Bernardin de Saint-Pierre
Paul und Virginie
Bernardin de Saint-Pierre

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Eines Morgens (es war der 24. December 1744) bemerkte Paul, als er mit Tages Anbruch aufstand, daß eine weiße Flagge auf dem Entdeckungshügel aufgepflanzt war, das gewöhnliche Zeichen, daß man ein Schiff auf dem Meere gewahr wird. Er lief in die Stadt, um zu fragen, ob es keine Nachrichten von Virginie bringe. Doch wartete er, bis der Lootse, der dem Gebrauche gemäß dem Schiffe entgegengesandt worden war, zurückkam. Dieß geschah erst gegen Abend. Er meldete dem Gouverneur, das nahende Schiff sey der St. Geran, vom Capitän Aubin befehligt, und habe eine Ladung von 700 Tonnen; es sey noch vier Seemeilen im Meer und gedenke morgen Nachmittag, wenn der Wind günstig sey, in Port-Louis einzulaufen. Im Augenblick war eine völlige Windstille. Zugleich übergab der Lootse dem Gouverneur die Briefe, welche das Schiff aus Frankreich brachte. Es war dabei einer an Frau von Latour von Virginiens Hand. Paul bemächtigte sich seiner sogleich, küßte ihn voll Entzücken, drückte ihn an sein Herz und eilte damit der Wohnung zu. Als er die Familie, die ihn auf dem Abschiedsfelsen erwartete, von Weitem sah, hob er den Brief in die Luft, ohne ein Wort sprechen zu können. Alsbald umringten Alle Frau von Latour, um den Inhalt des Schreibens zu erfahren. Virginie schrieb ihrer Mutter, sie habe von ihrer Großtante viel Härte erdulden müssen; diese habe sie wider ihren Willen verheirathen wollen, dann enterbt, und endlich gezwungen, sich zur allerungünstigsten Jahrszeit nach Isle de France einzuschiffen; umsonst habe sie sie zu erweichen gesucht, indem sie ihr vorgestellt habe, was sie ihrer Mutter und den Erinnerungen ihrer Kindheit schuldig sey; die Tante habe sie ein unsinniges, durch Romane verrücktes Mädchen gescholten: jetzt aber lebe sie nur in dem Glück, ihre geliebte Familie wieder zu sehen und sie zu umarmen, und sie würde dieses glühende Verlangen noch heute befriedigt haben, wenn der Capitän ihr erlaubt hätte, mit dem Lootsen an's Land zu gehen; er habe es aber nicht zugegeben, weil das Schiff noch zu fern vom Lande sey und die Wellen trotz der Windstille hoch gehen.

Als dieser Brief gelesen war, riefen Alle entzückt: »Virginie kommt! Virginie kommt!« Herren und Diener umarmten sich. Frau von Latour sagte zu Paul: »Gehe, mein Sohn, und melde unserm Nachbar, daß Virginie kommt.« Sogleich zündete Domingo eine Fackel an, und Paul und er machten sich auf den Weg nach meiner Wohnung.

Ich denke, es war zehn Uhr Abends. Eben hatte ich meine Lampe gelöscht und mich niedergelegt, als ich durch das Pfahlwerk meiner Hütte hindurch ein Licht bemerkte. Bald darauf hörte ich Pauls Stimme, der mich rief. Ich stand auf, und kaum hatte ich mich angekleidet, so stürzte Paul außer sich und athemlos mir an den Hals und rief: »Auf, auf! Virginie ist gekommen. Wir wollen nach dem Hafen gehen; mit Tages Anbruch läuft das Schiff ein.«

Sogleich machten wir uns auf den Weg. Als wir nun den Wald des langen Berges durchzogen und bereits auf dem Wege waren, der von den Pompelmusen nach dem Hafen führt, hörte ich Jemand hinter uns hergehen. Es war ein Schwarzer, der sich uns mit eilenden Schritten näherte. Als er uns erreicht hatte, fragte ich ihn, woher er komme und wohin er so in aller Eile wolle. Er antwortete: »Ich komme aus dem Theil der Insel, welcher Goldstaub heißt: man schickt mich in den Hafen, um dem Gouverneur zu melden, daß ein französisches Schiff unterhalb der Insel Ambra laufe. Es thut Nothschüsse, denn die See ist sehr bewegt.« Nachdem er dieß gesagt hatte, lief er eilig weiter, ohne sich länger aufzuhalten.

Ich sagte zu Paul: »Laß uns nach dem Quartier Goldstaub gehen, Virginien entgegen, es sind nur drei Stunden von hier.« Wir machten uns also auf den Weg zur Nordküste der Insel. Es war eine drückende Schwüle. Der Mond war schon aufgegangen, und um ihn herum sah man drei große schwarze Ringe. Der Himmel war fürchterlich dunkel. Doch konnte man bei den häufigen Blitzen lange, dichte und niedrige Streifen von Wolken entdecken, die mit großer Geschwindigkeit vom Meere herkamen und sich über der Mitte der Insel aufthürmten, obgleich nicht der geringste Wind war. Während wir weiter gingen, glaubten wir den Donner rollen zu hören; als wir aber aufmerksamer horchten, erkannten wir, daß es Kanonenschüsse waren, die das Echo wiederholte. Dieser ferne Kanonendonner, verbunden mit dem stürmischen Aussehen des Himmels, machte mich schaudern. Ich konnte nicht zweifeln, daß es die Nothsignale eines in höchster Gefahr schwebenden Schiffes seyen. Nach einer halben Stunde hörte das Schießen auf, und diese Stille schien mir noch schrecklicher, als der traurige Ton, der ihr voranging.

Nun eilten wir vorwärts, ohne ein Wort zu sagen, und ohne es zu wagen, uns unsere Besorgnisse mitzutheilen. Gegen Mitternacht kamen wir schweißbedeckt an der Küste im Quartier Goldstaub an. Die Wellen brachen sich mit entsetzlichem Getöse und bedeckten die Klippen und den Sand des Ufers mit schneeweißem, phosphorescirendem Schaum. Trotz der Finsterniß erkannten wir bei diesem phosphorischen Lichte die Fischernachen, die man schon vorher auf den Sand gezogen hatte.

In einiger Entfernung von da erblickten wir am Eingang des Waldes ein Feuer, um welches sich mehrere Einwohner der Insel versammelt hatten. Wir setzten uns zu ihnen, um den Tag zu erwarten. Einer derselben erzählte, er habe am Nachmittag ein Schiff in offener See gesehen, das durch die Strömung gegen die Insel getrieben worden sey; die Nacht habe es seinen Blicken entzogen, zwei Stunden nach Sonnenuntergang aber habe er Nothschüsse gehört; das Meer sey jedoch so aufgeregt gewesen, daß man kein Fahrzeug habe aussetzen können. Bald darauf habe er die angezündeten Schiffslaternen zu bemerken geglaubt, und in diesem Falle fürchte er, das Schiff sey dem Ufer zu nahe gekommen und laufe zwischen der Küste und der kleinen Insel Ambra, indem es diese vielleicht für den Richtkeil halte, neben welchem vorbei die Schiffe in Port-Louis einlaufen; wenn dieß sey, was er jedoch nicht gewiß behaupten könne, so schwebe das Schiff in der größten Gefahr. Ein anderer Bewohner ergriff das Wort und sagte, er habe den Kanal, der die Insel Ambra von der Küste trenne, schon mehrere Male befahren und sondirt; der Ankergrund sey sehr gut und das Schiff vollkommen sicher, wie im besten Hafen. »Ich wollte,« setzte er hinzu, »mein ganzes Vermögen auf dasselbe geben und so ruhig darauf schlafen, wie auf dem Lande.« Ein dritter Bewohner behauptete, das Schiff könne unmöglich in diesen Kanal kommen, welchen kaum Schaluppen zu passiren im Stande seyen. Er versicherte, er habe es bei der Insel Ambra Anker werfen sehen, so daß es, wenn sich der Morgenwind erhebe, leicht wieder in die offene See gehen und den Hafen gewinnen könne. Andere hatten noch andere Meinungen. Während sie sich nach Art müssiger Kreolen untereinander stritten, beobachteten Paul und ich ein tiefes Stillschweigen. Wir blieben hier, bis der Tag zu dämmern anfing; allein der Himmel war so bedeckt, daß man auf dem Meere, welches ebenfalls ganz mit Nebel umzogen war, nichts entdecken konnte. Nur in der Ferne unterschieden wir einen dunkeln Streif, von dem man uns sagte, es sey die Insel Ambra, die eine Viertelmeile von der Küste liegt. An diesem finstern Tage war nichts sichtbar, als die Ufer des Strandes, wo wir uns befanden, und die Bergspitzen im Innern der Insel, die von Zeit zu Zeit aus dem sie umhüllenden Wolkenkreise hervortraten.

Gegen sieben Uhr Morgens hörten wir durch den Wald her den Klang von Trommeln: es war der Gouverneur, Herr von Labourdonnais, der mit einer Abtheilung Soldaten, welche Flinten trugen, und einem großen Gefolge von Einwohnern und Schwarzen zu Pferde herbeikam. Er ließ sogleich die Soldaten an der Küste aufmarschiren und Feuer geben. Kaum war dieß geschehen, so bemerkten wir vom Meere her einen Blitz, dem der Knall augenblicklich folgte. Wir schlossen daraus, das Schiff müsse sehr nahe seyn, und rannten Alle der Seite zu, von der wir sein Signal gesehen hatten. Nun erblickten wir durch den Nebel den Körper und die Masten eines großen Schiffes. Es war so nahe bei uns, daß wir trotz des Getöses der Wogen die Pfeife des Hochbootsmanns, der die Arbeit commandirte, und das Geschrei der Matrosen hören konnten, welche dreimal: Es lebe der König! riefen; denn dieß ist das Losungswort der Franzosen in den größten Gefahren und bei den größten Freuden: gleich als ob sie in der Noth ihren Fürsten um Hülfe anrufen, oder ihm beweisen wollten, daß sie bereit seyen, für ihn zu sterben.

Der St. Geran hatte bemerkt, daß wir zur Unterstützung bereit standen, und feuerte nun fortwährend von drei Minuten zu drei Minuten eine Kanone ab. Herr von Labourdonnais ließ auf dem Sandufer von Distance zu Distance große Feuer anzünden und schickte zu allen Bewohnern der Nachbarschaft um Lebensmittel, Bretter, Seile und leere Tonnen. Bald kam eine große Menge Kolonisten, gefolgt von ihren Schwarzen, die das Verlangte brachten, aus den Wohnungen im Quartier Goldstaub, im Quartier Flaque und im Quartier des Flußdammes. Einer der Aeltesten näherte sich dem Gouverneur und sagte: »Gnädiger Herr, man hat die ganze Nacht ein dumpfes Getöse im Gebirge gehört. In den Wäldern bewegen sich die Blätter an den Bäumen, und doch geht kein Wind; die Seevögel flüchten sich an's Ufer; dieß Alles verkündet Sturm.« – »Je nun, meine Freunde,« antwortete der Gouverneur, »wir sind darauf gefaßt, ohne Zweifel ist es das Schiff auch.«

Es war wirklich so; Alles verkündete den nahen Ausbruch eines Orcans. Die Wolken, die im Zenith standen, waren in der Mitte schrecklich dunkel und kupferfarbig besäumt. Die Luft widerhallte vom Geschrei der Sturmvögel, der Fregatten, der Taucher und einer Menge anderer Seevögel, die trotz der Dunkelheit von allen Seiten herkamen, um im Innern der Insel Sicherheit zu suchen.

Vor neun Uhr Morgens hörte man vom Meere her ein schreckliches Getöse, wie wenn Ströme von Wasser donnernd sich von Felsen herabstürzen. Alles schrie: »Der Orcan naht!« und in demselben Augenblick zerriß ein schrecklicher Wirbelwind den Nebel, der die Insel Ambra und ihren Kanal bedeckte. Jetzt sahen wir den St. Geran mit seinem von Menschen angefüllten Verdeck, seinen Segeln und Maststangen, über denen die Flagge wehte. Vier Anker hielten ihn vorn und einer hinten. Er lag zwischen der Insel Ambra und der Küste jenseits der Felsenriffe, welche Isle-de-France umgeben, an einer Stelle, wo vor ihm noch nie ein Schiff gewesen war. Seine Vorderseite hatte er gegen die Wellen des offenen Meeres gerichtet, und bei jeder Woge, die sich im Kanal fing, hob sich der ganze Vordertheil in die Höhe, so daß man den Kiel in der Luft sehen konnte; bei derselben Bewegung aber tauchte der Hintertheil unter und verschwand bis zur Gallerie, wie wenn er untergesunken wäre. In dieser Lage, wo Wind und Wellen ihn dem Lande zutrieben, war es ihm eben so unmöglich, den Weg, aus dem er gekommen, zurück zu machen, als die Anker zu kappen und an dem Ufer vorbeizutreiben, von dem er durch eine Kette von Klippen getrennt war. Jede Woge, die sich an der Küste brach, drang donnernd in die Bucht und warf auf mehr als fünfzig Schritte Kieselsteine in's Land herein; wenn sie sich dann zurückzog, entblößte sie einen großen Theil des Meerbettes und rollte mit rauhem, furchtbarem Getöse die darin liegenden Steine mit sich fort. Das vom Sturm gepeitschte Meer hob sich mit jedem Augenblicke höher, und der ganze Kanal zwischen dieser Insel und der Insel Ambra war nur ein weites, mit weißem Schaum bedecktes Becken, von schwarzen und tiefen Wellen durchwühlt. Dieser Schaum sammelte sich in der Bucht mehr als sechs Fuß hoch, und der darüber herstreichende Wind jagte ihn mehr als eine halbe Meile weit über das steile Ufer weg in's Land hinein. Wenn man diese unzähligen weißen Fluten in horizontaler Richtung dem Fuß der Berge zutreiben sah, so konnte man glauben, es steige ein Schnee aus dem Meere heraus. Der Horizont zeigte alle Merkmale eines lang anhaltenden Sturmes; Meer und Himmel schienen in Eins zu zerfließen. Unaufhörlich bildeten sich Wolken von schauerlicher Gestalt, die mit der Schnelligkeit eines Vogels über uns wegzogen, während andere unbeweglich schienen, wie hohe Felsen. Am ganzen Firmament bemerkte man nicht eine einzige klare Stelle und nur ein grüngelber blasser Schein beleuchtete die Erde, das Meer und den Himmel.

Durch das Schwanken des Schiffes geschah, was man fürchtete. Die vordern Ankertaue rissen, und da es nur noch durch ein einziges gehalten wurde, so ward es auf die eine halbe Kabeltaulänge vom Ufer befindliche Klippe geworfen. Bei diesem Anblick hörte man unter den Zuschauern nur Einen Schrei des Entsetzens. Paul wollte sich in's Meer stürzen, allein ich hielt ihn am Arme zurück. »Mein Sohn,« sagte ich, »willst Du denn durchaus umkommen?« – »Ich muß ihr helfen,« rief er, »oder sterben!« Da die Verzweiflung ihn zu keinem Nachdenken kommen ließ, so banden Domingo und ich, um ihn retten zu können, ihm ein langes Seil um den Leib, dessen Ende wir festhielten. Auf diese Art strebte Paul dem St. Geran zu, indem er bald schwamm, bald über die Klippen kletterte. Manchmal hatte er Hoffnung, das Schiff zu erreichen, denn das Meer ließ es bei seinen unregelmäßigen Bewegungen hie und da ganz auf dem Trockenen, so daß man zu Fuß hätte hinkommen können; dann aber kam es bald mit neuer Wuth zurück und bedeckte das Schiff mit ungeheuern Wasserwogen, die den ganzen Vordertheil seines Kiels in die Höhe hoben und den unglücklichen Paul mit blutenden Beinen, zerstoßener Brust und halbtodt weit hinweg auf's Ufer zurück schleuderten. Aber kaum hatte der Jüngling wieder einige Kräfte gesammelt, so sprang er auf und eilte mit neuem Eifer dem Schiffe zu, das indessen von den fürchterlichen Stößen des Meeres zu bersten anfing. Die ganze Mannschaft verzweifelte an ihrer Rettung; sie stürzte sich in die Wellen und griff nach Stangen, Brettern. Hühnerkörben, Tischen und Tonnen. Jetzt zeigte sich ein Anblick, der ewigen Mitleids würdig ist. Ein junges Mädchen erschien auf der Gallerie vom Hintertheil des St. Geran und breitete ihre Arme Dem entgegen, der alle seine Kräfte anstrengte, um zu ihr zu gelangen. Es war Virginie. Sie hatte den Geliebten an seiner Unerschrockenheit erkannt. Der Anblick dieses liebenswürdigen Mädchens, das in solch entsetzlicher Gefahr schwebte, erfüllte uns Alle mit Schmerz und Verzweiflung. Virginie selbst zeigte eine edle sichere Haltung und winkte uns mit der Hand zu, wie wenn sie ein ewiges Lebewohl sagen wollte. Die Matrosen hatten sich Alle in's Meer gestürzt, und nur ein einziger war auf dem Verdecke geblieben. Er hatte seine Kleider abgeworfen und war nervig wie ein Herkules. Ehrerbietig näherte er sich Virginien: wir sahen, wie er sich zu ihren Füßen warf und sie zu überreden suchte, sich ebenfalls zu entkleiden; allein sie wies ihn mit Würde zurück und wandte die Augen von ihm ab. Die Zuschauer riefen Alle, so laut sie konnten: Rette sie, rette sie, verlaß sie nicht! Aber in demselben Augenblick fing sich ein Wasserberg von entsetzlicher Größe zwischen der Insel Ambra und der Küste, und wälzte sich brüllend dem Schiffe zu, das er mit seinen dunkeln Fluten und ihren schäumenden Spitzen bedrohte. Bei diesem fürchterlichen Anblick stürzte sich der Matrose allein in's Meer und Virginie, die den unvermeidlichen Tod vor sich sah, legte die eine Hand auf ihre Kleider, die andere auf's Herz, und indem sie heiter die Augen in die Höhe richtete, erschien sie ein Engel, der seinen Flug gen Himmel nimmt.

O der schreckliche Tag! ach! Alles, Alles verschlangen die Wellen. Jener Wasserberg hatte einen Theil der Zuschauer, die von menschlicher Rührung getrieben Virginien sich zu nähern versuchten, so wie auch den Matrosen, der sie schwimmend hatte retten wollen, weit auf den Strand zurückgeworfen. Letzterer war kaum dem beinahe gewissen Tode entronnen, als er sich im Sand des Ufers auf die Kniee warf und rief: »O Gott! du hast mir das Leben gerettet; ich hätte es gerne für dieses würdige Fräulein dahin gegeben, allein sie hat sich nicht entkleiden wollen, wie ich.« Domingo und ich zogen den unglücklichen Paul bewußtlos und aus Mund und Ohren blutend aus den Wellen. Der Gouverneur übergab ihn den Aerzten und wir suchten längs des Ufers hin, ob das Meer nicht Virginiens Leiche hertriebe: allein der Wind hatte sich, wie es bei Orcanen häufig vorkommt, schnell gedreht, und so hatten wir den Schmerz, auch die Hoffnung zu verlieren, dem unglücklichen Mädchen ein Grab bereiten zu können. Niedergedrückt von Kummer, entfernten wir uns von diesem Orte, und bei einem Schiffbruch, wo so viele Leute umgekommen waren, schienen Alle nur von diesem einzigen Verluste ergriffen zu seyn; ja, die Meisten zweifelten nach dem schrecklichen Ende dieses tugendhaften Mädchens an der Existenz einer Vorsehung, denn es gibt so fürchterliche und unverdiente Unfälle, daß selbst die Hoffnung des Weisen dadurch erschüttert wird.

Mittlerweile hatte man Paul, der wieder zu sich zu kommen anfing, in ein benachbartes Haus getragen, bis man Anstalten treffen konnte, ihn nach Hause zu bringen. Ich kehrte mit Domingo dahin zurück, um Virginiens Mutter und ihre Freundin auf diese unselige Kunde vorzubereiten. Als wir in's Thal des Latanflusses kamen, begegneten uns einige Schwarze, welche sagten, in der gegenüberliegenden Bucht werfe das Meer viele Schiffstrümmer aus. Wir eilten sogleich dahin, und beinahe das Erste, was wir am Ufer sahen, war Virginiens Leichnam. Sie war halb vom Sande bedeckt und noch in derselben Stellung, worin wir sie hatten umkommen sehen. Ihre Züge hatten sich nicht merklich verändert. Die Augen waren geschlossen, aber auf ihrer Stirne thronte immer noch Heiterkeit, nur auf ihren Wangen vermischten sich die blassen Veilchen des Todes mit den Rosen der Scham. Eine ihrer Hände hielt ihr Kleid, die andere war auf's Herz gedrückt, fest geschlossen und erstarrt. Mit Mühe zog ich eine kleine Medaille heraus, aber wie groß war meine Ueberraschung, als ich sah, daß es das Bild von Paul war, das sie bis zu ihrem letzten Athemzug zu bewahren ihm versprochen hatte! Bei diesem letzten Zeugniß von der Treue und Liebe dieses unglücklichen Mädchens weinte ich bitterlich. Domingo zerschlug sich die Brust und durchschnitt die Luft mit seinem Klagegeschrei.

Endlich trugen wir die Leiche in eine Fischerhütte und übergaben sie armen malabarischen Weibern, welche sie wuschen.

Während sie dieses traurige Geschäft verrichteten, wankten wir der Wohnung zu. Frau von Latour und Margarethe harrten betend auf Nachrichten von dem Schiff. Sobald Frau von Latour mich erblickte, rief sie: »Wo ist meine Tochter, meine geliebte Tochter, mein Kind?« Da sie bei meinem Schweigen und meinen Thränen nicht mehr an ihrem Unglück zweifeln konnte, wurde sie auf einmal von schmerzhaften, krampfhaften Beklemmungen befallen; man hörte sie nur noch seufzen und schluchzen. Margarethe schrie: »Wo ist mein Sohn? Ich sehe meinen Sohn nicht!« und fiel in Ohnmacht. Wir eilten ihr zu Hülfe, und als sie wieder zu sich kam, versicherte ich ihr, daß Paul lebe und der Gouverneur für ihn sorge.

So wie sie ihrer Sinne wieder mächtig war, beschäftigte sie sich mit ihrer Freundin, die von einer langen Ohnmacht in die andere fiel. So ging es die ganze Nacht hindurch, und aus der langen Dauer ihrer Ohnmachten ersah ich, daß kein Schmerz dem einer Mutter gleichen kann. Wenn sie wieder zu sich kam, wandte sie starr und düster die Blicke gen Himmel. Vergebens drückten ihre Freundin und ich ihre Hand, vergebens nannten wir sie mit den zärtlichsten Namen; sie schien unempfindlich gegen alle diese Zeugnisse unserer alten Anhänglichkeit und nur dann und wann rang sich ein schwerer Seufzer aus ihrer beklemmten Brust hervor.

Den andern Morgen brachte man Paul auf einem Tragbett. Er war wieder zur Besinnung gekommen, vermochte aber kein Wort zu sprechen. Seine Zusammenkunft mit seiner Mutter und Frau von Latour, vor der mir anfangs bange gewesen war, brachte eine bessere Wirkung hervor, als alle meine bisherigen Bemühungen. Ein Strahl von Trost zeigte sich auf den Gesichtern der beiden unglücklichen Mütter. Sie nahmen ihn in ihre Mitte, schlossen ihn in ihre Arme, küßten ihn, und ihre Thränen, die der unsägliche Schmerz bisher zurückgehalten hatte, vermischten sich bald mit den seinigen. Nachdem sich die Natur auf diese Art bei den drei Unglücklichen Luft gemacht hatte, folgte eine lange Erschlaffung auf den konvulsivischen Schmerz und verschaffte ihnen eine lethargische Ruhe, die wahrhaftig der Ruhe des Todes glich.

Mittlerweile war Virginiens Leiche auf Befehl des Gouverneurs in die Stadt gebracht worden, und Herr von Labourdonnais ließ mich heimlich benachrichtigen, er gedenke, sie bei der Kirche der Pompelmusen beisetzen zu lassen. Ich ging sogleich nach Port-Louis, wo ich Leute aus allen Theilen der Insel versammelt fand, um dem Begräbniß beizuwohnen, gleich als ob die Insel an ihr ihren kostbarsten Schatz verloren hätte. Die Schiffe im Hafen hatten ihre Segel in's Kreuz gelegt, ihre Flaggen aufgezogen, und lösten von Zeit zu Zeit in langen Zwischenräumen die Kanonen. Eine Abtheilung Grenadiere eröffnete den Zug. Sie trugen ihre Gewehre gesenkt, die mit langen Flören behangenen Trommeln wirbelten dumpf und traurig; Niedergeschlagenheit stand auf den Gesichtern dieser Krieger zu lesen, die so manchmal dem Schlachtentod ohne Scheu in's Auge gesehen hatten. Acht der vornehmsten jungen Mädchen von der Insel in weißen Kleidern und mit Palmen in den Händen trugen die mit Blumen bedeckte Hülle ihrer tugendhaften Gespielin. Ein Chor von Kindern folgte, fromme Gesänge singend. Hinter diesen kamen die angesehensten Bewohner der Insel, der Gouverneur, der Generalstab und eine Masse Volks.

Von all dem wußten die Mütter nichts; der Gouverneur hatte es so angeordnet, um der Tugend Virginiens einige Ehre zu erweisen. Als man aber an den Fuß dieses Berges kam, bei dem Anblick dieser Hütten, deren Glück sie so lange Zeit gewesen war, und die ihr Tod jetzt zum Schauplatz namenloser Verzweiflung machte, gerieth der ganze feierliche Zug in Unordnung: die Gesänge verstummten und nur ein lautes Schluchzen durchdrang das Thal. Aus den benachbarten Wohnungen liefen junge Mädchen schaarenweise herbei, um mit ihren Tüchern, Rosenkränzen und Blumen Virginiens Sarg zu berühren, die sie wie eine Heilige anriefen. Die Mütter beteten zu Gott um eine Tochter wie sie, die Jünglinge um eine so treue Geliebte, die Armen um eine so wohlwollende Freundin, und die Sklaven um eine so milde Herrin.

Als man am Orte des Begräbnisse angelangt war, stellten Negerinnen aus Madagascar und Kaffern von der Küste Mozambique Körbe mit Früchten um das offene Grab und behingen nach der Sitte ihres Landes die umstehenden Bäume mit Stücken von mancherlei Stoffen; Indianerinnen aus Bengalen und von der Küste Malabar brachten Käfige mit Vögeln, denen sie über ihrer Leiche die Freiheit schenkten: so ergreifend ist der Verlust einer liebenswürdigen Person für alle Nationen, und so groß ist die Macht unglücklicher Tugend, daß sie alle Religionen um ihr Grab vereinigt.

Ja, man mußte eine Wache an das Grab stellen, um einige Töchter armer Einwohner abzuhalten, die sich mit Gewalt hinabstürzen wollten, indem sie sagten, sie haben jetzt keinen Trost mehr auf der Welt zu hoffen, und es bleibe ihnen nichts übrig, als mit Derjenigen, die ihre einzige Wohltäterin gewesen, zu sterben.

Man beerdigte sie neben der Kirche der Pompelmusen auf der mitternächtlichen Seite derselben in einem kleinen Bambus-Gebüsch, wo sie, wenn sie mit ihrer Mutter und Margarethe zur Messe ging. so gern an der Seite Dessen ausgeruht hatte, den sie damals noch ihren Bruder nannte.

Auf dem Rückwege von dem Leichenzug kam Herr von Labourdonnais mit einem Theil seines zahlreichen Gefolges in die Hütte und bot der Frau von Latour und ihrer Freundin jede in seinen Kräften stehende Unterstützung an. Mit wenig Worten, aber voll Entrüstung, sprach er sich über die unnatürliche Tante aus; dann ging er auf Paul zu und suchte diesen zu trösten. »Gott ist mein Zeuge,« sagte er zu ihm, »daß ich nur Ihr und Ihrer Familie Glück wünschte. Sie müssen nach Frankreich gehen, mein Freund, und Dienste nehmen; ich will Ihnen dazu verhelfen. Für Ihre Mutter werde ich in Ihrer Abwesenheit sorgen wie für meine eigene.« So sprechend reichte er ihm die Hand, Paul aber zog die seinige zurück und wandte sich ab, um ihn nicht zu sehen.


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