Theodor Storm
Novellen
Theodor Storm

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Von heut und ehedem

Auf der Reise

Unser Freund, der kleine muntere Bahnhofsinspektor, ging neben mir auf dem Perron. »Besorgen Sie den Herrschaften einen guten Platz!« rief er mit einer seiner resoluten Handbewegungen; und der Schaffner, an den diese Worte gerichtet waren, schlug eine Tür des hintersten Wagens auf. »Hier« sagte er; »es schaukelt nur ein wenig.«

»Dafür«, erwiderte der Inspektor nicht ohne einen gewissen Nachdruck, »ist der Wagen hier aber auch der sicherste.«

»Der sicherste?« – Wer hatte an eine Unsicherheit gedacht! – Auch bei einer Eisenbahnfahrt gilt also die alte Geschichte: »Es ging ein Mann im Syrerland.« – Ich äußerte indessen nichts dergleichen; wir stiegen ein und saßen bald bequem genug. Wir, sage ich; denn auch unsere beiden Freundinnen ließen es darauf ankommen, in meiner Gesellschaft dritter Klasse zu fahren. Freilich, vor einer etwas vertraulichen Höflichkeit des Schaffners vermochte ich sie nicht ganz zu schützen, und ebensowenig vor einem kleinen impertinenten Blick, mit welchem sie von einem elegant gekleideten Backfisch bestrichen wurden, der an einer der nächsten Stationen mit einer laut redenden Badegesellschaft ein Coupe erster Klasse in Besitz nahm.

Ich mußte dabei eines Vorfalles gedenken, den mir vor Jahren eine dir sehr bekannte, edle Frau erzählte. – Die Familie, deren Glück und Stolz sie war, hatte, während die Dänen in unserer Heimat wirtschafteten, im mittleren Deutschland einen Unterschlupf gefunden. Die Einkünfte waren klein, die Kopfzahl groß; desungeachtet wurde Jahr um Jahr ein Besuch bei den zurückgebliebenen Eltern ermöglicht; nur freilich, bescheiden mußte gereist werden; aber sie entbehrte nich'ts dabei; denn, wie du weißt, ihr schönes sicheres Wesen bedurfte äußerer Stützen nicht. – Bei einer solchen Heimatsreise vermochte sie einst auf einem größeren Bahnhofe das verlassene Coupé nicht wiederzufinden, und irrte, nur von einer Magd begleitet, mit ihrer Kinderschar auf dem weiten Perron umher, als ein junger Offizier sich zu ihnen fand und mit gutmütiger Höflichkeit ihr seine Hülfe anbot. Sie nahm das dankend an; als sie jedoch bemerkte, daß er sein Augenmerk nur auf die zweite Wagenklasse richtete, wandte sie sich gegen ihren höflichen Begleiter und sagte: »Wir fahren dritter Klasse!«

Auf dieses Wort hin sah sie zu ihrem Erstaunen den jungen Mann spurlos und auf Nimmerwiederkehr im Gewühl verschwinden; und erst später kam es ihr zum Bewußtsein, daß es denn doch wohl gegen die Standesehre sein müsse, im Dienste einer Frau gesehen zu werden, welche dritter Klasse fuhr.

Sie hat mir lächelnd dies kleine Abenteuer erzählt; und du weißt es, wie schön und mild einst dieser Mund gelächelt hat.

Doch das sind nur Gefahren, die aus der ersten Wagenklasse kommen; und – halsgefährlich sind sie eben nicht. Der arme junge Offizier; was soll denn einer machen, der zufällig seine Persönlichkeit nicht in sich selber, sondern in der Regimentsrangliste stecken hat! – –

Am Nachmittage verließen mich meine beiden Damen, die ein anderes Reiseziel hatten; unverkennbar übrigens mit einer kindlichen Genugtuung über den gesparten blanken Taler, den sie durch den Sieg ihrer Demut im Knipptäschchen behalten hatten.

Es war kühl geworden; als der Zug weiterklapperte, vermummte ich mich in meinen Plaid und gab meinen Gedanken Audienz. Die Reisestimmung wollte noch nicht kommen. Weshalb hastet denn im Mittsommer alles von Hause fort? – Um Genesung für irgend ein Übel zu finden, das vielleicht eben dort sitzt, wo es am leichtesten zu tragen ist? – Ich fürchte, der arme Solitaire hat nicht unrecht mit seiner Warnung:

Drum sei nur still, trag jeden Kummer gerne;
Das Leiden, das dich quält, hält andre Leiden ferne!

Die schlimmsten aus dieser dunklen Genossenschaft, die kleinen schwarzen Dinger mit den Fledermausflügeln, die Sorgen, machen es doch wie unser heimischer Hausgeist, der treffliche Niß Puk; sie setzen sich hinter uns auf den Karren und rufen ganz vergnügt mit ihren schrillen Stimmchen: »Wir ziehen um!«

Es war heute gerad ein Wetter, in dem sie sich besonders lustig fühlen; denn es regnete; es klatschte oben auf die Wagendecke, wie zornig schlug es mitunter gegen die aufgezogenen Fenster; an den Scheiben rieselten einförmig die Tropfen und zeichneten kleine Ströme auf dem beschlagenen Glase.

Ja, das war das rechte Wetter; und schon hörte ich ihr emsiges Gesumme. Die von heute mochte ich selber unversehens mitgenommen haben; wie die anderen, die ich doch zu Hause lassen wollte, in den festverschlossenen Wagen kamen, weiß ich nicht. Aber sie kamen, eine nach der anderen; und nicht bloß die von morgen und übermorgen und vom nächsten Jahr; in ganzer Kette schwärmten sie aus; es war, als hätte die eine immer die andere herbeigerufen; ganz aus dem Nebel der Zukunft, vom Ende des Lebens kamen sie herangeflogen, und ich fühlte es jedesmal an einem Ruck an meinem Herzen, sowie eine neue zu mir heranflog und sich mit ihren Klammerzehen an mich anhing; zuletzt kamen sogar die von jenseit des Grabes. Auch die kamen; und es war etwas Fürchterliches dabei. Kleine süße Kindergesichter, mir die trautesten auf der Welt, drangen lächelnd auf mich ein, und auch der Sonnenschein war da, den ich immer um ihre Häupter sehe; aber unmerklich verwandelten sie sich; bleich, mit kranken Augen, wie um Hülfe flehend und ohne Sonnenschein sahen sie mich an; dann verschwand alles, und ich sah nur eine Menge blutdürstiger Augen, die aus der Finsternis auf mich zublitzten. Nun wußte ich es, das waren die von jenseit des Grabes, die furchtbaren, vor. denen kein Entrinnen ist; und ich würde vielleicht zum Erstaunen meiner Reisegenossen einen lauten Schrei ausgestoßen haben, wenn von dem Verwesungsdunste, den sie mit sich führten, mir nicht die Kehle wie zugeschnürt gewesen wäre.

Da tat es in den Spuk hinein plötzlich einen gellenden Pfiff, der unleugbar aus der Welt von heute kam; und nicht lange, so scholl die tröstliche Menschenstimme des Wagenmeisters : »Hamburg! Station Klostertor! Alles aussteigen!« Ich schüttelte mich, griff nach Schirm und Reisegepäck und stolpert auf den Perron hinaus.

Es war inzwischen dunkel geworden, und der Regen strich noch immer ebenmäßig vom Himmel herab. Aber der Vetter war zur Stelle, und am Arme eines Mannes, der allzeit erster Klasse fährt, fühlte ich den Boden noch um eins so fest unter meinen Füßen. Leider hatte er bei solchem Wetter seinen Einspänner zu Haus gelassen; die Droschken waren alle schon vergriffen; auf der Pferdeeisenbahn trabte es wohl vorüber, aber drinnen war alles besetzt. So marschierten wir denn unter unseren Schirmen noch eine halbe Stunde, bald durch ein Wirrnis überschwemmter Straßen, bald auf durchweichten Kieswegen unter tropfenden Alleen, bis endlich ein hell erleuchtetes Zimmer und bekannte freundliche Gesichter dem heutigen Reisetage ein Ziel setzten.

Aber mitten im heitersten Plaudern überfiel's mich wieder; denn ich hatte einen Schatten an den Wänden huschen sehen. Er kam wohl nur von einer Amaryllisblüte, die neben mir aus einem Blumenkorb ragte und jetzt von einem Zugwind hin und her bewegt wurde. Ich bemerkte das sofort; als ich aber durch die offenstehende Stubentür auch die Haustür offen sah, sprang ich hastig auf und schloß dieselbe zu.

»Was fällt dir ein?« rief die junge muntere Base; du weißt, der alte Musikmeister nannte sie einst so allerliebst »das Rotkehlchen«.

»Was mir einfällt?«

»Ja, dir! – Hast du Angst vor Fledermäusen?«

Ich starrte sie an. »Vor Fledermäusen? – Nein, so eigentlich nicht; ich hoffe auch, sie fliegen nicht in diesem Schlackerwetter; aber ich hatte eine Gesellschaft unterwegs; ich möchte lieber, daß sie draußen bliebe.«

»Du! – Was sprichst du komisch!« sagte das Rotkehlchen, und sah mich lustig mit ihren hellen Augen an. »Dahinter steckt eine prachtvolle Geschichte; nimm dein Glas, setz dich in die Sofaecke und erzähle!«

»Ja«, stimmte nun auch der Onkel bei, indem er bedächtig einen Zug aus seiner langen Pfeife tat; »erzähle; du weißt doch, daß sich das nicht schickt, solch unverständliches Zeug vor andern Leuten reden.«

Der Onkel sah mich schelmisch an; aber ich erzählte die »prachtvolle Geschichte« nicht.

In Urgroßvaters Hause

Ja, es war eine Trompete, nur eine; und es war ein Choral der von ihr geblasen wurde! – Ich sprang aus dem Bette und weckte den neben mir schlafenden Vetter, und wir stellten fest daß in dem dritten Nachbarhause links geblasen wurde.

Bald hatten wir uns angekleidet, und saßen unten im Familienzimmer am Kaffeetisch; und die Trompete blies noch immerfort; wenn der Choral aus war, wurde sogleich mit einem neuen weitergeblasen; und so blies die eine Trompete zwei Stunden lang Choräle. Dann wurde sie vermutlich durch ein Glas Wein erfrischt; denn die Musik schwieg, und bald darauf – wir waren alle in die Veranda getreten – sahen wir den Bläser aus dem Hause kommen; er hatte seine Trompete in ein schwarzes Tuch gewickelt; aber das blanke Mundstück, das daraus hervorsah, verriet ihn. – Dann fuhr eine Kutsche vor; von einer Bonne wurde ein festlich weißgekleidetes Wickelkind herausgetragen, dem ein geistlich aussehender Herr mit weißer Halsbinde folgte. Das alles, von einer kleinen behaglichen Matrone an den Droschkenschlag bekomplimentiert, stieg ein und fuhr davon.

Diese Sache ist mir höchst verdächtig. Was mag das Wickelkind zu der furchtbaren Musik gedacht haben? – Am Ende hat es gar nichts dazu denken sollen! Denn wir wohnen hier im Quartier der Frommen; wie der Berliner Pastor zu unserer Freundin Rosa sagte, als er in einer Abendgesellschaft beim Ragout fin an ihrer Seite saß: »Und wo wohnen Sie denn, mein wertes Fräulein?« – »Ich? Ich wohne in der Matthäikirchstraße.« – »In der Matthäikirchstraße! Ei, das ist ja eine liebe Gegend, eine herrliche Gegend! Eine liebe Seele bei der andern! Und die Glo-cken, sie lo-cken!«

– – Es ist mir in diesem Augenblick eine seltsame Erquickung, daß ich aus dem Fenster, an welchem ich dieses schreibe, den Blick auf die Hamburger Abdeckerei habe, die drüben mit ihrem braunroten Ziegeldach aus grünen Bäumen hervorschaut. – –

Als wir uns, nicht ohne Anstrengung, von der Trompete erholt hatten, und wieder – denn es war am Sonntagmorgen – ruhig um den runden Tisch saßen, kündigte ich meine mitgebrachte Rarität an.

»Hm!« machte der Onkel und rauchte erst ein paar Gedankenstriche in die Luft, »das wird wohl wieder so etwas vom poetischen Tandelmarkt sein, wofür wir hier keinen Absatz haben.«

Ich aber ließ mich das nicht anfechten, sondern legte meinen kleinen Pergamentband auf den Tisch.

– »Nun, das sieht denn doch wenigstens solide aus.«

Und während Tante Friede die Augenbrauen in die Höhe zog und über die Brillengläser weg zu mir herüberblickte, schlug ich das Büchlein auf und las: »Regeln der vereinigten freundschaftlichen Gesellschaft, samt eigenhändiger Einschrift derselben Mitgliedere Namen.« – Du weißt, es sind darin nicht nur die Namen, sondern auch die Schattenbilder der alten Herren, samt deren voraussetzlich nicht minder wohlgetroffenen Haarbeuteln und Zopffrisuren.

Nun ging das Buch von Hand zu Hand; die Groß- und Urgroßväter und -onkel wurden aufgesucht und gefunden und mit kleinen über dem Sofa hängenden Miniaturbildchen zusammengehalten; zuletzt verglichen wir noch unsere eigenen lebendigen Familiennasen mit den Nasen der armen Silhouetten.

Schatten von Schatten! – Über ein halbes Jahrhundert bestand diese freundschaftliche Gesellschaft; aber endlich mußte doch auch sie sterben, wie sie so viele ihrer Mitglieder hatte sterben sehen, trotz ihrer fürtrefflichen Gesetze: Paragraph 5, daß kein Rangstreit Platz haben solle, so wenig, als ein unerlaubter handgreiflicher Spaß, bei Vermeidung von 2 Schilling Lübisch Straffe; Paragraph 6, daß derjenige, so übermäßig und vorsätzlich fluchet, für jeden Fluch bezahlen solle 1 Schilling; und Paragraph 7 – der weiseste von allen –, daß die Gesellschaft jedesmal nicht länger als höchstens bis eilf Uhr abends beisammen bleibe, und zwar für jeden bei Strafe von 1 Mark. –

»Ist mir doch mitunter«, sagte ich, »als wäre ich selbst einmal dabei gewesen!«

»Oho!« rief der Onkel; und das Rotkehlchen warf die Lippen auf und sah ganz spöttisch nach mir hin.

»Nein, nein; ich meine nicht zur Zeit der Gründung Anno 1747 –«

»Nun, das wollte ich doch auch nur sagen!« unterbrach mich die Tante und lachte ganz befriedigt.

»Nein, Tante Friede; nicht Anno 1747, wo noch beliebet war, daß kein Kaffee und beim Weggehen kein hitziges Getränke außer Wein gereicht werden solle; vielmehr ist mir, als sei es an einem heiteren Julitage in den achtziger Jahren gewesen, wo allerdings noch der Großvater ein Bräutigam war; und zwar im Hause des Urgroßvaters großmutter-mütterlicherseits. Hier ist das Schattenbild dieses kleinen behaglichen Mannes, der leider schon lange vor meiner Geburt sein darunter stehendes ,Obiit' erhalten hat!«

Damals aber war auch ein Tag! – Das Haus mit der Sandsteinvase auf dem spitzen Giebel, welches zu Pfingsten seinen frischen, sandgrauen Ölanstrich erhalten hatte, schaute aus den blankpolierten Fenstern wie die lachende Gegenwart auf die Schiffe des gegenüberliegenden Hafens, deren Wimpel regungslos an den heißen Masten hingen. Auch drinnen der weiß getünchte, durch zwei Stockwerke hinaufreichende Flur des Hauses war voll von Sonnenschein, der durch die beiden übereinanderliegenden Fenster freien Eingang hatte. Aber alles war still und feierlich. Der Riesenschrank, welcher, die Leinenschätze des Hauses enthaltend, über die Hälfte der einen Wand einnahm, war augenscheinlich frisch gebohnt, die krausen Messingbeschläge blitzten; stattlich erhoben sich auf seiner Bekrönung die großen blau und weiß glasierten Vasen. Aus der offenstehenden Tür des schmalen Wohnzimmers zogen Blumendüfte auf den Flur hinaus; denn drinnen im Ausbaufenster blühten Reseden und die Blume der alten Zeit, die düftereiche Volkameria.

Und jetzt erscholl ein Schritt vom Hinterhause her; begleitet von seinem Mops Fidel, der pflichtgemäß hinterherwatschelte, erschien der Urgroßvater, ein wackerer Fünfziger, zierlich bezopft, im schokoladefarbnen Rock; und nicht von ungefähr spielten seine Finger mit der emaillierten Festtagsdose: er erwartete »die vereinigte freundschaftliche Gesellschaft«! – Da schlug es draußen drei vom Turm der alten Marienkirche – sie ist jetzt längst schon abgebrochen – und der Urgroßvater zog seine goldene Uhr hervor, schälte sie aus zwei Gehäusen und stellte dann die Weiser nach der Kirchenuhr; denn ihm als Wirt lag heut die Sorge für die Beobachtung der Gesellschaftsregeln ob; und wer allererst nicht vor einem Viertel nach drei Uhr erschien, der mußte Strafe zahlen. Und fast wünschte der gutherzige Mann, die Uhren der übrigen Mitglieder möchten heut nicht allzu richtig gehen; war er für dieses Jahr doch auch der Rechnungsführer der Gesellschaft und hatte für seine Kasse zu streben, die statutengemäß um Weihnachten unter geheim Bedürftige verteilt werden sollte! Mit ein paar lebhaften Schritten trat er in das Wohnzimmer und griff nach der blechernen Büchse, die dort hinter dem Vorhängsei des nach der Außendiele liegenden Guckfensters stand. Er wog sie in der Hand; sie war schon recht gewichtig; aber auch der armen Leute waren ja so viele! Und hastig, damit von den Gästen ihn niemand über diesem heimlichen Tun ertappe, nahm er eine Anzahl kleiner Münzen aus seiner Börse und ließ sie in den Spalt der Büchse fallen.

Und wüßten wir, wo jemand traurig läge,
Wir brächten ihm den Wein!

Unwillkürlich summte er das Lied seines lieben Wandsbecker Boten, welches die Gesellschaft am Abend der Weihnachtsverteilung bei einem Gläschen echten Rüdesheimer anzustimmen pflegte. Singend war er ans Fenster getreten, und im Nacken schlug der Zopf bescheidentlich den Takt dazu; vergnüglich blickte er durch die Blumen über die sonnige Straße nach dem Hafen hinab, wo eben eine Menge größerer und kleinerer Tonnen in ein Helgolander Schiff verladen wurden. Der Urgroßvater schmunzelte; sie enthielten freilich nicht jenen »Labewein« vom Rhein, wohl aber das berühmte Gutbier aus seiner eigenen Brauerei, das derzeit weit und breit versandt wurde.

Jetzt aber rief das plötzliche Schellen der Türglocke ihn wieder nach dem Hausflur, wo ihm zu seinem Erstaunen ein friesländischer Seemann in Jacke und Hose vom gröbsten blauen Wollenzeug, mit kurzgeschorenem Haar und einer Pelzmütze auf dem Kopf, entgegentrat. Der Urgroßvater schaute etwas unsicher auf die unerwartete Erscheinung; als ihm aber sogleich unter lebhaften Gestikulationen eine Begrüßung, aus wenigstens vier lebenden Sprachen zusammengemischt, entgegensprudelte, da wußte er freilich, daß er es mit einem Mitgliede der »freundschaftlichen Gesellschaft« zu tun habe, mit seinem trefflichen Hausarzte, dem vielberufenen holländischen Doktor, der gleich vielen anderen »Patrioten« nach der Wiedereinsetzung der Prinzessin von Oranien seine Heimat verlassen und in unserer guten Stadt sich rasch zum Modearzt emporgeschwungen hatte. Lachend schüttelte er ihm jetzt die Hände.

»Alle Tausend, Doktor! Was habt Ihr da nur wieder ausgeheckt!«

Der Doktor aber tat gar nicht, als ob was Auffälliges an ihm zu sehen sei. Hatte er doch kurz zuvor in blausamtner Husarenuniform, mit Säbel und goldbequasteten Stiefeln, und ein andermal im schwarzseidenen Kostüm eines französischen Abbe dem Publikum der kleinen Stadt mit Glück zu imponieren gewußt. – So ließ denn auch der Urgroßvater es bei seiner einmaligen Verwunderung bewenden und verschwand mit seinem, übrigens grundgelehrten Gaste in dem Hinterhause, wo im oberen Stockwerk der Gesellschaftssaal belegen war.

– Von droben, durch das über der Tür des Wohnzimmers befindliche Kammerfenster, hatten zwei blaue Mädchenaugen aus einem blonden, leicht gepuderten Köpfchen neubegierig und lachend auf den Flur hinabgeblickt. Es war das Haustöchterchen, meine Großmutter, die dort noch bei ihrer Toilette säumte. Sie hatte keine Eile; denn auf den liebsten Gast, den Großvater, dem sie, sobald die Astern blühten, ihre Hand am Altare reichen sollte, hatte sie heute nicht zu hoffen, da ihn Geschäfte in der benachbarten Handelsstadt zurückhielten. Aber wußte sie ihn doch auch dort bei guten Freunden wohlbehalten!

Wieder schellte es unten; und eine breite untersetzte Gestalt mit fleischigen, stark geröteten Wangen, in Zopfperücke und leberfarbenem Rock, schob sich zur Tür hinein. Es war der Herr Zoll- und Schloßverwalter; er stützte sich auf sein langes Rohr und pustete mächtig, während er mit dem Schnupftuch den Schweiß sich von der Stirn trocknete. – Das Großmütterchen lächelte: der Mann hatte einen so seltsamen Beinamen – der »Ballenfräter« hieß er – sie hatte als Kind ihn selbst einmal danach gefragt.

Und wieder läutete die Türglocke. Eine stattlichere Erscheinung, ihr Großonkel, der alte Herr Ober- und Landgerichtsadvokat, war eingetreten, der allein von allen Mitgliedern noch die große Lockenperücke auf seinem schönen, ausdrucksvollen Haupte trug. Das Großmütterchen liebte ihn sehr, diesen Helfer der Bedrängten; und fast hätte sie ihn angerufen. Aber eben legte er lächelnd seine Hand auf die Schulter des kleinen Schloß Verwalters, und beide schritten nun dem Hinterhause zu.

Droben am Fenster war der hübsche Mädchenkopf verschwunden; die Inhaberin desselben hatte sich in die Tiefe der Kammer zurückgezogen. Sie saß mit aufgestütztem Arm vor ihrem Toilettentischchen und blätterte in einem winzigen pergamentnen Goldschnittbändchen, das ihr vor kurzem der Bräutigam gebracht hatte. Es war der mit Höltys Bildnis geschmückte Jahrgang des Vossischen Musenalmanachs. – Wie ernst und früh gealtert erschien ihr das Antlitz des so jung verblichenen Dichters; und welche Friedhofsstille war in seinen Liedern! – Doch jetzt geriet sie in die vielgerühmte Ballade Friedrich Stolbergs: »Hört ihr lieben deutschen Frauen, die ihr in der Blüte seid!« – Zu grausam war es doch, und ihr junger Busen wallte von Mitgefühl, daß die treulose Ritterfrau so Tag für Tag aus dem Schädel ihres getöteten Buhlen trinken mußte! Aber – ja so! – sie wurde doch, dem Himmel Dank, von ihrem beleidigten Eheherrn noch zur rechten Zeit zu Gnaden wieder angenommen! – Dem Großmütterchen fiel es im Traum nicht ein, daß auch sie selber zu den deutschen Frauen gehöre, denen der ungalante Dichter diesen Schädel zum Exempel aufgestellt hatte; sie wäre arg erschrocken, hätte ihr jemand das gesagt. Es ging sehr schön zu lesen; aber es war ja doch nur eine Geschichte, weitab von ihr und ihrer Welt! – Dagegen ein paar Seiten weiter, wo der lila Seidenfaden eingelegt war: »Blühe, liebes Veilchen«, das kleine süße Lied von Overbeck, das sie schon selbst an ihrem grünlackierten Klavier gesungen hatte; das freilich, das war wie nebenan im Nachbargärtchen nur gewachsen! –

Oftmals hatte indessen unten im Hausflur die Türschwelle geläutet; immer neue Gäste waren eingetreten, geistliche und weltliche, gelehrte und ungelehrte, Träger von Namen, die durch viele Geschlechter an der Spitze des städtischen Lebens gestanden hatten, und welche jetzt die neue rasch lebende Zeit spurlos hinweggefegt hat.

Und nun knarrte auch oben die Kammertür; ein kleiner Schritt klapperte die Treppe herab, und da stand es unten auf dem Flur, das Großmütterchen; eine zierliche Gestalt, hausmütterlich ein weißes Schürzchen vorgebunden, das Brusttuch mit einer Rosenknospe zugesteckt. – Schon trat sie auf die Falltür des Kellers, welche den Auftritt zum geräumigen Pesel bildete; da schellte es noch einmal, und zugleich auch hörte sie von dorther ihren Namen rufen.

Ein alter Herr in dunkler Kleidung, mit feinem weißen Jabot, war eingetreten; der Vater ihres Bräutigams, ein hochangesehener Kaufherr und Ratsverwandter dieser Stadt. Wenn unter den starken Brauen nicht die schönen blauen Augen gewesen wären, der strenge Mund hätte leicht ein junges Wesen zurückschrecken können; aber sie wußte wohl, daß sie sein Liebling war; und schon hing sie an dem Arm des alten Mannes.

»Nicht wahr, Papa, Sie haben mir etwas mitgebracht?«

Er zog schweigend die goldene Tabatiere aus der Schoßtasche seiner Weste und bot ihr eine Prise.

»Aber, fi donc, Papa! Sie wissen besser, was ich meine!«

Der alte Herr lächelte. »Seit wann ist deine Französin entlassen, Tochter? Du hast dein vocabulaire noch nicht vergessen.«

– »Papa, Sie dürfen mich nicht necken!«

»Aber du, eines Kaufherrn Braut; und weißt noch nicht, daß heut kein Posttag ist!«

– »Ach!«

»Nun, Geduld nur, Töchterchen, und Köpfchen in die Höh! Wer weiß, was mit Gelegenheit geschehen kann! Unser Herr Stadtsekretär soll ja heut noch von der Reise kommen.« – Und er streichelte die Wange seines Lieblings.

Da schlug draußen vom Turme die Viertelsglocke.

»Papa, machen Sie rasch; sonst setzt es Strafe!«

Der alte Herr aber hielt sein Schwiegertöchterchen an der Hand zurück. »Laß nur, mein Kind; wir wollen doch deinem Papa sein Späßchen nicht verderben.«

Langsam durchschritten sie den düsteren, mit Fliesen ausgelegten Pesel, dessen hohe Fenster nach einer engen sonnenlosen Twiete hinauslagen; einem so alten Gäßchen, daß nach der Chronik ein dort einstmals verübter Mord noch durch die Mannbuße war gesühnt worden; dann traten sie durch eine Flügeltür in den Flur des Hinterhauses. Schon ehe sie hier die Treppe hinaufstiegen, hörten sie von droben den lebhaften Diskurs der versammelten Gesellschaft. Oben angekommen aber, ließ das hübsche Kind den Herrn Schwiegerpapa allein in den Saal gehen; sie selbst, während von dort neben dem Scharren der Kratzfüße auch das Rasseln der unerbittlichen Blechbüchse erscholl, trat gegenüber in die offene Tür der Geschirrkammer, wo sie auf einem der Binsenstühle ein verwachsenes Männlein in zeisiggrünem Rocke hatte hucken sehen. Jetzt sprang es mit devotem Bückling auf, schüttelte sein dürftiges Zöpflein und fuhr dabei mit den langen Fingern säubernd über seine breiten Ärmelaufschläge.

»Mach Er nur keine Umstände, Meister«, sagte das Großmütterchen; »ich wollte mich nur nach Seiner kleinen Stina bei Ihm erkundigen.«

Und während das Männlein ihr ein Breites über sein kümmerlich Würmchen vorklagte, hatte sie, wehleidig wie sie war, sich abgewandt, indem sie eifrig in ihrem Täschchen suchte.

Und bald zog auch der Meister ein mageres Lederbeutlein hervor und schob zwei blanke Silbermünzen zu der darin befindlichen kupfernen Gesellschaft. Dabei hatte er ein feines Scherchen auf den Tisch gelegt; denn er betrieb außer seiner Flickschneiderei auch noch eine höhere Kunst; er war ein beliebter Silhouetteur und auf heute bestellt, um den kleinen Stadtwagemeister, ein neues Mitglied, für das Buch der Gesellschaftsregeln auszuschneiden. Das gute Meisterlein wollte durchaus zum Beweise seiner Dankbarkeit auch die Silhouette der liebwertesten Demoiselle anfertigen; und wirklich ist sie später von seiner Hand als einziges Damen-Konterfei unter die Mitglieder der freundschaftlichen Gesellschaft aufgenommen; für jetzt aber entschlüpfte ihm das Großmütterchen und trat gegenüber zu den Gästen in den Saal.

Es war ein besonders tiefes, geräumiges Gemach; die Decke mit schwerer Stukkatur verziert, die weißen Wände mit Kupferstichen in den verschiedensten Manieren und einzelnen Pastellbildern fast bedeckt. – Der kunstliebende Hauswirt hatte sich soeben den hagern Propsten eingefangen und demonstrierte mit ihm vor dem neuerworbenen Chodowiecki: »Zieten sitzend vor seinem Könige.« Daneben unter Berghemschen Landschaften sah man zwei schöne Stiche nach Guercino: »Abram ancillam Agar dimittit« und »Esther coram Asuero supplex«. Unweit davon, in Rotstiftmanier, hing ein Blatt, dem gewiß keine gefühlvolle Seele vorbeiging, die je bei Millers berühmten Siegwart Trost in Tränen gefunden hatte. Von zwei grimmig blickenden Mönchen wird eine in spanischer Männertracht entflohene Nonne in ihr Kloster zurückgeführt; die in zierlichen Schleifenschuhen steckenden Füßchen schreiten wie in Todesangst; entsetzt unter dem breiten Federhut blicken die Augen aus dem Bilde heraus. – »Und nun soll sie lebendig eingemauert werden!« So hatte oft das Großmütterchen ihren Freundinnen das Bild erklärt. »Seht nur, dort wird schon an dem Glockenstrang geläutet!« – Doch was hier erregt wurde, war nur das Grauen vor den Menschen. Dort neben dem Ofen aber, wohin bei Tagesabschied zuerst die Schatten fielen, befand sich ein kleineres Bild, dem selbst die heiteren Augen des Großmütterchens nicht gern begegneten, wenn sie um solche Zeit allein das abgelegene Festgemach betreten mußte. Die jugendliche Frauengestalt in der düsteren Kammer schien wie unbewußt vom Schlafe auf das Ruhebett hingeworfen; der Kopf mit dem zurückfallenden Haar hängt tief herab. Auf ihrer Brust huckt der Nachtmahr mit großen, rauhen Fledermausflügeln. Sie vermag kein Glied zu rühren; vielleicht geht ein Stöhnen aus ihrem geöffneten Munde; hülflos in der Einsamkeit der Nacht ist sie ihm preisgegeben. Nur durch den Vorhang sieht der wildblickende Kopf eines Rappen, der ihn hieher hat tragen müssen, der selbst nicht von der Stelle kann. – Zwar dem Großmütterchen war dergleichen niemals widerfahren; aber des Bräutigams Schwester hatte erzählt, wie einmal von ihrem Nachttisch solch Unwesen im Traum ihr auf die Brust gesprungen sei; und auch von den Brauknechten hatte sie gehört, daß mitunter der Nachtmahr die Pferde auf den Weiden reite, wo es denn tausend Not mache, die verfilzte Mähne wieder aufzulösen, in welcher er beim Ritt sich mit den Krallen festgehalten. Jedenfalls, die Sache hatte ihren Haken!

Doch heute war Gesellschaft und fröhliches Leben in dem großen Saale; und der Nachtmahr hing ganz unbeachtet in seiner Ofenecke. Die beiden Fenster zwar gingen, wie unten die des Pesels, auf die enge Twiete; aber es war trotzdem nicht unfreundlich hier; ein Sonnenstreifchen, das durch die höchste Eckscheibe des einen Fensters hereinglänzte, erinnerte an den Sommertag da draußen und ließ hier innen die Kühle doppelt labend empfinden.

In der Tiefe des Zimmers war der Kaffeetisch serviert. Daneben stand die Urgroßmutter, eine noch immer hübsche Frau, deren feiner Kopf jedoch heute einen fast zu hohen Bau aus Spitzen und Gaze zu tragen hatte. Ihre eine Hand ruhte auf dem Griff der Porzellankanne, aus der sie schon die runden Täßchen vollgeschenkt hatte, mit der anderen drohte sie, nicht gerade gar zu ernsthaft, dem eben eingetretenen Töchterchen.

Ein überfliegendes Rot machte ein paar Sekunden lang die jungen Augen dunkeln. »Verzeihen Sie, Mama!« Dann nahm sie geschickt das große Präsentierbrett, auf dessen schwarzlackierter Fläche sich ein Muster von kleinen Rosenbouquets zeigte, und bot mit wohlgeschultem Knicks einem jeden Gast sein Schälchen dar, wobei sie auf die zierlichen Scherze der älteren Herren über das nun bald erwünschte Ende ihrer Brautschaft eine noch zierlichere Erwiderung nicht schuldig blieb.

Und alsbald, unter den belebenden Duftwolken des javanischen Trankes, erscholl das gesellige Klirren der Tassen und Löffelchen; wäre ein Kanarienvogel hier gewesen, er hätte jetzt unfehlbar seinen Sang erschallen lassen. Selbst der Herr Zoll- und Schloßverwalter erhob sich von dem Toccadilletische, an dem er, den Würfelbecher in der Hand, bis jetzt sich ausgeruht hatte. Das derzeitige Thema des Stadtgesprächs kam aufs Tapet. Stimmen waren laut geworden, welche die Baufälligkeit des hohen Kirchturmes behaupteten, ja den Abbruch der ganzen Kirche forderten, und schon zirkulierte der erste Spottreim, gleichsam die Überschrift zu den vielen anderen, womit nachmals die kleine Stadt ihr eignes Tun verhöhnte, als sie mit unsäglicher Mühe ihr ältestes Baudenkmal zerstörte.

De Tönninger Torn ist hoch un spitz;
De Husumer Herrn hemm Verstand in de Mutz!

Wo kam das her? Wer hatte es gemacht? Niemand wußte es. Aber es traf; ein lebhaftes Für und Wider erhob sich und wogte durch den Saal.

Inzwischen war, fast ungesehen, noch ein letzter Gast eingetreten, nach welchem unter Herzklopfen und – es ist nicht zu verschweigen – ganz unbekümmert um den alten Kirchturm, schon längst zwei junge Augen ausgeblickt hatten. Zierlich, wie immer obgleich eben von der Reise kommend, begrüßte der galante Herr Stadtsekretär die versammelte Gesellschaft. Zum Leidwesen des Hauswirts war seine Verspätung schon im voraus entschuldigt worden; und jetzt nahte er sich mit höflicher Verbeugung der Tochter des Hauses, die eben allein am Kaffeetische stand.

»Mamsell Lenchen!« flüsterte er und legte leise etwas vor ihr auf die Damastserviette; »ein Billetdoux vom Herzallerliebsten'; alles wohl und munter!« – Und als sie glücklich lächelnd aufblickte, sah sie die dunklen Augen ihres Schwiegervaters auf sich gerichtet. Ihr freundlich zunickend, hielt er einen Brief empor, den auch er soeben durch den gefälligen Reisenden erhalten hatte. Aber sie schüttelte den Kopf: »Ich tausche nicht, Papa!« Und sorgsam barg sie ihren Brief unter der Rose ihres Brusttuchs.

– – »Ei der Tausend! Der grüne Schneider draußen wäre ja fast vergessen!« Der Hauswirt rief es, und sofort auch holte er ihn herein; und bald saß der Stadtwagemeister mitten im Zimmer auf einem Stuhl, daneben auf einem anderen der grüne Künstler, mit Eifer an seinem Werke arbeitend. Es wollte indessen nicht wie sonst gelingen; schon zum zweiten Male wurde ein frisches Papierblättchen hervorgezogen.

»Aber Herr Wagemeister!« rief der Hauswirt, der teilnehmenden Blicks der kleinen Schere folgte, »Sie bekommen eine doppelte Nase, wenn Sie nicht ruhig sitzen!«

»Freilich, freilich! Bitte submissest!« akkompagnierte der arme Künstler, indem er unruhig die Beine unter seinem Stuhle kreuzte.

Der Herr Wagemeister räusperte sich verlegen; er hatte gegen den bösen Fluß eine getrocknete Kröte auf der Brust sitzen, die plötzlich an zu rutschen fing.

»Nur Contenance, Meister!« rief der Hauswirt. »Herr Stadtsecretarius! Ei, helfen Sie mir doch, hier unseren Freund ein wenig festzuhalten!«

Der Herr Stadtwagemeister protestierte lebhaft und wollte solches Beginnen als einen »unerlaubten handgreiflichen Spaß« und als den Regeln der freundschaftlichen Gesellschaft ganz zuwiderlaufend angesehen wissen. Aber der muntere Hauswirt berief sich auf den Entscheid der Gesellschaft, und als diese die Sache außer allem Spaß, ja es sogar für die ernsteste Pflicht eines jeden Mitgliedes erklärte, ein naturgetreues Konterfei in das Buch der Gesellschaftsregeln zu liefern, da biß der kleine Wagemeister die Zähne zusammen, hielt sich baumstill und ließ die Kröte rutschen. Saßen doch die Knieschnallen fest genug, daß sie nicht etwa dort zum Vorschein kommen konnte! – Das freilich wäre fürchterlich gewesen; denn ihm gegenüber, sein Kaffeeschälchen in der Hand, die Pelzmütze noch immer wie festgenagelt auf dem Kopfe, saß der holländische Doktor, ein Mensch ohne alle Egards und Lebensart. – Freilich war es um mehrere Jahre später, als er bei Gelegenheit der jährlichen Schulreden im gefüllten Rathaussaale das Katheder beschritt, im Leidner Rednerkostüm, in Frack und Schuhen, mit dem Degen an der Seite und dreieckigem Hute auf dem Kopf, um, wie er sich unhöflicherweise ausdrückte, »den dummen Tieren« in puncto der Jennerschen Vaccine einige Wahrheiten einzuimpfen. Soviel aber wußte schon damals der Herr Stadtwagemeister, daß dieser Holländer alles, was ihm beliebte »medizinischen Aberglauben« zu titulieren, mit einer schauderhaften Rücksichtslosigkeit verfolgte.

So nahm er sich denn zusammen, bis der grüne Künstler das wohlgelungene Bildchen mit zweien seiner langen Finger stolz dem Tageslicht entgegenhielt; und so ist denn, wie der Urgroßvater zu sagen pflegte, auch »das Hammelgesicht« dieses kleinen Mannes für die Nachwelt gerettet worden.

Aber das Großmütterchen! Wo war das Großmütterchen indes geblieben? –

In Großvaters Hause

Während bei dem Urgroßvater sich das Leben in die kühle Tiefe des Hauses zurückgezogen hatte, saßen die Bewohner der Nachbarhäuser im Schatten wohlgestutzter Linden vor der Tür auf ihren Bänken. Beim Nachbar Krämer saß der Nachbar Schlachter; sie hatten mit Stahl und Feuerschwamm eben ihre Kalkpfeifen in Gang gebracht und den Kopf derselben sorgfältig mit einem Drahthütchen versichert, und schauten nun, ohne viel überflüssige Worte, auf das Treiben am Hafen und auf die jenseits liegende Schiffswerfte, von wo die taktmäßig herüberschallenden Hammerschläge ihnen die beruhigende Versicherung gaben, daß doch die Zeit nicht ungenützt entfliehe. – Daneben lag das Bäckerhaus; die Heißewecken und Eiermahne waren ausverkauft; die Bäckerfrau und ihre dicke Schwester mit dem runden roten Gesicht in der schneeweißen Mützenkrause, »Fru Nawersch« und »Jungfer Möddern«, saßen sich gegenüber auf den vorspringenden Beischlägen; aber das emsige Nadelklirren ihrer großen Strickzeuge verstummte allgemach; denn, von Sommermüdigkeit übernommen, waren die Hände der guten Frauen in den Schoß gesunken, während der Kopf über den vollen Busen nickte. – Vor dem Wohnkeller des Hauses, zwischen den schwarzen jütischen Töpfen, welche auf der niedergeklappten Schlußluke feilgestellt waren, saß spinnend die weiße Katze des Kellermanns; mitunter bog sie den Kopf zurück und rieb ihr rosiges Näschen an den gesalzenen Stockfischen, die vom Rande des Vorbaues herabbaumelten. Kinder waren nicht zu sehen; die kleinen hielten Sommerschlaf in ihren Bettchen, die größeren waren noch in der Schule; nur drüben vom »Helling« tönten ununterbrochen die gleichmäßigen Hammerschläge.

Da ging ein junger flüchtiger Schritt am Hause vorüber. »Fru Nawersch« und »Jungfer Möddern« erwachten, die Stricknadeln fingen mechanisch wieder an zu klirren; Jungfer Möddern hob ihre schwere Last ein wenig von dem Beischlag auf und ließ sie wieder sinken, indem sie tief schmunzelnd einen Gruß auf die Straße hinausnickte. »Mamsell Feddersen!« flüsterte sie ihrer Schwester zu, die mit kleinen Augen zu ihr hinüberstarrte.

Und richtig! Es war das Großmütterchen; in leichter Kontusche eilte sie vorüber. – –

Nebenan in der Gasse, die kaum hundert Schritte weiter von Norden her in den Hafenplatz ausmündet, lag das neuerbaute Haus des Großvaters, in welchem zurzeit noch eine Schwester ihm die Wirtschaft führte. Anders als das gegenüberliegende seines Vaters und die übrigen alten Giebelhäuser in der Stadt, kehrte es der Straße eine breite Fassade zu, aus deren Mitte über dem Kellergeschoß eine mächtige Steintreppe vorsprang. Kein düsterer Pesel, keine entlegenen Kammern befanden sich darin; die Fenster gingen entweder auf die helle Straße oder hintenaus ins Grüne, auf den Hof und den danebenliegenden Galten; auch die Räume der beiden unteren Hausböden empfingen ihr Licht durch stattliche Fensterreihen des Giebels, der mit seiner geschnörkelten Sandsteinbekrönung in der Mitte des Hauses aufstieg. Hart daran lag das Packhaus mit Fahrpforte und Eingangstür. – Der Urgroßvater drüben hatte im vorletzten Sommer alles für den Sohn vollenden lassen während dieser zu seiner kaufmännischen Ausbildung die Handelsstädte Frankreichs besuchte und entzückte Briefe über den milden Himmelsstrich nach Hause schrieb; ja, auf den Promenaden von Bordeaux, wo er derzeit weilte, hatte er einmal die linde Sommernacht auf einer, Gartenbank verschlafen.

Aber jetzt war er wieder in der Heimat; sein Haus stand aufgerichtet und harrte nur der jungen Frau. Und eben war diese, für jetzt zwar eine Braut noch, von hinten durch die Hoftür eingetreten. Sie hatte in den unteren Zimmern vergebens ihre junge Stellvertreterin gesucht; jetzt ging sie oben in den hellen Saal, an dessen tapezierten Wänden schon mancherlei Geräte für die junge Wirtschaft aufgestellt war. Flüchtig sah sie ihr frisches Antlitz in den Spiegelscheiben des Mahagonischrankes vorüberwandeln, dessen Aufsatz mit vergoldeten Vasen und Girlanden geschmückt war; dann trat sie in das Nebenzimmer, wo Reiseerinnerungen ihres Bräutigams, die Vernetschen Ansichten der französischen Hafenplätze, an den Wänden hingen. Aber auch hier fand sie die Gesuchte nicht. – Als sie in den Saal zurücktrat, wäre sie fast erschrocken; eine lebensgroße weiße Gestalt, in der ausgestreckten Hand eine Schale haltend, stand ihr gegenüber auf dem zierlichen Untersatz des Ofens, der auf breiten Marmorfliesen ruhte. Sie mußte lachen; es war ja die Hygiea, welche man, wie ihr wohl bekannt war, gestern erst hier aufgestellt hatte; an der sie vorhin, ohne umzublicken, vorbeigegangen war.

Sie stand auf gutem Fuß mit dieser Göttin der Gesundheit, »der schönaugigen Beisitzerin des Apollo, ohne welche niemand glücklich ist«; sie war eine der Auserwählten, die aus ihrer Schale einen vollen Trunk getan. – Hochaufatmend in Glück und Lebensfülle trat sie an eines der Fenster und blickte in den Sommertag hinaus. Jenseit der Stadt, wohinaus der Blick über die niedrigen Häuser der vorliegenden Nebengasse frei war, zwischen dem grünen Festlande und der Nachbarinsel, breitete sonnenfunkelnd sich die Reede aus; kaum erkennbar aus dem Geflimmer ragten die Masten eines großen Schiffes, einer Brigg ihres Schwiegervaters, die, von glücklicher Fahrt zurückgekehrt, seit kurzem dort vor Anker lag. Die junge Frau des Kapitäns hatte die Reise mitgemacht; und lebhaft wünschte sich das Großmütterchen das große Teleskop von der Bodenkammer ihres Schwiegervaters, um einmal nach ihr auszuschauen. Denn sie kannte sie wohl, die schlanke grauäugige Insulanerin; hatte sie doch letzte Woche erst mit Bräutigam und Schwiegerin einen Besuch an Bord gemacht; und welch ein angenehmer Nachmittag war das gewesen! Vorüber an der Schiffswand hatten sie den Tümmler tauchen, durch den Tubus des Kapitäns die Robben auf dem fernen Sande schlafen sehen; zu guter Letzt hatten sie auf Deck, während die Seeschwalben über ihnen gaukelten, nach der Violine des Leichtmatrosen einen English-Shake getanzt. – Wo waren hier noch Schatten?

Und doch, das Geschenk der Hygiea ist ein verhängnisvolles; wer zu tief aus ihrer Schale trinkt, der muß alle Augen brechen sehen, die ihm in süßer Jugendzeit gelacht. Aber auch dann noch zeigt sich die Gunst der milden jungfräulichen Göttin. Sie selbst, die das erfahren müssen, haben ihre heiteren Augensterne auf die Gegenwart gerichtet; die Gespenster der Zukunft haben keine Macht über sie.

Das Großmütterchen stand noch am Fenster; sie blickte jetzt hinunter in die Straße nach dem vorspringenden Ausbau des schwiegerelterlichen Hauses; aber sie sah hinter den spiegelblanken Fenstern nicht das Leilach wehen, das, wie bald! durch seinen Schatten den Sarg eines gütigen und für das Leben selbst geschaffenen Mädchens mit jener herzerdrückenden Dämmerung umgeben sollte, die auf die Nacht des Grabes vorbereitet. – Sonnig und schweigend lagen die Räume um sie her, in denen, weit über ein zwiefaches Lebensalter hinaus, alles Menschengeschick über sie ergehen sollte; aber kein unheimlicher Nebel kroch aus den Ecken, kein Schrei hallte vorspukend durch das Treppenhaus hinauf. Lachend nickte sie dem neu erhobenen Götterbilde zu, und flog dann die Treppen hinab, leicht, wie sie gekommen war.

Im Kellergeschoß kam hinten aus der Gesindestube die Köchin im buntgestreiften Wollenrock und berichtete von unten herauf, daß die Mamsell »nur ein Gewerbe ausgegangen« und bald wieder da sein werde. – Das Großmütterchen ging wieder aus der Hoftür, dann rechts ein Steintreppchen hinauf in den Garten, wo zwischen gefälligen Partien im Jasminge-Sträuche das in Holz geschnitzte Bildnis einer Flora stand. Eine weitere Treppe, deren Geländer auf buntfarbigen Stäben ruhte führte sie in den Obergarten. Hier waren noch die steifen gradlinigen Rabatten, der breite Steig dazwischen mit weißen Muscheln ausgestreut; perennierende Gewächse mit zarten blauen oder weißen Blumen und leuchtendgelben Staubfäden andere mit feinen rötlichen Quästchen oder mit Blumen, wie aus durchsichtigem Papier geschnitten, dergleichen man nur noch in alten Gärten findet, daneben gelbe und blutrote Nelken blühten hier zu beiden Seiten und verhauchten ihren süßen Sommerduft.

Zu Ende des Steiges in der jungen Lindenlaube saß jetzt das Großmütterchen. Sie zog unter ihrem Brusttuche den dort verwahrten Brief hervor, den sie freilich schon daheim im Kämmerchen erbrochen und gelesen hatte. Aber das war ja nur das erste Mal.

»Mein theures liebes Lenchen!« – so lasen ihre Augen, und leise sprachen es die jungen Lippen nach –

»Den besten Dank für Ihre liebe und wärmevolle Zuschrift 1 Noch nie ist mir bei Eröffnung eines Briefes so wohl gewesen, und nie las ich mit mehrerer Begierde einen Brief als diesen.

Meine gütige Frau Wirthin hatte mir soeben ein Gläschen eingeschenkt, das auf unser beiderseitiges Wohlergehen geleeret werden sollte; und da wir uns just von Ihnen, meine Liebe, unterhielten, ich mein Glück und meine erwünschte Wahl so mit vollen Empfindungen schilderte, da trat Vetter Asmus herein, nach dem ich mich schon verschiedentlich erkundigt hatte, und brachte mir Ihren so werthen Brief.

Siehe da – es wurde eine Stille – ich erbrach ihn; ein jeder hielt sein Gläschen in der Hand und erwartete das Ende, um sich nach Ihrem Wohlbefinden zu erkundigen.

Mit voller Freude rief ich aus: Mein gutes Mädchen ist, dem Himmel sei gedanket, wohl! – So lebe denn Ihre liebe Braut! – Wir klingten an; und es wurde Jubel um uns her.

Heute bin ich wahrlich so recht seelenvergnügt, da mir die Nachricht von Ihrem Wohlbefinden noch so neu ist. – Wenn ich gleich? meine Beste, die Abende niemalen in der Einsamkeit zubringe, so fühle ich doch immer, daß mir Ihre schätzbare Gegenwart fehlt. Doch die Hälfte der Zeit ist verflossen, und binnen wenig Tagen sehen wir uns wieder und genießen in einer unzerstörbaren Ruhe die echten Freuden dieses Lebens, wogegen alles andere hienieden doch – – – und glauben Sie, daß ich ewig bin

Ihr zärtlich liebender – –«

Lächelnd und immer tiefer senkte sich der Kopf der jungen Leserin auf das Blatt in ihrer Hand, als hätten die lieben Worte sie zu sich herabgezogen. Sie hörte nicht den jugendlichen Schritt, der jetzt über die knirschenden Muscheln sich ihr nahte, nicht das rasche Zuschlagen eines Fächers; erst, als ein Arm sich um ihren Leib legte, blickte sie tief aufatmend in die ernsten Augen ihrer Schwiegerin.

Das Großmütterchen wollte ihren Brief verbergen; aber es gelang ihr nicht. »Mädchen, springe mir nicht so um den Busch!« rief die Schwester; und schon hatte eine kleine resolute Hand die ihre eingefangen. – Bald saßen die Mädchen, Wang an Wange lehnend, und studierten nun gemeinschaftlich den Brief des ihnen beiden teuern Mannes. Standen doch auch praktische und sehr zu erwägende Dinge darin; denn wie viele Aufträge hatte der Gefällige nicht bei der Abreise in seinem Promemoria notieren müssen, für deren manchen ein männlicher Verstand nicht einmal reichen wollte! Zwar die Hummer für die liebe Frau Wirtin waren richtig angekommen, und den Fuhrlohn und das Futtergeld für unterwegs hatte er sofort mit dem Fuhrmann abgemacht; auch der kirschrote Taffet sollte mit Vergnügen besorget werden; aber wie sich die »florenen Fomeln« in dem letzten Briefe zu den zwei Ellen Milchflor in seinem Promemoria verhielten, das war selbst dem Scharfblick der Liebe unentwirrbar geblieben.

Ein Lächeln mitleidiger Überlegenheit flog über das Gesicht der Mädchen. Wie man nur so was nicht verstehen konnte!

Der Brief war ausgelesen. – Auf dem ein wenig schärfer umrissenen Antlitz der einen, unter den dunklen Brauen in ihren klugen Augen lag es plötzlich wie scheidender Abendstrahl; wie aus dunklem Antrieb schlang sie ihren Arm noch fester um die jüngere Freundin. So saßen sie schweigend, jede ihren eigenen Gedanken lauschend.

Und leise über sie hin strich die Zeit. Sie wehte den Puder aus ihren blonden Haaren; sie blies unmerklich, aber emsig von dem einen jungen Antlitz das Rot des Lebens, um es einer frühen Vergessenheit zu überliefern. Aber die Augen der Braut lachten vor Seligkeit.

»Ja«, sagte der Onkel – denn wir befinden uns noch immer an dem runden Tisch des Onkels – indem er die Pfeife absetzte und wie zu plötzlich vertraulicher Mitteilung sich gegen den geduldig zuhörenden Vetter neigte. »Hat er uns doch nicht richtig angeführt! Was habe ich Euch gesagt? Lauter Dunst und Phantasie!« – Ich hatte die Briefstellen vorhin aus dem Gedächtnis angeführt; jetzt zog ich das dir bekannte »Promemoria« des Großvaters aus der Tasche, in welchem noch ein Teil des großelterlichen Briefwechsels aufbehalten ist. Wie in dem fahlen Gelb des seidenen Umschlages das einstige Rosa, so läßt sich in dem darauf gestickten Tempel mit dem flatternden Taubenpaare die zärtliche Bestimmung nicht verkennen, welche die Verfertigerin einst dieser Arbeit gab.

Mit gespannten Augen blickte Tante Friede über ihre Brillengläser nach dem verblichenen Kunstwerke, mir zugleich, in richtiger Erkenntnis meines Vorhabens, ihre freundliche Parteinahme zunickend. Ich aber hatte indes aus den auf rauhem Papier geschriebenen Blättern, an welchen noch überall die kleinen roten Familiensiegel haften, den vergilbten Liebesbrief des Großvaters hervorgesucht und legte ihn jetzt schweigend vor dem Onkel auf den Tisch.

Da mußten alle Respekt haben; das war heiliges Papier. – –

Staub und Plunder

Ich saß im Obergarten in der Lindenlaube; sie war von dem alljährlichen Kappen jetzt so verästet, daß es kaum noch des Laubes bedurfte, um die Sonnenstrahlen abzuhalten. Die alte Zeit war aus; die einst fast mit der Stadt zugleich entstandene Kirche, vor meiner Geburt schon, glücklich abgebrochen; an Stelle des altehrwürdigen Baues stand jetzt ein gelbes, häßliches Kaninchenhaus mit zwei Reihen viereckiger Fenster, einem Turm wie eine Pfefferbüchse und einem abscheulichen, von einem abgängigen Pastor verfaßten Reimspruch über dem Eingangstore, einem lebendigen Protest gegen alles Heidentum der Poesie. Die Denkmäler und Kunstschätze der alten Kirche waren auf Auktionen verkauft oder sonst verstreut; die schöne Kanzel war zertrümmert, den Altar aus Hans Brüggemanns Schule hatte ich selbst als Knabe in dem Pesel einer Branntweinsschenke stehen sehen, wo er unbeachtet allem Unfug preisgegeben war, bis er schließlich noch in einer Dorf kirche Unterkommen fand; die einst zur Seite des Altars befindliche Monstranz, ein kostbares Schnitzwerk von des großen Husumer Meisters eigner Hand, war spurlos verschwunden; nur das Muttergottesbild derselben war fast ein halbes Jahrhundert nach dem Abbruch der Kirche zwischen staubigem Gerumpel eines Hausbodens von einem kunstsinnigen Dänen aufgefunden und dann für immer der Vaterstadt des Meisters entführt worden. Keine Spur seines Lebens war in ihr zurückgeblieben, keine Spur jener Kunst, die besonders in unserem Lande sich einst zu einer Hauskunst ausgebildet hatte.

Das war eine pietätlose nüchterne Zeit gewesen, von allem Segen der Schönheit und der Kunst verlassen; und wir haben noch daran zu leiden. Aber die alten Herren der »vereinigten freundschaftlichen Gesellschaft« hatten sie nur von fern am Horizonte aufsteigen sehen, bevor sie alle schlafen gegangen waren.

Auch das einst vom Urgroßvater so stattlich für den Sohn errichtete Haus hatte dieser Zeit seinen Tribut entrichten müssen. Die einst so behaglich in die Straße vorspringende Steintreppe war auf Anordnung der modernen Polizei verschnitten und verhunzt; den hohen Giebel hatte man selbst herabgenommen, die steinerne Bekrönung sollte das Haus zu schwer gedrückt haben; sogar die hölzerne Flora hatte den ihr einst geweihten Garten mit, Gott weiß, welchem düsteren Winkel vertauschen müssen.

Dort lag das Haus hinter dem mächtigen Ahornbaum, der mit seiner Krone fast das hohe Dach bedeckte. Es war jetzt ein altes, ein Familienhaus geworden; in allen Winkeln und auf allen Dielen lagen die Schatten vergangener Dinge; von allen, die einst darin lebten und starben, war eine Spur zurückgeblieben; uns, die wir ihres Blutes waren, trat sie überall entgegen und gab uns das Gefühl des Zusammenhanges mit einer großen Sippschaft; denn auch die Toten gehörten mit dazu. Ja, einige von uns wollten wissen, daß das Leben jener noch nicht ganz vorüber sei, daß es zuweilen in Nächten oder in einsamer Mittagsstunde sich den Enkeln kundzugeben ringe; droben in der Stube hinter dem Saal, wo noch die Vernetschen Kupferstiche des Großvaters hingen, sollte es zuzeiten recht »unruhig« zugehen.

Unter dem Dach auf den drei übereinanderliegenden Hausböden war alles Gerümpel aufgespeichert, das während eines zwei Menschenalter überdauernden Zeitraumes allmählich aus dem Gebrauch des Tages zu verschwinden pflegt; was man als abgenutzt beiseite setzt, weil man den Mut nicht hat, es fortzuwerfen, und was man vielleicht nie wieder berührt, es sei denn, daß das Leid oder die Leere der Gegenwart uns antreibt, zu den Zeichen einer reicheren Vergangenheit zu flüchten.

Der zunächst über dem unbewohnten zweiten Stockwerk belegene Boden mit seinen Winkeln und Treppchen und der gleich einem großen Kasten hineingebauten »Gewürzstube« war ein besonders heimlicher Ort, an dem ich manche Stunde meiner Knabenzeit verbracht habe. – Schon der Duft der Hagebutten und Lavendelsträuße, die hier auf den Fensterbänken getrocknet wurden, erregte meine Phantasie; es roch fast wie in einem Garten; aber wie in einem Garten der Vergangenheit. Zwar mit dem grauen Schranke, in dem die Großmutter ihr Sterbehemd bewahrte, mochte ich nichts zu schaffen haben; auch wurde es mir zuweilen unheimlich, daß dort unter der Dachschräge der große Ohrenlehnstuhl, in welchem einst der Großonkel seinen letzten Seufzer getan hatte, immer so unverrückt auf seinem Platze stand, als warte er darauf, daß sich endlich wieder einer in ihn hineinlege; aber gegenüber der altmodische buntfurnierte Schrank mit dem hohen Aufsatz ließ mich diese widerstrebenden Gefühle überwinden. Auch er stand in feierlichem Schweigen und wie zur ewigen Ruhe gestellt; allein ich respektierte dieses Schweigen nicht; ich wußte die Schubladen zu öffnen – noch höre ich dabei das Klirren der vergoldeten Messinggriffe – und mit lüsternem Grauen durchstöberte ich das in ihnen eingesargte Spielzeug einer vergangenen Zeit. Da lagen Perücken und schwarzseidene Haarbeutel; da war ein Kästchen mit den Fächern der Großmutter, ein anderes mit den Bräutigamsmanschetten des Urgroßvaters; da war vor allem ein höchst ergötzliches und nützliches Instrument, ein sauber aus dunklem Mahagoni gearbeiteter »Buckelkratzer«, und endlich – sollte auch der Großvater sie gegen das Rheuma angewandt haben, oder war es nur ein Vermächtnis des kleinen Wagemeisters? – eine große getrocknete Kröte, die Beine wie zum angestrengten Fortstreben ausgestreckt, in der Mitte des warzigen Leibes das Loch des Nagels, der es verhindert hatte, und an dem sie, zur Gewinnung stärkerer Heilkraft, einst hatte krepieren müssen. – Lange und nachdenklich habe ich oft, vor der aufgezogenen Schublade knieend dieses Ding betrachtet. Mitunter auch ergriff der Dunst der Vergänglichkeit, der aus all den Raritäten aufstieg, mich so beängstigend, daß ich plötzlich fortrannte und die Treppe hinabsprang oder, lieber noch, am Geländer hinabrutschte, um nur bald wieder in die Region der Lebendigen zu gelangen. Doch das geschah nur selten; meistens wurde auch der Inhalt der oberen Fächer einer behaglichen Musterung unterzogen; der schöne Tafelaufsatz aus mattem Porzellan, ein sitzender Apoll nebst seinen Musen, welchen letzteren freilich schon hier und da eines der zarten Fingerchen abhanden gekommen war; das Reiseglas des Großvaters mit der Eigenschaft eines »Staamantjes« und der Inschrift:

Trink mich aus, leg mich nieder!
Steh ich auf, füll mich wieder!

die gläsernen Pokale mit dem roten Gewebe in den Stengeln mit eingeschmolzenen Schaumünzen oder auf dem Kelche eingeschliffenen Schäferszenen; insbesondere zwei greuliche chinesische Pagoden, – alles wurde behutsam herabgenommen und demnächst ebenso wieder an seinen Ort gesetzt.

Zwar, sehr einsam war es hier, und an den Seitenräumen fielen tiefe Schatten überall; der hinter der Gewürzstube befindliche Teil des Bodens lag, da die Luken dort fast stets geschlossen waren, auch bei Tage im Dunkeln; von den nach der Gartenseite aus dem Dache vorspringenden kleineren Fenstern war das eine hinter großen Kisten versteckt, vor dem anderen verbreitete die Laubkrone des Ahorns eine grüne Dämmerung; so dicht drängte sie sich heran, daß ich an Sommerabenden, wenn die Vögel zur Ruhe gegangen waren, mehrmals, wiewohl vergebens, versucht habe, einen schlafenden Sperling von den Zweigen abzupflücken. Selbst das um die Mittagszeit mir stets so traulich klingende Mörserstoßen aus der im Kellergeschoß liegenden Küche drang nicht herauf. Deutlich genug aber hörte man das Hämmern der Holzkäfer in den morschen Schränken, oder von den Packhausböden, die dort hinter den verriegelten Flügeltoren lagen, den behutsamen Tritt einer Katze, die einsam die steilen Treppen auf und ab spazierte. – Freilich, nach Westen an der Straßenseite befanden sich zwei größere Fenster in dem hier aufsteigenden Giebel des Hauses – die Gewürzstube schloß das dritte ein – durch welche man über die Dächer auf die grüne Marsch und darüber hinaus auf das Meer sah; doch alles, was sich dem Auge darbot, die weidenden Rinder, das vorüberziehende Schiff, die Mühle, welche jenseits am Horizonte auf der gleich einem Nebelstreifen oberhalb des Wassers hingestreckten Insel ihre Flügel drehte, – es war so fern, daß es nur wie ein Bild dalag und kein Laut von dort herüberdrang.

In dem freundlichen Raum vor diesen Fenstern, durch welche schon früh die Nachmittagssonne hereinschien, befand sich eins der Hauptstücke der ganzen Bodenwirtschaft: das »Gesundheitspferd« meines Großvaters. – Daß er auf diesem Pferde die entflohene Gesundheit wieder eingeholt habe, ist kaum anzunehmen; denn der Tod, der dem ganzen Lebensritt ein Ende macht, hatte diesen liebreichen Mann schon während meiner frühesten Kindheit aus dem Kreise der Seinen fortgerissen. – Übrigens war es eigentlich gar kein Pferd, sondern nur ein auf Sprungfedern ruhender, schön ausgenähter Sattel mit einem vierbeinigen Holzgestell darunter. Allein, ging die Bewegung auf demselben auch nicht vorwärts, so ging sie doch auf und ab, und manchen ebenso ungefährlichen als vergnüglichen Spazierritt habe ich darauf gemacht; denn vorn befand sich eine Krücke zum Festhalten, und an den Seiten hingen ein Paar Steigbügel, in deren Riemen ich die Füße steckte, bis meine Beine allmählich zu ihnen hinabgewachsen waren. Nicht zu begreifen vermag ich jetzt, wo mir im sicheren Lehnstuhl schon mitunter die Buchstaben nicht standhalten wollen, wie ich, auf diesem Gesundheitspferde reitend, Spindlers dreibändige Romane, untermischt mit Schillerschen Dramen, eins hinter dem anderen wegzulesen vermocht habe.

Auch alles dies ist lange nun vergangen. Jetzt, wo auch die Gespenster meiner eigenen Jugend in ihnen umgehen, betrete ich nicht gern mehr diese Räume.

– Neben mir in der Lindenlaube saß eine uralte Frau; es war meine Großmutter, die ich in den milden Septembersonnenschein hinausgeführt hatte. Noch vor einigen Jahren war sie rüstig genug gewesen und hatte es sich nicht versagen können, mit mir in die Familiengruft hinabzusteigen, welche an jenem Morgen zur Aufnahme eines jüngeren Familiengliedes geöffnet worden war. – Der mit schwarzem Tuch überzogene Sarg des Großvaters war noch wohlerhalten. Sie betrachtete ihn lange schweigend; dann suchte sie nach ihren Söhnen, welche sämtlich noch in den Kinderjahren sich dieser stillen Gesellschaft hatten zugesellen müssen. Die kleinen Särge, außer einem, waren schon in Trümmer gefallen. Als wir von diesem den auch schon gelösten Deckel abgehoben hatten, da lagen unterhalb eines kleinen weißen Schädels – überaus rührend, als seien sie seit dem letzten Lebensatem unverrückt geblieben – die feinen Knochen eines Ärmchens und eines ausgespreizten Kinderhändchens. Die Großmutter tastete mit zitternder Hand an diesen armen Überresten; sie betrachtete aufmerksam den Sarg, nickte mit dem Kopfe und sagte dann: »Das ist mein Simon; was für ein lustiger kleiner Junge war er!« Und als ich von ihr fort zu einem anderen Sarge trat, sah ich, wie die Lippen der greisen Mutter sich noch einmal lang und innig auf die Stirn ihres lieben kleinen Jungen preßten.

– Von diesem ihrem Knaben, den sie einst gehabt, erzählte sie mir jetzt. Der Großvater hatte ihm ein kleines Gefährte mit zwei weißen Ziegenböcken geschenkt; damit war er überall umherkutschiert; die Ziegenböcke waren ein Paar ebenso lustiger Gesellen gewesen wie ihr kleiner Herr. Sie hatten der Welt nicht nachgefragt; im Garten hatten sie die schönsten Nelken und Ranunkeln abgefressen, auf der Straße waren sie mit ihren Hörnern in einen Haufen irdener Töpferwaren geraten, die zum Verkauf vor einem Keller ausgestanden; tausend Wirtschaft hatte es gegeben.

Die Großmutter lachte ganz herzlich; es war zu lustig, wie der Junge auf seine weißen Ziegenböcke peitschte; sie mußte noch mehr davon erzählen. Aber allmählich verwandelten sich die zwei Ziegenböcke in einen widerspenstigen Esel, auf dem »ein Ausbund von einem Jungen« zwischen den Beeten unseres Gartens umhertrabte, immer im Kreis um die hölzerne Flora, bis der Esel hinten ausschlug und ihn in die Büsche warf.

»Großmutter«, sagte ich leise; »das war wohl nicht dein Simon; ich glaube, das bin ich selbst gewesen.«

Die alte Frau wurde plötzlich still; und ein Ausdruck von ergebener Trauer trat in ihr liebes Gesicht. »Ja, mein Kind«, sagte sie endlich, »meine Nerven haben Bankerott gemacht; ich habe schon so viel erlebt.«

Es war ihr in den letzten Jahren zuweilen begegnet, daß sie für unsere, der Jüngeren, Anschauung weit auseinanderliegende Zeiten und Personen verwechselte. Wir suchten dann wohl einzuhelfen; aber wenn sie es bemerkte, schwieg sie gewöhnlich, wie in tiefer innerer Beschämung. »Gebrauch doch unser junges Gedächtnis, Großmutter!« riet ich ihr einmal; aber sie sagte nur: »Man mag doch auch nicht lästig fallen.«

Ihr frohes und bescheidenes Wesen hatte ein langes Leben mit ihr ausgehalten und tausend glückliche Stunden über meine Jugend gebracht; nun sie sich selbst nicht mehr zu helfen wußte, wollte es mit dem Frohsinn nicht mehr fort. Aber sie hoffte den wiederzusehen, mit dem sie die glücklichsten Stunden ihrer Jugend gelebt hatte, und auch ihre kleinen lustigen Jungen, die ja hier auf Erden nicht zu Männern aufgewachsen waren.

Mit diesen ihren Toten mochte sie im Geiste verkehren, als sie jetzt so still an meiner Seite saß, die von Gicht gelähmten Hände in ihrem Schoß gefaltet; denn wie in seliger Zufriedenheit waren die halb erblindeten Augen nach dem Gipfel des gegenüberstehenden alten Birnbaumes gerichtet, der einst mit ihrem Glücke jung gewesen war, und aus dessen Zweigen die gelben Blätter niedersanken.

Ich höre dich fragen: »Sind das die Reisebriefe, die du mir versprochen?« – Ich kann nur sagen: »Nimm fürlieb!« Und im übrigen mögen die Manen meines Großmütterchens es mir verzeihen, daß ich, ein ungewandter Nekromant, aus der Nacht, in die es schon so tief versunken, ihr Jugendbild heraufzubeschwören suchte.


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