haus genommen, denn er sagte, er habe sie um das Gold gebracht, das wohl augenfällig vom Teufel stammte, aber darum doch eine rechte Hilfe für die letzten Jahre der Blinden gewesen wäre.

Denn im Grunde stamme alles Gold vom Teufel. Aber was man für die Notdurft brauche, das habe keine Macht über die Seele.

Den Mörtelbrocken hat man liegen lassen auf dem Altar.

Aber im Frühjahr, als im Wald der Schnee ging und überall das Rieseln und Rinnen und Plätschern war, da zeigte sich an einem schönen Morgen der Brocken ganz naß wie von Schneewasser.

Und noch eine Zeit darauf, als die Finken zu bauen anfingen und die Amsel in den Abend sang, da ward der Brocken grün von Frauenhaar, wie es im Gemäuer im Falkenwald herniederhängt.

Die Jakobshofer aber erbosten sich über das Teufelswerk und baten den Pfarrer, er solle es aus der Kirche schaffen. Er wollte nicht sogleich, denn er war einer von 233 den Fürwitzigen, die gerne in jeden Topf gucken, in dem ein Breilein schmort.

Aber zuletzt gab er nach, zog sein Amtskleid an und trug den grünumwachsenen Mörtelbrocken mit Singen und Beten hinaus in den Falkenwald. Hinter ihm her zogen die paar übrig gebliebenen Alten und die Kinder von Jakobshof, die alles Herzeleid nicht verstanden oder schon wieder vergessen hatten. Sie zogen Hand in Hand und sangen, und die Sonne schien, und die Spechte klopften im Wald, und die wilden Tauben flogen von Gipfel zu Gipfel.

Als der Pfarrer mit seiner singenden Schar an das alte Gemäuer kam, da flog ein riesengroßer Kolkrabe aus einer Mauerlücke auf und schrie, daß der weite Wald widerhallte.

Dem Pfarrer brach der Schweiß auf der Stirne aus, so schwer ward plötzlich die Last in seinen Händen. Aber er hielt aus und schritt fürbaß und gerade auf die Stelle los, wo der Rabe aufgeflogen war.

Ueber Steine und Mauerstücke mußte er klettern und dann stand er droben vor der Lücke.

Wie er sich aber niederbeugte und den Brocken hineinlegte, da sah er hinter der Mauer einen Holderbusch, den von unten aus niemand erblicken konnte. Der Saft trieb in dem grünen Holz, und es war, als ob man es wachsen sehe. Zwischen den Aesten aber stand aufrecht mit blanken Augen die verschollene Dirne.

Sie war aber tot, ganz tot und steif, doch unentstellt und ohne Furcht im Gesicht.

Man hat sie danach ins Dorf geschafft und in ein rechtschaffen Grab gelegt. Zuweilen kam ein Rabe und scharrte darauf und hieb mit dem Schnabel in die Erde. 234

Und als der Pfarrer ein Zweiglein von jenem Holderbusch darauf pflanzte, da wuchs das so rasch wie der Narr im Zwiebelbeet, so daß fast kein Halten war. Und es heißt, der große Holunderbusch neben der Jakobshofer Kirche sei ein Nachkömmling von dem andern.

Die blinde Ahne aber ist mehr als hundert Jahre alt geworden. Sie saß den ganzen Sommer unter dem Busch im Schatten, hielt die Hände im Schoß und horchte, wie der Wind ging.

Aber sie hatte gut horchen und nichts tun, denn der Pfarrer sorgte ihr fürs Essen.

Was sie alles gehört hat unter dem Busch, das hat sie niemand gesagt. Aber es muß viel und Wunderliches gewesen sein.

Das ist die eine von den alten Geschichten, die im Januar ihren Anfang nahmen.

Die andere ist weit jünger, und der Mühlemichel hätte sie fast erlebt, wenn man ihn hörte. Im Roßstall beim Füttern hat er sie einst dem Buckligen erzählt, und er versicherte, wenn seine Mutter sich nur zehn Jahre früher, als sie es getan, mit dem durstigen Flößer eingelassen hätte, dann hätte er, der Mühlemichel, etwa zum erstenmal die Wände beschrien, als das mit der Spinnerin sich zutrug.

Zwischen Neujahr und Dreikönigstag hatten die Breithofer Mädchen die von Jakobshof eingeladen zum Lichtkarz.

Sie sind in des Heiligenpflegers großer Stube beieinandergesessen, haben gesponnen, gelacht und gesungen, wie es der Brauch ist, und die Burschen verwirrten den Flachs, den Hanf und das Werg nicht mehr als billig und recht ist. 235

Ueber all dem hat es zu schneien angefangen, wie es nur kann, wenn der Himmel bis fast auf den Wald hängt. Die aber in der Stube bei der Lampe haben das nicht gesehen.

Und der Heiligenpfleger von Breithof war ein Spitzbub, der, als er zum letztenmal ums Haus ging und sah, wie die Sache lief, gleich an seinen Spaß dachte.

Er machte alle Läden zu, schüttelte den Schnee von Kappe und Kittel und sagte, als er in die Stube trat: »Spinnet nur, Mädle, grad geht der Mond auf, in zwei Stunden habt ihr einen hellen Heimweg.«

Aber des Schmieds Christiane von Jakobshof, die hatte immer einen überzwerchen Kopf. Und weil ihr Schatz, der Schmiedknecht, nicht zum Lichtkarz kam, da war sie noch überzwercher als sonst.

Die also sagte sogleich: »Heiligenpfleger, das ist ein Schwindel. Neumond ist im Kalender.«

Aber der Heiligenpfleger stritt und tat, als ob er den Kalender suche, und nahm einen ganz alten und zeigte, daß Vollmond sei. Danach holte er noch einen großen Krug Most aus dem Keller und schenkte ein, daß es über den Tisch lief.

Und die Uhr stellte er heimlich zurück, und als es auf Mitternacht ging, da sagte er, nun sei es zehn Uhr vorüber.

Und als dann alle aufbrachen und die Burschen den Mädchen die Schürzen schüttelten, da mußte des Schmieds Christiane die ihrige selbst ausschütteln, weil ihr Schatz fehlte.

Sie tat es mit einem blassen Gesicht. Und als die andern lachten, da sagte sie, ihr sei immer, als ob heut noch ein vornehmer Schatz nach ihrer Schürze greifen würde. 236

Der Heiligenpfleger aber tat die Haustüre auf, da fegte der Schnee herein in hellen Schwaden. Und die Staffel war zugeschneit bis obenan.

Da traten alle zurück und lachten, und die Burschen sagten, da sei kein Heimkommen, und der Heiligenpfleger solle nur noch mehr Most aus dem Keller holen oder ein Heulager richten in der Scheune.

Aber die Mädchen schrien und kreischten wie die Hennen, wenn man mit dem Gerstensack an ihnen vorübergeht.

Nur eine blieb still und sagte zuletzt, als das tolle Lachen verstummt war, sie müsse heim um jeden Preis.

Es kam aber alle ein sonderbarer Schrecken an, als sie die überzwerche Christiane so reden hörten, und sie setzten sich dagegen und baten, sie solle nicht mit dem Kopf durch die Wand wollen. Aber einem rabiaten Frauenzimmer und der Sonne am Himmelszelt ist nicht gut zureden. Sie gehen beide ihres Gangs über Berge und Täler hin.

Die Christiane lachte auf ihre besondere Art und sagte, sie müsse heim, und wenn der Teufel dagegen sei.

Da dachten die andern, sie sei so unguten Muts, weil ihr Schatz nicht gekommen sei, und ließen ihr den Willen. Beim Heiligenpfleger gab es eine lustige Nacht, wovon nicht weiter zu reden ist.

Aber die Christiane ist nicht heimgekommen. Man hat sie des andern Tags tot im Schnee gefunden. Einsam im Feld, abseits vom Weg lag sie. Ihre Kunkel stand aufrecht neben ihr, und an ihrer Schürze waren Spuren wie von rußigen Fingern.

Man hat erst den Schmiedsknecht, ihren Schatz, darum angesehen. Aber der wies nach, daß er in selbiger Nacht bei einer andern in Hohenweiler gewesen sei, weil 237 ihm die Christiane um ihres Wesens willen entleidet war.

Auch war das an der Schürze kein richtiger Ruß, sondern eingebrannt.

Dort, wo die Christiane ihren Tod fand, hat man ein steinernes Kreuz aufgestellt mit einer Spindel darauf zum ewigen Andenken. Jeder kann es stehen sehen im Feld. Und wenn einer sagt, das Kreuz sei ein paar hundert Jahre alt, so weiß er nicht, was der Mühlemichel weiß, der alles von seiner Mutter hat.

So ist der Januar kein guter Monat für die Jakobshofer. Es ließe sich leicht noch viel erzählen, was sich zugetragen hat in der Zeit der Zwölf Nächte und bis gegen Lichtmeß hin, bis man die Spindeln ins Werg steckt und die Kunkeln in die Kammer stellt.

Und es ist kein Wunder, daß allerlei sich zuträgt.

Die Jakobshofer werden im Winter unwirsch, mürrisch und jäh, so daß alles Böse leichteres Spiel mit ihnen hat.

Sie sind dann voll Mißtrauen und Unmut wie Waldkäuze, und über ihren Köpfen lagern allerlei umgestandene, angefaulte Gedanken.

Viele werden sich des Uebels nicht bewußt und leben dumpf unter dem Druck dahin, bis der Märzwind die Wolken jagt.

Andere aber sind wie Fische unterm Eis: sie wollen mehr Luft und suchen nach Löchern, durch die sie den Kopf in eine Freiheit strecken können.

Da sind Junge, die treiben es dann bunt mit Trinken, Spielen, Raufen und jenem Lieben, das als das stärkste Gas in jedem Sumpf die größten Blasen wirft.

Aber auch manchem Alten wird es eng. Die, die im Sommer das Sehnen und Suchen des wunderlichen 238 Dinges, das man ein Menschenherz nennt, in harter Arbeit verströmt haben, so daß es ihnen nie Beschwer machte, die fühlen jetzt, wie etwas sich staut, wie es nagt und bohrt und einen Weg sucht.

Diese Sorte nun ist in Breithof drüben, wo ihnen der kinderlose Schulmeister sein Häuslein letztwillig zur Verfügung stellte, zu einer Gemeinschaft zusammengetreten.

Sie wollen nichts Besseres und nichts Geringeres, als auf eigene Faust, mit der Bibel in der einen und den Schriften eines frommen Mannes in der andern Hand, hinter dem lieben Herrgott herpirschen durch dick und dünn.

Das ist kein übles Ding. Und bis auf ein paar Schreier, zu denen der Schulze von Jakobshof gehörte, meinte jedermann zusamt dem Pfarrer, man könne ihnen die Freude lassen.

Zu dieser Gemeinschaft, die nicht sonderlich groß war und fast nur aus ganz Alten bestand, gehörten der Stundenwilhelm und das Regele vom kalten Grund.

Im Sommer hatten sie nur ganz selten Zusammenkünfte. Aber gegen Weihnachten hin, wenn die irdischen Garben gedroschen waren, dann machten sie sich daran, auch anderes Korn zu gewinnen.

Und ob dabei wohl viel leeres Stroh gedroschen und viel Spreu nicht weggesiebt ward, so hoben sie mit ihren verkrümmten Händen doch manches volle Körnlein von der Tenne auf, und sie konnten in Wahrheit sagen: Herr, wir haben nie Mangel gehabt, seit wir in deinem Dienste stehen.

Das können nicht alle Diener aller Herren sagen, es sei denn, sie scheuten eine grobe Lüge nicht. 239

Alle, die in des Schulmeisters hinterlassenem Haus zusammenkamen, waren stille Leute.

Sie hatten keine Apostel unter sich und keine Evangelisten mit Taggeldern, die ihnen das Brot des Lebens, das sie gläubig und schwerfällig suchten, schmatzend vorgekaut und ekelhaft mit dem eigenen Speichel vermischt hätten.

Auch hatte unter den zehn oder zwölf Genossen keiner die Gabe der Rede. Diese knallende Peitsche der Zutreiber, die neugierige Mitläufer einfängt und die Kerntruppe kopfscheu macht.

In einer stillen, harten Einfalt taten sie die ewige Menschenpflicht: suchen und hoffen.

Der Stundenwilhelm, der etwas schwach im Kopf war, nahm zuweilen einen Anlauf, auf Grund der langen, schweren Bibelstellen, die er in sich hatte, mit erhobener Stimme über die Brüder und Schwestern hinwegzureden.

Aber sie legten dem keinen besonderen Wert bei. Und wenn er es gar zu stark trieb, dann sagten sie ihm in aller Ruhe, er solle bald zum Ulrich gehen.

Der Ulrich aber war ein Barbier und Wundarzt, der von Zeit zu Zeit dem Wilhelm im Nacken Schröpfköpfe setzte.

Das tat dann immer gut und befreite für eine Weile den wackeren Menschen von allem Ueberschwang, machte ihn nüchtern, demütig und klar im Kopf, wie es die von der Gemeinschaft haben wollten.

Als nach jenem bösen Christfest das Regele zum erstenmal wieder in die Stunde kam, da schauten ihr die Augen anders als sonst entgegen, denn man erhoffte von ihr, daß sie die Wirrnis der letzten Wochen klarzulegen vermöge, so daß aus dem ganzen Wust doch 240 wenigstens der Finger Gottes herausschaue, um den es ihnen so heiß zu tun war.

Aber das Regele sagte etwas Merkwürdiges. Sie sagte, von diesen Sachen solle man den lieben Herrgott überhaupt ganz weglassen.

Die Brüder schüttelten die Köpfe in stummem Sinnen.

»Ja,« sagte der eine, »und daß du jetzt in deine alte' Tag' aus Stell' und Brot bist? Geht des au' unsern Herrgott nix an?«

Sie schaute den Frager lang fast erstaunt an. Dann erwiderte sie: »Des geht unsern Herrgott ganz allei' an, Matheis; do mußt no wieder du dei' Maul davon lasse' –«

Darauf begann der alte Matheis mit nachtastendem Finger vorzulesen aus dem Buche des Hiob, an dem man stehen geblieben war, als seinerzeit in Jakobshof noch alles Friede und Eintracht war.

Daß sich aber die Herrlichkeit auch im Dorf so jäh gewandelt hatte wie bei dem unglücklichen Mann im Buche, das war für heute den Stundenleuten der Finger Gottes, ohne den sie nicht auskommen konnten, wie kleine Kinder nicht ohne der Mutter Schürzenzipfel.

✤           ✤           ✤

Im Dämmergrau des frühen Morgens kam die Liesel ins Totengräberhaus nach jener bösen Nacht.

Sie dachte nicht darüber nach, was weiter werden sollte. Sie war aus dem kalten Grund fortgelaufen zu ihrem Heiner – mehr nicht.

Seine Flöte trug sie bei sich und des Vaters Bild. Sonst kein Stück ihrer Habe. Auch die zertrümmerte Geige nicht.

Der Krüppel sagte nicht viel, als er die verstörte Frau in seiner Stube sah. Er legte die Flöte an ihren 241 Platz und schob Holz in den Ofen und stieg hinab in den Stall, um seine Milch zu holen. Und mittlerweile kam der Tag und die Kirchenzeit.

Und als die Glocke kurz und zerfahren die paar Schläge läutete, da sagte Heiner der Schwester, daß er versprochen habe, in der Frühe des Schulmeisters Geige im kalten Grund zu holen.

Die Müllerin stand am Tisch, ganz bleich und mit hilflosen Augen.

»O Heiner,« stieß sie hervor, »er hat sie zerschlagen in seiner Wut.«

Da war es, als ob jemand dem Krüppel einen harten Stoß versetzt hätte. »Nein, du,« schrie er auf, »das darf er nicht –«

Zu derselben Zeit aber trat der Waldschütz herein. Er kam vom Stall, hatte Strohhalme am gestrickten Kittel hängen und zitterte stärker als sonst.

Sein eingefallener Stoppelmund bewegte sich mühselig, die weißgelben Haare hingen unordentlich über die Glatze. »Leut,« sagte er fast keuchend, »'s muß ebbes passiert sei'. Mit'm Schulmeister muß ebbes passiert sei' – zwei Buebe saget's –«

»Er ist erschlagen,« schrie jäh der Krüppel auf und stürzte aus der Türe, dem Dorf zu.

Alle vom Totengräberhaus eilten danach davon, die Gesangbücher unterm Arm und gruselnde Neugier in den Augen und Herzen.

Die Liesel allein blieb draußen in des Bruders Stube, zerschlagen und betäubt wie eine Schuldbeladene.

Der Krüppel aber, als er ihr nach Stunden Kunde brachte, warf ihr wie im Fieber Worte hin, die an dem schmerzvollen Brand seines Freundesherzens allzuheiß 242 geworden waren. Bittere und heftige Worte, wie brodelnder Jammer sie wahllos emporschleudert.

»Du hast uns gerufen, wir wären sonst nie miteinander in die Mühle gekommen. Wir haben ihn besser gekannt als du, den wilden Stier da drunten. Hättest du nicht wegbleiben können von uns! Wenn du doch schon den andern genommen hast! An dir ist er gestorben! Du hast ihn nicht zur Ruhe kommen lassen –«

Ratlos und stumm, mit verstörten Augen sah die Müllerin auf den Bruder. Wie ein Kind der Sorge war er ihr seither gewesen, nun stand er vor ihr wie ein Richter, der alles Geschehene in einen grellen, neuen Schein rückte.

Sie konnte sich nicht rechtfertigen. Ein übermächtiger Wirbel zog alles, was sie hätte sagen können, sagen müssen, in seinen grauen Schlund.

So ging sie stumm und wie schlafwandelnd über die nächsten Tage hinüber.

Die taube Kätter holte ihr aus freien Stücken ein schwarzes Kleid in der Mühle, und niemand hat erfahren, wie in dieses abgeschlossenen Weibes Kopf die Geschehnisse sich zu Bildern aneinanderreihten.

Der Waldschütz aber hat den Geschwistern gezeigt, zu was es gut ist, wenn der Mensch neunzig Jahre lebt auf Erden.

Alles, was er mit ihnen redete, atmete jene schlichte Weisheit, die auch ein Salomo nicht in der Jugend haben kann: daß die heißeste Suppe von selber verkühlt, wenn man sie ruhig und lang genug stehen läßt.

In seinem alten Kopf lagen zudem in unerschöpflicher Fülle die Erinnerungen. Die ältesten ganz obenauf und am besten zur Hand. Was sein langes Leben ihm im Vorüberströmen vor die Füße geschwemmt hatte, 243 das war aufs Trockene gezogen und in die Sonne gelegt zu klarer Uebersicht.

Wenn die Geschwister an der Arbeit hinter den Uhren saßen, dann schaute der Alte zu, rauchte, erzählte und schwieg, wie die Stunde es verlangte.

Das war dazumal ein Fest für die Kinder des Neuhaus, als es zu Tag kam, daß der Waldschütz als junger Schreinergeselle und Soldat sechs Jahre seines Lebens in der Stadt zugebracht hatte, in der Albrecht Neuhaus geboren war und seine Jugend verlebt hatte. Es war ein Schauen und Staunen und Sichfreuen in den Geschwistern, weil da ein versunken geglaubtes Land noch einmal aus der dunklen Tiefe tauchte und ins Licht trat. Der Waldschütz hatte sogar den alten Uhrmacher Paulsen gekannt, den fast von Mythen umzogenen Tausendkünstler, der auch an die hundert Jahre alt geworden war, und von dem in die Lehre genommen zu werden ihres Vaters heißester Bubenwunsch gewesen war.

Sieben Gesellen hatte Paulsen und ein Haus mit wundervollem Balkenwerk, dessen hoher, spitzer Giebel jene Uhr trug, aus der zur Mittagszeit ein Engel trat, der Posaunentöne über den stillen Markt blies. Die Geschwister ließen die Arbeit sinken und lauschten. Sie fingen an, auszurechnen, ob der alte Waldschütz dann wohl auch in der fernen Stadt einem jungen Büblein könnte begegnet sein, das Albrecht Neuhaus hieß und dessen Kinder nun da in der niederen Stube saßen. Da tat denn der Waldschütz ein übriges. Neunzig Jahre hatte ihm der Herrgott gegeben. Jahre, die jetzt sozusagen tot und lendenlahm beim alten Eisen lagen. War es da eine Sünde, wenn er sie ein wenig vornahm, zurechtstutzte und durcheinander schob? Dem Alten kam es vor, als hätte er ein souveränes Recht über das 244 Gewesene, und als dürfe er es getrost so lange schütteln, bis es auf der Seite lag, die am besten den Zweck erfüllte, die Geschwister fröhlicher zu machen.

Er ließ den Bürgermeister der fernen Stadt, den Gouverneur der Garnison, den Feldwebel der eigenen Kompagnie, den Pfarrer der größten Kirche dort oben Neuhaus heißen. Es war, nach dem Waldschützen, kein Name in jener Stadt, der dem Namen Neuhaus gleichgekommen wäre an Ansehen.

Der zahnlose Alte tat mit seinen Geschichten nichts anderes, als was er früher Jahr um Jahr im Jakobshofer Gemeindewald an den jungen Bäumchen getan hatte: Er schuf Licht und Luft für zartes Holz, das am Ersticken war. Wenn es nicht anders ging, – mit leichter Gewalt. Leute vom Forst, sobald sie von der rechten Sorte sind, lügen nicht. Sie haben nur statt der grauen die frischgrüne Wahrheit.

Der Waldschütz hat durchgesetzt, daß die Liesel fürs erste sein Bett und seine Stube nahm, indes er im warmen Stall auf Heu schlief. Die Geschwister wollten das nicht dulden. Da schaute der Alte die Müllerin listig an. »Frau,« sagte er, »net um Sie sorg' i'. – 's ist bloß wege' mir. Wer auf de' Hobelspän' gut schlofe' will, der muß vorher auf 'm Heu g'lege' sei'. Kommt mer von de' Federe auf d' Hobelspän', no druckt es ei'm schier d' Rippe' 'nei.«

»O,« sagte die Liesel mit Tränen in den Augen, »ich glaube, mich würden die Hobelspäne nicht drücken.«

Der Alte schüttelte den Kopf und lächelte, daß ihm die bläulichen Lippen tief in den Mund sanken. »Frau,« sagte er, »für Sie wachst no' weißer Flaum! Sie müsset no' net z' früh rupfen wölle', sonst gibt's StupfleStoppeln.245

So lag die Liesel viele Stunden schlaflos in des Alten Bett. Durch die unverhangenen Fenster blickte das verschneite Feld und glitzernde Sterne. Wo mochte er wohl wachsen, der weiße Flaum, auf dem sie einmal noch in ihrem Leben liegen sollte?

Sie dachte an den letzten Abend im kalten Grund. Wie zum Fest hatte sie sich geschmückt. Zu welchem Fest? Hatte sie damals, hatte sie nicht tausendmal tief innen gehofft, der weiße Flaum sei doch vielleicht bald reif zum Rupfen?

War nicht immer ein Warten in ihr gewesen, eine scheue Sehnsucht, die den fremder und fremder werdenden Mann umflatterte, wie ein müder Vogel, der ein Plätzchen sucht zum Ruhen?

Sie richtete sich empor, und ihr war plötzlich heiß.

Den stattlichen Mann sah sie vor sich stehen in der ärmlichen Stube in der Wassergasse, wie er die reparierte Uhr auf den Boden schleuderte und sie dann mit heißem Blick auf den Tisch legte und sagte, daß er wiederkommen werde.

Und der Jägersmann stand auf der Steige. Die Sonne lag auf seinem gebräunten Gesicht und blitzte auf dem blanken Flintenlauf.

Der Müller vom kalten Grund erwartete die Braut, und die Ungeduld hatte ihn auf den Weg getrieben.

Die Liesel fühlte einen scharfen Schmerz, als werde von einer sorgsam verhüllten Wunde jählings die Binde abgerissen.

Jammernd neigte sie sich vornüber, zog die Knie hoch und weinte still vor sich hin.

›Regele, hättest du doch geschwiegen in der letzten, bösen Nacht! Hättest du mir doch nicht gesagt, was er 246 schon alles getan hat! Vielleicht wäre noch einmal alles gut geworden bei uns.

›Jetzt ist's aus! Jetzt muß es aus sein, weil ich sonst mich verachten muß. Niemand kann mir da hinüber helfen. Das kann ein Weib nicht tragen, das nicht –‹

Es war, als ob die einsame Frau hilflos und kopflos nach einer Oeffnung, nach einem kleinen Spalt nur suche, der etwas Licht und Luft hereinlasse durch die schwere Mauer ihres Herzeleids. Und da fiel ihr die Frau mit dem großen Kropf ein. Die alte Müllerin, die unter dem Efeu und dem bronzenen Kreuz lag. Hell schaute die ihr plötzlich ins Gesicht. ›Siehst du, das ist das Los der Weiber der Klotz vom kalten Grund. Ich kenne es wohl. Schwerer noch als du hab' ich daran getragen. Ich bin nicht so gesund gewesen wie du, nicht so kräftig, nicht so zäh. Wenn du eines Sohnes Mutter wärest, du könntest ihn anders an der Hand nehmen, als ich, die schwächliche Frau. Von deinem Vater könntest du ihm erzählen und von allem Schönen, was man im kalten Grund nicht kennt. – Aber du bist ja zu feig. In deine Kälte hast du dich eingewickelt wie in einen Mantel, wie in ein Stachelhemd, als nicht alles war, wie es dir paßte. Meinst du, die Klotze mache man anders auf diese Weise?

›Und dann bist du davongelaufen. Glaubst du, er hole dich wieder? Ein Klotz und ein eingeschirrter Gaul reißt lieber alles in den Graben, als daß er freiwillig rückwärts tritt. Es ist gegen seine Natur. Du tust ja auch nicht gegen deine Natur. Du hast dem wilden Müllersblut nie Zugeständnisse machen wollen, bist nie aus deinem Stachelhemd herausgetreten, hast nie den Preis zahlen wollen für deinen liebsten, tiefsten Wunsch.‹ So sprach die alte Müllerin unter dem Efeu hervor. 247

Und die Junge lag schlaflos in der schneehellen Nacht, lauschte, wehrte sich und gab sich, wie ihre Kräfte reichten.

Haß und Verachtung für den brutalen Mann wollte sie in sich aufflammen lassen. Da war beides feucht geworden von all den vergossenen Tränen und brannte nicht. Statt heller Flammen gab es nur einen trüben Qualm, beizend wie Herzeleid.

Die Kinder des alten Neuhaus aßen jämmerlich dünne Suppen in jenen Winterwochen.

Des Pfarrers Mutter kam und bat, die Liesel möge ihrem Sohn noch ein paarmal sitzen zu seinem Bilde, das beinahe fertig sei.

Der Krüppel schaute hastig von seinem Werktisch auf und wollte etwas sagen.

Aber als er die Schwester ganz ruhig, ja freudig ihre Zusage geben hörte, da schloß er den schon geöffneten Mund wieder und dachte, daß man am besten allem Wasser den Lauf lasse.

So wuchs danach unter des Pfarrers Händen das Bild, und in Jakobshof hinter den eisernen Oefen wuchs das zähe Winterunkraut, das keinen Fuß mehr losläßt, der arglos hineingeraten.

Stundenlang war die Müllerin im Pfarrhaus. Aus Tüchern, die die alte Frau ihr gab, nähte sie sich das Gewand der Maria.

Mutter und Sohn sahen ihr auf die flinken, geschickten Finger, wunderten sich und freuten sich, wie alles nach guter Art vor sich ging.

Für den Maler war es jetzt ein leichteres Arbeiten. Stumm und reglos, als gebe es für sie kein Ermüden, stand ihm die blasse Frau, solange der kurze Tag sein Licht gab. 248

Sie sprachen kaum miteinander. Des Mannes ganze Seele war bei dem Werk, das jetzt, da es der Vollendung entgegenging, alle Kräfte seines Meisters trank wie ein trockener Schwamm.

Die Maleraugen, die scharf und klar blickten, wenn sie auf Beute gingen, schauten verwirrt und unsicher, sobald sie weggerufen wurden von ihrer Arbeit.

Der Liesel war dies stumme, versunkene Schaffen recht. Es kam wie Andacht über sie in der großen, stillen Stube.

Sie hätte keinen Alltag hier hereintragen mögen und am allerwenigsten die Brocken ihres eigenen Schicksals.

Die Oberlehrerin fragte sie nicht, und der Pfarrer fragte nicht. Das tat ihr wohl und gab ihr Ruhe.

Sie sah die alte Frau geschäftig sorgen um den Sohn. Das war ein immerwährendes Steine-aus-dem-Wege-räumen, ein Bahnmachen für den Mann, der versonnen seine Straße zog. Da kam es über die Liesel, wie das Heimweh über den Wanderer kommt, wenn er einen Kirchturm ragen sieht, der dem seines eigenen, fernen Dörfleins gleicht.

Mit Augen voll Tränen gedachte sie der Tage, da sie für den Vater und den Bruder gesorgt hatte.

Es quoll in ihr empor, wie aufgestapelte Sehnsucht nach nimmermüdem Geben, nach Opfer, nach Sorge.

Wie lang, wie lang hatte sie das nicht mehr gehabt! – Im kalten Grund war ihr der Quell verschüttet worden, der ihre Seele frisch und lebendig erhalten hatte von Kindheittagen an.

Der Müller war kein Mann zum Umsorgen; der nicht! – Schwer liefen ihr die Tränen übers Gesicht.

Der Maler schaute her. Er sah die weitoffenen Augen voll Schmerz und Sehnsucht und hilfloser Liebe, die kein Ziel mehr hat. 249

Da kam ein scharfer, fast gieriger Strahl in seinen Blick, mit dem er alles auffing und festlegte in seinem Bild.

Aber ob er den Jammer der Heilandsmutter sah, das Herzeleid der Frau sah er nicht.

Und das war gut so. Denn niemand kann zwei ungleichen Herren redlich dienen.

✤           ✤           ✤

Einmal kam das Regele ins Totengräberhaus.

Sie grüßte den Hausherrn nicht, der mit der Pfeife im Mund im Hof stand und seinem tauben Weib zusah beim Reisigmachen.

Sie hatte eine tiefe Verachtung für den faulen Schwätzer, von dem ihr der Mühlemichel erzählt hatte, daß er seit Weihnachten tagtäglich im kalten Grund herumschmarotze, sich Essen und Trinken schmecken lasse und dem Müller beim Fuchsgraben und anderswie auf der Jagd helfe.

Der tauben Kätter nur warf sie im Vorüberschreiten einen kurzen Gruß zu, den diese nicht hörte.

Bei den Geschwistern saß sie dann am Tisch und sah, wie ihre reiche Müllerin eines Bauernknechts plumpe Uhr auseinandernahm und das verharzte Räderwerk putzte.

Es war, als ob ihr das die Sprache verschlüge, so lange blieb sie stumm. Vielleicht störte sie auch der Krüppel, der mit verschlossenem Gesicht ihr gegenüber saß.

Weil aber die andern nicht zu reden anfingen, mußte sie es endlich tun.

Sie fragte, wie das nun sei mit der Scheidung.

Da hob die junge Müllerin den Kopf. Ein merkwürdig harter, hochfahrender Zug war um ihren Mund, und die klare Blässe ihres Gesichts vertiefte sich sichtlich. 250

»Wozu das?« fragte sie kurz und klingend. »Ich bin ihm aus dem Weg, er mir, – mehr braucht es nicht.«

Da riß das Regele die Augen auf und schluckte. Darauf rückte sie ihren Stuhl näher an den der Liesel und fragte, nach dem ruhig arbeitenden Heiner blickend: »I' darf doch schwätze?«

Sekundenlang war es wie ein Zögern. Die alte Liebe zwischen den Geschwistern schritt nicht mehr schrankenlos einher wie einst. Sie stand hinter einem Zaun und schaute sehnsuchtsvoll darüber.

»Ja,« sagte dann die Müllerin, »er mag alles hören.«

Die Magd strich sich die Schürze auf dem Knie glatt und murmelte: »'s hätt' scho' lang g'sagt g'hört.«

Und entschlossen fing sie an: »Mei' Herr hot de' Teufel im Leib, do tu' i' nix davo'. Aber jeder Mensch hot sein'n Teufel. D' Hauptsach' ist, daß er net über ein'n Herr wird. 's Schaffe' und 's Bete' und 's Zähnaufeinanderbeiße' hot scho' manchen Teufel austriebe'. Aber alles des ist mei'm Herre' sei' Sach' net. Des ist überhaupt net d' Sach' von de' reiche' Mannesleut'. Mei' Herr hätt' e' anders Mittel han solle': er hätt' solle' e' rechts Weib kriege'.« – Sie schwieg, sah aber nicht auf und strich immerzu an ihrer Schürze.

Der Krüppel legte seine Arbeit aus den Händen und ließ sich auf dem Drehstuhl zusammensinken, so daß er etwas Kauerndes und Lauerndes an sich hatte.

Die Müllerin hatte den Ellbogen auf den Tisch gestützt, den Kopf darein gelegt und rührte sich nicht.

Keines machte einen Einwurf.

Da fuhr die Magd fort: »I' sag' net, daß Sie kei' recht's Weib seiet. I' sag bloß: Sie sind net 's Weib für mein' Herre'. Der hätt' solle eine han, die ihn in d' 251 Hand g'nomme hätt', wie d'r Roßknecht de' schiefrige Gaul: Je wilder er tut, je kürzer hebt mer ihn. Sie hänt ihn immer z' lang g'halte, do sind ihm seine Sprüng' net vergange'.«

Wieder schwieg sie. Der Krüppel warf hin: »Liesel, du hast aufs Weibsein studiert und bist auf den Roßknecht geprüft worden. Darum hast du nicht bestanden.« Die Müllerin blieb stumm, und die Magd schaute mit mißtrauischem Blick kurz über den Tisch.

Dann fuhr sie lebhafter, wie nach einem guten Einfall, fort: »Die rot' Kathrin, des wär' die recht' g'we' für de' Müller. Bloß hätt' sie solle' e'n reichere Vater han und net gleich tanze', wie der Klotz zum erste' Mol 'pfiffe' hot. Je länger mer so einen pfeife' läßt, je besser kriegt mer ihn in d' Hand.«

Die Liesel machte eine leise, zuckende Bewegung. Aber sie sagte nichts, und die Alte fuhr fort: »D' Klotz vom kalte' Grund brauchet Weiber, die barfuß über en Stoppelacker springe' könne' und dazu no' nach jedem Lerchle gucke'. Sie, Frau, Sie sind net von dere' Sort. Ihne' blutet viel z' bald d' Füß'.«

Jetzt schaute die Liesel auf, und ihre Augen waren blank und dunkel, als ob Tränen darüber gegangen wären. »Und die alte Müllerin?« fragte sie leise, mit merkwürdigem Ton.

Da wich das Regele langsam, wie widerwillig den Augen der Frau aus und sagte unfrei: »Die hot au' z' weiche Füß' g'hät bis an ihren letzte' Lebenstag. Aber deswege' ist's au' so e' bös' Laufe' g'we' für se. Des möcht' i' Ihne' net au' so wünsche'.«

»Ja,« sagt die Liesel, »aber sie hat sich auch nicht scheiden lassen.« 252

Die Magd hob rasch den Kopf. »Sie hot Kinder g'hät vom Müller, en Bube, en Erbe für de' kalte' Grund – des ist jo g'rad die Sach' bei Ihne'.«

In den Augen der Liesel loderte etwas auf. Kurz und heiß wie der Funke aus dem Stein, wenn ein Huf ihn hart getreten hat.

»Sie ist Müllerin geblieben, und ich bleib's auch,« sagte sie.

Der Krüppel zog eine Uhrfeder auseinander und ließ sie wieder zusammenschnellen.

»Ja,« sagte er, »die Unkosten sind jetzt schon gemacht.« Die Magd schwieg, als sei sie für einen Augenblick ratlos. Sie blickte auf die braunen Hände, die im Dienst der Mühle hart und krumm geworden waren.

Dann glimmte etwas wie Zorn in ihrem Gesicht auf.

»So,« warf sie hin, »ja zu was dann überhaupt des Davo'laufe'? E' verlaufe's Weib ist wie d'r Fuchs in d'r Fall': Jeder schmeißt nach ihm und schreit ›Hühnerdieb‹, und wenn des Füchsle nie e' Henn' a'g'regt hot.

»In der Bibel heißt's: Wer sich von seinem Weibe scheidet, der soll ihr geben einen Scheidebrief. Des gilt au' um'kehrt, wenn 's Weib vom Ma' davo'lauft. D' Klotz vom kalte' Grund send keine Klosterbrüder. Die kommet net lang ohne Weiber aus. Des liegt bei dene' in der Rass', wie bei de' Katze' 's Mause'.«

Sie sprach laut und seltsam dringlich, als hinge viel daran, daß sie gehört und verstanden werde.

Die Liesel schaute ihr unverwandt ins bewegte Gesicht, in dem die alten Augen unruhig glitzerten.

»Regele,« sagte sie nach einer Pause, »Ihr kennt ihn seit seinem ersten Tag und seid jetzt doch auch von ihm gegangen. Man hält ja das Leben nicht aus bei ihm.« 253

Es war, als ob die Magd auffahren wolle und sich rasch wieder bezwinge. »Frau,« murmelte sie, »mer hält viel aus; mer muß bloß die recht' Liebe han. – Sie stellet sich nicht ungebärdig, sie läßt sich nicht erbittern –«

Der Krüppel lachte laut auf und sah seine Schwester an. »Selbstverständlich, Liesel, das ist's – – du warst von jeher so ungebärdig, so leicht zu erbittern –«

Die Müllerin tat, als habe sie nicht gehört. »Gehet Ihr wieder in den kalten Grund, Regele,« bat sie leise. »Euch braucht er, Euch braucht die Mühle. Mich braucht niemand.«

Die Alte nickte. »Drunter und drüber geht's drunte, hot mir der Michel verzählt, seit i' fort bin. D' Jungmagd ist e' Lumpetierle, verschlampt 's Hauswese', sorgt net für d' Knecht und putzt sich 'raus wie e' Pfingstochs' für de' Müller. – Der aber, der sei wie 's bös' Wetter und tät nix, als mit 'm Tote'gräber im Wald 'rumstreune. Do ist er an de' Rechte' 'komme. Wenn einer verlogen ist und faul, springt ihm der Teufel aus 'm Maul. Wenn der Jakob drei Wort sächt, send zwei davo' e' Niedertracht und 's dritt' e' Lumperei. – In so' Händ' ist jetzt mei' Herr! Und dazu sitzt er mit 'm Schulze, dem g'walttätige' Blitz, im Wirtshaus bis in d' Nacht 'nei'. Do wird über de' Pfarrer g'scholte' und über 's Pfarrers Mueter und über Gott und Welt. Früher sind d' Müller vom kalte' Grund nie in Jakobshof nachts im Wirtshaus g'sesse'. Aber natürlich, wenn einer kei' Weib daheim hot und kei' Ordnung im Haus –«

Sie schwieg und sah finster vor sich hin.

Der Krüppel spielte immerzu mit der Uhrfeder. Dabei lag ein Lächeln um seinen Mund, und oft flog 254 ein kurzer, fast belustigter Blick von der Magd zur Müllerin und von der Müllerin zur Magd.

»Liesel,« sagte er jetzt, »wenn eine, so hast du dem Klotz seine Seele auf dem Gewissen. Der Mann verkommt ohne dich.«

Die Alte schaute langsam auf und richtete den harten Blick auf den Krüppel. »Herr Heiner, i' verstand Sie gut, wenn i' au' bloß e' dumme Bauremagd bin. Bei de' Junge' steckt d' G'scheitheit im Maul, bei de' Alte unter 'm weiße Hoor. I' han net g'sagt: D'r Müller braucht Ihr Schwester. I' han bloß g'sagt: D'r Müller braucht e' Weib. Er ist net 's einzig Mannsbild auf d'r Welt, bei dem 's so ist, wenn au' wieder andere mit 'm Flötespiele' und Dudle auskommet –«

In scharfer Feindseligkeit sprach sie die letzten Worte, und rote Flecken kamen auf ihrem Gesicht.

Die Müllerin strich sich das schwere Haar aus der Stirne.

»Regele,« sagte sie noch einmal, »geht Ihr wieder zu ihm. Er jagt Euch nicht zum zweitenmal davon, wenn er sieht, wie es ohne Euch zugeht.«

Die Magd schüttelte den Kopf. »Nei', nei'. Mei' Zeit im kalte' Grund ist 'rum. I' bin au' z' alt zum Weitermache'. Und i' han mei' Zeiche'. Des Zeiche' mit der Uhr.«

»Was ist's mit der?« fragte hastig der Krüppel.

Die Alte wandte sich mit ihrer Antwort an die Frau. »'s mag zwölf, fünfzeh' Johr her sein, do han i' mit d'r alte Müllere Garn g'haspelt in der Kammer, wo die Uhr g'stande' ist seit Urzeite'. Wir hänt so g'schwätzt, wie 's wohl au' sei, wenn mei' Frau nemme lebe tät. Sie hot oft ans Sterbe' denkt. Sie ist nie recht fest g'we', seit sie g'heirat' g'we' ist. Und i' glaub', sie wär' viel 255 bälder g'storbe', wenn sie net g'wißt hätt', wie nötig der alt' Müller e' Weib und der jung' e' Mueter braucht hot.

»Sie guckt an sellem Tag e' Weile in des Eck' 'nein, auf die Uhr. Auf ei'mol läßt sie de' Haspel fahre', streckt mir d' Hand hin und sächt: ›Regele, schlag ei' und versprich mir, daß du net aus der Mühle gehst, eh' die Sonn' dort auf der Uhr aufgeht und die Zeiger wieder laufet.‹

»I' han g'lacht und han g'sagt: ›Frau do müßt i' bis zum Jüngste' Tag bleibe'. Die Uhr läßt kei' Klotz wieder mache', er weiß warum.‹

»Aber sie hot de' Kopf g'schüttelt und hot net nochg'lasse', bis i' ihr in d' Hand 'nei' versproche' han, was sie hot wölle'. I' han bei mir denkt: ›Regele, jetzt bleibst halt im kalte' Grund bis du stirbst. 's ist net mehr als billig, daß du do, wo du 's Lüderlichsein g'lernt host, au' e' gut's Werk tust, und wenn du dir g'rad d' Haut von de' Finger' schaffst und d' Seel aus 'm Leib ärgerst.‹

»So bin i' bliebe' und han mi' net' nausjage' lasse' und bin 'worde' wie e' Igel, der's net spürt, wenn mer ihm e'n Fußtritt gibt.

»Aber an Weihnacht, wie die Uhr im Schofstall g'stande' und wieder g'gange ist, do hot mei' Stund' g'schlage'. D'r Herr Heiner und der Herr Pfarrer hänt jo die Sach' mitenander g'macht. Aber für mi' ist's e' Fingerzeig von mei'm Herrgott g'we'. Die Herre' hänt jo net wisse' könne', was die Sach' ist mit unserer Uhr.«

In die Stille hinein, die jetzt entstand, sagte der Krüppel mit kurzem Lachen: »So habe ich für des Regeles Herrgott gearbeitet und geglaubt, ich tät's auf eigene Rechnung.« 256

Die Magd schaute ihn ruhig an und gab zur Antwort: »Der Stein hot g'sagt: Gucket wie i' fliege' kann – do hot ihn der Hansjörg über d' Gass' g'schmisse'. Des Menschen Herz ist in der Hand des Herrn wie Wasserbäche; er neiget es, wohin er will.« –

Es war still in der Stube, man hörte die kurzen Schläge, mit denen drunten im Hof die Kätter das dürre Reisig zerhackte. Und dann hörte man sie schelten auf ihre einsilbige Art.

Und der Totengräber gab grob und schreiend Antwort.

»Du schwätzst, wie du's verstehst. Für so e'n Pfarrer ist so e' Holz lang recht. Danach War', danach Geld. E' Moler ist kei' Pfarrer, und g'molt ist net 'predigt. Für gott'slästerliche Bilder kann d' Gmeinde net ihr best's Holz schlage. Der Schultes sächt des au'. Und no' ganz andere Sache'.«

Das Weib gab eine kurze Antwort.

Da lachte der Jakob schallend und rief: »'Naus mit dem Pack! 'naus aus Jakobshof! Bei uns geltet die alte' Bräuch, daß d' Pfarrer prediget und d' Weiber im Haus bleibet und d' Selbstmörder an d' Mauer kommet. Wir brauchet nix Neu's.«

Die drei in des Uhrmachers Stube hörten die wetternde Stimme. Aber nur der Krüppel schien zu verstehen, um was es sich da handelte.

Ein verächtliches Lächeln glitt über sein Gesicht.

Die Magd setzte sich gerade auf ihrem Stuhl. »Frau,« sagte sie, »wenn Sie sich net scheide' lasse' wöllet, au' jetzt, wo Sie doch älles wisset, was mei' Herr für Stückle g'liefert hot von jeher – no gehet Sie wieder zu ihm, sonst kommet seine Sünde über Ihren Kopf.«

Sie sprach ganz schwer, fast drohend. 257

Die Liesel schaute weg. »Ich kann nichts aufhalten und nichts besser machen im kalten Grund.«

Da schob die Alte an ihrem Stuhl wie in jäher Ungeduld.

»Und wenn's so wär'! Jeder Hofhund bellt fort, und wenn kei' Mensch nach ihm hi'horcht. Und je schlechter er im Futter steht, je schärfer wird er. Und wer sächt denn, daß im kalte' Grund allei' ebbes besser z'mache' sei? Andere Leut' hänt au' ihre Fehler, und manche Sache' tätet au' andere Männer net g'falle'. Mei' Herr hot seine böse' Mucke'. Aber er hot au' sein' Wert. Und wer weiß, ob sich's net verlohne' tät, daß ihm e' Weib besser nach de' Auge' gucke' tät und tät net umenander laufe' bei ander' Leut' –«

Sie sprach hastig, voll tiefen Grimms, und ihre Falten und Runzeln im Gesicht zuckten.

Die Liesel schlug die Augen nieder. Ein Zittern lief über sie hin. »Ich bin ihm davongelaufen,« stieß sie hervor, »er kann sich ja scheiden lassen, er hat alles in seiner Hand.«

Die Magd stand auf und stützte sich schwer auf den Tisch. Der harte Mund mit den hundert Fältchen zog sich eng zusammen, als habe er sein letztes Wort gesagt.

»Lieber Herrgott,« murmelte sie dann plötzlich ausbrechend, »hätt' i' mei' Maul g'halte' in dere Nacht domols! Jetzt bin i' so alt und mein' immer noch, ohne mein' Sauerteig werdet unseres Herrgotts Laib' nix. – Ihne' han i' wolle' e Brück' baue', Frau, und derweil watet Sie lieber durch de' Bach. Mei'm Herre' han i' d' Kinnkette losg'macht, jetzt beißt er auf'm Zaum 'rum, daß 's Schaum gibt. Alle meine Anschläge sind zunichte worden. Und wo der Herr nicht das Haus bauet, da arbeiten umsonst, die daran bauen.« 258

Sie wandte sich und wollte zur Türe gehen, da schwenkte sich der Krüppel auf seinem Drehstuhl herum, daß es kreischte. Er schwang sich herab und ging hinaus, und auf der Schwelle sagte er über die Achsel zurück: »Liesel, geh wieder zu ihm, guck ihm nach den Augen und suche, wo sein Wert steckt. Und wenn du's herausgefunden hast, so sag' mir's auch –«

Die beiden in der Stube sahen einen Augenblick stumm hinter ihm her. Dann sagte die Magd langsam und voll Schärfe: »Und wenn d'r Müller weiter nix hätt' als sei' Postur und seine starke' Glieder, no hätt' er scho' viel voraus vor manchem. Aber i' sag' nix weiter. Halte keinen Rat mit dem, der einen Argwohn zu dir hat. Und: mancher will klüglich raten, und man höret ihn doch nicht gern.«

Sie schritt zur Türe, und ihre schweren Schuhe knirschten im Dielensand.

✤           ✤           ✤

Heiner Neuhaus ging dieser Tage seinen Weg in großer Einsamkeit. Zuweilen schlich er über die Felder den verschneiten Pfad zwischen den niederen Hecken und Mäuerlein hin, auf denen hungrige Raben saßen, die ihre schwarzen, klugen Köpfe langsam gegen den einsamen Menschen drehten. Er blieb dann oft stehen und redete leise und abgebrochene Worte mit den Vögeln. Worte, die ihm vielleicht stunden- und tagelang in der Seele gebrannt hatten und die er loshaben wollte.

Die Raben horchten und blinzelten mit den schwarzen, glänzenden Augen. Und ob sie keine Antwort gaben, vielleicht auch keine Antwort wußten auf solche Dinge: es mag doch leicht die eine hungrige Kreatur die andere verstanden haben in dieser kahlen und bösen Zeit, da das Leben und die Freude erstarrt unter dem Schnee lag. 259

Heiner Neuhaus schritt weiter, dem Kirchhof zu, lehnte sich über die niedere Tannenhecke und schaute hinein zu seines Freundes Grab, das höchstgewölbte von allen, weil es das jüngste war.

Er hätte den Schlüssel zum Tor vom Totengräber verlangen können. Aber wenn er auch den Raben erzählte, daß er zu seinem Freunde gehe, einem Menschen sagte er das nicht. Am letzten dem schleichenden Schwätzer.

Stumm und reglos lehnte er über die Hecke. Unter seinen starrenden Augen wuchs der frische, verschneite Hügel; er wuchs zu einem Königs- oder Heldengrab, um das die andern in ärmlicher Niedrigkeit geschart lagen.

Als ein Erschlagener, ein von Menschentücke Verratener lag ihm der Freund da drinnen. Der Keim zur Menschenverachtung, zur Einsamkeit, der in jedem schlummert, den ein Gebrechen aus der großen Reihe weist, er schoß unter der Schwüle des Leids um den Toten mächtig in Stengel und Samen.

Wenn des Krüppels Blick vom Kirchhof weg über die verschneiten Aecker nach dem Dorf hinging und weiter rechts nach dem Weg zum kalten Grund, dann glimmte der Haß darin.

Alle hatten gesündigt an dem Mann unter dem Heldenhügel. Steine haben sie ihm in den Weg gewälzt. Seine Lieder mußte er scheu und heimlich spielen, seine große Kunst verstecken wie ein Kind der Sünde und der Schande. Gehetzt, gequält und gelästert haben sie ihn um seines Lebens und dann noch um seines Sterbens willen. –

Das Bild des Pfarrers, wie es der Doktor erklärt hatte, kam dem Einsamen nicht aus dem Sinn.

Immer sah er den buckligen Bettler in seinen Lumpen an dem felsigen Weg sitzen, auf dem sein einziger Freund 260 war dahingeschleppt worden. Und immer drohte er mit der Pfeife gegen die ferne, mörderische Stadt hin. Nicht zu verscheuchen war diese Vorstellung. Sie fraß sich ein in des scheuen Mannes gequältes Hirn und wühlte sich immer tiefere Gänge, bis alles durchhöhlt und durchbohrt war. Und niemand merkte den Stand der Dinge bis – ja bis – –

Der Mühlemichel war der einzige, den Heiner Neuhaus nicht mied. Wenn der mit seinen schweren Gäulen auf der Breithofer Straße dem Wald zufuhr, um Holz zu laden, dann ließ der Krüppel sein bißchen Handwerk liegen und ging der knallenden Peitsche nach.

Es war wie ein Abkommen, ein stillschweigendes und niemals in Worten festgelegtes: in der Nähe des Totengräberhauses mußte die Peitsche knallen.

Immer taten die ungleichen Männer dann, als hätten sie sich von ohngefähr getroffen. Sie wahrten sich dadurch unbewußt die schöne Freiheit, die der Freundschaft so notwendig und so selten in der Freundschaft zu finden ist.

Sie redeten in diesen Tagen voll Wetterschwüle nicht sehr viel zusammen. Hingeworfene Worte, die der andere aufnahm, besah und an ihren richtigen Platz legte.

Fast nie sprachen sie von ihren eigensten Dingen, die die Stunde brachte. Sie wußten oder spürten beide, daß das leeres Stroh dreschen heißt, solange Gott jeden Menschen als einen einzelnen in diese Welt stellt.

Auch von den Ereignissen in der Mühle redeten sie nicht oder nicht ausgiebig.

So blieben sie zumeist an den Geschichten hängen, von denen Wald und Schlucht voll waren.

Das gab ein gutes Band zwischen ihnen. Dieweil nicht das zwei Menschen zueinander und auf dem Wege 261 vorwärts bringt, daß einer sich abmüht an des anderen Lebenspack, sondern daß sie beide Tritt fassen nach einem Liedlein, das sie gemeinsam und in gleichem Takte pfeifen und bei dem sie frischer marschieren.

So hat der Mühlemichel in jenen Januartagen dem Heiner Neuhaus die Linde des Kaisers Karolus gezeigt.

Ueber schwarze Tannenwipfel, von denen der Sturm den Schnee geschüttelt hatte, ragt der mächtige, kahle Baum. Fremd und voll Hoheit steht er und hält sich mit weitausladenden Aesten jede Vertraulichkeit und jede Gemeinschaft mit den anderen Waldessöhnen fern.

Die Tannen um ihn her sind gekommen und gegangen wie Meereswogen oder Menschengeschlechter. Er allein ist immer still gestanden und gegen den Himmel gewachsen seit uralten Zeiten.

Der Kaiser Karolus hat ihn gepflanzt auf einer Stelle, da seine Mannen einen hundsföttischen Heiden erschlagen haben, der den Herrgott lästerte.

Und wie der Kaiser den Baum gepflanzt hat, da hat er in die vier Winde gerufen:

Allen Guten den Lohn,
Allen Gecken den Hohn,
Allen Tapfern das Glück,
Allen Schelmen den Strick.«

Und als er das gerufen hatte, da mußten es vier Bläser nach allen vier Winden blasen, und vier Tauben mußten es über alle Felder tragen, und gelten sollte es in Ewigkeit.

Der Michel machte eine Pause und steckte die Peitsche dem Handgaul ins Kummet, als wolle er die Hände frei haben zu solchen alten und ernsten Geschichten.

Der Krüppel schaute scharfaus gegen den fernen Wald, aus dem der kahle Fremdling weithin sichtbar ragte. 262

»Michel,« sagte er dann, »die Bläser haben vielleicht nicht laut genug geblasen, und über die Tauben muß der Sperber gekommen sein. Der Spruch ist zum Teufel in der Welt.«

Der Knecht spuckte in seine harten Hände, rieb sie und tat, als habe er nicht verstanden. Umständlich fuhr er fort zu erzählen, wie es damals weiterging.

Seit selbigem Tag steht die Linde zu einem Gericht über die Menschen. Der Kaiser Karolus ist einer gewesen, der hat mehr können, als einen Laib Schwarzbrot im Dunkeln essen. Der hat wohl einen Baum begaben können mit allerlei Kraft, die kein Regen abwäscht.

Wer heutigentags noch ein gutes Recht sucht, oder einen Missetäter für begangene Untat finden und strafen will, der muß sich zwischen Tag und Dunkel, wenn die Eulen streichen, unter die Linde stellen und muß in die vier Winde sagen:

»Ich such' dich, und der Kaiser Karl find't dich!«

Dann gehen ihm die Augen auf wie den jungen Katzen am neunten Tag, und er sieht, wo sein und seines Rechtes Widersacher ist und welche Wege er gehen muß.

Der Michel schaute den Krüppel, der Krüppel den Knecht an.

»O,« sagte der Heiner dann, »das ist ja so einfach. Mich wundert nur, daß in Jakobshof und da ringsum in der Gegend noch Lumpen auf ihre Kosten kommen.«

Der Mühlemichel schnalzte ein klein wenig mit der Zunge und lachte fast verlegen.

»Jo,« sagte er gedehnt, »es ist halt so: – wer unter den Baum tritt um solche Sache', der kriegt's leicht mit dem Schwarze' z' tun, der wo sein Schwanz durch lauter solche Suppe' schleift –« 263

Er kratzte sich im Haar, schob sein Hütlein wieder zurecht und griff nach der Peitsche.

Da lachte der Krüppel, aber nicht fröhlich. »Ja,« sagte er, »das ist der Preis, um den man das Recht sucht: man wird drüber des Teufels.«

Bis zum Waldrand schritt er stumm weiter neben dem Gespann her, dann wandte er um, schlug einen großen Bogen hinüber nach dem alten Hohenweiler Weg, von dem es heißt, die Römer haben ihn gebaut und in den Zwölf Nächten könne man große, graue Bären darauf trotten sehen, einen hinter dem andern, wie sie schwer und mit gesenkten Köpfen dem verbrannten Hau zustreben, wo das wilde Heer Rast macht, wenn es über die Wälder saust. Der Krüppel ging langsam und mühselig den steinigen Weg, auf dem ein paar Räder- und Fußspuren den Schnee zusammengedrückt hatten, so daß der Pfad wie eine krumme, schmutzige Schlange auf der weißen Höhe lag. Zuweilen wandte Heiner sich um und sah nach der fernen Linde des Kaisers Karl oder nach dem verhangenen Himmel, der über den Tannen lag. Und sein Herz war so schwer und ohne Freudigkeit, wie diese ernste, winterliche Welt, in der der Baum der Gerechtigkeit kahl und entblättert einsam ragte.

Von hinten her kam er so an Jakobshof. Und in der großen Hecke um des Lammwirts Garten, in dieser Hecke, in der im Sommer die wilden Rosen blühten und die Hagbuchen sich wirr und dicht ineinanderschlangen, da zirpten ganz leis und hungrig ein paar winzige Meisen aus dem kahlen Gewirr. Und als Heiner Neuhaus stehen blieb und nach seiner Weise mit dem Vogelzeug redete, da fing eines der kleinen Geschöpfe ein dünnes, armes Liedchen zu singen an, als sei das die Antwort. 264

Dem Krüppel schlug ein Rot übers Gesicht. Es war, als komme ihm der Grimm, wie dem König Saul bei Davids Saitenspiel. Eine scheuchende Bewegung machte er mit der Hand, daß die Vögel flatternd tiefer in das Heckengewirr huschten.

Im Weiterschreiten aber hatte er dunkle, heiße Augen. »Ja,« murmelte er, »ihr singt euch hinüber über die harte Zeit. Aber mir sind auch die Lieder gestohlen von einem Schuft.«

Er mußte durchs Dorf und an des Schulzen Haus vorüber.

Da trat, als er eben vorbeiging, die Oberlehrerin heraus. Hastig, wie auf der Flucht, kam sie die paar steinernen Stufen herab. Ihr Gesicht war rot, ihre Auge hinter der goldenen Brille blickten zornig und abwesend über den Krüppel hin.

Aber dann sah sie ihn doch. Und es war, als ob ihr einfiele, daß dieser stille Mensch keiner von der Jakobshofer Sorte sei, sondern zu ihres Sohnes Art neige. Sie erwiderte seinen Gruß und schritt neben ihm und sah nicht, wie der Schulze und seine Tochter vom Fenster aus hinter ihr herlachten.

Die Oberlehrerin aber war wie ein kleiner Topf, der rasch überkocht und schäumt und aufzischt.

»Herr Heiner,« sagte sie, »sie sind's nicht wert, die Jakobshofer, daß sie einen Pfarrer haben wie meinen Sohn.«

»Was gibt's?« fragte der Krüppel rasch und drohend, wie aufgeschreckt aus schweifenden Gedanken.

»Sie haben uns ein Holz vors Haus geschickt, so mürb und verdorben, daß man es mit der Hand zerbröckeln kann. Ich kam, um Klage zu führen beim Schulzen. Jetzt sagt mir der ins Gesicht, für die 265 gotteslästerliche Grabrede, die mein Sohn dem erschossenen Schulmeister gehalten habe, und fürs gotteslästerliche Bildermalen sei das Holz gut genug. Und wenn der Doktor hundert lateinische Namen daherbringe und der Pfarrer die schönsten Sprüche mache und Christusköpfe zeichne, so wüßten die Jakobshofer doch, daß der Schulmeister sich erschossen habe, weil ihn der Müller bei seinem Weib ertappt –«

Der kleinen Frau lohte der Kopf. Sie starrte über den Weg und dachte nicht, wer ihr zur Seite schritt.

Da lachte Heiner Neuhaus schrill auf und rief: »Die sind gescheit. Das macht der Kaiser Karolus.«

Die Oberlehrerin hörte nicht auf ihn. Ihre ganze Seele war angefüllt von Groll und Empörung. Mit einem Ruck blieb sie stehen. »Sollten denn die sich nicht freuen, daß ihr Pfarrer die schöne Gabe von unserem Herrgott hat! Solche, die allen Dreck auf der Welt sehen und aufrühren, gibt's genug. Wenn da einer kommt, der mit reinen Augen sieht und ihnen zeigt, was er gesehen hat – müssen sie denn dem das bißchen Leben verekeln! Er versäumt doch nichts an ihnen, mein Sohn –«

Die Stimme der alten Frau zitterte plötzlich. Es war, als kämen ihr Tränen in die Kehle, und sie schaute dem Krüppel ins bleiche Gesicht, als suche sie Hilfe.

Da blickte Heiner Neuhaus weg und sagte: »Er hat es noch nicht am schlechtesten, Ihr Sohn. Er hat ja seine Mutter.«

Sie schritten weiter. Ein Weib ging grüßend vorüber und blickte zurück, ohne daß sie darauf achthatten.

»Sie haben Ihre Mutter schon lang nicht mehr?« fragte leise und mit verändertem Ton die alte Frau.

Da hob der Krüppel den Kopf und schaute geradeaus. 266

»Ich habe sie nicht gekannt,« sagte er kurz.

Die Oberlehrerin blickte von der Seite auf ihn. Es ahnte ihr, daß da auch jemand einen steinigen Weg gehe. Das rüttelte sie auf aus den eigenen Angelegenheiten.

»Gut, daß Sie Ihre Schwester haben,« meinte sie.

Da bekam er ganz langsam einen roten Kopf und schaute den Dorfweg entlang, als schätze er ab, wie weit er mit der alten Frau noch Seite an Seite zu gehen habe. Eine Antwort gab er nicht.

Der Stundenwilhelm schlurfte über die Straße, in unförmigen Selbandschuhen, wie er sie selbst machte für sich und jeden, der danach Gelüste trug. Er schob an der wollenen Mütze, die sein fahles Haar deckte und hatte soviel Eile, als sein kranker Fuß ihm gestattete.

Aber als er der Oberlehrerin gewahr wurde, blieb er dennoch stehen und sah der alten Frau ins Gesicht. Seine kleinen, blöden Augen waren voll Unruhe, als er sagte: »Es ist ein Geschrei in Israel – –« Er stotterte und schaute weg.

Da lachte des Pfarrers Mutter. »Wilhelm, ich kenne das Geschrei und kenne Israel. Mache du nur dem Pfarrer ein Paar warme Ueberschuhe. Auf der Jakobshofer Kanzel ist's kalt zum Anfrieren, und das Holz da oben wärmt nicht.«

Sie ging mit verfinstertem Gesicht an dem Halbblöden vorüber und wandte sich Heiner zu. »Wenn ich Fuggers Gut hätte, so würde ich heute noch zu meinem Sohn sagen: ›Zieh den schwarzen Rock aus und diene deinem Herrgott im Malerskittel.‹ – Aber was tut man nicht ums tägliche Brot –«

»Ja,« sagte leise der Krüppel, »was tut man nicht –«

Sie waren jetzt dort angelangt, wo es zum Pfarrhaus geht. 267

Die Frau streckte Heiner Neuhaus die Hand hin. Sie empfand plötzlich stark, wie auch dieser durch eine tiefe Kluft von den Jakobshofern geschieden war. Ganz warm klang ihre Stimme. »Kommen Sie öfter zu uns, zu meinem Sohn. Er ist da oben so allein. Kein Mensch versteht ihn, will ihn verstehen –«

Der Krüppel hielt sein Hütlein in der Hand. Der eisige Wind fuhr ihm übers Haar. Vielleicht war er es auch, der ihm die breite Stirn jetzt rötlich färbte. Die Stunden fielen ihm ein, da in lachender Sommerszeit drei Männer und eine Frau im Totengräberhäuslein ihre Feste gefeiert mit stiller Glückseligkeit. Das war nun alles zertrümmert, und jeder ging seinen Weg in gedrückter, frierender Einsamkeit. Er nickte nur und sah mit gemurmeltem Gruß an der Frau vorüber in den Wind und schritt weiter am Schulhaus vorbei, in dem zu der Kinder schrillem Sang eine fremde Geige tönte. Ihr Klang war nicht falsch; aber dem Krüppel schnitt er ins Herz, daß er eilender ausgriff wie auf der Flucht.

✤           ✤           ✤

Die Liesel aber dachte daran, die Kunst ihrer Mädchenjahre hervorzuholen und draußen in der Welt ein reichlicheres Brot zu suchen, als es auf der Jakobshofer Höhe für die Kinder des Albrecht Neuhaus zu finden war.

Sie dachte daran; aber sie sprach nicht darüber. Ihr war's, als würde der lautgewordene Gedanke herrisch die Peitsche heben und sie hinaustreiben aus dem ärmlichen Stübchen, in dem doch noch in jeder Ecke kauernd eine ungreifbare Hoffnung saß. Hoffnungen, schwankend und unklar wie Nebelfetzen, die aber zuweilen flimmernd aufstrahlten und das Dunkel der Nächte scheuchten. 268

Oft, wenn die frühe Dämmerung sank, stand die Müllerin am Fenster und schaute hinüber gegen den Waldsaum, in dem der Pfad zum kalten Grund verschwand. Wie oft war sie ihn gegangen an Sommerabenden, während die Männer, deren einer den Geigenkasten trug, umwandten und nach Jakobshof zurückschritten!

Wie ausgeschlossen von der lichten Schönheit der Höhe kam sie sich vor damals, wenn die dunklen Föhren sie aufnahmen. Zögernd und ohne Freudigkeit schritt sie hinab nach der Mühle, deren hartes Geklapper ihr weh tat nach den Klängen von Flöte und Geige.

Und mit sprödem Widerstreben trat sie immer wieder dem Manne gegenüber, der sie an sich gerissen hatte wie ein Sturmwind, dessen Art sie erschreckte, sie um die gelassene Mütterlichkeit brachte, die zuvor ihr stilles Leben angefüllt hatte.

Jetzt aber, im Winterschnee, jetzt war der Pfad verwandelt.

Die Frau, die durch die Dämmerung starrte, konnte nicht erkennen, woran es lag. Es schien ihr nur, als sei's so schwer nicht, dort hinab zu gehen.

Eine dunkle Gestalt mit großem Kropf und stillem, weißem Gesicht schritt unter den Föhren. »Ich gehe zu meinem Sohn,« sagte sie. »Du hast ihn allein gelassen, und die Klotz können doch nicht ohne Weiber sein. Du hast ihn auf dem Gewissen, wenn's schlimm geht. Ich bin bei seinem Vater geblieben, und der war doch auch nicht besser. Es ist ihr Blut so. Ihr heißes, ungebärdiges, klotzisches Blut seit Jahrhunderten. Man hat es nicht gut bei den Klotzen. Aber ihre Kinder sind rosig und weiß wie Milch und Blut. Und hilflos sind ihre Kinder. Hilflos und so heißer Liebe bedürftig. Alles, was man 269 in sich hat an Sorge und Zärtlichkeit und seligem Ueberströmen muß man diesen Kindern geben, so bedürftig sind sie. Sieh, wie ich entstellt bin und elend. Aber davongelaufen bin ich nicht. Weißt du denn nicht, daß Weiber sein müssen wie Soldaten: Kein Eigentum am Leib und dabei hingestellt, wo tausend Kugeln fliegen! Du machst dir's leicht! Gehst allem aus dem Weg und drückst dich auf die Seite. Aber nun sollst du auch nie wissen, wie das klingt, wenn ein Weib zum erstenmal sagt: ›Mein Sohn‹. Kein Mund wird zu dir ›Mutter‹ sagen, und wenn du unter dem Efeu liegst, wie ich, dann ist deine Spur verweht –«

Die Müllerin wandte sich vom Fenster und stieg hinab zur tauben Kätter, die im Stall hantierte. Von der ließ sie sich den Schlüssel geben zum Tor an der Tannenhecke draußen. Der Totengräber aber, der dem Klotz vom kalten Grund berichtete, daß sein junges Weib oft und oft des Schulmeisters frisches Grab im Dämmerlicht besuche, der wußte nicht, daß er nur halb die Wahrheit sprach, und daß vor dem bronzenen Kreuz der Klotze der Schnee weit mehr zertreten war, als vor des Erschossenen hochgewölbtem Hügel.

✤           ✤           ✤

Ob die grelle Sonne ihre Bogen noch so klein zog am flimmernden Jakobshofer Himmel, und ob die kurzen Tage noch so eilends vorüberschlüpften, es gelang auch diesmal dem Januar nicht, von der schneeglitzernden Höhe wegzukommen, ohne daß ihm wieder ein Stück angehängt worden wäre von jener Sorte, die ihn in Verruf gebracht hat zwischen den Wäldern dort oben.

Die Nacht war so grimmig kalt, daß der Schnee unter jedem schreitenden Fuß wie Glasscherben klirrte. An den fernen Waldrändern schallte das Bellen der frierenden 270 Füchse, und jeder Kauz, der aufgepludert im Forst saß, fing an zu lachen ob all dem eisigen Wintergrimm.

Aber ob so die Nacht voll war von merkwürdigem Geräusch – der Nachtwächter, der in grauschwarzer Morgenfrühe am Pfarrhaus vorbeiging und den die Oberlehrerin vom Hof aus anrief, schwur dennoch Stein und Bein, er habe nichts Absonderliches gehört, noch gesehen.

Und als ihn die kleine Frau näher kommen hieß und ihm zeigte, wie der Pfarrhof voll Glasscherben lag, und wie keine Scheibe an der einen Seite des Hauses mehr ganz war, da sagte er, der Schlag solle ihn treffen auf dieser Stelle, wenn er wisse, wer das gewesen sei.

Aber der Schlag traf ihn nicht, so schuldlos und rein war der Nachtwächter.

Der Tag stieg herauf, und der Schulze kam, um sich den Schaden zu besehen. Er hatte den Kopf dick umwickelt mit wollenen Tüchern, hatte die ganze Nacht mit Lindenblütentee im Leib im Schweiß gelegen und wußte von nichts. Keinen Laut hatte er gehört, obgleich er wach lag mit stechenden Hals- und Ohrenschmerzen.

Nach und nach kam ganz Jakobshof und besah sich die klaffenden Wunden am Pfarrhaus.

Merkwürdig sicher hatten die unbekannten Schützen getroffen. Sogar oben, an den beiden Fenstern von des Pfarrers Malstube, war keine der Scheiben ganz, nicht eine. Sie zeigten's einander, die Jakobshofer, und wunderten sich, wie so etwas möglich sei. Ein paar jüngere Burschen traten hinzu, hoben die größten Glasscherben auf und beguckten und beschnüffelten sie, als könnten sie daran eine Fährte finden. Aber als sie sahen, daß ihnen des Pfarrers Mutter zuschaute, da ließen sie 271 die Scherben fallen und traten kopfschüttelnd zurück, wie vor tiefen Rätseln stehend.

Die Oberlehrerin sprach mit keinem der Leute. Ihr strenges kleines Gesicht war ganz bleich und voller Falten, deren tiefste von der großen Nase gegen die Mundwinkel liefen. Wie bittere Verachtung sah das aus.

In dem ebenerdigen Zimmer, in dem sie und ihr Sohn den Schulzen empfangen hatten, stand sie am Tisch und schaute in den Hof hinaus, als müsse sie wissen, wie alles sich einstellte. Einmal nahm sie die Brille ab, putzte sie und blickte wieder hinaus; da ging eben der Müller vom kalten Grund mit der Flinte die Gasse entlang, warf einen Blick gegen Hof und Pfarrhaus herüber und blieb dann stehen, um seinem Hund zu pfeifen.

Der Hund aber schnupperte eben an den schmutzigen Schneekrusten des Weges und ließ sich nach der Weise seiner Artgenossen Zeit, dem Ruf zu folgen.

Die Jakobshofer aber fuhren an ihre Kappen, grüßten damit den Müller und scheuchten den Hund, als hielten auch sie es für unnötig oder zwecklos, daß er da schnuppere.

Zuletzt, da der Schwarm der Gaffer sich schon verlief, tauchte der Stundenwilhelm auf.

Zwei Ungetüme von geflochtenen Schuhen trug er in den Händen.

Als er aber die Scherben und die Greuel der Verwüstung sah, da stellte er ganz still die Schuhe neben die Haustür und fingerte in seinem gestrickten Wams nach dem Zollstab.

Danach trat er ohne anzuklopfen in das Zimmer zu der Pfarrerin. Ein unruhiges Funkeln war in seinen blöden Augen, als er unvermittelt anhub: »Und vor diesem Hause, das das höchste worden ist, werden sich entsetzen alle, die vorübergehen und sagen: ›Warum hat 272 der Herr mit diesem Lande und diesem Hause also verfahren!‹«

Die alte Frau sah ihn an und sah den Zollstab in seiner knorpeligen Hand. »Wilhelm,« sagte sie ruhig, »nimm Maß zu den Scheiben. Ich hol' mir den Tod in der eiskalten Stube.«

Da fing der Mann ohne Widersprechen an zu messen, und als er in sein Büchlein schrieb, murmelte er: »Gehe hinauf zu dem Hohenpriester Hilkia, daß man den Arbeitern Geld gebe, daß sie bessern, was baufällig ist am Hause –«

Die alte Frau aber ging aus dem Zimmer und sah draußen die mächtigen Selbandschuhe auf der Hausschwelle stehen. Da nahm sie sie auf und stieg langsam die Treppe empor zu ihres Sohnes Stube.

»O Wolf, mein Bub,« murmelte sie, »wenn kein Narr in Jakobshof wäre, dann wären's lauter Teufel.«

Vor dem fertigen Bild stand der Pfarrer ganz unbeweglich. Er hatte das Tuch in der Hand, das er über Nacht auf die trockenen Farben gebreitet gehabt hatte.

Glasscherben deckten vor den Fenstern und bis her zur Staffelei den alten, rissigen Fußboden, dazwischen und darüber hinaus lagen gefrorene Erdbrocken und rote Steine in stattlicher Anzahl.

Der Mann schaute nicht auf, als die Türe ging. Traurig und mutlos besah er das Werk langer Monde, als müsse ihm das Bild Aufschluß geben über all die Feindschaft und all den Haß, der aus der Zerstörung ringsum großmäulig in die Stille hineinschrie.

Schweigend trat die Frau neben den Sohn und schaute auf die Leinwand.

Nichts war zerstört an dem Bild, nichts, als der Kopf des Bettlers, der am Weg saß. Ihn mußte ein 273 heftiger Wurf getroffen haben. Wäre kein schützendes Tuch gebreitet gewesen, so hätte dort wohl jetzt ein Riß in der Leinwand geklafft. Nun aber war's wie eine wunde Beule, ganz vertieft und zerschunden.

»Sieh,« sagte leise die alte Frau, mit dem Wunsch, dem stummen Sohn die erstarrte Zunge zu heben, »sieh, auf dich haben sie gezielt, und den Krüppel haben sie getroffen! Was ein rechter Künstler ist, der ist kugelfest –«

Der Pfarrer gab sich Mühe zu lächeln. »Ich weiß nicht,« sagte er, »mir ist fast wie einem Gesteinigten.«

Die Oberlehrerin schluckte. Dann fing sie wieder an: »Das ist der Pfarrer in dir, der diese Steine spürt. Ach, daß es des Herrgotts Wille wäre, dich aus diesem seinem Joch zu entlassen –«

Der Pfarrer fuhr sich langsam über den Kopf. »Vielleicht,« sagte er fast murmelnd und doch lebendiger als zuvor, »vielleicht soll ich so hinausgepeitscht werden, dorthin, wo meine Garben in der Sonne stehen –«

Die kleine Frau ließ die Schuhe achtlos fallen. »Wolf«, sagte sie ganz dringend und heiß, »schicke dies Bild fort, wenn du es wieder ausgebessert hast. Schicke es in die Welt hinaus unter die Leute, die so etwas kaufen können. Ach, tu es doch! Tu es doch! Nicht ums Geld ist's ja allein. Du kannst dir da auch einen Gotteslohn verdienen. Ist's doch ein Bild, wie eine Predigt. Gehet hin in alle Welt! Dich hat er auch gemeint, mein Bub! Dich auch, mit diesem Bild. Ich weiß, bei Gott, daß du nicht eitel bist. Wie der letzte Diener bist du, durch den er seinen Willen tut. Da muß er dir's gelingen lassen. Er kann nicht reden durch deine Malershand und nachher sagen: ›Ich kenne dich nicht, geh hinaus von mir!‹«

Die alte Frau hatte dem hochgewachsenen Sohn die Hand in brünstiger Dringlichkeit auf den Arm gelegt, 274 und wie sie groß und heiß zu ihm aufblickte, da war ihr faltiges Gesicht edel und stolz und von einer so männlichen Kraft des Ausdrucks, daß es war wie ein Prophetenantlitz.

Der Pfarrer schaute auf sie nieder, und seine Augen weiteten sich und bekamen den bohrenden, klammernden Blick, der seine Beute nicht mehr läßt.

Ein heißes Rot lohte empor, über alle Sommersprossen weg bis zu den schlichten Haaren: »Mutter,« stammelte er, »und das sagst du –«

Da lehnte sie sich an ihn, ganz eng und warm: »Bub, denk nicht mehr dran, daß ich einmal anders gesagt habe! Sie lassen dich erfrieren da oben. Innen und außen. Mehr als verhungern kannst du als Maler nicht. Schicke dein Bild fort! Bei den Jakobshofern ist der Heiland im Grab nicht sicher –«

Der Pfarrer wandte sich ab. Und da sah er die Schuhe, die der Stundenwilhelm geflochten, zwischen den Scherben am Boden liegen. Wie zwei plumpe Ungetüme lagen sie da; aber freundlich leuchteten die hellen roten Streifen, die der Meister des Werks durch die dunkle Unscheinbarkeit des übrigen Geflechtes gezogen hatte, daß sie in Kreuzform obenher liefen.

»Sieh, da ist ja, was mich warm halten soll,« sagte der Pfarrer, und es ging wie ein Schatten über sein Gesicht, wie eine Unruhe oder ein Zögern.

Die Oberlehrerin schob mit dem Fuß das Paar zwischen den Scherben zusammen.

»Was am Stundenwilhelm liegt, der tut das Seine,« sagte sie, »aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.«

Und sie ging daran, die zertrümmerten Fenster zu verhängen und zu verkleben, denn die scharfe Kälte 275 drang nadelspitz herein, und vergeblich krachten und prasselten im hochbeinigen Ofen die Scheite.

✤           ✤           ✤

Es sind Herren gekommen von der Stadt, die besahen sich die Scherben, die Straße und den Pfarrhof. Der Schulze begleitete sie, beantwortete ihre Fragen, ließ den Nachtwächter zum Verhör antreten und war voll Eifers, die dunkle Sache aufzuklären.

So eifrig war er, daß er sogar von des Pfarrers Bild erzählte, von dem Kopf, der auf dem hellholzenen Tisch in des erschossenen Schulmeisters Stube gezeichnet ward, solange der Tote fast noch warm in seinem Bett lag.

Da fragten die Herren, ob diese Dinge es wohl sein könnten, daran gewisse Kreise im Dorf Anstoß genommen hätten.

Der Schulze zuckte die Achseln und sagte, das könne sein, könne aber auch nicht sein.

Ob es Sekten gäbe und Stundenläufer, fragte einer der Herren, ein ganz junger, der noch feucht war hinter den Ohren und der deshalb noch jedes Gräslein wachsen hörte.

Ja, sagte der Schulze, das gebe es wohl, aber viel seien es nicht. Die meisten davon wohnten drüben in Breithof.

Da schaute der junge Herr durch seinen Zwicker scharf nach der Seite von Breithof und erfragte, wie weit es hinüber sei.

Es ist aber nicht weit hinüber. – –

Danach schritt die Kommission den Pfarrhof ab und die Entfernung vom Haus zur Straße, auch ward die Höhe der Fenster und Stockwerke gemessen und nichts versäumt, was zu tun war. 276

Ein Landjäger mit übergehängtem Gewehr stand derweil vorne am Hofeingang, und wenn des Ulrichs keckes Jakoble und seine Kameradschaft die rot- und blaugefrorenen Nasen zu weit unter den Pudelkappen hervorreckten, oder wenn die Buben gar Miene machten, in den Hof zu dringen, dann zuckte es in des bewehrten Mannes Arm, als wolle er die Waffe zum Schuß bereit legen, und die erschrockene Schar stiebte zurück wie verscheuchte Spatzen vom Roßdung. Als man im Pfarrhaus selbst den Augenschein fortsetzte, fand sich's, daß da ein Handwerksmann hinter den Fenstern war, den niemand bestellt hatte.

Der Stundenwilhelm setzte Scheiben ein und schaute sich kaum um nach den Herren.

Mit dem schwarzen Häublein aus den schneeigen Haaren und der goldenen Brille stand die Oberlehrerin würdig und zurückhaltend vor den Besuchern.

Und als sie die Fragen hörte, die der jüngste der Herren an den halbblöden Glaser tat, da sagte sie an dessen Statt: »Bestellt hat ihn niemand. Er ist des Wegs gekommen und hat nicht lang gefragt, als er die Sache sah. Die Sorte ist rar da oben.«

»Er ist schwach im Kopf,« warf laut der Schulze ein.

Da lachte die alte Frau und sagte noch einmal: »Die Sorte ist rar da oben.«

Es wollten die Herren dem Wilhelm klar machen, daß es nicht gehe, so ohne weiteres darauflos zu glasern, daß er zum mindesten riskiere, ohne Lohn zu arbeiten, wenn er keine Anweisung abwarte.

Da knetete der Wilhelm einen großen Ballen fettigen Glaserkitts in den Händen zusammen und sagte mit ruhigem Lächeln: »Sie kommen, daß sie schauen, und 277 meinen's doch nicht von Herzen, sondern suchen etwas, daß sie lästern mögen, gehen hin und tragen's aus. Sie trachten Schaden zu tun und suchen falsche Sachen wider die Stillen im Lande. Und sperren ihr Maul weit auf wider mich und sprechen: ›Da, da! Das sehen wir gerne –‹«

Er schaute die alte Frau fast listig an und fuhr dann fort, eine Scheibe festzukitten.

Der junge Städter wandte sich zum Schulzen: »Er scheint nicht so blöd, wie Sie glauben, dieser Glaser. Und wenn ich mich frage: wer hat den Nutzen von der Fenstereinwerferei –?«

»Ja,« murmelte der Schulze, »wenn man sich das fragt – –«

Die Oberlehrerin verstand nicht, was gesprochen wurde. Mit hartem Blick stieg sie den Männern voran in ihres Sohnes Malstube hinauf.

Der weite, kalte Raum war leer und dämmerig, weil dicke Tücher die Fenster deckten.

Verhängt stand das Bild auf seiner Staffelei.

Und als die Männer sich umgesehen, und ein paar von den Stein- und Erdbrocken, die noch auf dem Boden umherlagen, in den Händen gedreht hatten, da näherte sich jener Jüngste dem Bild, berührte das Tuch und fragte: »Wir dürfen doch?« – Es klang aus seinem Ton: wenn wir nicht dürfen, so müssen wir, denn wir sind von Amts wegen da. Da zog die alte Frau wortlos das Tuch weg und trat zurück und ließ die andern vor das Bild treten.

Sie blieben ganz still, ganz still und wandten die Augen nicht. Der weiße Leib des Toten, sein bleiches, hageres Gesicht sprang grell vor aus dem halben Licht der Stube. Körperhaft lag er da, zum Erschrecken. 278

Und wie sie standen und keinen Laut von sich gaben, da stieg es der alten Frau wie heißer Triumph in den Kopf. Sie hatte hinter den Herren die Hände gefaltet, und der Stolz, der selige, sündlose Mutterstolz glimmte auf in ihren Augen.

Der Schulze, der etwas nebendraußen stand, durchbrach zuerst die feierliche Stille: »Des ist d'r Schulmeister, d'r Eisenreich. 's fehlt bloß des Löchle, des er sich in de' Kopf g'schosse' hot,« sagte er laut, auf den Toten deutend. Und dann erklärte er weiter, wie ein Ortskundiger auf der Landkarte: »Des ist d' Müllere vom kalte' Grund, des d'r alt' Waldschütz' und des der Totegräber. Au' d'r Uhrmacher Neuhaus fehlt net, d'r Bruder von d'r Müllere mit seiner Flöt'. Bloß den Hund do, den kenn i' net, der ist net von Jakobshof –« Er lachte ein wenig auf, als freue er sich an seiner eigenen Rede.

»Doch,« sagte da von hinten her die Oberlehrerin, »auch der Hund ist von Jakobshof. Der Herr Schultheiß kennt noch lange nicht alle Hunde von da oben. Mein Sohn und ich, wir kennen sie besser.«

Das klang nach nadelspitzer Feindschaft, so daß sich die Herren umsahen. Aber sie blickten in ein undurchsichtiges altes Frauengesicht.

»Seltsam,« sagte einer der Herren, »seltsam, daß der Herr Pfarrer gerade den Erschossenen als Heiland nahm –«

»Wenn Sie ihn gekannt hätten, wäre es Ihnen nicht seltsam. Es war sonst keiner zu finden auf der Höhe. Er ist solch ein feiner Mensch gewesen. Viel zu fein für das Volk von Jerusalem –« Die alte Frau sagte es ruhig und bestimmt und trat hin und breitete das Tuch 279 wieder über das Bild und tat die Türe auf, daß die Herren gehen möchten.

Sie zögerten erst und schauten einander an; aber es war nichts mehr zu tun und zu beaugenscheinigen. Da blieb ihnen nichts übrig, als der stummen Aufforderung nachzukommen.

Sie bedauerten noch, daß sie den Herrn Pfarrer nicht selbst hatten sprechen können, aber der war nach der Stadt gegangen, um sich, wie seine Mutter sagte, einmal wieder an einem rechten Feuer und an rechten Leuten zu wärmen.

Ob sie gleich altmodisch tief und höflich vor der Kommission sich verneigte – die Oberlehrerin sah dennoch aus, als setze sie freche Eindringlinge vor die Türe, wie sie da auf der Schwelle stand, als die Herren gingen.

Dann wandte sie sich ab und suchte den Wilhelm bei seiner Arbeit auf. Sie schenkte ihm ein Glas Wein ein und stellte das Brot zurecht. »Da, Wilhelm, iß und trink und sei guten Muts. Wenn dir der Staat dein Glas und deine Arbeit nicht bezahlt, so tut's mein Sohn und der Herrgott. Der Herrgott hat jetzt schon die Mittel, und mein Sohn wird sie haben, wenn er erst sein Bild verkauft hat. Du hast reiche Leute zu Schuldnern, dir darf's nicht Angst sein.«

Sie brachte ihm das volle Glas zu: »Trink, Wilhelm, trink auf mein Wohl! Der Schulze wünscht mir ja doch jetzt einmal wieder das Halsbrechen an, da wollen wir sehen, wer stärker ist.«

Der Stundenwilhelm legte den Zollstab und den Diamanten nieder. Bescheiden griff er nach dem Glas. »Aufs Wohl, Frau,« sagte er und wischte sich schon vor dem Schluck den Mund, »d'r Schultes hot wohl en bessere Kopf als i' –; aber es ist besser, geringe Klugheit mit 280 Gottesfurcht, denn große Klugheit mit Gottes Verachtung. Es ist mancher scharfsinnig und doch ein Schalk und kann die Sache drehen, wie er's haben will –«

✤           ✤           ✤

Der Stundenwilhelm war der erste, der in Haft genommen wurde.

Der Schulze sagte, er selbst glaube nicht im entferntesten an eine Schuld des Menschen. Aber die Herren von der Stadt hätten die Ueberzeugung, daß der Mann als ein Betbruder und ein Glaser doppelt verdächtig sei. Zum ersten habe er es aus Fanatismus, zum zweiten aus Geschäftsinteresse getan oder tun können. Denn wenn man bei einer Missetat nach dem Täter suche, so sei die erste vernünftige Frage: »Wer hat den Nutzen?« –

Es war kein strenger Arrest, in den der Wilhelm gelegt ward. Jakobshof zeigte nur den guten Willen, die frevle Tat nicht ungesühnt zu lassen. Ganz gerne hätte der Schulze des Stadtherrn Rat befolgt, einmal fürs erste alle Stundenläufer festzunehmen. Aber die alten Leute konnten sich mühelos ausweisen, daß sie die Nacht ruhig in den Betten zugebracht hatten. Nur der Wilhelm, der einsam hauste, besaß keinen bündigen Zeugen.

Nach einer Woche ließ man ihn wieder laufen. Es kam kein Anhaltpunkt zutage, der ihn der Tat überführt hätte. Und wenn er unter den Tätern gewesen wäre, so hätte seine Unzurechnungsfähigkeit ihn von der Verantwortung losgesprochen. Denn schon damit allein, daß man jeder Kreatur zugetan ist und das Bibelbuch fast auswendig weiß, beweist man, daß man schwachen Geistes ist und die Tragweite des Fenstereinwerfens nicht in ihrem vollen Umfang ermessen kann. – 281

Der Mühlemichel saß beim Regele in der warmen Stube, und die Beth spann im Ofenwinkel, hatte die Ohren offen wie ein Hase im Krautacker und tat, wie dieser, gar nicht dergleichen.

Sie leckte den langfädigen, silbrigen Flachs mit der flinken Zunge, zupfte und trat das klappernde Rädchen, als sei für sie die übrige Welt versunken.

Aber nicht aus einer kalten oder frechen Neugier heraus horchte sie nach den beiden am Tisch hinüber. Wie hätte sie können das letzte Amt an den schweigsam gewordenen Leuten richtig und mit Verstand versehen, wenn sie nicht bemüht gewesen wäre, den Lebendigen in die Karten zu schauen? Schon manchem, der in Geiz dahingefahren, hatte sie ins letzte Kleid eine Münze gelegt, damit ihn das Geld nicht aus der ewigen Ruhe zerre. Einem Lügner hatte sie ein Bröselein Brot, einem Vergeuder Hamsterschmalz, einem Zornmütigen Baldrian mitgegeben, ganz im geheimen. Alles das und noch viel mehr hätte sie nicht tun können, wenn sie nicht Augen und Ohren gebraucht hätte nach ihrer Bestimmung.

Der Knecht aus der Mühle trug über dem blauen Hemd einen langen, tuchenen Kittel, den hatte er aufgeknöpft. Die Kappe aus braungrauem Hasenpelz lag auf dem Tisch. Er schaute nicht vergnügt drein, der Michel. In seinem Haar starrte der Mehlstaub, und sein kälteblaues Gesicht war schlecht rasiert und älter als sonst.

»Regele,« sagte er eben, »wenn's net ganz anders kommt, ist des mei' letzter Winter im kalte' Grund. Kei' Feuer im Ofe' kriegt meh' sei' Sach' recht, viel weniger d' Leut'. Im Schofstall ist's kalt, daß ein'm d' Supp' in de' Teller g'friert und kocht ist wie für d' Hund, aber net für d' Knecht –« 282

»Du,« entgegnete die Magd und schob die Schüssel mit Linsen, die sie verlesen hatte, zurück, »du denkst immer bloß ans Esse' und ans Guthan. Bist in gute' Zeite' Knecht g'we' im kalte' Grund, jetzt sei's au' in schlechte. D'r Müller liegt au' net auf Rose' –«

Der Michel spuckte vor sich nieder und zerrieb mit dem schweren Schuh den Stubensand. »Beim Blitz,« sagte er, »dir steht's an, so z' schwätze'. Sitz'st bei d'r Beth in d'r warme' Stub', und im Ofe' steht e' voller Kaffeehafe'. Aber unsereiner schindet sich, verfriert sich d' Händ' und hot s' Teufels Dank. D'r Müller tut nix meh' als schelte', jage' und Füchs grabe'. Mit 'm Totegräber und de' Jakobshofer Wirtshausläufer steht er bald auf du und Bruderherz.«

Sie schauten beide eine Zeitlang still über den Tisch weg gegen das Fenster, auf dessen schmalem Sims eine Meerzwiebel stand, deren Blätter zu engen Spiralen aufgerollt und festgebunden waren. Ueberwinternde Fliegen summten daneben auf und ab an den kleinen Scheiben. Immer auf und ab, wie alle, die noch nicht müde und mutlos geworden sind, die Türe in eine Freiheit zu suchen.

»Ja,« sagt dann das Regele schwer, »runter'komme' ist unser Herr. Er hot kein Stolz meh', wie der Gaul, der aus d'r Eselskripp' g'fresse' hot. Und wenn e' Klotz vom kalte' Grund kein Stolz meh' hot, no' fault er bald von inne' 'raus wie d' Rosenäpfel. Paß auf, Michel, 's gibt no' schlechte' Stückle mit unserem Herre' –«

Der Knecht nickte langsam mit dem Kopf. Ein Zug von trüber Sorge ging über sein Gesicht.

»I' sag' dir's, Regele: von dene Scheibe' im Pfarrhaus hot mer im kalte' Grund scho' g'wißt, eh' sie 'nei'g'schmisse' worde' sind. D'r Pfarrer steht bei unserem 283 Herre' im schwarze' Register. Seit er an unserer Uhr die Sonn' neu g'molt hot und seit er d' Müllere und de' Schulmeister auf ei'm Bild nebene'nander hing'stellt hot – seither hot er de' Krug verschüttet im kalte' Grund –«

Die Magd hatte die Hände auf dem Tisch gefaltet. Zusammengesunken saß sie da. Dann seufzte sie tief und schmerzlich. »Herrgott, was ist der Johannes für e' Büeble g'we', eh' er in d' Schul' und unter d' Leut' 'komme' ist. Weißt du's no', Michel, wie du ihn oft host reite' lasse' auf deine' Gäul, und wie er hot lache' könne' und singe', wie e' Vogel? E' G'sichtle weiß und rot und seine helle, feine Härle' –«

Wie der Widerschein eines fernen Glanzes lag es jetzt auf den beiden alten Gesichtern, als Knecht und Magd vom kalten Grund an ihres Herren frühe Kindheit dachten. Lauter summten die Winterfliegen neben der Meerzwiebel, und das Rädchen hinter dem Ofen surrte wie ein gestreichelter Kater.

Aber es kamen Wolken und zogen vor der freundlichen Sonne vorüber, daß wieder alles Land im Schatten lag.

»Wenn er so 'bliebe' wär',« murmelte der Knecht. »Aber d' Klotz hänt 'en Teufel im Leib – –«

Die Magd nickte. »Aelle Mannsleut' hänt ein'n. D' Klotz hänt zwei oder sieben, wie's in d'r Bibel heißt. Nix wie Weiberg'schichte, und Zorn und Brutalsein. 's ist e' schwierige Sort' –«

Wieder starrten beide vor sich hin in banger Sorge, als sei der Mann, von dem sie sprachen, ihr auf Abwege geratener Sohn.

Der Mühlemichel fingerte nach seiner Pfeife, die notdürftig abgekühlt in seines Kittels Tasche steckte. 284

Die Magd machte eine Bewegung, als schüttele sie böse Gedanken ab. »Was doch –« sagte sie laut und hart, »kei' Mensch ist ohne Fehler. D'r Müller ist d'r Schlechtest net. Er will bloß behandelt sei'. Aber davonlaufe' – g'rad bloß davonlaufe' –«

»Ja,« sagte kurz der Knecht – »so wie du! –«

Das Regele hörte nicht nach ihm hin. »Wenn's e' Unglück gibt, Michel, – er ist net allei' schuldig, unser Herr. 's ist z'viel, was an ihm zerrt. Ja, wenn er sich hätt' scheide' lasse' könne'. Aber sie will net. Sie gibt ihn net frei – Sie will Müllere bleibe' – –«

Des Knechtes Pfeife brannte. Ein dicker Rauch umhüllte sein Gesicht, als er jetzt sagte: »Er könnt' au' kei' Schönere kriege' –«

Die Magd blieb einen Augenblick stumm wie vor den Mund geschlagen. Dann schüttelte sie den Kopf. »'s ist einer wie der ander' vom König David an. Michel, Michel, wo hast du dein' Verstand? Siehst denn net bald ein, daß 's nix ist mit 's Müllers Heirat, und wenn d' Müllere noch so sauber ist? Macht denn e' sauber's G'sicht e' recht's Weib? E' Weib wie's d'r Mann braucht – –« Sie sprach erregt und fuhr mit der Hand über den Tisch, daß ein Häuflein vergessener Linsen prasselnd sich über den Boden zerstreute.

Der Knecht paffte gewaltig. Und immer hinter der Wolke sprach er hervor: »Ein glatt Gesicht, ein weißer Leib gibt meiner Treu das beste Weib –«

»Narr,« sagte das Regele ungehalten. »Narr, wie er im Buch stoht! Was willst du schimpfe' über dein' Herre'? Ihr zwei fresset aus ei'm Trog. Alle Lumperei im kalte' Grund kommt von solche Sprüchle her. Des ist den Mannsleut ihr Katechismus! En andere kennet se net. – Und wenn's übel ausgeht, no' wunderet se sich! –« 285

»Regele,« sagte der Knecht, ohne mit einem Wort auf ihr Schelten einzugehen, »komm du wieder in d' Mühle! Mir ist's oft Angst für unseren Herre', wenn er so finster wie der Teufel sei's Wegs geht. Du host ihn auf'zoge', du host ihn 's Laufe g'lehrt, du host ihn pflegt wie e' Mueter. Jetzt kommt er mir vor wie d'r Laubfrosch in d'r Sägmehltruh' – – er hopft und wühlt und grabt und bohrt und muß doch z'letzt versticke' –« Ganz schwer und traurig sprach der Alte. Er hatte die Pfeife aus dem Munde genommen und schaute groß in der Magd Gesicht.

Sie sah nicht auf. Ihre Hände ruhten im Schoß. Zerarbeitet, zersorgt und alt saß sie da. Lange schwieg sie. Dann schüttelte sie den grauen Kopf. »Er hot mi' 'nausg'jagt. Und i' han mei' Zeiche'. Wenn d' Uhr wieder lauft, soll i' gehe', hot mei' alte Frau g'sagt – –«

»Sie lauft aber net,« rief der Knecht, »sie lauft weniger als e' mol! I' wollt, d'r Teufel hätt' die ganz' Uhr g'holt, eh' i' sie 'm Herrn Heiner in sei' Werkstatt g'schafft han. Seither ist d' Lumperei los. Und die Uhr gibt kein' Fried' – –«

»Nein,« sagte die Magd, »kein' Fried', e'h alles g'schehe' ist, wie's g'schehe' soll. I' halt' nix auf, du hältst nix auf, d' Müllere hält nix auf. Wenn d' Wolk' voll ist, no' regnet's. Und wer kann's Regne' verhebe' –? I kann nix meh' tun für de kalte' Grund, als ihn unserem Herrgott anempfehle' –«

Der Knecht stand auf. Um seinen stoppeligen Mund lag Bitterkeit. »Gut so, Regele. I' will au' meine volle Mehlsäck und unser g'schlage's Holz und meine Gäul 'm Herrgott anempfehle'. Vielleicht macht der meine Fuhre und mistet de' Roßstall und füllt d' Krippe' und putzt d' Gäul. Er kann jo wohl alles, d'r Herrgott. Bloß e' 286 halsstörriges Weibsbild 'rumkriege' – sell kann er net. Bhüet di' Gott und laß di's net reue', wenn du hörst, daß es im kalte' Grund immer meh' hinte' hott geht –« Er schritt aus der Türe, ohne die Beth hinter dem Ofen zu grüßen, die Pelzkappe auf Sturm gesetzt.

Das Regele aber saß lange ohne sich zu rühren. Dann legte sie die Hände gefaltet vor sich auf den Tisch und fing wieder an, über Johannes Klotz' Kindheit und Jugend und Heirat nachzudenken und nach einem Weg zu suchen, nach einem Weg. –

Die Fliegen aber am kleinen Fenster surrten auf und ab, auf und ab.

✤           ✤           ✤

Vielleicht wäre es besser gewesen, der Pfarrer hätte sein mißhandeltes Bild dem Heiner Neuhaus nicht gezeigt. Ja, wenn der Krüppel ein Schwätzer gewesen wäre, ein offenes Rinnsal, das einfach über den Rand strömen läßt, was zuviel ist – dann wäre da weiter keine Gefahr gewesen. Aber der stille Mann war wie ein ringsum geschlossenes Rohr, das an seinen dünnsten Stellen platzen muß, wenn zuviel hineingepreßt wird.

Schweigend, mit aschgrauem Gesicht stand er vor dem Bild, auf dem sein Kopf wie von Wunden zerfurcht und zerbeult war von den Steinen der Jakobshofer.

Es hat ihm der Mühlemichel nicht nur einmal erzählt, wie es ein leichtes ist, dadurch, daß man eines Feindes Bildnis zerstört, diesen Feind selbst an Leib und Leben zu treffen, sobald man die Sprüche weiß, die zu dem teuflischen Werk gehören.

Ist's doch eine weitbekannte Sache, daß die Haberers Madel dazumal den schönen Gottlieb gelähmt hat an beiden Füßen, als er ihre Tochter hatte sitzen lassen. In der Stube der Weiber ward ein Bild gefunden, darauf 287 war der Gottlieb als ein strammer Kanonier. Aber die Füße des Soldaten waren beide durchbohrt und durchschnitten. – So taten die von da oben denen, die sie haßten.

Heiner Neuhaus fuhr sich langsam über sein dunkles Haar. Ihn plagte oft ein bohrender Schmerz im Kopf, als hätten ihn Steine getroffen. Seit er die Flöte nicht mehr in der Hand gehalten, seit des Freundes Geige verstummt, war dieses schmerzende Wühlen. –

Und nun sah er sich da an des Toten letztem Wege sitzen mit zerbeultem Kopf, den nackten Arm drohend zur Rache erhoben. Er riß die dunklen Augen auf, als blicke er weit in seine schmerzvolle Zukunft hinein, von der Prophetenhände die verbergenden Schleier hinweggezogen hätten.

Der Pfarrer ahnte nicht, was seinen schweigsamen Gast erfüllte, der ihm oft beim Arbeiten zusah.

Er hatte Farben auf die Palette gedrückt, mischte, versuchte und schaute.

Und dann fing er an, die verdorbene Stelle abzutupfen. Da seufzte hinter ihm der Krüppel auf wie in großem, körperlichem Schmerz, und ehe ihn der Pfarrer fragen konnte, ging er davon.

In der Nacht darauf hat es hinten im Dorf in des Lammwirts Scheune gebrannt, wo das viele Stroh lag, das der Lammwirt, der allerlei einträglichen Handel trieb, aufgekauft hatte weit und breit.

Es war ein entsetzlicher Qualm, der da aus allen Luken quoll, und als man die Tore aufriß, da schlugen spitze, gelbe Flammen züngelnd und prasselnd durchs schlechte Dach. Weithin hellte sich die eisige Nacht. Ein gelles Schreien lief durchs eben entschlafene Dorf. Und die Hunde fingen an zu heulen und zu toben. 288

Aber mit Schreien und Wehgeheul ist keine Flamme zu zügeln. Im Weiher splitterte das Grundeis unter den Aexten schweißtriefender Männer, und von den Trögen und Röhren der Brunnen hingen spitz und zackig die kristallenen Bärte.

Da rangen sich Weiberhände in ratloser Angst, und als aus den spröden Schläuchen der Pumpen nichts kam als gurgelndes Fauchen und Aechzen, da brach auch dem Kühlsten der Jakobshofer der Schweiß aus, und Flüche wurden laut von jener Sorte, die den Himmel an allen Ecken anzünden würden, wenn ihn Gott nicht in so sichere Ferne gestellt hätte.

So aber war ein stilles, friedliches Glitzern hoch oben über Jakobshof. Sogar der Mond sah lächelnd und traulich zu, was da unten werden sollte.

Auf den Aeckern hinter der flammenden Scheune leuchtete weithin der gefrorene Schnee. Blutrot bald und bald gelb wie grelles Sonnenlicht lief's über die Reihen der Gaffenden, die mit verzerrten Gesichtern um die Pumpen und die Spritze standen.

Heut hatte der Schulze den Kopf nicht umwickelt. Barhaupt, nur einen dünnen Kittel am Leib, stand er da, eine lange, mit eiserner Spitze bewehrte Stange in den Händen, das bartlose Gesicht mit den starken Kinnbacken vom Widerschein der Flammen überstrahlt.

In harter, fast wilder Spannung blickten seine Augen in den Flammen- und Funkenregen, der fortwährend emporstob und prasselnd zurückfiel. Er wartete den Zeitpunkt ab, da es geraten wäre, einzureißen, was nicht zu retten war.

Dann und wann rief er, ohne die Augen von dem fauchenden, fressenden Feind zu lassen, einen Befehl unter die Leute. Da taten alle, und nicht zuletzt der 289 Gypser Lorenz, der Hauptmann der Feuerwehr, nach seinen Worten. Nur das Feuer selbst, das kehrte sich nicht an den Schulzen.

Ueber des Mannes Kopf hinweg flogen kleine, goldene Vögel, die er nicht sah. Auf und ab gaukelten sie, wie Schmetterlinge im Liebesspiel. Und dann stürmten ihrer etliche davon in die tiefe Schwärze der Nacht hinein, und hinter ihnen lohte die alte Flamme brausend auf, als wolle sie den Weg ihrer versprengten Kinder lachend segnen. Da bauten sich die goldenen Vögel goldne Nester. Hier war ein flimmernder Schein, dort ein flackerndes Glimmen. Und die Schwingen wuchsen den Vögeln. Spitze, zackige Schwingen, die flatternd übers Nest hinausschlugen. Mitten in den schwergeballten Wolken schwarzen Qualms sah man eine Schar heller Tauben unaufhörlich kreisen, stumm, irr, verstört, wie einem Bann verfallen.

Der lange Frieder hat sich die Arme halb lahm gearbeitet am Glockenstrang in jener Nacht. Von Breithof und Hohenweiler kamen die Wehren. Den keuchenden Männern hing das Eis an den borstigen Schnauzbärten, an den Riemen ihrer Feuerwehrhelme. Ueber die steinhart gefrorenen Aecker her, jeden Umweg verschmähend, ratterten Pumpen und Spritzen dem lohenden Jakobshof zu.

Aber man hätte Pumpen und Spritzen daheim lassen können. Unter eherner Faust hielt die grimme Kälte das rettende Element und gab es nicht heraus, nicht aufs Beten und nicht aufs Fluchen, wie ein Geizhals, der in Zeiten schreiendster Not die Hand auf dem Beutel hält.

Gegen die Kirche hin fraß jetzt der Brand. Der ganze hintere Teil des Dorfes stand in der brausenden Lohe, die in tausend gelben und blutroten Zungen aus dem 290 glühenden Nest emporleckte. Schritt für Schritt, wie im erbittertsten Nahkampf, ging der Schulze mit seinen Leuten zurück. Auf dem Platz vor der Kirche blieb er stehen. Der Schweiß rann ihm in Strömen vom Kopf. Die starken Kinnladen machten leise mahlende Bewegungen, als zerreibe der Mann etwas unter knirschenden Zähnen.

Auf den Gassen im vorderen Dorf war es merkwürdig still geworden. Sogar die Hunde stellten ihr Bellen ein. Da und dort heulte einer laut auf, als habe er begriffen, um was es ging in dieser Nacht.

Der Hufschlag galoppierender Pferde kam die lange Gasse herauf. Der Müller vom kalten Grund und sein Knecht, der Michel, sprengten daher.

Die schweren Gäule hatten scheue Augen und warfen die Köpfe, als sie der Brandstelle näher kamen.

Der Müller sprang ab und band sein Tier an eine der kahlen Ebereschen am Kirchplatz. Dann schaffte er sich durch die Menschenknäuel ganz vor zur Feuerwehr.

Aber zu dem Knecht, der hoch zu Roß neben dem Gaul seines Herrn hielt, drängte sich Heiner, der Uhrmacher. Auf der Staffel des nahen Schulhauses war er gestanden, lange schon. Niemand wußte, wie lange schon. Sein Gesicht war rot und heiß, als sei er allzunah beim Feuer gewesen. In seinen Augen war ein scheues und ruheloses Flackern.

Der Michel sah ihn nicht kommen. Er blickte unter der Pelzkappe hervor über das Menschengewimmel hinweg in den Qualm und die Flammen hinein, die jetzt ganz nahe dem Häuslein der Beth am Gemeindebackhaus fraßen. An eben jenem steinernen Gemeindebackhaus, in dem im großen Krieg die Schweden den Polizeidiener 291 totschlugen, der vor dem Backofen auf frischen Kuchen wartete.

Da zupfte eine Hand den Knecht am langen Kittel. »Michel,« sagte der Krüppel mit grinsendem Lachen, »reite hinaus zur Linde des Kaisers Karolus und frage, wer das getan hat an dem verfluchten Jerusalem.« Er deutete mit ausgerecktem Arm gegen die Brandstätte, und die Flöte hielt er in der Hand, deren blanke Klappen in der düsteren Helle aufglänzten.

»Herrgott,« sagte statt einer Antwort der Knecht, »Sie werdet doch jetzt net spiele' wölle'?«

Da nahm der Heiner die Flöte an den Mund und blies zum erstenmal nach seines Gefährten Tod wieder einen Ton darauf, einen gellenden, markdurchdringenden Ton, bei dem die Gäule aus der Mühle sich wild aufbäumten und die Menschen schreiend wegdrängten.

Lange gelang es dem Knecht nicht, sein scheues, stampfendes Tier zur Ruhe zu bringen. Und als es wieder stand, da war der Krüppel verschwunden.

Aber die Jakobshofer rings umher, die sagten, daß das schreckliche Brennen wohl einem den Sinn verstören könne. Insonderheit so einem Krüppel und Musikanten, der nie ganz war wie andere Leute.

Es hat sich bei dem großen Jakobshofer Brand ein Wunder zugetragen. Und zwar geschah es so, wie alle echten geschehen. Nicht vor Augen, daß man von Obrigkeits wegen ein Protokoll aufnehmen und feststellen konnte: so war's und so war's nicht. Sondern so, daß Herzen da waren, die spürten, daß sie und nur sie allein etwas erlebt hatten. Etwas, das über die nüchterne Gesetzmäßigkeit alltäglichen Geschehens hinausging.

Diese Herzen aber gehörten der Beth und dem Stundenwilhelm. Der Schultheiß und der Müller, der 292 riesenstarke Mann, und alle die andern mit ihren eisenbeschlagenen Stangen haben wohl Mauern und Wände eingedrückt; aber das Wunder, das Wunder allein hat den Brand dazumal haltmachen lassen vor der Kirche.

Und das war so. Es ging ein Brüllen los, daß man solle das Schulhaus räumen und die Sakristei und das Pfarrhaus. Und weil die Beth und der Stundenwilhelm zunächst am Schulhaus standen, so gingen sie dort hinein und gleich zu unterst in die große, kahle Stube, in der vor Wochen die Sache geschehen war.

Es waren aber die Läden zu und die Stube stockdunkel. Da kam es der Beth zugut, daß sie von damals her noch wußte, wo die Lampe stand.

Und es war noch alles an seinem Platz wie einst, Lampe und Feuerzeug und ein großer Stoß beschriebener Notenblätter.

Die Beth strich das Zündholz an, daß über die rauhe Wand ein langer Streif leuchtenden Phosphors lief. Dann trug sie die brennende Lampe auf den hölzernen Tisch, der nackt und leer in der Stubenmitte stand.

Der Stundenwilhelm aber wartete derweil ruhig an der Türe, denn in seinem spruchgepanzerten Herzen war eitel Getrostsein. Auch lag sein ärmliches Häuslein nicht an des fressenden Feuers Weg.

Rund und golden, wie ein weiter Heiligenschein glänzte das Lampenlicht auf dem hellgelben Tisch.

Und in dem Bereich dieses Scheines war die Dornenkrone und das Antlitz voll eingeschlafener Schmerzen, das der Pfarrer da hingezeichnet hatte am heiligen Christfest. Die Beth stemmte die Arme auf den Tisch, und der Wilhelm kam herüber. Und sie schauten stumm auf den Kopf. Draußen aber ging das Schreien fort, man solle das Schulhaus räumen. Im dunkeln Flur 293 hörte man tappende Schritte von solchen, die sich nicht auskannten. Die zwei aber in der Stube kannten sich aus.

»Den traget mer 'naus,« sagte leise der Halbblöde und deutete auf den Kopf. »Unser Heiland darf net verbrenne'.«

Da setzte die Beth die Lampe auf den Boden und tat die Türe auf, und sie trugen den Tisch hinaus.

Auf der Staffel aber ging's ihnen wie dem heiligen Christophorus: des Herren Last ward ihnen schwer und schwerer. Mühselig schleppten sie, und rings umher war das brandende Wogen der Jakobshofer, die nicht wußten, was da davongetragen wurde.

Vorne beim Feuer schrien die Männer: »Zurück, zurück!« Und hinten drängten kopflos die Rettenden, die tausend Dinge zum freien Kirchplatz schleppten.

Aber die Beth und ihr Partner ließen den Tisch nicht los, ob auch fast kein Durchkommen war. Schräg gingen sie gegen die Massen an, wie Enten gegen die saugende Strömung. Als dem Weiblein der Schweiß aus der Stirne brach, da griff von seitwärts her eine Männerhand zu, so recht zur guten Zeit.

Es war der Pfarrer, der, barhaupt und im Malerskittel, berußt an Gesicht und Händen, unter den Jakobshofern das Seine tat. Er warf keinen Blick auf den Tisch, den er retten half. Wußte auch nicht, woher die zwei ihre Last brachten. Nur das keuchende und schwitzende Weiblein sah er.

Und er trug mit den beiden die Beute hart an die Mauer der Kirche in eine der weiten Nischen, in denen die Kleinsten von Jakobshof zur heißen Sommerszeit in ihren hölzernen Wägelchen auf roten Kissen strampelten und schliefen. 294

Eine Stunde später sind die höchsten der Ebereschenbäume vor der Kirche aufgeflammt wie Fackeln.

Wild und verstört, aufgewühlten Ameisen gleich, rissen die Jakobshofer ihr Hab und Gut wieder aus der Obhut der Kirche und schleppten es ein Stück weiter vor dem nachdrängenden Feuer.

Aber der blöde Wilhelm tat der Beth den Willen nicht und griff nicht ein zweitesmal an den Tisch. Der Platz war geleert bis auf das einsame Stück an der Mauer. Niemand hätte mehr um das hölzerne Dachgestühl der Kirche einen roten Heller gegeben. Um das alte, längst verlassene Storchennest schwirrten schon die Funken, wie Bienen um den Stock.

Der Stundenwilhelm drehte die gestrickte Kappe in den Händen und betete laut: »Halte ihn, den deine Rechte gepflanzt hat und den du dir festiglich erwählet hast! Siehe drein und schilt, daß des Brennens und Reißens ein Ende werde –!«

Niemand sagte ihm heut, er solle sich Schröpfköpfe setzen lassen, niemand horchte auf ihn. Niemand, als vielleicht das fressende Feuer, das es müde war, der Vernünftigen und ihrer Anschläge zu spotten.

Was kein Mensch mehr glaubte, geschah. Die Kirche blieb unversehrt und unversehrt der Tisch in der Mauernische. Niemand achtete sein. Nur die Beth und der Wilhelm wußten, daß ein abgeschlagenes Haupt darauflag. Ein merkwürdiges Haupt, von dem auch in der eisigsten Nacht, als alle Brunnen erstarrt waren, Ströme lebendigen Wassers flossen, um Brände zu löschen.

Als es gegen den Morgen ging, sanken die letzten Flammen zusammen. Müd und stumpf gingen die dachlos Gewordenen mit denen, die noch ein Heim hatten. 295

Auch der Stundenwilhelm nahm Gäste mit in sein Häuslein. Nicht die vornehmsten. Die drängten sich nicht an den Halbnarren. Nur den alten, durstigen Schreinerstoffel und sein Weib, die nicht von Jakobshof gebürtig, sondern gute zwei Stunden weg von Untersweiler waren. Und man weiß, daß die von Untersweiler glühend Eisen und Mühlsteine liegen lassen, im übrigen aber weite Taschen haben.

Es hat der Schreinerstoffel bei diesem Brand nichts gerettet, als etliches von seinem Handwerkszeug und einen Tisch, den er und sein Weib früh am andern Tag in des Stundenwilhelms Häuslein schleppten. Er war auf der Platte durch Funken zerstört und verdorben, sagte der Schreinerstoffel, so daß er ihn gründlich abhobeln mußte, worauf das helle Holz wie neu glänzte. Auf diesen Tisch stellte der Stundenwilhelm in froher Emsigkeit, was er seinen Gästen zu bieten hatte.

Und die Kissen von seinem eigenen Lager trug er ihnen herzu. Denn seit er ein Wunder Gottes erlebt hatte, waren ihm die Menschen wie Brüder geworden, so brannte sein Herz. Darum aber ist soviel Enge und Kälte auf Erden, weil die wenigsten die wahren Wunder sehen.

Aber des Schulmeisters Tisch mit dem Christuskopf ist spurlos verschwunden in der Brandnacht.

Die Jakobshofer sagen: »Teufelstand hat nicht Bestand.«

✤           ✤           ✤

Wie war das doch mit des Pfarrers Bild?

Die Oberlehrerin stand in der Brandnacht in der Küche und kochte Kaffee. Sie dachte, daß sie, klein und alt wie sie war, draußen in dem wilden Drängen nicht viel helfen könne. Da tat sie, was in ihrer Macht stand, 296 und ließ durch die Magd dem Schulzen sagen, wenn jemand heißen Kaffee oder auch eine warme Stube brauche, im Pfarrhaus sei die Tür offen für alle.

Und eine große Kanne voll des Getränkes wickelte sie in ein wollenes Tuch und gab es der Magd mit. »Wenn er rasch kalt wird in dieser Nacht,« sagte sie zu dem Mädchen, »so mußt du dem Schulzen sagen, er sei mit dem heurigen Holz gekocht, das keine große Hitze gebe.« –

Vom Küchenfenster aus sah die alte Frau hinüber, wo der Feuerschein lohte und der Qualm sich schwer hinter den Dächern emporwand. Es war weit weg. An eine Gefahr noch nicht zu denken.

Aber je größer die Schätze sind, die einer zu hüten hat, je ängstlicher schlägt ihm das Herz, wenn's irgendwo wetterleuchtet. Die Oberlehrerin nahm ihre Küchenlampe und stieg hinauf in des Sohnes Malstube. Da stellte sie das kümmerliche Licht auf den Tisch und rückte das Bild auf der Staffelei so, daß der Schein darauf fiel.

Ihre kleinen, alten Hände hielt sie gefaltet, wie sie davor stand und die Augen nicht lassen konnte. »Seid ruhig, ihr,« sagte sie dann leise und mit tiefer Innigkeit, »euch lass' ich nicht verbrennen. Ihr müsset draußen im Land sagen, was mein Bub für einer ist! – Ich habe ihn in den schwarzen Rock hineingeredet, ihr sollt ihn wieder herausreden –«

Wie liebkosend fuhr sie mit der Hand über des Bildes Gestalten. Ueber den schimmernden Leib des Heilands und das blasse Gesicht der hilflosen Mutter Maria. Aber der Kopf des Bettlers am Weg war noch nicht recht trocken. Das dunkle Haar klebte leicht an dem streichelnden Finger. 297

Die alte Frau fuhr zurück. »Du armer Kerl,« murmelte sie, »dir haben sie ja so übel mitgespielt. Hast es noch nicht vergessen. Sitzest da, als ob du wolltest Feuer regnen lassen auf ihre Stadt. – Es brennt in Jerusalem, du nackter Bettelmann! Willst du nicht lachen?«

Sie trat zurück und sah sich um in der Stube, deren vollgestellte Ecken das spärliche Licht nicht erhellte.

Tücher trug sie herzu und Lattenstücke und alte Blendrahmen. Und auf dem Boden vor der Staffelei machte sie eine Bahre zurecht, ehe sie wieder hinunterstieg in die Küche.

Als alle schrien, daß Schulhaus, Kirche und Pfarrhaus müßten geräumt werden, und als sich der Strom der Retter, Zerstörer und Schreier die Gasse herabwälzte, da stieg die kleine Frau zum zweitenmal die Treppe empor.

Diesmal zitterten ihr die Knie, und der alte Mund bewegte sich in murmelndem Beten. Sie schaute nicht lang nach der Magd aus. Und ehe sie einen Jakobshofer zu ihrem Werk rief, eher biß sie sich die Zunge ab.

Aber als sie mit ganz schweren Füßen in die Stube trat, in die jetzt ein fahler, warnender Feuerschein von fernher floß, da hörte sie hinter sich einen hastigen, polternden Schritt. Heiner Neuhaus, der Krüppel, stürmte die Treppe empor. Sie wandte sich um und leuchtete ihm mit ihrem Lämplein ins Gesicht. Es war von großer Angst verzerrt und feucht vom Schweiß.

»Er muß fort,« stieß er hervor, »er muß fort.« Die alte Frau trat auf den Stammelnden zu und strich ihm übers unbedeckte Haar. Ein Mitleid ergriff sie mit diesem gehetzt aussehenden Menschen, ein mütterliches Mitleid, das die Sorge um das Bild zurückdrängte. 298

»Er kommt schon fort zur rechten Zeit,« sagte sie beschwichtigend, »mein Sohn läßt ihn nicht verbrennen.«

Aber der Krüppel schlug plötzlich wie sinnlos nach der streichelnden Frauenhand. »Rühr' mich nicht an, rühr' meinen Kopf nicht an! Siehst du nicht, wie sie mir ihn zerschmettert haben mit ihren Steinen?«

Er trat vor das Bild: »Es brennt, Ernst, es brennt! Warum haben sie dich umgebracht? Wir haben nichts von ihnen gewollt, du und ich. Wir haben nur Musik machen wollen –«

Er schluchzte wild auf und faßte das Bild an, und die alte Frau mußte zuspringen, wollte sie es nicht stürzen lassen.

Die Seele war ihr plötzlich von einem tiefen Grauen erfüllt. Sie sah, was geschehen war an diesem zitternden Menschen und an dem flammenden Jakobshof.

Aber ob es ihr die Rede verschlug – sie begriff, daß für des Sohnes reines Werk kein besserer Hüter zu gewinnen war, als dieser Mensch mit dem zerstörten und zerfressenen Geist. Still legte sie das Bild auf die Bahre und deckte es zu wie eine Mutter ein frierendes Kind.

Der Krüppel half den kostbaren Schatz verhüllen. Auch er sprach kein Wort dabei. Seine Gebärden waren voll Sorgfalt, voll rührender Aengstlichkeit.

Zuletzt banden sie ihre Last mit Stricken fest und nahmen sie auf.

Und als sie eben gehen wollten, kam der Pfarrer barhaupt über die Stiege.

»Mutter,« rief er klingend, »nun müssen wir es fortbringen.«

Er sagte nur »es«, als sei da kein zweites Ding, für das zu sorgen wäre. 299

Als er sah, daß die alte Frau schon wieder einmal wie ein Schrittmacher vor ihm hergewesen war und von sich aus glatte Bahn geschaffen hatte, da ging ihm eine heiße Welle durch das Herz.

»O, Mutter du –« sagte er und achtete des Krüppels nicht. Sie winkte mit dem Kopfe. »Er und ich. Er will auch den Heiland nicht verbrennen lassen.«

Der Pfarrer nahm der kleinen Frau die Last aus der Hand. »Das soll ihm nicht vergessen sein,« sagte er leise.

»Laß mich doch,« bat sie, »es ist ja gar nicht schwer.« Wann wäre etwas schwer, wenn eine Mutter für ihren Sohn schleppt!

Aber der Pfarrer schob sie weg, und sie ging auf die andere Seite zu Heiner, und zu dreien trugen sie ihren besten Schatz von dannen. Im Hausflur drängten sich nicht allzuviele, die zum Helfen gekommen waren.

Und als das Bild durch ihre Mitte hindurchgetragen wurde, da streckte sich keine Hand aus, um anzufassen. Scheu sahen sie ihm nach, wie einem Götzen, der von des echten Gottes Zorn umwittert ist, so daß nur Unheil von ihm strömen kann.

Durch die hintere Haustüre und den verschneiten Garten trugen die drei ihre Last.

Dort ist ein ganz niederer Hag von jungem Weißdorn, den der Pfarrer setzen ließ, als der alte Lattenzaun unter den ruhelosen Kletterversuchen der Jakobshofer Buben endlich zusammengebrochen war. Die Oberlehrerin wollte keinen Zaun mehr haben. Sie sagte, sobald man ungehemmt hereinsehen könne, werde kein Mensch mehr einen Blick über die Hecke werfen, viel weniger einzudringen versuchen.

Nicht weit von dieser niederen Hecke legten sie das Bild flach auf die hartgefrorene Erde. Weitum war hier 300 für das Feuer nichts zu suchen. Ein vereister Weg, ein niederer Lehmbruch jenseits der Hecke und diesseits kahles, verschneites Gartenland.

Es mußte sicher sein hier außen, sonst hätte der Michel von der Mühle nicht, als es am Kirchplatz gefährlich wurde, seinen und seines Herren ledigen Gaul an den Birnbaum gebunden, der am Wege stand.

Es lag nur wenig Helle über dem Garten. Wenn aber in der Ferne eine neue Lohe aufzüngelte, dann breitete sich der ungute Schein fahl und erschreckend über das leere Land. Alsdann stampften und scharrten hinter der Hecke die alleingelassenen Gäule, und man hörte ihr angstvolles Schnauben.

Als ein großer, dunkler Fleck lag das verhüllte Bild auf dem gefrorenen Schnee. Schwer atmend standen die drei Träger daneben und schauten darauf nieder.

»Kommt,« sagte da der Pfarrer mit einem gewaltsamen Losreißen, »es gibt noch viel Arbeit für uns.«

Der Krüppel schüttelte den Kopf und legte die Hand an die Stirne. »Ich hab' Feierabend, ich bleibe bei ihm,« sagte er kurz und kauerte sich langsam neben dem Bilde nieder.

Da nahm die alte Frau des Sohnes Hand und zog ihn fort. »Laß ihn,« murmelte sie, »er ist krank; aber er hütet es gut.«

So blieb Heiner Neuhaus allein bei denen auf dem Bild, die ihm alle vertraut waren. Er kauerte in der eisigen Kälte, barhaupt in seinem langen, grauen Arbeitskittel. Ein Zittern schüttelte ihn, das er nicht zu fühlen schien. Seine Augen waren dorthin gerichtet, wo die Helle des Brandes stand.

Wenn die Müllersgäule hinter der Hecke lauter stampften und scharrten, horchte er auf, als besinne er sich auf etwas. 301

Einmal wollte er aufstehen, doch gehorchten ihm die erstarrten Füße nicht. Da rief er laut gegen die Hecke: »Michel, was sagt er, der Kaiser Karolus?«

War es das tobende Klopfen und Glühen in dem kranken Kopf, das den einsamen Menschen nicht erfrieren ließ?

Und einmal blickte Heiner Neuhaus wie von ohngefähr gegen den sternhellen Himmel. Da kam in seine flackernden Augen nachdenkliche Stetigkeit und ein trauerndes Erinnern. Seinen Vater hörte er reden, den kindlichen, ruhevollen Mann, der sein Leben gelebt hatte wie ein Schlafwandler.

Da droben stand wieder der goldene Wagen, von dem Albrecht Neuhaus seinen horchenden Kindern sagte, der stehe immer vor der Türe derer, die zu müd' seien, um über die Erde zu gehen.

Was verschlug's, daß die Stube so ärmlich und voll Arbeitsgerät war, wenn doch vor der Türe allnächtlich der goldene Wagen stand, fertig zur seligen Reise –?

Die Krankheit brannte in des Krüppels Hirn, Heimweh und Einsamkeit in seinem verschlossenen Herzen; und als könne er einen empordrängenden Quell nicht mehr dämmen, griff er zitternd unter den Kittel und suchte die Flöte.

Die Klappen flimmerten auf in der fahlen Helle, und über das verhüllte Bild seines toten Freundes hin blies in dieser Nacht Heiner Neuhaus sein letztes Lied: ›Liebe, die für mich gestorben.‹

Es sollte nicht friedlich verklingen. In der Mitte brach es gellend ab, und der Spielmann sank vornüber, ohnmächtig, oder nur ohne Macht über sein Leid? 302

✤           ✤           ✤

Der Müller vom kalten Grund stand in jener Nacht mit berußtem Gesicht und zerrissenen Händen in der vordersten Reihe derer, die gegen die fressenden Flammen angingen. Er tat's niemand zu Lust und niemand zu Leid. Wo ein starker Mann mit drängender Kraft ein Paar dräuende Stierhörner sieht, da zuckt es ihm in den Armen und Händen, daß er zupacken muß.

Als das Gemeindebackhaus abbrannte, nahe bei dem Häuschen der Beth, da ist der Müller der erste gewesen, der das flammende Dach eingestoßen hat. Er hat geholfen, alles was brennbar war hinter die steinernen, festen Mauern zurückzustopfen, wie in ein gieriges Maul, das man ausgiebig füllt, damit es genug habe.

Er schaute sich nicht um bei seinem heißen Werk. Das Regele sah er nicht, das kein Auge von ihm ließ und einen feuerroten Kopf hatte. Und seines entlaufenen Weibes hatte er nicht acht, das scheu und doch gierig, wie ein Kind nach verbotenen Dingen, von weitem nach dem berußten Mann in zerfetztem Lodenkittel blickte. Hinter den Jakobshofer Weibern duckte und drückte sich die Müllerin.

Und wenn vorne die Balken krachten und Funken und Rauch knisternd emporstoben, dann drängte sie weiter hin, als sei sie da vonnöten, wo die heiße Gefahr die Männer umlohte. Jede neue Flamme, die emporzüngelte, sie leuchtete dem jungen Weib ins Herz, daß es zitternd seine angstvolle Liebe sah.

Der Müller in der glühenden Asche dort vorne hörte nicht, wie die Jakobshofer heute ein Rühmens machten von seinem wilden Mut und seiner gewaltigen Kraft, die klotzisches Erbteil seien von Urzeiten her.

Aber sein Weib hörte es. Denn wenn ihr Mann 303 gepriesen wird, und wär's im Flüsterton, so vernimmt es das Weib über ein Meer und eine Wüste hinüber.

Wie ein Freiwilliger in der Schlacht stand der Müller in dem Brand. Wo kein Söldling mehr den Arm gerührt hätte, da tat er das letzte. Das Brausen neuaufsteigender Flammen war ihm wie feindliches Feldgeschrei. Es drückte ihm die Wehr fester in die Faust.

Als dann jener merkwürdige Stillstand kam vor der Kirche, bei dem die Jakobshofer aufzuatmen und sich ihrer Taten laut oder im stillen zu rühmen begannen, da kam es wie Ernüchterung über den Müller.

Unbeachtet ging er eilends von dannen.

Draußen hinter dem Pfarrgarten suchte er seinen Gaul. Warum ist er doch nicht den kurzen Weg zur Mühle zu Fuß gegangen, dem Knecht die beiden Gäule überlassend?

Als er sein unruhiges Tier vom Birnbaum losband, sah er im fahlen Licht drüben über der Hecke einen Menschen kauern. Oder war das kein Mensch, dort neben dem schwarzen Fleck im weißen Gartenland?

»Wer da?« rief zweimal laut der Müller. Und als sich's drüben rührte, da setzte er auf dem schweren Gaul über die Hecke und sprengte auf den Fleck los.

Halte dein scheues Tier zurück, Johannes Klotz! Den Mann auf dem verhüllten Bild hat noch keiner ungestraft überritten.

Ein gellend aufschreiender Mensch ist emporgetaumelt, dem rasenden Roß entgegen. »Nicht, nicht,« hat Heiner Neuhaus gebrüllt, »da liegt der Heiland –«

Der Müller hat verstanden. Er begriff, was da zugedeckt am Boden lag. Hat er gelacht?

Fetzen von Tüchern, von krachender Leinwand wirbeln um schlagende Rosseshufe. 304

Da blitzt etwas auf. Der Gaul steigt so wild, daß sein berußter Reiter tief hintenüber sinkt. Und wieder dieses Blitzen. Hat des Rosses schweres Eisen einen Stein getroffen? Sind es die Klappen der Flöte? Ein Schnauben, ein furchtbarer Laut, wie ein Schmerzensschrei, der hinter eines Mannes knirschenden Zähnen erstirbt.

Ledig rast der Gaul durch den Garten und über die Hecke. Der andere draußen reißt sich los, und beide stürmen aufwiehernd den vereisten Weg entlang.

Einen Augenblick liegt's wie Totenstille über dem zertrampelten Land. Dann richtet sich zwischen den Tücherfetzen taumelnd ein Mann auf und geht davon.

Der andere liegt reglos im Schnee.

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Kaum hielt der Brand vor der Kirche, da rasselte die Feuerwehr aus der Talstadt ins Dorf. Es gab ein Raunen, ein verstecktes Lachen. Es sprach sich herum, ein Wunder sei geschehen, ein Wunder: das bäuerliche Feuer habe sich verkrochen vor den städtischen Spritzenleuten, weil es gedacht habe, es werde von denen doch übers Ohr gehauen.

Der Stundenwilhelm redete von seinem Wunder nicht. Ihm war sein Herz so voll von Glückseligkeit, daß es ihm die Rede verschlug, als seien alle Klappen von innen zugedrückt. Nur fuhr er jedem Kind behutsamer über den Kopf, streichelte jeden Hund mit innigerer Freundlichkeit und sog die Luft, die voll unerträglichen Brandgeruchs war, tief ein, als komme sie aus dem Paradies.

Mit den Feuerwehrleuten von der Stadt kam in jener Nacht auch der Doktor Gothe. Es hatte ihn niemand gerufen, und seine Jungfer Schwester verhehlte ihm nicht, daß sie es für ein starkes Stücklein halte, wenn ein 305 alter Mann mitten in der eisigsten Nacht einem Brand nachlaufe, der ihn von Haut und Haaren nichts angehe. Sie stellte ihm aber seine Pelzstiefel zurecht und legte ihm die dicksten Decken ins Wägelein.

Da lachte der Doktor, als er einstieg und nach der Peitsche griff. »Schimpfe, alter Drache,« murmelte er, »ich mache dir den Kopf warm und du mir die Füße.« Und er schnalzte seinem dicken Gaul ermunternd zu.

Der Himmel über der engen Elsterbachschlucht war brandrot, so daß die Straße mit ihren Kehren deutlich zu erkennen war.

Weithin hörte man die Hunde vom kalten Grund lärmen, als spürten auch sie die böse Nacht.

Spritzen, Pumpen, Schlauch und Mannschaftswagen ratterten um eine Kehre zurück hinter dem Doktor, der dem tanzenden Schein seiner Laterne auf der ausgefahrenen Straße zusah und seinen Gaul nicht übermäßig hetzte.

Erst auf der Höhe kam ihm größere Eile. Auf die Kirche hielt er zu und aufs Pfarrhaus. Er sah die vollgestellten, chaotischen Gassen, die kopflosen Menschen.

Da band er Gaul und Wägelein an das eiserne Geländer neben des Schulzen niederer Hausstaffel, auf der der fette, taube Spitzerhund stand und gegen den roten Himmel heulte.

Bis ans Pfarrhaus arbeitete er sich durch. Es war fast dunkel im Hof, in dem tausend Habseligkeiten standen, die niemand fortschaffte.

Wie ein Schirm, den man gegen grelles Licht stellte, hielt die Kirche den Flammenschein ab.

Die Oberlehrerin stand abseits von ein paar verstummten Weibern unter ihren Besitztümern. Die Haube war ihr vom weißen Haar gerutscht. Sie sah fast 306 teilnahmlos drein. »Doktor,« sagte sie ohne Ueberraschung, als sie den Freund erblickte, »Doktor, es ist wie in Sodom und Gomorra.«

Er lachte ein wenig. »Ei, so heißt es eben: nicht rückwärtsschauen.«

Suchend blickte er sich im Kreise um. Dann legte er der alten Frau die Hand auf den Arm. »Wo ist es? Es ist doch in Sicherheit?«

Er sagte auch nur »es«, als er das Bild meinte.

Sie nickte und schob sich mit rascher Gebärde die Haube zurecht, als sei eine neue Kraft über sie gekommen. »Im Garten, ganz hinten an der Hecke, wo niemand hinkommt, liegt es gut verwahrt. Heiner Neuhaus ist dabei, um es zu hüten. Eben habe ich seine Schwester hingeschickt, nach ihm zu sehen.«

Da ging der Doktor durchs Haus in den weiten Garten.

Er fand bei der Hecke eine Frau neben ihrem blutenden, bewußtlosen Gatten knien und Trümmer und Fetzen rings umher. Des Bildes Hüter war verschwunden.

Der Doktor hat Männer geholt, die den Müller ins Pfarrhaus tragen mußten.

Die Oberlehrerin sah ihn bringen. Sie wollte aufschreien, wollte fragen. Aber der Doktor winkte ab, und sein Gesicht war sehr rot dabei.

Da preßte die alte Frau die Lippen fest aufeinander und lief in den Hof, wo Bettstücke auf einem Karren lagen. Sie riß herunter, was ihr zuerst in die Hände kam und fing an, den Mann zu betten, dessen blutenden, besudelten Kopf die Liesel nicht loslassen wollte. Der Doktor aber, als er ihn gewaschen und lange betrachtet hatte, befahl, den Müller in den kalten Grund zu tragen. 307 »Denn,« sagte er zu des Pfarrers Mutter, »aus der eigenen Schüssel essen und im eigenen Bett sterben, ist etwas vom Besten, was man auf Erden haben kann, wenn's nicht das Allerbeste ist.«

Erst als der wunde Gast davongetragen war, gedachte die alte Frau wieder ihrer heißesten Angst. Minutenlang preßte sie die Hände aufs klopfende Herz, dann ging sie, im Gewühl des Kirchplatzes den Sohn zu suchen. Allein wollte sie den Gang in den Garten nicht tun. Sie nahm ihn wie ein Kind an der Hand. »Komm, Wolf, jetzt wollen wir auch nach unserem« – sie schluckte – »nach unserem Heiland sehen.«

Er ging mit ihr ohne Arg und ohne Ahnung. Ach, sie konnte ihm nicht in die Augen schauen, so schrie die Angst aus ihrer Seele. Die Angst, was sie wohl finden werde dort, wo der Wächter geflohen war.

Der Pfarrer sprach kein Wort, als er die Zerstörung erblickte. Er hörte nicht, wie jemand hinter ihm sagte, die Müllersgäule seien wie rasend gewesen, und der Klotz sei abgeschleudert und getreten worden von seinem Tier, das, von Feuer und Brandgeruch wild, keiner Männerfaust mehr gehorcht habe.

Auch das vernahm er nicht, jetzt nicht und nicht später, daß ein Raunen durchs Dorf ging, von ohngefähr werde ein solches Bild des Aergernisses nicht zerstört. Gott lasse seiner nimmermehr spotten, und keiner dürfte ihn ungestraft lästern.

Der Pfarrer, wie er regungslos vor der Verwüstung stand, horchte nur in sich selber hinein. Und da rief es: »Also immer noch nicht, immer noch nicht! Du wirst noch nicht aus der Lehre entlassen, weil du das Letzte und Höchste, was dein Meister dir vertrauen will, immer noch nicht begriffen hast.« So quoll und tränte in dem 308 hartgetroffenen Mann der Saft, wie in einem tief zurückgeschnittenen Baum. Es stiegen jene höchsten Schmerzen empor, die nur den Auserwählten zugedacht sind, und die mit ihren dunklen Flügelspitzen an Seligkeiten streifen.

Bleich, zerzaust und übernächtig stand die alte, kleine Frau neben ihrem Sohn.

Auf einmal schlang sie fest den Arm um ihn. »Wolf,« bat sie mit zerdrücktem Schluchzen, »sage etwas, sei nicht so stumm!«

Da lächelte er. »Was soll ich sagen, Mutter, wenn doch zu mir gesprochen –«

Sie streichelte seinen Arm. »Du stehst wie Loths Weib.«

Da wandte er sich um. »Komm! Loths Weib hat rückwärts geschaut, wir schauen vorwärts.« Und er ging mitten durch die Fetzen hin.

Und im Osten färbte sich der Himmel zum neuen Tag.

✤           ✤           ✤

Die ledigen Gäule sind am Mühlemichel vorübergerast, als er nach ihnen zu schauen kam. Wiehernd und schnaubend, Funken unter den Hufen, sind sie dahingestürmt, als sei die Peitsche des wilden Jägers über ihnen.

Der Knecht hat die Augen weit aufgerissen und einen saftigen Fluch getan.

Dann drückte er die Pelzkappe bis an die mehlstaubigen Augenbrauen und lief hinterher quer über das vereiste Feld, das bis an den Wald hin im Gelbgrau der unfriedlichen Brandnacht lag.

Hastend und stolpernd ist er in die Mühle gekommen. Da fand er die Gäule zitternd und schaumbedeckt vor der Stalltüre, und der Hund winselte in seiner Hütte. 309

Der Knecht warf die Kappe auf den Deckel des Brunnentrogs. »Herrgott,« murmelte er, »wenn die Nacht net's Teufels ist – –«

Langsam mit schweren Händen hat er die Stalllaterne angezündet, ist den Gäulen mit dem Strohwisch über die nasse Haut gefahren und hat sie abgeschirrt.

Seine Gedanken waren nicht bei der Arbeit. Sie waren noch oben bei Brand und Tumult.

Er ging in den Schafstall, der war leer und ungelüftet. Auf dem Tisch lagen die Reste vom Nachtmahl der Knechte.

Die Türen der Knechtskammern standen auf, die Betten waren zerwühlt und schmutzig.

Dem Michel in seiner übernächtigen Müdigkeit kam der ganze kalte Grund so unwirtlich vor, so gottverlassen, als sei alle Freudigkeit und alles Leben für immer aus der Mühle ausgezogen.

Er ging die Stiege empor nach der Küche. Die war voll großer Unordnung. Die Katze kam hinter dem Herd hervor, drückte sich um die Ecke und machte einen Buckel, so hoch fast als ihr aufgereckter Schwanz.

Der Knecht machte mit seiner Laterne eine scheuchende Bewegung. »Gang du! Katze' bei Nacht sind 's Teufels.«

Er suchte nach etwas Genießbarem und fand nichts. Er rief laut der Magd, daß es durch den Flur hallte. Sie kam nicht. Sie war beim Brand auf der Höhe.

Da packte den Michel der schwer herschreitende Zorn.

»Herrgottblitz,« rief er, »wenn doch de' ganze' kalte' Grund« – er sprach den Fluch nicht aus, denn hinter ihm tat es einen schmetternden Fall. Die Katze hatte einen Topf vom Tisch gestoßen, daß die Scherben über die Steinplatten des Bodens glitten. 310

Da ging der Michel ganz langsam die Stiege wieder herunter. Und als er vor die Haustüre trat, sah er, daß der erste Morgenschein über dem Hof lag. Da löschte er die Laterne und nahm seine Kappe vom Brunnentrog, um noch einmal nach Jakobshof hinaufzusteigen.

Er ist aber nicht weiter gekommen als bis zu der Stelle am Weg, wo man durch die Tannen überm Bach hinaufsieht gegen die Hänge, zwischen denen die Schwedenhöhle liegt.

Dort ist er stehen geblieben und hat gelauscht. Denn es kam wie ein fernes Spielen oder Singen durch die eisige Morgenluft.

Ein Schrecken ist ihm durchs alte Herz gegangen, weil es nichts Gutes bedeutet, wenn man die Töne hört.

Und als er weiterschreiten wollte, trugen sie seinen Herrn daher wie einen Toten.

✤           ✤           ✤

Liesel, weißt du noch, wie du im letzten Sommer den Weg in den kalten Grund hinabgestiegen bist, als ginge es aus lichter Freiheit in einen dumpfen Kerker zurück? Heut ist dir alles, was zurückliegt, wie Spiel und müßiges Getändel, und vor dir breitet sich endlich, endlich ein Tagewerk, dein Tagewerk.

Deine Seele hat die Pforte gefunden, die du irrend und mit tastenden Händen gesucht hast seit deiner Heirat. Seit du im kalten Grund weggewiesen worden bist von dem Posten, der der Mütterlichkeit in dir zukam von frühester Kindheit an.

Wie ein Flügeldehnen war es in der Frau, die stumm neben dem Doktor hinter den Trägern herschritt.

Ihre ganze junge Kraft wachte noch einmal auf. Sie wollte fortan keinen Gegenwind mehr scheuen, nicht mehr sich ducken vor jedem Wetter. Den Flug 311 wollte sie wagen nach der steilen Lebenshöhe des mütterlichen Weibes.

Neben ihr, am stillen Weg entlang, lief das knisternde Rieseln des vereisten Baches. Dieses eng gefesselte, nagende Leben unter der knechtenden Hülle. Das sprach zu ihr in neuerlernten Lauten: »Warte, warte auf deines Sieges Tag! Du bist so stark, du trägst das Leben in dir, du kannst alles zernagen, was dich fesselt!«

Vertraut und brüderlich war der Müllerin die Welt, durch die sie früher dahingeschritten war in stumpfer Einsamkeit.

Von überallher kamen die Stimmen, die ermunternd zu ihr sprachen. Denn es geht keiner, der seines Lebens Sinn und Zweck erkannt hat, durch Wald und Flur, ohne daß ihn Grüße treffen von allen Seiten. Alle vernunftlose Kreatur weiß ihr Ziel. Und Menschen, die das ihre ahnen, reihen sich ein, fassen Tritt und sind Kameraden.

Man hat den Müller auf sein Bett getragen, und der Doktor war lang, lang bei ihm.

Schweigend, mit großen, bangen Augen hat die Liesel gewartet und zugelangt, wo es not tat.

Dann hat der Doktor sie in das Zimmer nebenan geführt, hat die Türe hinter sich zugezogen und hat gesagt: »Frau Klotz, das wird hart. Härter als ich Ihnen sagen kann.«

»So muß er sterben?« fragte tonlos die Frau.

Seltsam sah der Doktor sie an, fast froh. »Wär' das das Härteste?«

Sie nickte nur. Ihre Augen, die gegen die spärliche Fensterhelle gerichtet waren, füllten sich langsam mit Tränen. Der Doktor nahm ihre kalte Hand. »Die Klotz sind stark wie Riesen und zäh wie Katzen. Sie 312 sterben nicht am ersten Streich. Aber dem da drinnen, dem sind die Augen ausgeschlagen – – – beide Augen – – –«

Die Liesel tat keinen Schrei, aber ein Grauen schüttelte sie, so daß der Doktor ihre Hand fester preßte, als ob er sie halten müsse. Sein Gesicht war sehr rot und seine Nase noch röter, als er fortfuhr: »Blind wird der Müller. Dort seine Flinten müssen verstauben und den Wald sieht er nicht mehr. Aus ist's mit dem Fuchsgraben und mit dem Habichtschießen, mit Schnepfe und Auerhahn –«

Die Liesel stand ganz erstarrt. Das furchtbare Schicksal, das in dem Wörtlein »blind« für einen Mann wie den Müller lag, es rauschte wie ein schwarzer Strom an ihr vorüber.

»Kann ihm denn niemand helfen?« stöhnte sie aus.

Der Doktor ließ ihre Hand los. »Nein,« sagte er, »da ist kein Helfen. Die Augen sind zerstört und nichts zu flicken. Wie es zuging, kann ich mir nicht erklären. Ein Hufschlag ist es nicht, sonst wäre der Schädel nicht mehr ganz. Und der hat nicht gelitten.«

»Blind, blind – –« murmelte die Frau, und es war wie ein Wimmern.

Da strich sich der Doktor das lange Haar rasch aus dem Gesicht und sagte: »Er ist der Aermste nicht. Mancher gäbe seine Augen gern, wenn er damit sein Weib zurückkaufen könnte.«

Er wandte sich um und ging nach der Türe mit seltsam harten Schritten wie in Ungeduld. Vom Flur her rief er zurück: »Ich fahre in zwei Stunden wieder vorbei. Vorher ist nichts zu tun, als aufzupassen.« 313

✤           ✤           ✤

Wie von einem schweren Traum umfangen, stand die Müllerin allein in ihrer weiten Stube, die sie in der Christnacht verlassen hatte. War das nun Jahre her? Sie schaute sich um, als müsse sie in fernen Erinnerungen suchen, wie es gewesen.

Sie sah, daß alles noch an seinem Platz stand wie einst, nur lag der Staub in allen Ecken und auf jeglichem Gerät.

Verlassen und wunderlich verwaist war dieser Raum, das spürte sie, und es tat ihr wohl, sie wußte nicht warum.

Sie schaute auf die Türe, hinter der der wunde Mann lag, und es fiel ihr ein, wie sie gerufen hatte: ›Nie mehr werde ich dort hineingehen!‹

Leise drückte sie die Klinke nieder, und da zitterte ihr Mund wie bei einem Kind, das weinen will. Sie sah den verbundenen Kopf auf dem Kissen liegen, sah die reglosen Männerhände, an denen noch die Spuren der Arbeit dieser Nacht klebten.

Da fingen alle Quellen an zu rieseln, die dieses Weibes Herz umschloß.

Mit einem fassungslosen Aufschluchzen kniete sie hin an des Bewußtlosen Lager und barg den Kopf in seinem Bett. »Da bin ich wieder, Johannes, da bin ich.«

Den Müller hat aufsteigendes Fieber in helle Glut gehüllt. Er erkannte die nicht, die da lag. Er hörte nichts von ihrem Flüstern, das jetzt heiß hervorbrach, wie Mark und Saft aus der zertretenen Frucht quillt.

In ihr herzbrechendes Weinen hinein stammelte die Frau: »Ganz ausgehungert bin ich. Niemand hat mich gebraucht. Nicht einmal mehr mein Heiner. Wie ein Stein am Weg, auf dem kein Gräslein wächst, so war ich. O du, du hast jetzt keine Augen mehr! Laß mich 314 für dich sehen! Ich will dich in den Wald führen, du, überall hin, wohin du willst.«

Von lang verhaltener Not maßlos durchschüttelt lag die Müllerin. Sie tastete nach des Mannes heißer werdender Hand. »Du, ich will auch einen Sohn haben, ein Kind mit hellen Augen. Sie dauert mich nicht mehr, deine Mutter. Ich war ja ärmer noch als sie – –«

Das Regele fand die Frau vor ihres Mannes Lager.

Sie sagte nichts. Mit aschgrauem Gesicht zog sie die Türe wieder hinter sich zu und ging in die schmutzige, lang verwahrloste Küche.

Dort streifte sie beide Aermel auf bis an die Ellbogen.

✤           ✤           ✤

Die Oberlehrerin ist es gewesen, die zuerst nach dem verschwundenen Heiner gefragt hat. Sie hat nicht von dem bösen Ahnen geredet, das ihr durch den Kopf gezuckt ist bei des Krüppels verwirrter Rede in der Malstube. Wer viel im harten Nahkampf gestanden ist, der lernt die Zähne aufeinanderbeißen.

Aber sie konnte eine quälende Sorge um den scheuen Menschen nicht loswerden, und so ging sie im Lauf des Tages hinaus zum Haus der tauben Kätter, ob er daheim sei nach der Schreckensnacht.

Der Totengräber stand unter der Stalltüre, die hängende Pfeife im Munde.

Er schüttelte den Kopf, als er die Frage nach dem Krüppel hörte. Ihn kümmerte er wenig, der armselige Uhrmacher, von dem sein reicher Schwager die Hand gezogen hatte. »Er streunt im Wald ume'nander und flötet.«

Der alte Waldschütz trat herzu, und seine Greisenaugen flimmerten: »O Frau! Dem, wenn mer helfe' könnt' –« 315

»Des könnt' mer scho',« sagte der Totengräber und nahm die Pfeife aus dem Mund, »mer dürft' ihm bloß de' Brotkorb höher hänge'. Mei' Weib schenkt ihm de' halbe Hauszins –« Er wandte sich ab und schritt aus dem Hof.

Der Waldschütz sah hinter ihm her und nickte. »Bösartig und faul gibt au' en Gaul; aber kein' rechte' –«

Die Oberlehrerin lachte kurz. »Der ist von Jakobshof gebürtig, da braucht's nichts Schriftliches,« sagte sie hart und sandte einen feindseligen Blick hinter dem Davonschreitenden her.

»Ist er nicht heimgekommen, der Heiner, seit der Nacht?« fragte sie dann voll Sorge.

Der Greis schüttelte den Kopf. Seine Augen hingen mit einem seltsamen, fast lauernden oder drohenden Ausdruck an der alten Frau, als er erwiderte: »Er ist erst fort – wenn's mir recht ist – wie 's scho' brennt hat. Und er hot g'sagt, e fremder Bettelmann hab' anzündet« –

Die Oberlehrerin gab ruhig und fest des Greises Blick zurück. »Ja,« sagte sie, »die fremden Bettelleute –«

Der Alte nickte. »Die, die gar nix hänt, kei' Haus, kein' Hof, kei' Heimat –«

»Und keinen Freund und keine Freude mehr,« fiel die alte Frau ein.

»Die sind zum fürchte',« fuhr der Greis fort, »dene' kommt's net drauf an.«

»Ja,« murmelte die alte Frau, »die sind zu fürchten, wenn sie am Alleräußersten sind.«

»Seither ist er net heim 'komme', der Heiner,« sagte nach langer Pause der Alte. »D'r Jakob sächt, er hab ihn höre' flöte' im Wald, drübe' überm Bach. Es kann 316 wohl sei'. Er ist scho' lang so scheu und überzwerch wie e Kuckuck, der au' bloß schreit, wo sich kei' Aestle regt.«

»Man sollte ihn suchen,« sagte leise voll Sorge die Frau.

»En Kuckuck sucht mer umsonst,« murmelte der Waldschütz, »und wenn mer e' mol ein' hot – no geht er elend ei'.«

Sie schauten beide trüb gegen den fernen Wald, hinter dem die kalte Sonne früh zur Rüste ging. Und sie schickten ihre Gedanken aus, den Verscheuchten und Irrenden zu locken, wie eine Henne versprengte Küchlein lockt.

✤           ✤           ✤

In der Nacht nach dem Brand liegt der Wald in eisiger Stille. Nur ein Knistern geht über den Schnee, wenn der Frost sich immer schwerer zwischen den Stämmen lagert.

Oben im Himmelsgefild harrt flimmernd der goldene Wagen, den die Kinder des Albrecht Neuhaus kennen von Jugend an. Vor wessen Türe wartet er heute?

So geht die Nacht.

Im kalten Grund neben dem Bett des Müllers schlägt die Liesel fröstelnd die übernächtigen Augen auf und löscht das Licht. Sie ist eingeschlafen gewesen und ihr hat von ihrem Heiner geträumt. Ein kleines Kind war der wieder, hilflos, mutterlos und voll Scheu vor allen Menschen. Nur ihr ist er am Hals gehangen, nur für sie haben die dunklen, klugen Augen froh geleuchtet, für sie und den Vater. Da ist Ernst Eisenreich einen fernen Weg herauf gekommen, die Geige am bärtigen Kinn. Und des Kindes Arme an der Liesel Hals sind locker geworden, die Augen haben sich abgewendet und haben in die Ferne geschaut, dem Geiger entgegen. 317

Und immer lauter ward das Geigenspiel. Da ist der Heiner langsam, langsam dem Schreitenden entgegengegangen. Und es wuchs seine kindliche Gestalt. Groß ward er, schlank, stark und wie ein schöner Mann voll junger Kraft.

Mit dem Geiger hat er Tritt gefaßt, und Seite an Seite sind die zwei vorübergeschritten an der Liesel und hinein in eine glänzende Ferne. Und leise Geigentöne haben zurückgegrüßt, ganz zitternd und verloren.

Das war der Liesel Traum. Oder war's kein Traum?

Die Müllerin weiß nicht, ob sie geschlafen hat. Sie weiß nicht mehr, wann und wie und wo sie den Bruder zuletzt gesehen. Hinter Rauch und Flammen und Schrecken liegt jedes Gestern.

Sie weiß auch nicht, daß der Pfarrer und der Stundenwilhelm den Wald durchstreift und in der Mühle nachgefragt haben nach dem Krüppel. Gestern nacht noch und heute in der grauen Frühe.

Und auch das weiß sie nicht, daß der Mühlemichel aufbrach, noch ehe der Morgenstern erlosch, daß er seine Peitsche mitnahm, mit der er so oft den Heiner gelockt, wie der Jäger den Bock mit dem schrillen Ruf.

Auch der Hund durfte mit, der Spitzer, der still und mit blanken Augen manches liebe Mal auf dem Mehlwagen lag und horchte, wenn der Michel dem verwachsenen Kameraden erzählte von den Dingen, die zwischen Himmel und Erde liegen und nicht Fisch noch Fleisch sind.

Eisig war's im Wald. Der zerbrechende, gefrorene Schnee rieselte klirrend um des Knechtes schwere Stiefel, und der Hund schritt aus, als ginge er auf schneidenden Messerklingen.

Milchig weiß lag's über dem gefrorenen Bach, und am Hang unter der Schwedenhöhle lief eines Fuchses 318 Fährte zwischen den jungen Fichten, die starr und vereist in schrägen Reihen standen.

Da hat sich unten am Bach der Michel aufgestellt und hat mit der Peitsche geknallt, als stehe er vor dem Haus seiner Liebsten und trüge den ersten Flaum ums Kinn.

Es flog ein Eisvogel über den Bach. Sonst rührte sich nichts am Hang, nicht oben und nicht unten.

Da ist er hinaufgeklettert, der Michel. Ungern tat er's. Den Hund wollte er vorausschicken, aber der klemmte den Schwanz zwischen die Hinterbeine und stellte sich dumm und schlich hinterher.

Umsonst hat der Michel sein Sprüchlein gemurmelt. Die Schwedenhöhle war leer; nur der Schnee zwischen den Felsen wie von Menschenfüßen zertreten.

»Mohrle,« murmelte der Knecht, »Mohrle, wo suchet mer jetzt –?«

Da kläffte das Mohrle kurz und heiser auf, und sie schritten miteinander von dannen.

Das ist ein weiter Weg durch verschneiten Wald bis zu der kahlen, einsamen Linde, die fremd unter Tannen und Fichten steht. Fremd und verschwiegen. Wäre der Weg nicht so weit, dann hätte ihn gestern schon der neunzigjährige Waldschütz gemacht. Denn auch er hätte gerne den Kaiser Karolus gefragt im Dämmergrau, wenn die Eulen streichen. Nach einem Schuldigen hätte er gefragt, hätte sich verneigt nach den vier Winden und dabei gerufen: »Ich such' dich, und der Kaiser Karolus find't dich.«

So aber ist niemand durch den Wald bis zu der Linde gekommen, ob man auch längst den Krüppel suchte.

Von wem aber sind die Tritte im Schnee, um die der Hund schnubbert? 319

Eine weite Lichtung geht um den Baum, als sei die gaffende Menge zurückgedrängt von des richtenden Kaisers Sitz.

Auf dieser Lichtung hat der Knecht zum zweitenmal mit der Peitsche geknallt, daß es durch den eisigen Wald hallte wie Flintenschüsse.

Heiner, das mußt du hören! Heiner, dein letzter Kamerad ist da!

Aber der Heiner ist schon ganz weit draußen in der lichten Ferne, die in Morgenglanz und ‑glut hineinführt, und aus der die verwehten Töne froher Lieder zur Liesel zurückklangen in den Traum, der kein Traum war. –

Der Michel hat die Peitsche fallen lassen.

Erfroren lag der Krüppel. Seine Flöte, die blutige Klappen hatte, fest in der gekrampften Hand.

✤           ✤           ✤

Noch raucht und qualmt der Schutt im hinteren Dorf. Wenn er verkühlt und stumm wird, eh man den Täter fand, dann ist's umsonst, ihn länger noch zu suchen. Ganz Jakobshof hält Umschau nach dem fremden Bettelmann.

Da kam der Mühlemichel und meldete den Fund. Es ist aber ein Gerücht entstanden, man weiß nicht wo und wie, das sagte, der Uhrmacher habe des Lammwirts Scheune angezündet.

Aber die Herren von der Stadt, die da waren, die Sache zu untersuchen, die meinten, um den Urheber einer solchen Tat zu finden, müsse man zuerst fragen: Wer hat den Nutzen, wen freut's –?

Und der Schulze bekundete, daß der Krüppel keinen Feind im Dorf gehabt habe, dem eine Tat der Rache hätte gelten können. Man habe ihn immer im Frieden 320 laufen lassen als einen stillen, bresthaften Menschen. Auch solange das Musikantenunwesen in seiner Stube gedauert habe, sei es keinem Jakobshofer eingefallen, ihn darob zu schelten. Er stand ja nicht in Brot und Dienst der Gemeinde und mochte seine Zeit vertrödeln nach Gutdünken. Und seit der Schulmeister tot sei, sei auch in dieser Hinsicht alles in bester Ordnung.

Rein und gerechtfertigt ist Heiner Neuhaus auf seinem letzten Lager gelegen im Totengräberhaus. Es drängten sich viele dort draußen. Auch wer sich um keinen Frierenden kümmert, mag gern einmal einen Erfrorenen sehen.

Aber die taube Kätter scheuchte die Unberufenen. Den Pfarrer und seine Mutter ließ sie ein. Die alte Frau hat lang über den stillen Menschen hingeschaut, als hielte sie Zwiesprach mit ihm. Auch der Pfarrer blickte unverwandt in des Krüppels Züge. Sie waren stark gealtert, scharf und von steinerner Feindseligkeit. Keine noch so schleierdünne Maske lag vor der finstern Männlichkeit dieses Totengesichts. Als ob ein großer Künstler die strenge, unerbittliche Rache habe meißeln wollen, so lag der eherne Kopf mit den geschlossenen Augen.

Da rief in dem Pfarrer eine Stimme ganz laut, daß er darob erschrak: ›Siehst du nun ein, wie du gestümpert hast, als du deinen Bettelmann am Wege des Gekreuzigten maltest? War das ein Mensch, den die Rache für den einzigen Freund zerfraß? Hier sieh her! Tu deine Augen weit auf, immer weiter, bis du heilige Wahrheit siehst! Vorher bist du kein Künstler.‹

So rief's in dem schauenden Maler, und er erschauerte innerlich vor Furcht und Stolz, denn es ist nichts Geringes, die Stimme der Berufung zu hören. 321

Dem Pfarrer in ihm aber wurde das Herz heiß in Mitleid mit diesem Toten. Denn keiner ist ärmer auf Erden als der, dem in verschwiegenem Haß nach und nach das warme Blut erfriert.

Zuletzt ist auch die Liesel zu ihrem Bruder gekommen, vom Michel herbeigeholt.

Da sind alle hinausgegangen, und Albrecht Neuhaus' Kinder waren allein in der ärmlichen Stube.

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Dem fremden Bettelmann aber, der des Lammwirts Scheune angezündet hat, folgten die Flüche derer, die schlecht versichert waren, und die verschwiegenen Segenswünsche aller, denen aus Schutt und Asche etwas Besseres zu erstehen versprach.

So mischten sich wohl Sonne und Regen auf seinem Pfad. Es sei denn, es gelten ihm andere Gesetze als allen Erdenkindern.

Doktor Gothe hat nach seiner Weise Buch geführt über die Krankheitszeit des Müllers vom kalten Grund. In den schwarzen, abgegriffenen Band mit dem lahmgezogenen Gummistreifen sind merkwürdige Diagnosen, Befunde und Krankheitsbilder verzeichnet worden. Er hat viel Zeit dazu gehabt, der Doktor. Immer fauler trottete sein Brauner durch die Schlucht, und bis ins Frühjahr hinein, bis auf der Höhe die Sommersaat mit grünen Spitzen aus den Furchen stach, dauerte des Müllers Krankheit, soweit der Doktor damit zu tun hatte.

Einmal steht in dem Buch: »Ob wohl der liebe Herrgott von einem Roßknecht oder der Roßknecht vom lieben Herrgott erfahren hat, daß es bei einem wilden Gaul das allerbeste ist, man stülpt ihm einen Sack über den Kopf, daß er im Finstern ist? Dann steht er, und wenn er zuvor war wie der Satan. Er schnaubt noch 322 und zittert. Aber das Durchgehen, das Schlagen, Beißen und Steigen vergeht ihm. Der Müller schnaubt und zittert noch.«

Später, an einer anderen Stelle, heißt es: »Ich möchte des Müllers Weib nicht sein. Ich möchte überhaupt kein Weib sein. Wo einem Mann der Pack zu schwer wird, da springt ein Weib ein und schleppt ihn weiter. Mir wär' solche Arbeit zu sauer. Rechte Weiber sind wie Walnußbäume; sie werden reicher und stärker, je mehr und rauher man sie plündert und zusammenreißt. Im kalten Grund war immer diese Sorte. Eine andere könnte man dort auch nicht brauchen. Es ist ein harter Boden und eine strenge Luft dort.«

Und wieder später, nach vielem anderen, steht in dem Doktorbuch geschrieben: »Alter Sterngucker, wenn du jetzt ins blaue Kreuz kämest zu einem Abendschoppen, dann könnte ich dir allerlei erzählen von deinen Kindern. Sie setzen sich durch, wie du dich durchgesetzt hast.

»Nach dir sind sie geraten, denn du hast auch alles auf die Seite geschoben, was nicht deines Wesens war, und bist bis in den Tod ein Sterngucker geblieben.

»Dein Heiner hat richtig noch das Handwerk an den Nagel gehängt und ist mit seiner Flöte hinter dem Lappenschneidersbuben hergezogen, hinein in den Berg, wie die Kinder hinter dem Rattenfänger.

»Jetzt ist der Berg geschlossen, und drinnen werden sie wohl Feste feiern, indes wir außen stehen und vergeblich horchen.

»Und deine Liesel, dein Mädelchen, sie, die hat reich werden wollen, sehr reich, schwer reich – die drückt auch ihren Willen durch, so wahr ich Gothe heiße.

»Schon jetzt sind ihre Hände so voll, daß sie den blinden Müller von ihrem Ueberfluß verhalten kann. 323

»He, Klotz vom kalten Grund, wer gibt jetzt und wer nimmt? Weißt du, wie das Regele sagt? – Die sagt: ›Einmal lernt jeder von der Gnade leben.‹ – Das sind so Stundensprüche. Aber ich glaube, der gescheiteste Professor gibt keine gescheiteren von sich. Und wenn er's tut, so stimmen sie nicht.

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Neben der zertrümmerten Geige des Schulmeisters liegt des Krüppels Flöte unter dem weißen Tüchlein im Schubfach. Heil und ganz ist sie wohl. Aber braunschwarze Flecken sind an ihren Klappen. Einstmals waren sie blitzblank, wie flammendes Silber. Das war damals, als Heiner seine Freudentränen wegtrocknete.

Was jetzt daran haftet, hat tiefer gefressen.

Aber was schadet's! Neben der zerschlagenen Geige liegt sie gut. – Niemand bläst sie mehr. Das Vorspiel ist aus. Das Stück hat begonnen.

 


 


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