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Der leuchtende Tag

Herr und Frau Doktor Lohrer bildeten in dem locker zusammengefügten Teil der Berliner Gesellschaft, der aus einem fließenden Durcheinander von öffentlichen vornehmen Festen und Wohltätigkeitsvorstellungen besteht – mit ein wenig militärischem Einschlag und, wenn das Glück günstig ist, auch einmal unter hoher offizieller Protektion –, etwas wie einen festen Punkt.

Das elegante Paar mit seiner unbeirrten Sicherheit des Auftretens, vor allem mit der überzarten, fremdartig dunklen Schönheit der Frau, gab jeder geselligen Zusammenkunft Schmuck und Stil.

Die jungen, noch ungewandten Frauen und Jungfräulein studierten sogar Haltung und Toilette an Frau Erika Lohrer. Sie achteten darauf, wen sie begrüßte und mit welcher Abtönung sie das tat. Es war immer das Vorgeschriebene und der augenblicklichen Lage genau Angemessene – und das, was daran fehlte, das Persönliche oder gar Herzliche, konnte ja immer und nach Temperament oder Liebenswürdigkeit hinzugefügt werden.

Denn daß man etwas wie einen eigenen Ton in dem tadellosen und anmutigen Gebaren der schönen Frau vermißte, war nicht zu leugnen.

Niemand konnte sie sich mit verschwiegen oder heiß strömenden Tränen oder mit lautem, glücklichem Lachen vorstellen. Sie lächelte wohl, und bei gebotener Gelegenheit sah man es auch in ihren schönen, braunen Augen feucht aufschimmern, aber der Mangel an innerer Beteiligung fiel selbst in einer Gesellschaft auf, deren betontes Ziel es ist, sich in schönem Gleichmaß an der Oberfläche zu halten, Tiefen im eigenen Leben nicht ahnen zu lassen und in dem anderer nicht zu bemerken.

Dabei wußte man durch Verbindungen mit der thüringischen Fabrikstadt, in der die großen Farbwerke der Familie Lohrer lagen und die auch bis vor kurzer Zeit ihr Wohnort gewesen war, daß diese Frau, die in schönen Kleidern durch alle Fährlichkeiten des Lebens zu steuern, Gefühlen und Irrungen still und freundlich auszuweichen schien, durchaus nicht ohne Schicksalsschläge ihren äußerlich so glatten Weg hatte gehen dürfen.

Frau Erika stammte aus einer ostpreußischen Mittelstadt, in der ihr Vater, ein bekannter und sehr beschäftigter Rechtsanwalt, ein für die dortigen Verhältnisse herausfordernd großes Leben geführt hatte. Von der jungen, zu holdseliger Schönheit erblühten Tochter wußte man zu erzählen, daß sie eine voreilige Verlobung mit einem Ulanenoffizier eingegangen war, bei der es aus Vermögensrücksichten zu keiner Heirat habe kommen können. Die Eltern hatten sie, damit sie dieses Erlebnis leichter verwinden lerne, zu den reichen Verwandten Lohrer nach Thüringen geschickt. Während sie dort war, nahm die falsche Herrlichkeit des Vaterhauses ein Ende mit Schrecken.

Justizrat Lollin und seine Gattin waren eines schönen Tages tot, an Kohlendunst erstickt, in ihren Betten gefunden worden. Niemand hatte an einen unglücklichen Zufall geglaubt, berechtigte Gerüchte über die Notwendigkeit, sich durch den Tod vor Not und Schande zu retten, waren aufgetaucht, aber auch sofort wieder verstummt. Denn der junge Doktor Lohrer war erschienen, hatte die Sichtung des Nachlasses in die Hand genommen und alles so geordnet, daß niemand im geringsten geschädigt worden war.

Die junge Erika hatte Eltern und Heimat nie wiedergesehen. Sie war im Lohrerschen Hause geblieben und nicht lange nach dem schrecklichen Ereignis die vielbeneidete Frau des Doktor Lovis Lohrer geworden.

Ein furchtbarer Schlag hatte sie einige Jahre später allerdings auch noch getroffen. Ihr einziges Kind, ein schöner blondlockiger Junge, natürlich Abgott der Eltern, war bei einer Autofahrt mit der Bonne zusammen verunglückt.

Man hörte, daß Doktor Lohrer verhältnismäßig schwerer daran getragen habe als Frau Erika, bei deren zarter Gesundheit auf keinen Ersatz des Verlorenen zu rechnen war. Schließlich aber – überwunden hatten es nun wohl beide in ihrem ruhelosen Berliner Leben. Was Frau Erika vielleicht als sichtbare Spur des Erlebten zurückbehalten hatte, eine weiße Strähne, die seltsam in das schwarze Haar hineingewachsen war, diente noch dazu, den Reiz ihrer Erscheinung zu erhöhen.

Ihr Gatte, der in Fragen der Ästhetik auch bei Übelwollenden als Autorität galt, liebte und bewunderte diese Locke sehr und überwachte selbst die Unordnung der Frisur, wenn er mit seiner Frau »Staat machen« wollte, wie er lachend oder vielmehr lächelnd erzählte.

Laut war nämlich auch Doktor Lohrer selten oder nie in seinen Meinungs- und Gefühlsäußerungen. Aber bei ihm fühlte man zuweilen den Zwang, den er sich antat, um so unpersönlich und korrekt zu erscheinen, und wer ernsthaft mit ihm zu tun hatte, wußte, daß diese übergroße, schmale, etwas schlappe Gestalt sich plötzlich, wie von Federn gestrafft, aufrichten und daß der gleichmütig verbindliche Ausdruck des glattrasierten Fuchsgesichts sich je nach Veranlassung in einen beängstigend energischen oder abschreckend zynischen verwandeln konnte.

Im allgemeinen stand er der Welt, in die er sich verpflanzt hatte, näher als seine Frau, vielleicht gerade durch die hervorbrechenden kleinen Schwächen, die man ihm nachweisen konnte, wenn man wollte. Einen hervorragenden, wenn auch versteckten Platz darunter nahm die für das ewig Weibliche ein. Man verargte sie ihm nicht, da er in der Öffentlichkeit stets unzertrennlich von seiner schönen Frau erschien und sie vor aller Augen mit zartester Aufmerksamkeit umgab.

In Herrengesellschaft und zu vorgerückter Stunde war er ein guter Kumpan, der mit erfrischendem Gelächter über salonunfähige Witze quittierte und gelegentlich selbst welche zum besten gab, die vielleicht an Pikanterie die vorhererzählten noch übertrumpften.

Dann konnte er auch aufrichtig und harmlos von seinem zweiten Heim in der Eichstädter Straße sprechen, das er sein »hemdärmeliges« zu nennen pflegte, und von der »Kleinen«, die dort das Herdfeuer hütete.

Hier gab er auch zuweilen ein paar befreundeten Junggesellen hübsche Abende in vorgeschrittenem Kabarettstil. Das geschah aber sehr diskret und in einem engen Kreise zuverlässiger Gesinnungsgenossen, und wohl nie, ohne daß Herr Doktor Lohrer in leuchtender Vaterfreude einen süßen, blondhaarigen Buben präsentierte, »zu dem die Mutter nun doch einmal gehörte« … »Und was wollen Sie, ich bin nun einmal ein Kindernarr, und leider … leider …«

Er zuckte dann bekümmert die Achseln, und man begriff die kleine »Unregelmäßigkeit«, wo man von ihr erfuhr. Sie war schließlich zu entschuldigen und vielleicht auch nur eine Art Ausruhen von all der tadellosen, wohltemperierten Vornehmheit und Stille des eigentlichen Hauswesens und dessen Herrscherin.

Frau Erika hatte natürlich keine Ahnung von dieser Abweichung ihres Gatten über den geraden Weg der ehelichen Treue hinaus, – wenn auch der Verkehr zwischen der Eichstädter und der Bendlerstraße telefonisch ein ziemlich reger war.

In der Abwesenheit des Hausherrn besorgte ihn die treue Lina, die Jungfer der Frau Erika, – eine Person, auf die man sich in jeder Hinsicht unbedingt verlassen konnte, wie Frau Lohrer gleichgültig und gläubig annahm und wie Herr Doktor Lohrer ausgiebig erprobt hatte.

... Es war ein Novembervormittag und ein launenhaft aufspringender Wind peitschte große Regentropfen auf das Glasdach des Ganges, der in der Lohrerschen Wohnung die hinteren mit den vorderen Räumen verband. Dieser Gang enthielt auch die Telefonzelle, aus der eben die treue Lina auf die Diele hinaustrat, auf der sie den Schritt des heimkehrenden Herrn gehört hatte.

»Ob Herr Doktor um 7 Uhr in der Eichstädter Straße erwartet werden dürfte?« fragte sie mit dem vorschriftsmäßig bewegungslosen Gesicht, dem nur ein kleiner, schräg glitzernder Seitenblick die Andeutung vertraulichen Einverständnisses gab.

»Wollen sehen – glaube kaum, Lina.«

Sie nahm ihm den nassen Überrock ab. –

»Grauenhaftes Wetter … Nichts passiert?« …

»Gnädige Frau hat Besuch.«

»Besuch? … Jetzt? … Die gnädige Frau empfängt doch nur dienstags … Und mit ihrer Erkältung! … Wer ist's denn?« …

»Eine … Dame … Sie trägt Reform … Das … das ist ihr Regenschirm.«

Sie wies auf einen nassen, nichts weniger als eleganten Schirm, der in der Garderobe stand.

»Teufel auch … also eine Bettelei … Aber Lina! Besser aufpassen! Die gnädige Frau ist viel zu unwohl, um sich Strapazen mit Fremden auszusetzen. Das wissen Sie doch …«

Die treue Lina schüttelte den Kopf.

»Gnädige Frau machte eben die Salontür auf, als ich öffnete, und nahm das Fräulein selbst in Empfang. Es scheint gar keine Fremde. Ich hatte im Nebenzimmer das Fenster zu schließen … die Damen sprachen sehr laut von Ostpreußen, und die gnädige Frau war auch sehr lebhaft …«

Herr Doktor Lohrer sah nachdenklich vor sich hin und ging dann achselzuckend fort sich umzukleiden, während die treue Tina im Nebenzimmer noch ein Fenster schloß.

In dem kleinen, grünen Salon, einem von berühmter

Künstlerhand auf die Erscheinung der Hausfrau gestimmten Raum, saßen in wahrer Treibhaustemperatur und in einer von einer Fülle mattfarbiger Chrysanthemen überhangenen Ecke – Frau Erika blaß, fröstelnd und hustend, mit ihrem Besuch, einem frischen, blondhaarigen Mädel in braungrauem Hängekleid.

Frau Erika hörte meist zu, sprach aber, wenn sie etwas sagte, mit mehr innerem Anteil, als es sonst in ihrer Art lag.

Kein Wunder … Das Mädchen war die jüngste Tochter eines Hauses, in dem vor Jahren, als die Eltern noch lebten, die junge Erika in Jugendfrohsinn und Glückstraum unvergeßliche Tage verlebt hatte.

Jene Beziehungen waren längst abgebrochen. Die befreundete Familie auseinandergestoben, und die damals sechsjährige Kleine lebte allein hier in Berlin und studierte Musik.

Die bittere Not einer erkrankten Studiengenossin hatte sie nach langem Überlegen veranlaßt, das Lohrersche Haus aufzusuchen und die Hilfe der Frau zu erbitten, deren Name unter keiner der glänzenden Wohltätigkeitsveranstaltungen fehlte.

Die Angelegenheit war, nachdem Frau Erika sich von dem ersten Staunen erholt hatte, rasch erledigt. Der lungenkranken Patientin sollte geholfen werden. Nun waren in raschem Gespräch, dessen Kosten Fräulein Marta trug, vergessene Namen, verschwundene Gestalten, an deren Wiederkehr sie nie gedacht hatte, in Frau Erikas Erinnerung aufgetaucht, und ein Schimmer der untergegangenen Jugendsonne begann hier und da aufzuglänzen.

Sie vergaß darüber die quälende Influenza, die sich steigernden Schmerzen beim Atmen und hörte mit träumerischem Interesse zu.

»Ja und wissen Sie, gnädige Frau«, sagte das junge Mädchen mit ihrem stark ostpreußischen Tonfall, »was ich auch nie vergessen habe? … Wie Sie damals, vor unserem Ball in die Kinderstube kamen … noch nicht angezogen, in einem weißen Spitzenunterrock und langem Frisiermantel … Ganz toll lustig waren Sie und sangen: »Da kam aus dem Wasser ein großes Krokodil …« Und wie es weiterging: »Galopp, Menuett und Walzer, wer weiß, wie das geschah!« … Da nahmen Sie mich auf den Arm, und wirbelten mich durch die ganze Stube … und da bekamen Sie so das Lachen, daß wir beide hinfielen und gar nicht mehr aufstehen konnten!« …

»Ich? …« sagte Frau Erika verwundert … »das war wirklich … ich? …«

»Na ja, freilich!« lachte Fräulein Marta, »der feine Schlußrefrain ist mir ja dann auch Leitmotiv geworden: »Gelobet seist du allezeit, Frau Musika! …«

»Ja richtig … Sind Sie denn schon weit? … und wo studieren Sie eigentlich?« …

Da erzählte Fräulein Marta, und ihr glühendes Gesicht fing an zu strahlen.

Sie liebte ihre Kunst und ihre Arbeit … Ach, wie heiß sie sie liebte! … »In all dem knappen Leben … ostpreußische Gutsbesitzer … Sie wissen ja … und wir waren sechs Geschwister … aber man freute sich doch auf jeden neuen Tag … Wenn man mal ein Mittagessen überschlug, hatte man eine Mark für ein Busoni- oder d'Albertkonzert und konnte sich dann gar träumen, daß man an ihrer Stelle steht … Überhaupt, wie war das wundervoll! … Von einem Traum immer in den anderen geworfen …«

Frau Erika lächelte beklommen und hustete.

Das junge Mädchen stand auf.

»Ich habe Ihre Güte zu lange in Anspruch genommen, gnädige Frau … Sie müssen sich pflegen, zu Bett gehen, Aspirin nehmen … verzeihen Sie! …«

»Nicht doch, liebes Fräulein. Ihr Besuch ist mir sehr lieb gewesen. Sie haben mir einen so frischen Wind hereingebracht … und dann all die Erinnerungen … Sie müssen wiederkommen …«

»Gern, wenn ich darf«, sagte Fräulein Marta und drückte die Hand, die sich ihr entgegenstreckte.

»Telefonieren Sie aber vorher«, bat Frau Lohrer, »ich bin so viel aus.«

Sie geleitete sie bis auf die Diele und küßte sie auf die pralle, frische Backe, was die treue Lina, die die Außentür öffnete, staunend und mißfällig bemerkte.

Frau Erika wurde rot und ging schnell in ihr grünes Zimmer zurück.

Eben steckte Doktor Lohrer den kurzgeschorenen, blonden Fuchskopf zur Tür herein.

»Die Luft rein?« fragte er. »Was bedeutete denn das? … Das war ja die unverfälschteste Robert-Johannes-Vorstellung … Und nach nassen Kleidern und Schmierstiefeln hat dein Besuch auch gerochen …«

»Oh … ich bitte dich … es war …« Und nun erzählte Frau Erika ihrem Mann, sehr heiser, aber mit einer Spur von Freude im Ton, von dem jungen Mädchen aus der vergessenen Heimat. Herr Doktor Lohrer hörte schweigend zu und sagte dann:

»Peinlich! … hoffentlich kommt sie nicht wieder … Sie soll jedenfalls nicht angenommen werden …«

»Ja, warum nicht? Ich will sie gerne wiedersehen, und ich habe sie eingeladen! …«

»Aber … aber! Unbesonnen bis zum Übermaß«, tadelte Herr Doktor Lohrer sanft. »Verzeih', liebes Kind …«

»Ja, erkläre mir …«

»Nun, findest du es angenehm …, wenn vergangene Geschichten … ich möchte nicht undelikat sein, aber … verzeih' … es läuft noch mancher in der alten Gegend herum, der durch deines Vaters … sagen wir … Versehen … um Haus und Hof gekommen wäre – wenn …«

»O! …«

Frau Erika seufzte schwer.

»Nun, nimm es nicht wieder tragisch, Liebe«, sagte er beruhigend. »Es ist ja alles geordnet. Aber ich meine doch, gerade jetzt –, wo wir eine Position zu erhalten – eine noch höhere zu erwarten haben … muß man vorsichtig mit allem sein, was nicht ganz durchsichtig – nicht ganz …«

»Ich bitte dich … laß das … du hast recht … sicher … aber …« ein heftiger Hustenanfall unterbrach sie.

»Nun, siehst du … ich weiß es ja, daß wir immer einer Meinung sind, liebes Kind … Übrigens siehst du schlecht aus … und dein Husten ist auch nicht besser. Ob wir nicht gut daran tun, auf die Philharmonie heute zu verzichten?«

»Sicherlich«, sagte Frau Erika. »Ich fühle mich gar nicht frisch.«

»Und übermorgen, für die Sitzung im Unterrichtsministerium, mußt du es ja unbedingt sein, liebes Herz. Das ist für den ganzen Winter von großer Tragweite … Die Erkundigungen wegen der verschämten Armen, die du Exzellenz Berens abgenommen hast, sind erledigt, nicht? … Du weißt, daß du Exzellenz übermorgen triffst? …«

Frau Erika nickte.

»Bis auf eine«, sagte sie tonlos … »Du bist sehr gut, daran zu denken.«

Er strich leicht über ihr Haar und zog mit spitzen Fingern die weiße Locke tiefer in die Stirn.

»Abends werde ich dann allein etwas unternehmen, wenn du einverstanden bist … Die Philharmonie lasse ich auch …«

Natürlich war Frau Erika einverstanden, und die treue Lina telefonierte einen zusagenden Bescheid des Herrn Doktor nach der Eichstädter Straße.

... Als der Abend gekommen war und eine fast fühlbare Stille über den Räumen lag, in denen eine feingestimmte Beleuchtung die Farbenzauber des Tages geheimnisvoll vertiefte oder verschwimmen ließ, ging Frau Erika, das ungewohnte abendliche Alleinsein unbewußt genießend, in der Zimmerflucht hin und her.

Ihre Gedanken wanderten erst in den gewohnten Geleisen:

... Bazar für das Säuglingsheim … Toilette dazu … Anprobe … Sie sah in ihrem Notizbüchelchen nach, wann? … zwei five o'clocks … die Erkundigung nach dem lahmen Mädchen für Exzellenz Berens … Neue Franzosen bei Cassirer … Zwölf-Personen-Diner im Hause … Das alles tauchte kraus durcheinander in ihren Überlegungen auf.

Aber sie war dabei voller Unruhe, und wahrscheinlich fieberte sie, – denn mitten in diesen notwendigen und auch wichtigen Tageseinteilungen glaubte sie beständig die Stimme ihres Vormittagsgastes zu hören, die sehr laut geklungen haben mußte … Daher wohl auch die Eindringlichkeit der Worte, die schließlich doch nichts anderes gewesen waren als der Ausdruck erwartungsvoller Lebensfreude, – wie sie selbst sie vor Jahren hätte aussprechen können …

Damals … als sie das Studentenlied von dem lustigen Musikanten gesungen hatte …, wenn sie das wirklich gewesen war …

Sie versank in Grübeln und Brüten, und verscheuchte Erinnerungen rangen sich zaghaft wieder hervor.

... Jetzt ein Bild … ein Brief mit guten Worten aus längst vergangenen Zeiten … oder etwas von den kleinen Heiligtümern, die ihr als Reste von dem jauchzenden Leben des Kindes übrig geblieben waren.

Ihr Mann nannte das Ballast, und alle Dinge, die nicht in den Stil des neuen Lebens paßten, hatten wohlverpackt auf dem großen Boden des Saalfelder Hauses zurückgelassen werden müssen.

Aber eine kleine Kiste fiel ihr ein, die irrtümlicherweise mit nach Berlin gekommen war, und die sie nicht hatte öffnen lassen, weil sie wußte, daß sie nur Wertloses enthalten konnte.

Heute hatte sie Sehnsucht, irgendeinen Gegenstand aus jenen vergangenen Zeiten vor sich zu sehen.

Sie klingelte und gab den Befehl, die kleine Kiste herbeizuschaffen.

Die treue Lina zog die Augenbrauen in die Höhe. Das Kistchen stünde wohl auf einer Bodenkammer, aber da wäre doch, soviel sie wüßte, nur ein Porzellankopf drin …

Ob sie es denn geöffnet hätte? …

Jawohl, die gnädige Frau würde sich doch erinnern, daß sie es selbst befohlen hätte …

Nein, – sie erinnerte sich nicht, wiederholte aber den Wunsch, die Kiste bei sich zu haben.

Die treue Lina holte es also und setzte es mit einem leidenden Seufzer auf den perlmuttereingelegten Hocker, wo es plump und frech in der zarten Umgebung dastand.

Frau Erika konnte es kaum erwarten, den darin verpackten Gegenstand zu enthüllen.

Nun sie ihn in der Hand hielt, gab es eine große Enttäuschung.

Es war ein häßlicher Matrosenkopf in grell bemaltem Porzellan, wie ihn vor vielen Jahren, vielleicht zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, die Seefahrer aus England herübergebracht hatten. Die großen, hervortretenden Augen starrten. Blanke Goldringe steckten in den Ohren und eine Pfeife hing aus dem breiten, roten Mund. Den Schädel verdeckte ein schwarzer Lackhut, den man abnehmen mußte, wenn man zu dem Tabak gelangen wollte, der in dem hohlen Innern aufbewahrt wurde. Man spürte jetzt noch den schwachen Geruch, – – und wie lange mochte wohl nichts mehr darin gewesen sein? …

Frau Erika schloß die Augen, und dann riefen die Erlebnisse aus den Kindheitstagen sie an, in die dieser Kopf von seiner Ecke her, oben auf dem eintürigen Schrank, hineingeschaut hatte.

Und wie sie den verödeten Gedankenwegen nachging, tauchten von Neuem lang vergessene Bilder in ihr auf. Einfache und bedeutungslose, – aber sie hauchten ein wunderlich starkes Leben aus …

... Da war in dem kleinen Haus in der ostpreußischen Hafenstadt ein Stübchen, wie eine Schiffskabine ausgestattet … Auf dem schwarzen Ledersofa sah sie den alten Großohm mit dem breiten, roten Gesicht und dem schneeweißen Bartkranz drum herum. Neben ihm, zart und fein, die kleine Großtante im schwarzen Kopftuch, lange, schmale Fidibusstreifen aus weißem Papier faltend.

Sie selbst auf kleinem Schemel neben dem Tisch. Es wurde stark duftender Tee aus hohen, goldenen Tassen getrunken, und kleine Gewürzkuchen gab es dazu, die die Großtante aus einer Blechbüchse hervorholte.

Und dann erzählte der alte Mann Geschichten. Wunderliche Geschichten … von Seestürmen, … von lachenden Küsten, wo die Menschen nackt gingen, – von Meerungeheuern, die die langen Arme aus dem Wasser reckten und sich mit tellergroßen Saugnäpfen am Schiffe festsogen, von den wilden Späßen, wenn man die Linie passierte … und auch von dem Schattenschiff, das in der Meerenge Bab-el-Mandeb sein grausiges Wesen trieb.

Von den siebzehn Menschen, denen er dann hier in seiner Tätigkeit als Oberlotse das Leben gerettet hatte, erzählte wieder seine alte Frau, – und zuweilen kam auch ihre, Erikas eigene schöne, junge Mutter dazu und streichelte mit ihren weißen Händen die knotigen Gichtfinger des Alten und lachte so leise und lustig, wie nur sie lachen konnte, wenn er sie dran erinnerte, daß sie oben im Sund auf einem Heringsschiff zur Welt gekommen war. Und die Sonne funkelte in die Fenster des Puppenhäuschens, und abends kam der Mond und schimmerte auf den weißen Tauen und Segeln des Schiffes, das in der Mitte des Zimmers von der Decke hing – oder er glitzerte auf dem Matrosenkopf, der so lebendig zu werden schien, daß man sich ordentlich vor ihm fürchte.

Wie fluteten diese Bilder aus goldenen Kinder- und Ferientagen, einfach und doch so vielsagend, durch das Van-de-Velde-Zimmer!

Mit welch ergreifend rauher Stimme rief jenes Leben die weiche Existenz von heute an. Aber nun nicht weiter … Nichts von Elternhaus, nichts von lustigen Ritten und tränenschwerem Abschied – nichts von alledem, was dann kam … In Gedanken an der See bleiben – – bei den lieben, alten Leuten.

Frau Erika legte die heiße Stirn an den häßlichen Matrosenkopf – man konnte schon sagen »zärtlich«, meinte die treue Lina an ihrer Türspalte – dann setzte sie ihn behutsam auf die Schreibtischecke neben ein spiegeltragendes Tanagrafigürchen, dessen ausgestreckter zarter Arm sich gegen die gemeine Nachbarschaft zu wehren schien …

Es war schon spät, und Frau Erika schlief unter dumpfem Brausen ein, das von irgendwoher kam. Sie wußte nicht, rauschte das fiebernde Blut in ihr, oder schlug die Ostsee mit langen, schäumenden Wellen an den Strand, den sie damals von den kleinen Fenstern des Lotsenhäuschens in Pillau hatte sehen können …

Am nächsten Morgen wunderte sie sich über die Stimmungen des vergangenen Tages und glaubte, sie geträumt zu haben. Das Aufstehen wurde ihr schwer, die Glieder wollten ihr nicht gehorchen, und die Brust schmerzte sie beim Atmen noch mehr als gestern. Aber es ließ sich überwinden, und so saß sie beim Frühstück mit ihrem gewohnten Lächeln dem Gatten gegenüber, der, in seine Zeitungen vertieft, nicht auf sie achtete.

Schwindlig ging sie dann in ihr grünes Zimmer und legte sich auf die Chaiselongue unter die großen Latanie.

Der Matrosenkopf, den sie gestern mit so viel wehmütiger

Zärtlichkeit auf den Eckplatz gestellt hatte, war heute in seiner rohen Häßlichkeit geradezu eine Verunstaltung des schönen Raumes. Und doch konnte sie die Augen nicht von ihm lassen und glaubte sogar, den schwachen Tabakgeruch zu verspüren, der doch nur in nächster Nähe zu merken war.

»Ich muß ihn fortsetzen, ehe Lovis kommt«, dachte sie, aber sie rührte sich nicht.

Und da trat Doktor Lohrer schon ein. Gedämpft fröhlich und mit aufmerksamem Lächeln um den spitzen Mund.

»Nun«, sagte er – »dir geht's also besser? …«

Sie mußte jetzt »ja« sagen. Sie wußte, das erwartete er. Aber plötzlich regte sich der Wunsch in ihr, bedauert und gepflegt zu werden, und so sagte sie stattdessen:

»Nein, ich möchte mich am liebsten wieder zu Bett legen.«

»Wegen einer kleinen Erkältung, mit der du sonst die anstrengendsten Dinge unternimmst? Wenn du dich jetzt legst, bricht unfehlbar der Schnupfen los, der dich für morgen unmöglich macht.«

Sie schwieg.

»Hast du etwa die fade Absicht, die Sitzung und den Tee im Ministerium abzusagen?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie ängstlich, »ob ich hinkann.«

Jetzt hatte er sich umgewendet und den Matrosenkopf gesehen.

»Erika« … rief er ganz fassungslos vor Entsetzen … »Bist du von Sinnen? … Wie kannst du das Monstrum da vor dir dulden? … Ist das etwa ein Geschenk von deiner neuen Freundin?«

Frau Erika bemerkte, wie aufgebracht er war. Sie lenkte ein.

»Verzeih … ich ließ mich vielleicht wirklich etwas gehen … das Scheusal da ist aus Versehen stehen geblieben … Ein Überbleibsel aus meiner Kinderzeit … ich will mir's aufbewahren« …

»Aber möglichst unsichtbar, wenn ich bitten darf … Und, – daß du dich auf deine Verpflichtungen besinnst und dich nicht hängen läßt, liebes Kind, freut mich, – ist aber wohl selbstverständlich.«

»Und du bist überzeugt, daß es sehr wichtig ist?« fragte Frau Erika, ohne Ton in der Stimme.

»Das ist doch keine Frage! … Es hat Mühe genug gekostet, dich dahin zu lanzieren … Da wir leider keine Kinder haben, will ich wenigstens für meine Person und für deine natürlich … aber warum das immer wiederholen. Wir sind ja einer Meinung und haben uns oft genug darüber ausgesprochen …«

Dieser in bösen Stunden immer wiederkehrende Hinweis auf ihre Kinderlosigkeit, vereint mit dem Vorwurf über ihren Mangel an Vorsicht bei jenem schrecklichen Unfall, der ihnen das Kind geraubt hatte, wirkte jedesmal auf Frau Erika, als ob sie zu Boden geschlagen würde. Wenn sie sich dann erhoben hatte, ging sie wieder gehorsam den gemeinsamen Weg.

Er war übrigens in ihren eigenen, wie den Augen der Welt weit entfernt davon, ein Dornenweg zu sein …

Nach dem Lunch, als Herr Doktor Lohrer längst fortgegangen war, hatte Frau Erika noch ein paar Schwächeanfälle, Frost- und Hitzeschauer. Wenn sie dann die Augen zumachte, wollte sie sich von neuem die beruhigenden Bilder vergegenwärtigen, die sich gestern beim Anblick des alten Porzellankopfes eingefunden hatten.

Sie holte ihn auch wieder aus dem Schränkchen hervor, in dem sie ihn verborgen hatte, aber heute stand er einfach in seiner kulturlosen Häßlichkeit da und wollte ihr nichts Schönes erzählen.

Im Gegenteil – die Gedanken irrten von ihm ab zu verbotenen Wegen, auf denen einstmals alle Schrecknisse des Menschenlebens, Unglück, Sorge, Schande und Verlassenheit über sie hatten herfallen wollen …

Und das waren Töne, die hier nicht anklingen durften … Mit Gewalt mußten sie vertrieben werden … Ein ander Bild … ein frohes … Galopp, Menuett und Walzer … Nein, das war ja nicht jenes Lied, das sie als Kind mitgesungen hatte, wenn in den Sommerferien alt und jung vor der Tür des Lotsenhäuschens zusammensaß … Das hieß doch: »Morgen, da geht's in die brausende See …

morgen, da geht's in die brau … au … sende See …«

Sie fuhr auf … Was war das? … Sie phantasierte ja am hellen Tage … Sie wollte vielleicht doch den Arzt kommen lassen.

Sie stand auf, um zu ihrem Telefon an den Schreibtisch zu gehen.

Da trat die treue Lina ein.

»Herr Doktor telefonieren eben, gnädige Frau möchte nicht vergessen, die Erkundigung Eichstädter Straße 9 einzuziehen …«

»Eichstädter Straße 9?« fragte Frau Erika. Die treue Lina senkte bestürzt die gefärbte Tolle. Sie hatte den Auftrag eben von der Eichstädter Straße aus bekommen und, in Gedanken noch dort, diese vielgebrauchte Adresse versehentlich ausgesprochen.

»Ach nein … nicht Eichstädter – Heilbronner Straße.«

»Ja gut, Heilbronner, ich hab's ja notiert«, sagte Frau Lohrer. »Bringen Sie meine Sachen, ich will dann gleich hin …«

Sie mußte sich zusammennehmen … Der Doktor hatte bis morgen abend Zeit … nach dem Tee bei der Ministerin.

Es war schwer, mit den stechenden Schmerzen in der Brust, gegen den Wind anzukämpfen, und in den Gliedern lag's ihr wie Blei.

Alle melancholischen Schauer eines grauen Novembernachmittags gingen um … Der erste Schnee war in losen Flocken gefallen und auf dem Pflaster zu schmutzigem Wasser geworden. Schwere, bleifarbene Wolken drückten sich immer tiefer in die Straße hinein, und ein leise winselnder, müder Wind versuchte hier und da vergebens, sie aufzujagen.

Es war noch früh, aber trübe Dämmerung verwischte die Umrisse der Häuser und Bäume. Menschen und Gefährte bewegten sich wie Schatten.

Von aufspringenden und wieder verschwindenden Gedanken gequält, ging Frau Erika ihres Weges, und weiter, als sie beabsichtigt hatte. Mitten in der Potsdamer Straße fiel ihr ein, daß sie mit ihren Brustschmerzen eigentlich gar nicht gehen durfte, und sie stieg in ein Auto.

Die zuletzt gehörte Adresse klang noch in ihren Ohren, und sie nannte sie: »Eichstädter Straße 9.«

Die Gegend, in die sie kam, war ihr fremd.

Fantastische Formen sprangen aus dem zitternden Nebel auf. Hier glitzerte ein Goldbeschlag aus massigen Steinen heraus – da grüßte eine fratzenhafte Maske mit aufgerissenem Rachen von einem hohen Torpfeiler herunter … dort hob sich eine schwere schmiedeeiserne Einzäunung, hinter der Zypressen wuchsen, und nun ein Goldgitter …

Wo war sie? … Das Auto hielt. Sie zahlte mechanisch.

Aus dem Eingangstor des Hauses, vor dem sie stand, fiel ein breiter, blutroter Schein auf das nasse Pflaster und rang mit dem blendenden Lichte einer großen elektrischen Kugellaterne, die eben aufflammte.

»Alles Neubauten«, sagte ein Gedanke in dem fiebernden Hirn der kranken Frau. Und weiter:

»Wie bin ich hierhergekommen, so weit ab von meiner Wohnung … und was will ich hier? … Ach, das steht in meinem Notizbuch.« …

Und Frau Erika drückte auf die Glocke.

Die Tür öffnete sich. Sie stand in einem roterleuchteten Vorraum, an dessen Wänden ein Gewirr von weißen Arabesken, Früchten, Masken und Putten lebendig zu werden schien …

Und dann, während Frau Erika in ihrer Handtasche nach dem Notizbuch kramte, kam ein Wunder: Die weiße Tür links wurde aufgerissen – ein paar tappende Schritte … und auf der obersten Stufe der Treppe die herunterführte, stand ein Bübchen in weißem, zottigem Mantel, die weiße Kappe aus dem blühenden Gesicht mit dem blonden Kraushaar geschoben, die dicken Händchen gespreizt … und mit Augen, die ganz weit vor Verwunderung hinunterblickten … mit Augen!!

Wie kam ihr toter Junge hierher?!?

»Mein Kind … mein Bub' … mein alles … wo warst du so lange? … wo haben sie dich versteckt? … liebes … liebes …«

Sie war oben und riß das Bürschchen an sich.

Das war einen Augenblick stumm vor Schreck. Dann fing es zu strampeln und zu schreien an.

»Loslassen … loslassen … Mutti … Mutti!«

»Was gibt's denn?«

In der offenen Tür stand eine schöne, lebenstrotzende Frau, im eng anliegenden Schneiderkleid, zum Ausgehen fertig.

Das blühende, breite Gesicht unter dicken, rotbraunen Haarwellen leuchtete vor Gesundheit. Jeder Muskel des starken Körpers schien von Kraft gespannt und geschwellt.

»Setzen Sie mal sofort den Jungen hin«, rief sie laut und grell. »Was bedeutet denn das? … Ah … Sie?!! … Sie?!! …«

Ihre Stimme überschlug sich. In den schmalen, glitzernden, grauen Augen brannte eine vernichtende Feindseligkeit auf … das ganze junge Weib wand sich in Verlegenheit und giftigem Hass.

Frau Lohrer achtete nicht darauf.

Sie hatte den Buben zur Erde gleiten lassen und stand weiß und stumm da.

»Verzeihung«, sagte sie dann. »Er gleicht zum Verwechseln meinem verstorbenen Kinde« …

Die schöne, kraftvolle Person hob das Bürschchen hoch, drückte es an sich und lachte laut und höhnisch auf.

Dann trat sie hastig in die Wohnung zurück und schloß die Tür hinter sich zu.

Frau Erika stand noch einige Sekunden da und starrte den Verschwundenen nach.

Der Portier öffnete sein Fenster und kam dann heraus.

»Zu wem wünschen gnädige Frau?« fragte er höflich.

Frau Erika schüttelte den Kopf und sagte nur: »Nach Hause.«

»Soll ich Auto besorgen?«

Sie nickte, achtete nicht darauf, wie lange sie wartete, und bemerkte auch das verwunderte Kopfschütteln des Portiers nicht, als sie ihre Adresse angab.

Die Augen fielen ihr zu, und sie fuhr aus dem Dämmerzustand erst auf, als der Wagen vor dem Hause in der Bendlerstraße hielt.

Wie im Schlaf ging sie hinauf, vorbei an der treuen Lina, die ihr beim Ablegen helfen wollte, und in ihr grünes Zimmer.

Eine beklemmende Angst nahm ihr den Atem. Sie wußte nicht mehr, wo sie war. Sie konnte nicht mehr Traum und Wirklichkeit unterscheiden – nicht mehr Leben und Sterben …

Ja … das blühende Leben hatte die Tür vor ihr zugeschlagen und ihr Kind im Arm davongetragen, und sie … sie stand hier ganz allein, ganz fremd. Sie brauchte etwas, um sich daran zu halten … denn sie fiel um … irgendwohin in die Finsternis … Aber da war nichts … kein Mensch … kein Ton … kein Bild … Nur Schönheit, bunter Farbenzauber, fremdes Gerät, an das sich kein Erleben knüpft …

... Doch! … Der Matrosenkopf stand noch von vorhin auf dem kleinen Tischchen neben der Chaiselongue und grinste …

Nach ihm streckte sich ihre Hand aus.

Da fiel er zur Erde, gegen ein bauchiges Bronzegefäß, und zerbrach in ein paar große Stücke … Frau Erika griff voll Entsetzen nach dem einen – es war ein Ohr, mit dem blanken Ohrring darin –, dann warf sie sich auf die Chaiselongue und fing fassungslos zu weinen an.

Nicht, wie ein Mensch weint, dem ein großer Kummer das Herz getroffen hat. Es war ein Winseln, wie das des müden Windes draußen, der die grauen Wolken nicht verjagen konnte. Ein jammervolles, grauenhaftes Weinen.

Die treue Lina beugte sich verständnislos zu der Liegenden.

»Fehlt der gnädigen Frau etwas?«

»Mein einziges, … mein letztes« …

Nur eine matte Handbewegung nach den Scherben am Boden.

Achselzuckend sah die Jungfer darauf nieder.

»Beruhigen sich gnädige Frau doch … gnädige Frau schaden sich. Herr Doktor ist auch schon zu Hause und kann jeden Augenblick hereinkommen« … Das jammernde Weinen hörte nicht auf. Leise und eintönig klagte es weiter.

Die treue Lina stand ratlos daneben und ließ in Gedanken die im Hause verkehrenden Herren an sich vorübergehen.

So irgendeine heimliche Geschichte mußte doch dahinter stecken! … Was konnte nur geschehen sein? … Sie hatte schon immer gedacht … diese Stillen … Ob sie nun nicht doch den Herrn rief?

Da schlug matt draußen das Telefon an.

Sie ging schnell hinaus und nahm mit überraschtem Aufschrei die Meldung entgegen.

Dann klopfte sie, nachdem sie die Bluse zurechtgerückt und den Rock über den Hüften heruntergestrichen hatte, an die Arbeitszimmertür des Herrn Dr. Lohrer.

Diese Stunde nun war die, in der er durchaus ungestört zu sein wünschte, – in der er die Geschäftsdispositionen für den übernächsten Tag ausarbeitete, – in der allein er auch vor sich selbst alle ästhetischen und gesellschaftlichen Rücksichten wegwarf und seiner eigentlichen Natur die Zügel schießen ließ.

Sogar die treue Lina hatte um diese Tageszeit doppelt tadellos zu sein, wenn sie, im Notfall, ihn an seinem Schreibtisch aufsuchen mußte.

Heute trat sie etwas hastiger ein als sonst.

»Darf ich Herrn Doktor stören?«

»Zum Kuckuck … nein! Was gibt's? …«

»Gnädige Frau liegt auf der Chaiselongue und weint ganz furchtbar.«

Doktor Lohrer drehte sich auf seinem Stuhl um. »Und?« … fragte er eisig.

»Sie sagt, weil sie den gräßlichen Puppenkopf zerschlagen hat … Aber …«

»Aber? Nun? …«

Die treue Lina trat einen Schritt näher:

»Aus der Eichstädter Straße telefoniert man eben … die gnädige Frau ist in der Wohnung gewesen, – und es scheint, – sie hat den Bubi fortnehmen wollen …«

Doktor Lohrer sprang auf.

Seine hohe, schlaffe Gestalt streckte sich, und sein schmales Fuchsgesicht bekam den gefürchteten Raubtierausdruck.

»Hallo!!«

Und er ging unverwandt in das Zimmer seiner Frau.

Der Anblick, der sich ihm bot, war nicht geeignet, seine Empörung über die verbrecherische Geschmacklosigkeit, von der er eben erfahren hatte, zu besänftigen.

Frau Erika lag mit verschobenen Kleidern, noch in Hut und Mantel, mit niedergesunkenem Kopf über der Chaiselongue und winselte wie ein gepeinigtes Tier.

»Erika«, … rief Doktor Lohrer in fassungslosem Zorn.

Sie rührte sich nicht.

Er rüttelte sie an den Schultern. Der Körper gab nach, aber sie öffnete die Augen nicht, aus denen unaufhörlich die Tränen hervorquollen.

Er griff nach der herabhängenden Hand. Sie war behandschuht, aber er fühlte die Glut durch das Leder. –

Es war keine Frage, – seine Frau fieberte. Sie war krank, kränker leider, als sie es in Anbetracht der morgigen Sitzung im Unterrichtsministerium und der gesellschaftlichen Aussichten, die sich für den Winter daran knüpften, sein durfte. Und es war auch nicht an der Zeit, um Taktlosigkeiten, die in solchem Zustande begangen worden waren, zu rechten.

Mit Hilfe der treuen Lina wurde Frau Erika der Straßenkleidung entledigt. Eine sanfte Gewalt mußte angewandt werden, als die Hand, die den Scherben des Matrosenkopfes fest umklammert hielt, von dem Handschuh befreit werden sollte.

Dann erst durfte nach dem Arzt telefoniert werden.

»Wie konnten Sie die gnädige Frau in einem solchen Zustande ausgehen lassen?« … schrie Doktor Lohrer die treue Lina an.

Sie wollte aufbegehren. Aber ein Blick in das verbissen grübelnde Gesicht und die zornigen Augen belehrten sie, daß dies im Augenblick unangebracht war.

»Gnädige Frau ist doch nicht leicht zu beeinflussen … bei aller Güte …« wagte sie zu bemerken. »Auch mit dem häßlichen Porzellankopf …«

Er winkte abwehrend.

»Telefonieren Sie sofort nach der Eichstädter Straße, daß das, was Sie vorhin sagten, unbedingt ein Irrtum sein müsse … die gnädige Frau läge mit hohem Fieber zu Bett … Ich lasse das sagen … verstehen Sie? …«

Natürlich verstand die treue Lina und richtete die Bestellung aus, während Doktor Lohrer, peinlich erregt, neben seiner zusammenhanglos murmelnden Gattin den Arzt erwartete. – – – – –

Es war eine doppelseitige Lungenentzündung, bei dem schwachen Herzen und der zarten Konstitution der Kranken von vornherein eine böse, fast aussichtslose Sache.

Herr Doktor Lohrer stand anfangs ungeduldig und voller Erbitterung und Staunen an dem Bette seiner Frau und spielte in Gedanken mit allen Möglichkeiten – aber er spielte.

Daß das Äußerste in Wirklichkeit eintreten könnte, fiel ihm noch nicht ein zu glauben. Noch empfand er, was geschah, als eine ihm zugefügte Beleidigung, sogar als die Lage schon fast hoffnungslos war.

Der harte Kampf dauerte länger, als man gedacht hatte. Der ganze Apparat, der der Krankheit zu Leibe geht, wenn sie in ein reiches Haus eingebrochen ist, war in Tätigkeit.

Der Wagen des berühmten Spezialisten hielt morgens, mittags und abends vor der Tür. Der vornehme Hausarzt wich kaum von dem Krankenlager, und ein jüngerer Kollege war zur Hand, wenn er seiner anderen Praxis nachgehen mußte.

Im Krankenzimmer selbst waltete eine barmherzige Schwester mit trüben Augen und fest zusammengezogenem Munde ihres Amtes. Was die Medizin an Hilfsmitteln geben konnte, war in Anwendung, aber das Fieber, das an dem zarten Körper fraß und schüttelte, übertrumpfte alle Sorgfalt, alle Bäder und alle Medikamente. Atemnöte und Beklemmungen füllten die langen, bangen Stunden … und wenn die Temperatur nur ein weniges zurückging, wollte das Herz seinen Dienst nicht mehr tun.

Nach mühseligem Kampf gegen die zunehmende Schwäche kam der Augenblick, in dem die Ärzte andeuteten, daß man, wenn nicht ein Wunder geschähe, in kurzem auf das Schlimmste gefaßt sein müßte …

Herr Doktor Lohrer, der seinen vollen Anteil an der Pflege aufopfernd Tag und Nacht getragen hatte, nahm die Botschaft stumm und mit gebotener Fassung entgegen und achtete nach wie vor auf die peinlich genaue Ausführung der ärztlichen Anordnungen.

Inzwischen lief er ruhelos zwischen dem Krankenzimmer und seinem Schreibtisch hin und her.

Auf einer dieser Wanderungen, nachdem er minutenlang das arme zuckende und gedunsene Gesicht der Sterbenden kummervoll betrachtet hatte, ging er zu dem Marmorporträt in seinem Zimmer hinüber, das vor zwei Jahren in Brüssel Lambert von ihr geschaffen hatte.

Aus dem, wie es die Mode betont, teilweise roh gebliebenen Marmor, hob sich das feine Köpfchen Erikas mit dem überzarten Halsansatz. Ein träumerisch scheues Lächeln, eine kleine melancholische Ironie belebten die regelmäßigen Formen.

Ja, das war die Gattin von Lovis Lohrer, das war das Bild der Frau, die seinem schönen Hause den Stempel zartester Ästhetik aufgedrückt hatte, das war das Bild, vor dem er erleichtert aufatmete. Von dem der armen Leidenden, die schmerzentstellt, Vernichtung in den verzerrten Zügen, da drüben kämpfte, wendete sich etwas ihm ab …

* * *

Draußen kroch der Tag langsam und grau heran.

Da hörte auf dem Sterbelager das stoßweise Atmen und Röcheln plötzlich auf.

Die Schwester schreckte zusammen und beugte sich über ihre Kranke.

Die lag, plötzlich weiß und schmal geworden, mit großen, schimmernden Augen da.

Die Schwester trocknete ihre feuchte Stirn und nahm ihre Hand.

»Muß ich sterben?« flüsterte Frau Erika heiser, an der Pflegerin vorüberblickend.

Die sah sich mit scheuem Auge um, und als auch im

Nebenzimmer alles still blieb, sagte sie feierlich und laut:

»Ja! … Wir wollen beten!« …

Frau Erika antwortete nicht.

Sie richtete sich mühsam auf und flüsterte Unverständliches vor sich hin.

»Das ist ja alles nicht wahr«, sagte sie dann plötzlich ganz klar. »Wenn ich leben bleibe, dann will ich wirklich … wirklich … nicht bloß zum Schein … nicht hindämmern« …

»Nach der Dämmerung bricht der leuchtende Tag des Herrn an«, sagte die Schwester, »der leuchtende Tag, der Tag der Erlösung. Der Friede …«

»Finster … Finster …« ächzte Frau Erika und griff mit zuckenden Händen um sich.

Dann taumelte sie in den Abgrund, in dem Schein und Sein versinken.

In dem kleinen Wintergarten, der sich an das grüne Wohnzimmer schloß, unter weißen Rosen und weißem Treibhausflieder ruhte nun die Herrin dieser Räume noch eine kleine Stunde, ehe sie unter die verschneite Erde gebettet wurde.

In einer Stunde nämlich versammelte sich der Bekanntenkreis, und dann kam auch der Geistliche, die Verstorbene für die letzte Fahrt einzusegnen, die sie nach der thüringischen Heimatstadt antreten sollte, um neben ihrem Kinde zu schlafen, wie sie es wohl gewünscht haben würde, wenn ihr in ihrem geräuschvollen Leben der Gedanke an ewige Ruhe je gekommen wäre.

Herr Doktor Lohrer ging durch alle Räume, um mit dem Blick des Herrn festzustellen, ob alles der Sachlage und seinen Anordnungen gemäß auf der Höhe wäre.

Zuletzt kam er in den Wintergarten und warf einen prüfenden Blick auf die Tote, deren leise Stimme noch in diesem Raum zu klingen schien.

Er hatte sich mit dem Ungeheuerlichen, das über ihn hergefallen war, als Mann von Selbstbeherrschung äußerlich abzufinden gesucht. Aber seine Gestalt sah sehr zusammengefallen und das Fuchsgesicht spitz und gelb aus.

Er schloß einen Augenblick die Augen, deren Lider rot und geschwollen waren. Als er sie wieder öffnete, fiel ihm die rötliche Orchidee in den starren Händen der Ruhenden auf, und er überlegte, ob dieser einzige Farbfleck die Harmonie des weißgrünen Bildes herabsetzte oder erhöhte. Er bemerkte auch, daß irgend etwas um das holde, friedvolle Gesicht nicht stimmte, es leer scheinen ließ … Natürlich! Wie hatte er es übersehen können! Die weiße Locke, die viel bewunderte, fiel ja nicht in die Stirn wie im Leben. Der Friseur hatte sie ungeschickterweise versteckt. Er fuhr mit spitzen Fingern in das Haar und zog sie vor.

Aber sie hatte das Flockige verloren und lag rauh und ohne Glanz da.

Welch ein Glück, daß er im letzten Augenblick das noch ändern konnte!

Er rief nach der treuen Lina, die in angemessener Trauerhaltung nach kurzem Schaudern mit der Brennschere die gewohnte Ordnung herstellte.

Den scheuen Blick, mit dem sie aus zitternden Lidern ihren Herrn streifte, bemerkte er nicht.

Er winkte ihr, hinauszugehen, und dann nahm er doch die blaßrote Orchidee fort, die »wie ein Tropfen Lebensblut das Bild des Todes in seiner Absolutheit störte.« So dachte er.

Er legte sie auf den Kübel der Latanie, die sonst über die Chaiselongue im Nebenzimmer ihre großen Blätter hängen ließ …

Die Blume fiel auf einen Scherben, ein rotes Ohr mit einem blanken Ring darin. Vor einigen Tagen hatte man ihn der fieberglühenden, jetzt erstarrten Hand entrissen und ihn auf den Platz geworfen, auf dem er achtlos liegen geblieben war.

... Und nun konnte die Trauerfeier vor sich gehen. Die Wachskerzen, die Doktor Lohrer selbst anzündete, legten ihren klaren, gelblichen Schein auf ein Bild von unbeschreiblicher, ruhevoller Schönheit und Poesie.

Er stand davor voller Bewunderung und Rührung. Mit einem Gefühl von Dankbarkeit streichelte er die eisigen Hände und rechnete in Wehmut und Güte mit der Toten ab.

»Sie hat ihren Zweck erfüllt … sie war der Schmuck meines Lebens … Vielleicht durfte sie nicht hinwelken … um mir ein unvergeßliches Bild zu hinterlassen … Aber auch ich hatte sie weich gebettet nach ihrem traurigen Jugendschicksal … in Glück und Glanz … Nicht jeder … aber gleichviel … es ist hart … bitter hart …«

Nach einem letzten trüben Blick auf die Ruhende richtete Doktor Lohrer sich straff auf und dachte an seine Pflicht.

Aus den Nebenräumen drang Stimmengemurmel. Er schob den Vorhang zur Seite – – und mit noch feuchten Augen, war das erste, was er leise befriedigt wahrnahm –, der weiße Spitzbart des Unterrichtsministers …


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