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Enrique Bisterro und Heinrich Biester

... Das alte Tor warf einen wunderlichen, langgestreckten Schatten auf den großen Marktplatz, sonst lag gelbe, glühende Sonne auf der ganzen Fläche, in deren weitem Rechteck sich nichts regte.

Und ringsum standen die alten, kleinen Häuser, gerade wie sie vor zwanzig Jahren dagestanden hatten – eins oder das andere wohl mit grellem, neuem Anstrich versehen – die meisten grau, dürftig und hier und da mit schwarzen Firmenschildern gezeichnet, die auch schon alle vor langen Zeiten da ebenso gehangen hatten.

Nicht einmal die Namen waren andere geworden. Und das war auch schon immer so gewesen. Die Ignee, die Pflug, die Voß, und wie sie sich auf den Schildern nannten, schliefen schon damals lange. Die Leute, die in den kleinen Läden mit dem gleichen Kram weiter handelten, hießen vielleicht Wiesenberg und Gädicke und Cohn – aber der alte Geist, der Geist der Ignee, der Pflug, der Voß, regierte weiter, und unter seinem Zeichen schien das ganze kleine Nest wohl auch heute noch zu leben, in dem gleichen Tempo, mit den gleichen Bedürfnissen und den gleichen Ansprüchen.

War das wirklich möglich? …

An einer der Eingangstraßen zum Markt stand ein Mann, der eben den langen, sonnigen Weg von der Station zur Stadt geschlichen war und mit einem bänglichen, erwartungsvollen Gefühl, wie es seinen Jahren gar nicht mehr zukam, auf diesem stillen Platze Umschau hielt.

Die Sonne tat ihm nichts. Die hatte ihm in Südamerika auf dem schattenlosen Plateau von Caracas in langen Jahren den Körper ausgetrocknet. Hier streichelte sie den Fröstelnden nur mit ganz leisem Finger und störte seine Gedanken nicht.

Gedanken waren es übrigens kaum. Nur unbestimmte Empfindungen. Und auch die kamen nicht von innen heraus – nein, sie strömten aus den kleinen Häusern ringsherum auf den schmalbrüstigen, hüstelnden Mann zu und zerrten tüchtig an ihm herum. Er widerstrebte nicht, aber er wunderte sich, denn diese wehmütigen, beunruhigenden Dinge, die um ihn raunten und durcheinander flatterten, waren gar nicht mit dem verknüpft, was hier vor langer Zeit seine junge und heiße Jugend ausgemacht hatte.

Die Gestalten, die unklar und schattenhaft um ihn her auftauchten und zu ihm flüsterten, waren keine, die in seinem Empfinden eine Rolle gespielt hatten. Sie sahen nur wie zufällig aus den Fenstern ringsum – der alte Bluhm mit dem würdevollen Gesicht und dem schneeweißen Schifferbart – der alte Puppel, der sich bis an sein Lebensende nicht hatte beruhigen können, daß er Töpfer Walters Tochter nicht hatte heiraten dürfen – eben huschte auch sie, ein verschrumpeltes altes Jüngferchen, mit mächtigem, buntem Strickbeutel schemenhaft um die Ecke – die Faktorsfrau Blez, die täglich in die Apotheke geschlichen war, um »Hoffmannstropfen« zu holen – und so viele andere noch, die das tägliche Leben des damals jungen Provisors gestreift hatten, ohne daß er ihnen näher gekommen wäre.

Der Fremde strich mit der Hand über die feuchte Stirn und sah sich noch einmal um. »Dummes Volk, was wollt ihr eigentlich von mir?« dachte er mit wehmütigem Lachen – »wenn die anderen nicht kommen – die beiden Alten – der Merten – und alle, alle, mit denen ich in der Erinnerung was zu tun gehabt habe.«

Nein, die kamen nicht. Auch die kleine schwarze Käthe kam nicht. Und die anderen, die eben noch um Heinrich Biester – oder, wie er schon seit langen Jahren hieß, »Enrique Bisterro« – herumgegaukelt waren, die verschwanden auch. Und nun lag der Marktplatz wieder leer und sonnendurchglüht da wie jeder andere in jedem anderen eingeschlafenen Landstädtchen um die Mittagstunde.

Ein paar Hunde, die in dem schmalen Schattenstreif an den Häusern die Einsamkeit bewachten, wurden auf den fremden Mann aufmerksam. Der Wolfsspitz, der sich ihm zunächst sielte, stand auf und fing zu bellen an.

Da öffnete sich das Fenster in einem niedrigen ersten Stock, und eine junge Frau mit großen, verschlafenen Augen sah auf den noch immer stille Stehenden. Sie rief etwas ins Zimmer, da kam auch ein Mann mit rotem, verarbeitetem Gesicht, und beide fragten voller Staunen ohne Worte herunter: Was willst du denn hier? Was suchst du denn hier? …

Ja, was wollte er hier? Er ging nun weiter auf das einzige größere Haus zu, das neben dem alten Ordenstor in tiefem Schatten stand. Es war die Apotheke, und dahin wollte er …

Sein eigenes Haus – auch eine Apotheke – in Entechua in Caracas, war ein leichtgebautes Holzhaus mit herumlaufenden Veranden. Er hatte mit der Zeit aus der schmucklosen Bude, die er vorgefunden, mit den reichlichen Mitteln, die er daran wenden konnte, etwas sehr Zierliches, Hübsches und Zweckmäßiges gemacht.

Sogar seine Frau, Doña Eustachia, von der doch alle Welt wußte, daß sie sehr große Ansprüche an Behaglichkeit stellte, war mit ihrer Hazienda sehr zufrieden, und wenn sie gut aufgelegt war, lobte sie ihn wohl auch einmal für sein Bauwerk und nannte ihn einen destinguido arquitecto.

Das schönste an seinem Besitztum aber hatte ihm die Natur geschenkt. Der Blick auf die mächtigen Bergschroffen war von einer unerhörten Großartigkeit, und von dem weiten Bogenfenster seiner Offizin aus sah er beständig eins der herrlichsten Bilder der Welt: den Bergpfad, unten von schaukelnden Yukkas bestanden, weiterhin an einer halben Kehre in geheimnisvollem Blau verlaufend. Menschen und Tiere, fremdartig und bunt gekleidet und gezäumt, belebten ihn.

Und alle trugen ihm Brot hinunter ins Haus.

Er war heute ein reicher Mann, verglichen mit seinem ehemaligen Prinzipal hier, obgleich der für ihn doch damals schon längst zu den oberen Zehntausend gehört hatte.

Manchmal in seinen Träumen sprach er mit ihm und rühmte sich seines Reichtums und seiner Angesehenheit und sagte:

»Sehen Sie wohl, als ich Lehrling bei Ihnen war und dann Provisor, da hielten Sie immer nichts von mir. Ihre Käthe gaben Sie mir nicht und sagten: ›Heinrich Biester, Sie sind ein Faselkopf und werden auf keinen grünen Zweig kommen. Bleiben Sie im Lande, und nähren Sie sich redlich. Solch ein ausgemachter Phantast wie Sie gehört zu Muttern, die ihn an der Strippe hält, und nicht in die weite Welt …‹

Das sagten Sie, lieber Herr Prang; und ich bin doch gegangen und an einen der herrlichsten Orte der Welt gekommen. Da stand schon alles für mich bereit: die Apotheke, die auf einen Herrn wartete, und die wunderschöne Tochter darin. Und alles, alles hab' ich gewonnen und noch viel Hab und Gut dazu. Sehen Sie da: Weib und Kind und Freunde und gute Nachbarn und – welch ein Leben!«

Er schilderte es mit prunkenden Worten, und dann – immer im Traum – pflegte Herr Prang ihm begeistert die Hand zu drücken und ihn und sein selbstgeschaffenes Los über alles Sagen und Denken zu preisen … Und alles auf Spanisch …

Aber am Tage, wenn die Sonne näher und näher kam wie ein glühendes Gespenst, das den Atem aufsaugen will – er konnte nicht schlafen wie Doña Eustachia in ihrem Schaukelstuhl und die schwarzhaarigen Kinder, die zusammengerollt auf den Matten der Veranda herumlagen – dann fiel alles Spanische und alles Rühmenwollen von ihm ab, und eine ganz klägliche, tränenselige Sehnsucht nach dem kleinen Nest im fernsten Osten Deutschlands, nach der schattenkühlen Apotheke darin mit der großen mahagonigetäfelten Vorhalle und den herumlaufenden ausgesessenen Bänken kam angeschlichen und hielt sein Herz so fest umkrampft, daß es gar nicht mehr schlagen wollte …

Wenn es Abend wurde, dann war's wieder besser. Dann fielen Heimweh und Melancholie wie lästige Schleier von der Seele, und der frische Bursch wachte auf, der dem alten Lande kurz entschlossen den Rücken gedreht hatte, als das Glück ihm dort nicht willfährig gewesen war.

Hier genoß er es nun. Er saß mit den Seinen und den neuen Freunden an dem fremden Strom … er sah die violetten Schatten den Monte Avila hinaufklimmen und das Kreuz an dem schwarzblauen Himmel funkeln. Die Fächer klapperten – langgezogene, dunkeltönige Melodien klangen um ihn her, starke Düfte berauschten, und schöne, braune Menschen mit seltsam gehaltenen Bewegungen redeten in vertraut gewordener Sprache über Tages Freud und Leid.

Dann flogen nur flüchtige Gedanken in das kleine Städtchen hinüber, das plötzlich nüchtern und kahl schien – ein Wunsch: könntet ihr doch einmal hier sein und mich sehen, ihr alle, die ihr in Enge und Philisterei dort eingerammt geblieben seid … und im Traum sprach er dann wieder mit dem Prinzipal und rühmte sein Glück und sein Leben in der neuen, schönen Heimat.

Tageswerk und Gewohnheit arbeiteten natürlich nicht umsonst daran, das allzu Unausgeglichene in diesen beiden Stimmungen zu mildern – ganz gelang es aber nie.

Die Leute um ihn sagten zuweilen, wenn sie ihn so vor ihren Augen zusammenfallen und sich wieder aufrichten sahen: »Der arme Don Enrique leidet an den Giften in seiner Apotheke.«

»Ach nein«, pflegte er dann zu erwidern, »die Sonne ist hier zu stark. Mein Organismus ist auf so viel Glut nicht eingerichtet.«

Allmählich, als die Jugend Abschied genommen hatte, fing er auch körperlich zu kränkeln an. Das Fieber kam. Es warf ihn nicht ganz nieder, es riß nur immer ein bißchen an ihm herum. Er konnte seines Lebens gar nicht mehr froh werden.

Und seine Freunde, der »große« französische Arzt Terrifet, der einen neuen Nasenspiegel erfunden hatte, und der gute, kleine deutsche Pastor, der aus lauter Selbstzucht und Tugend nur einmal im Jahr in seinem vergötterten Gottfried von Straßburg las, beratschlagten, was sie mit ihm anfangen könnten. Weil neuerdings in seinen halben Fieberreden die alte Apotheke in der deutschen Heimat mit dem dunklen Holzgetäfel und den breiten Bänken wieder auftauchte, faßten sie nach vielem Hin- und Herdenken den Entschluß, ihn zu einer Erholungsreise in das Jugendland zu überreden.

Doña Eustachia, im Lauf der Jahre sehr fromm und sehr dick geworden, hatte den Torheiten der Eifersucht auf fremde Weiber und fremde Länder längst entsagt. Sie redete darum mit den Freunden eindringlich auf den armen Señor Enrique ein, sorgte in ungewohnter Hausmütterlichkeit für äußerliche Reisebequemlichkeiten und versöhnte sich sogar mit dem assistente, der ihr sonst ein Dorn im Auge, weil er kein Messenläufer war …

Und so kam es denn, daß sich Señor Enrique Bisterro nach einer wie im Traum vergangenen Fahrt, nach zwanzig langen »süß und bitteren« Jahren an diesem heißen Julivormittag auf dem Marktplatz in Bartenberg und vor der dunklen Tür seiner alten Apotheke als Heinrich Biester wiederfand …

Nun stand er da und sah mit übergehenden Augen auf den blanken Messingklopfer, der ihn ehemals in der Nacht oft aus beginnendem Schlaf geschreckt hatte. Schwerfällig ging er die zwei ausgetretenen Steinstufen hinauf. Es war nicht Sitte, bei Tage mit dem Löwenkopf an die Tür zu hämmern, denn sie war nur nachts geschlossen. Das hätte er wohl noch wissen können, aber in Gedanken tat er's doch und erschrak zugleich über den hallenden Klang.

»Mit solchem Geräusch in die alte, stille Halle zu kommen«, dachte er unwillig und drückte die Klinke auf. Aber sie gab gar nicht nach, bis endlich auch von innen dagegen gedrückt wurde. Erst dann ging sie auf, und er bohrte die gierigen Augen über die Person weg, die ihm geöffnet hatte, in das dunkle, kühle Paradies seiner Träume.

Ein paar brennende Tropfen waren ihm über die Backen gelaufen, ohne daß er darauf geachtet hatte – aber nun, nun stand er wie erstarrt da und sah und sah …

»Wer sind Sie denn, und was wünschen Sie?« fragte man ihn.

Er schob die Fragende beiseite und sah wie verzaubert um sich.

Was war das nur?

Statt des rotdunkeln Holzgetäfels und der Bänke um Wände und Fensternische herum sah er einen weiten, weißen Raum mit viel grünen Palmen darin, Palmen und feinblättrigem Bambus. Schaukelstühle und Strohsessel standen auf den Matten wie bei ihm zu Hause. Es war überhaupt, als erinnere ihn manches an seine Veranda in Entechua. Verwirrt blickte er nach dem abgeteilten Raum, in dem der Verkaufstisch und die Medikamentenschränke stehen mußten. Da war er, aber der Tisch stand nicht mehr drin, und der dunkle Holzbogen der ihn von der Halle trennte, war wie ein großes Fenster von Hängepflanzen eingerahmt. Die Flaschen und Kruken waren von der Wand verschwunden, dafür leuchtete eine tropische Berglandschaft, von einer orangegelben Sonne bestrahlt, wie ein matter Gruß der gewohnten Glut und Farbe zu ihm herüber.

Er mußte die Augen schließen, denn er glaubte im Fieber zu sein. Der feine Apothekenduft, der noch alles durchdrang, ermunterte ihn.

»Ich wollte doch in die Prangsche Apotheke«, stammelte er und machte die Augen wieder auf.

»Ja, wo kommen Sie denn her, daß Sie die hier noch suchen?« fragte eine hohe, helle Stimme. »Sie mußten in das Haus nebenbei gehen.«

Da rüttelte er sich zusammen und sah wieder mit nüchternen Blicken um sich.

Vor ihm stand eine zierliche Frau in einem weißen Kleide von etwas fantastischem Schnitt. Sie hatte ein bläßliches Gesicht mit sprechenden, dunklen Augen und sah ihn halb lachend und halb ungeduldig an.

»Verzeihung, Señorita, aber wer sind Sie eigentlich?«

»Señorita?« fragte das Mädchen erstaunt. »Nun, ich bin doch Justine Prang – aber Sie, wer in aller Welt sind …?«

Da schrie Enrique Bisterro ordentlich auf.

»Sie, Sie sind das kleine Justinchen … Sie? … Und Käthe? … Und der Vater? … Und wo ist meine Apotheke geblieben?«

Er war sehr schwach, der Arme – sonst hätte er sich nicht so schwer in den weißen Korbstuhl sinken lassen und so atemlos und bang um sich gesehen. – Und er hätte wohl auch bemerkt, daß das Mädchen geisterhaft blaß vor ihm zurückwich und ebenso bang suchend nach ihm starrte, wie er nach den verschwundenen Bildern seiner Jugend.

Sie fasste sich dann wohl zuerst.

»Sind Sie etwa …?«

»Enrique Bisterro …« Er stand mit der zur Gewohnheit gewordenen Grandezza auf und verbeugte sich tief.

Sie hielt die Hände vors Gesicht und murmelte etwas wie »nein, nein, nein.« Aber dann nahm sie sich zusammen, ergriff seine Hände und zog ihn zu der großen Fensternische, in der viel hohe Bambusbüsche standen.

Und da sahen die beiden sich prüfend an und fragten und antworteten allerlei ohne Worte.

»Also Sie sind das kleine Justinchen, das der Käthe wie ein Schatten hinterher war?« sagte er dann.

»Lang, lang ist's her«, sagte sie. »Und die Käthe ist schon zehn Jahre tot.«

Lieber Gott! … Es bewegte ihn nicht sonderlich. Ihm war seine Jugendliebe längst aus der Welt der Wirklichkeit verschwunden, und wo er sie zuweilen suchte, da lebte sie so lange wie er. Aber dieses Mädchen, noch jung, doch schon am Rande des Welkens, was war das mit der? Warum sah sie ihn so an, so voller Staunen, so voller Bewunderung – und was zwang ihn, sich zu seiner vollen Höhe aufzurecken, sich recht, recht spanisch zurechtzurichten und ihr mit ein paar Koseworten in der Sprache der neuen Heimat über die dunklen Scheitel zu streichen?

Warum neigte sie so demütig den Kopf und sagte so leise und zitternd: »Ich hab' es ja immer gewußt, daß Sie wiederkommen würden!«

»Traum … Traum …« sagte er. »Warum hast du das immer gewußt?«

»Erst hat meine Schwester Käthe gewartet«, sagte sie. »Und ich war noch ein Kind und hörte begierig all die Geschichten, die da in dem schönen Tropenland passierten. Und Sie sah ich immer – ich weiß nicht – so wie in goldener Rüstung und im Kampf mit allerlei Tieren und wilden Menschen … Und dann, als die Sachen kamen, die Sie schickten …«

Sie zog ihn nun in den Verkaufsraum, wo er früher seine Tage und einen Teil seiner Nächte zugebracht hatte, und wo jetzt im Bilde ein schwacher Abglanz südländischer Herrlichkeit von der Wand herunterleuchtete.

Dort fand er mit rührender Sorgfalt die wertlosen kleinen Sachen geordnet, die er einst, in der ersten Zeit des Tropenrausches, nach dem alten Heimatnest gesendet hatte. Kokosnüsse, Indianerflechtarbeiten, Muschelketten, elfenbeinweiße Kugeln, aus der Wurzel der Lagospalme gedreht, Skorpione und Riesenspinnen und in einem Glaskasten an der Seitenwand die leuchtenden blauen Schmetterlinge, die er selbst in südlicher Sonne über den Riesengräsern der Pampas hatte flattern sehen, blauen Flämmchen gleich.

Er konnte gar nichts sagen. Die Stunden heißer Sehnsucht aus der neuen Heimat in die alte hatten hier eine Stimme bekommen, die leise und eindringlich murmelte.

»Das ist ja aber alles so unendlich lange her, Justinchen –« sagte er dann. »Ein ganz anderes Leben liegt dazwischen … Und ich habe auch nie geahnt, daß ich hier bei euch in so gutem Andenken stand.«

»Bei mir, nur bei mir – aber die anderen mußten einfach mit«, sagte sie mit einem kindlichen Eifer, der dem verblühenden Gesicht seltsam anstand. »Und gutes Andenken müssen Sie auch nicht einmal sagen … Zuerst, als die Käthe heiratete, da nahm ich mir vor – kindisch, wie ich ja noch war – daß eine wenigstens Ihnen Treue halten sollte …«

»Ist die Käthe glücklich geworden?« fragte er.

»Sehr … Ich habe das ja nicht begreifen können – denn schließlich war sie doch Ihre …«

Er wehrte ab. »Nicht doch, sie brauchte nicht treu zu sein, liebes Kind … ich auch nicht … Was uns in jenen schönen Tagen band, war ja so flüchtig. Ich kann jetzt nicht einmal mehr sagen, wie und was es war. Meine Sprache ist mir auch gar nicht mehr geläufig genug dafür … Aber Sie, sagen Sie mir, Sie … oder du? Warum hast du denn an mich gedacht … und wie? Du hast dir doch ausrechnen müssen, daß ich ein alter Mann bin, und schließlich ist es doch ein Zufall, daß ich herkam … nachdem wir seit langen Jahren nichts mehr voneinander wußten …«

»Kein Zufall, o nein.« Sie schüttelte den Kopf und sah ihn mit großen, nassen Augen an. »Und alt? Das hätte ich nie gedacht, und nun ist's ja auch nicht so … Wer draußen in der großen Welt und in fremder Schönheit lebt, der kann ja gar nicht alt werden für einen, der in Enge und Einsamkeit sitzt. Und wenn man dann so jemand hat, an den man seine große Sehnsucht anhaken kann, wissen Sie, das zieht einen mit in allerlei schöne Träume … Ich bin ja so glücklich gewesen all diese langen Jahre, daß ich die hatte … Ach, was für Freunde diese Schmetterlinge und dieser große bunte Arara mir geworden sind! … So was Fremdes und Heißes und Schönes war immer um mich, wenn ich an Sie denken konnte. Und wissen Sie, was ich jetzt eigentlich glaube? Dies alles ist nur ein Traum, und wenn ich aufwache, wird's nicht wahr sein. Oder ist dieses wahr? Und das andere ein Traum …? Nein, nein – Träume sind schöner als das Leben. Ach, lassen Sie mich reden … es ist so wundervoll, zu Ihnen reden zu können, zu Ihnen in Wirklichkeit reden zu können …«

Und das tat sie denn auch und sagte noch viel schöne Dinge zu Heinrich Biester. Oder zu Enrique Bisterro – oder zu wem … zu wem?

Voll traumseligen Staunens hörte er zu. Und allmählich rauschte ein heißes Entzücken in seinem Blut auf. Alter, Kränklichkeit, Fieber, das gab es ja gar nicht mehr. Jung wie vor dreiundzwanzig Jahren konnte er dieses Mädchen in seine Arme reißen, wenn er nur wollte. Er, der Starke, der Stolze, der Märchenprinz, für den hier die Palmen wuchsen und die blauen Schmetterlinge gaukelten. So empfand er für Augenblicke mit der fortgerissenen Fantasie. Aber der legt die Wirklichkeit schließlich doch Zügel an, und vom Empfinden zum gesprochenen Wort führt ein langer Weg.

Darum zog er zuletzt Justine Prang nur sanft zu sich und streichelte sie mit seiner mageren, heißen Hand. Und sagte nur ein paarmal: »Laß es dir nie leidtun, Kind, laß dir diese Stunde nie leidtun …«

»Wenn ich sie wirklich erlebe, dann soll sie die schönste in meinem Leben sein … die Höhe …«

»Still, still«, sagte er, sie immer noch leise streichelnd. »Ich danke Ihnen schön, Justinchen … Und – und, ich möchte nun am liebsten fortgehen. Was sagen Sie dazu? Noch bevor Sie mich in der Sonne von Bartenberg sehen!« …

Nun sah sie ihn forschend an, ebenso wie er sie, und er bemerkte, wie das glühende, begeisterte Gesicht unter seinem Blick zusehends spitz und blaß wurde, und wie der Freudenschimmer in den großen, dunkel umrandeten Augen erlosch.

Sogar die Stimme schien ihm anders, als sie zu reden anfing, und wenn nicht die weiße Halle und der Arara und die Palmen dagewesen wären, hätte er denken können, er hätte die ganze kurze Zwiesprache geträumt.

»Das ginge wohl nicht«, sagte sie. »Was sollte der Vater dazu sagen und Hellmund …?«

»Wer ist denn Hellmund?«

»Ach ja, Sie können das ja alles nicht wissen. Der Vater ist doch ganz alt und sehr müde. Manchmal könnte man denken, sein Geist wäre nicht mehr ganz, – aber dann merkt man doch wieder, daß er – wie soll ich das sagen? …, daß er bloß so schläft. Und Hellmund ist schon sechs Jahre da und besorgt alles – und die neue Apotheke gehört zur Hälfte ihm … und wir … und ich …«

Sie hielt befangen inne. Aber Heinrich Biester merkte darauf nicht.

»Der Vater …« Er strich ein paarmal aufgeregt über den ergrauenden Bart. Ja, nun kam man doch wieder auf wirklichen Boden. Nun war die Stunde da, wie er sie sich unterwegs oft ausgedacht hatte. Nun stand er alsbald dem Mann gegenüber, dem er das Recht gab, ihn abzuhören, ob er seine Lebensaufgabe auch gut zu Ende gebracht hätte.

Wie gut es nach dem phantastischen Begebnis der letzten Viertelstunde tat, sich wieder darauf zu besinnen, daß er vorzeiten hier gescholten und gelobt und von einer festen, aber warmen Hand hin und her geschoben worden war, bis er sich allein hatte zurechtfinden müssen!

»Ja, ja, Justinchen, führen Sie mich zum Vater … Kommen Sie …«

»Ich muß es ihm erst sagen … und dann ist doch auch Hellmund bei ihm.«

»Ich werde ihn doch allein sehen und sprechen?« fragte er ängstlich.

Sie nickte und ging steif und gerade an ihm vorüber nach der Tür, die früher zum Laboratorium geführt hatte. Sie war niedrig, und der Prinzipal hatte sich immer bücken müssen, wenn er in den Laden trat.

Heinrich Biester vernahm den erstaunten Ausruf einer tiefen Männerstimme und ein Geräusch, als ob ein Stuhl rasch beiseite geschoben würde. Dann öffnete Justine die Tür, und er konnte eintreten.

Vor dem Fenster, an dem ehemaligen Platz des Experimentiertisches, sah er einen Krankensessel mit einem Schachtischchen davor und flüchtig einen weißhaarigen Kopf. Vor dieses Bild aber drängte sich ein junger, großer, massiver Mensch mit einem derben, roten Gesicht und lustig blitzenden Augen. Der streckte ihm beide Hände entgegen, und in seiner dröhnenden Stimme klang ein Ton warmer Herzlichkeit.

»Also, es geschehen wirklich Zeichen und Wunder«, rief er. »Nein, nein, Gott! Hat das fantastische kleine Frauenzimmer doch wahr und wahrhaftig recht behalten … Ich geh schon, Goldchen– sehen Sie, wie sie mir winkt. Natürlich sollen Sie den Vater für sich haben, aber da der zum erstenmal eine längere Sitzung nicht vertragen wird, hoffe ich, Sie nachher zum Frühstück bei mir zu sehen, Herr – oder wie sagt man auf Spanisch? – Señor Enrique – nicht? Wiedersehn! – Wiedersehn!«

Und er ging, sich bückend wie früher Herr Prang, durch die niedrige Tür und streichelte vorher noch im Vorübergehen dem still dastehenden Justinchen mit seiner großen, runden Hand das farblose Gesicht. Heinrich Biester empfand das lärmende, gesunde Leben, das sich hier an der Stätte seiner Träume breitmachte, wie einen Mißton, aber nur für eine Sekunde, denn aus dem Lehnstuhl winkte ihm der Mann, der klein, mager und zusammengekauert darin ruhte.

Scharfe, doch ausgeblaßte Augen blickten ihm aus einem runzligen Greisengesicht entgegen, und an diesen Augen allein erkannte er den hohen, gebieterischen Mann, mit dem er sich in den Nächten daheim auf Spanisch unterhielt.

»Sieh, sieh«, sagte dieser fremde Greis mit klangloser Stimme, »das also ist der Strudelkopf … der Lockenkopf … der Ausländer, für den die imprägnierten Palmen in meiner alten Apotheke wachsen … Komm doch mal her, mein Sohn … die Justine sagt, du bist der Heinrich Biester – aber mir scheint, wir erkennen uns nicht mehr …«

»Doch, doch«, sagte Heinrich Biester eifrig, »die Augen … und der ganze Ton …«

Er nahm die welke, kalte Hand, die matt heruntersank, als er sie losließ. Dann schwiegen beide. Aber die Blicke des alten Mannes bohrten sich in das Gesicht seines Gastes mit eigenem, hellseherischem Spähen. Sie leuchteten auf und erloschen dann ganz schnell.

»Justine«, rief Heinrich Biester ängstlich, aber die blieb an ihrem Platze.

»Sprechen Sie nur etwas«, sagte sie, »dann ermuntert er sich.«

»Herr Prang«, sagte da Biester, »ich habe mich so auf dieses Wiedersehen gefreut. Ich habe Ihnen so viel zu erzählen, Sie glauben ja gar nicht …«

Der alte Mann ließ den Kopf mit den halbgeschlossenen Augen auf der Lehne seines Stuhls liegen.

»Ich hab's schon gesehen … alles … dir ist's nicht gut gegangen, mein Sohn …«

»Mir ist's doch aber sehr gut gegangen, Herr Prang«, sagte Heinrich Biester verwirrt.

Herr Prang machte nun die Augen wieder auf und hob die müden, weißen Hände.

»Erzähl davon den Kindern … der neuen Zeit, mein Sohn«, sagte er mit der ausgeklungenen Stimme. »Die Schubfächer in meinem Kopf sind alle voll … Mit deinen grauen Haaren und dem ausgetrockneten Gesicht krieg ich dich nicht

mehr herein … Ich hab' dich drin, wie du noch ein lieber, leichtsinniger Junge warst und meine Käthe nicht bekamst … Nachher, wie meine Frauenzimmer den Señor Enrique Bisterro mit Indianerfedern und Heldentum aufputzten, da hab' ich ja noch ein Weilchen mitgemacht, so aus Spielerei – ich alter Hansnarr … Aber jetzt – nehmen Sie's mir nicht übel, lieber Heinrich Biester, ich werde mich schon auch noch freuen, wenn Sie wiederkommen … aber ich bin ein sehr alter Mann … ein sehr alter Mann, und die weiße Verschalung auf meinem schönen Mahagonigetäfel … Sehen Sie mal zu, daß Sie die abreißen und auch das ganze staubige Zeug samt den Schmetterlingen und den Palmen, und dann wird ja auch die Justine mit ihrem Hellmund wie andere Leute …«

Da flatterte Justine in ihrem weiten, weißen Kleid heran und sagte mit ihrer hohen und klingenden Stimme: »Die Justine wird gar nichts. Wenn man sein lebelang unter Palmen gewohnt hat …«

Der Alte winkte ihr zu schweigen und gab Heinrich Biester die Hand.

»Glauben Sie nicht, Sie Weitgereister, daß es sich auch unter einem schönen, strammen Lindenbaum gut hausen läßt?« sagte er, und ein halb wehmütiges, halb verschmitztes Lächeln lief über sein runzliges Greisengesicht.

Eine Antwort erwartete er aber nicht. Er behielt die Hand seines Gastes noch einen Augenblick in seiner, kroch dann in sich zusammen und fing an zu murmeln: »Wenn du wieder so spät nach Hause kommen wirst – mein Junge … warte mal …«

Heinrich Biester hatte es verstanden. Es war wie das Gespenstchen der Stimme von früher, und das rief allerlei Fremdes und Empfindsames in ihm an.

Als er mit Justine wieder draußen stand, stiegen ihm die Tränen in die Augen, und er wußte gar nicht, was er mit dem Gemisch von Wehmut, Verdrießlichkeit und Verlangen in sich anfangen sollte.

»Wollen wir jetzt nicht hinübergehn –?« fragte da Justine niedergeschlagen. »Vielleicht frühstücken?«

Er sah sie groß an und schüttelte nur den Kopf. Ihre brennenden Augen, die von ihm zu den weißen Wänden irrten, taten ihm wohl und weh zugleich – aber der heiße Strom von vorhin rauschte nicht wieder in ihm auf.

Merkwürdigerweise mischte sich sogar in alles widerspruchsvolle Durcheinander seiner Gedanken ein Stimmengewirr von weit her – ein paar tiefe und ein paar gellende Töne – Rufe von Frau Eustachia und den Kindern, die er zu Hause oft genug mit Mißbehagen gehört hatte, aus denen ihm in diesem flüchtigen Augenblick jedoch ein Klang unersättlicher Lebensfülle entgegenschwirrte.

Das dauerte aber auch nur eine Sekunde und war vielleicht seinem Wunsche fortzugehen entsprungen. Denn dieser Wunsch war da und beherrschte das sanfte Gefühl von Dank und Rührung.

»Ich will dir lieber Lebewohl sagen, Justinchen, jetzt, dir allein, und keinen und nichts mehr sehn und wiedersehn. Begreifst du das? Und weißt du, wie reich ich durch dich geworden bin?«

Sie lächelte bitter und traurig und sagte: »Reich? … Reich?« …

Da blieben ihm die spanischen Koseworte, die ihm durch den Kopf schossen, in der Kehle stecken.

Er küßte mit kalten Lippen ihre Stirn und ging langsam hinaus.

Sie blieb ganz still.

Er hatte die Tür aus alter Gewohnheit offen gelassen und sah sich noch einmal nach ihr um: da stand sie mitten in der dämmrigen Halle in ihrem weißen Kleide mit den nackten Armen und hatte die Hände gerungen.

Aber als er noch länger nach dem geheimnisvoll schönen Bilde starrte, da schien es sich mit silbrig grünem Schleier zu umhüllen und zerfloß ihm vor den Augen.

Dann wurde die Tür zugemacht, und er sah noch eine Weile wie im Traum auf diese dunkle Pforte mit dem leuchtenden Messinglöwenkopf, die die Vergangenheit für ihn abschloß, und hinter der sich ihm doch ein neues, wunderliches Seelenheim aufgetan hatte …

Der Markt lag wie vor einer halben Stunde sonnenüberglüht und ausgestorben da, aber nun hatten auch die kleinen Häuser tote Augen, und keine Stimme mehr. Kein Fenster öffnete sich, und keine Schatten huschten über die Straßen.

Nur der Löwenkopf an der Apothekentür funkelte und sprach.

* * *

Nun saß Enrique Bisterro längst wieder auf der Veranda in Entechua unter den Seinen und den rauchenden und schwatzenden Freunden. Er hörte den Guairastrom rauschen und sah die Yukkas am Fuß des Monte Avila emporstreben. Duft und Glut waren um ihn, und die Schönheit der taghellen Mondnächte kaum zu ertragen.

Das war früher auch alles so gewesen – aber er wußte nicht, wie es kam – seit seiner Heimkehr sah er die alten Bilder mit neuen Blicken, ja, er nahm sie oft mit einer Befriedigung auf, die an Freude grenzte. Seine Freunde fanden, daß die Reise in die Heimat Wunder an ihm getan habe, sie machten sogar kleine, anzügliche Bemerkungen, die Doña Eustachia nicht zu Ohren kommen durften. Er selber gab ihnen nicht Unrecht, wenn er sich auch den Wechsel in seinem Empfinden und seinem ganzen Wesen nicht ganz erklären konnte.

Während des Tages, den er in der lähmenden Glut sonst verdrossen und kränklich, voller Mattigkeit und unbestimmter Sehnsucht, hingeschleppt hatte, dachte er an die Heimat jetzt nie mehr. Die schöne Wirklichkeit um ihn triumphierte über den matten Widerschein, den er dort angetroffen hatte. Er schaffte mit frischer Kraft und Freudigkeit. Er fühlte sich in seinem Beruf, als Familienvater, als Würdenträger in der kleinen, zusammengewürfelten Gemeinde von Entechua ganz als der Enrique Bisterro, den man hier von ihm erwartete, und wußte nichts von dem Heinrich Biester des Jugendlandes.

Seine Träume dagegen führten ihn nach wie vor in das alte Heimatnest, aber er prahlte nicht mehr wie früher mit seinem Glück und seinem Wohlergehen. Er sprach auch nicht mehr Spanisch – und nicht mehr mit dem Prinzipal. Er stand in der dämmrigweißen Halle – und ihm gegenüber, neben dem feinblättrigen Bambus, unter den ewig lebenden Palmen, die für ihn da hingepflanzt waren, das Justinchen – mit leuchtenden, verständnisvollen Augen ihm die Worte von den Lippen lesend. Und was der heiße Tag von Entechua an starkem, jungem Fühlen, an Wehmut und Verdrossenheit, an Traum und Jugendsehnen erstickte, das strömte da in den langen und beweglichen Zwiesprachen aus. – In denen klang kein Ton von dem würdigen, arbeitsfrohen Don Enrique, die quollen ganz aus dem Herzen und aus der Seele des Heinrich Biester.


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