Theodor Storm
Novellen
Theodor Storm

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Lena Wies

Aber an deinem niedrigen Häuschen kann ich nicht so vorübergehn, du liebreiche Freundin meiner Jugend, die du wie Scheherezade einen unerschöpflichen Born der Erzählung in dir trugst. – Ich will eine Gänsefeder nehmen; die weiße Fahne soll nicht gestutzt werden, und das gesellige vogelartige Gezwitscher, das sie, ihres Ursprungs eingedenk, beim Schreiben hören läßt, soll mich an vergangene Zeit gemahnen, während ich dies zu deinem Gedächtnis niederschreibe.

Noch stehen die steinernen Bänke vor dem Hause, noch die gemalten Schwarzbrote, das Zeichen des Betriebes, auf dem einen Fensterladen; und, wenn man die Haustür mit den dicken grünen Glasscheiben aufstößt, so schellt die Glocke, und hinten im Backhause läßt »Perle« seine Stimme erschallen; denn – der Hund ist tot; es lebe der Hund! der Hund stirbt nicht! – Aber es ist nicht mehr der »Perle« meiner Jugend.

Wie manchen Herbst- und Winterabend bin ich nach diesem kleinen Hause gegangen. – Gegangen? – Nein, gelaufen, gerannt! – Es gab damals in unserer Stadt noch keine Straßenbeleuchtung; aber desto mehr Gespenster; »es übte vor«, es »jankte« draußen im »Austrom«, im Schlosse wurde nachts eine kleine braune Frau gesehen. Und das alles wurde mit jedem Abend bei mir lebendig, und meine kleine Handlaterne warf zweifelhafte Lichter auf die unbewohnte Plankenstrecke, die in jener Straße zu passieren war. Hatte ich glücklich das Haus erreicht, so stürzte ich fast die Tür ein; die Glocke läutete, hinten im Backhause riß Perle an der Kette und erhob ein wütendes Gebell.

Atemlos stand ich vor dem kleinen hitzigen Gesellen, der nun freudewinselnd an mir aufstrebte. Kräftig dufteten die frischen Roggenbrote, welche reihenweise auf den Wandgestellen lagen; und nebenan in der offenen Kammer stand die alte Mutter Wies am Backtroge, mit dem Ansäuern des Teiges für den morgenden Tag beschäftigt. Im Backhause selbst drängte sich eine Schar von Nachbarskindern, welche, mit irdenen Schüsseln in der Hand, auf die Austeilung der Abendmilch warteten; denn auch eine Milchwirtschaft wurde hier mit vier oder fünf schweren Marschkühen betrieben.

»Lena noch nicht fardig?« fragte ich auf plattdeutsch; und die alte Frau hielt im Kneten inne, und ihre noch immer schönen Augen blickten mit großmütterlicher Zärtlichkeit auf mich.

Nein, Lena und Vater Wies waren noch im Stall beim Melken.

Schnell war meine Handleuchte ausgeblasen und auf den Tisch gestellt; dann ging's über den dunklen Steinhof und in den alten niedrigen Stall hinein, durch den übrigens im Sommer der Weg zu einem seltsam stillen Garten voll roter Zentifolien und kleiner süßer Stachelbeeren führte. – Wie ein kleiner Privilegierter dünkte ich mich den armen Nachbarskindern gegenüber, die beim Schein des dünnen Talglichts ruhig auf ihrem Platze bleiben mußten, bis sie ihr herkömmliches Quantum Milch zugemessen erhalten hatten.

Unter dem Boden des Stalles hing eine Hornleuchte; aber es war kein Licht, sondern nur eine Art leuchtenden Dunstes, den sie in einem engen Kreise um sich her verbreitete. Und doch, für welch trauliche kleine Welt war sie der Mittelpunkt! Aus dem Dunkel, wo die Kühe an ihren Raufen wiederkäueten, klang es mir leibhaftig wie der alte Volksreim entgegen:

»Stripp, strapp, stroll –
Is de Ammer nich bald voll?«

Ich rief ihn denn auch lustig in das Dunkel hinein, und: »Geduld überwindet Schweinebraten!« kam sogleich von dorther die heitere Stimme meiner Freundin Lena an mich zurück, und unter einer anderen Kuh heraus scholl als Begleitung im Grundbaß das behagliche Lachen von Vater Johann Wies.

Lena regierte mich mit scherzenden Worten, ja bloß mit ihren klugen Augen sicher genug; und so warf ich mich geduldig neben der Tür auf einen Haufen Heu, während seitwärts auf der Hühnerleiter der Hahn mit seinen Hennen im Traume kakelte und von den Kühen her der Strich des Melkens eintönig hervorklang, nur mitunter durch einen Zuruf unterbrochen, wenn die Blaß oder die Schwarze etwa nicht ordnungsmäßig standhielten.

Endlich mit schwerem Eimer und heißem Gesicht, trat Lena in den Leuchtkreis der Laterne, und bot mir freundlich guten Abend. Sie war von kleiner Statur; ihre Gesichtszüge – sie mochte in meiner Knabenzeit etwas über dreißig Jahre zählen – ließen erkennen, daß sie einst ungewöhnlich wohlgebildet gewesen sein mußten; aber die Blattern hatten das Kindergesicht auf das unbarmherzigste zerrissen, als wenn, nach dem Volkswitz, der Teufel Erbsen darauf gedroschen hätte. Sie selber meinte freilich, am Ende müsse sie noch eitel werden; denn: »So'n Bildhauerarbeid ward nu nahgrad wat Rares!« – Nur die schönen braunen Augen blickten unversehrt; und sie gehören mit zu den Sternen, die über meiner Kindheit standen, und mitunter in dunklen Stunden glaube ich, sie noch jetzt zu sehen, obgleich auch sie erloschen sind. – –

Während nun Lena den Milchverkauf besorgte, hatte »Vader« den Kühen ihr letztes Futter vorgeworfen, »Moder« in ihrem Troge den Teich zusammengeballt und sorgsam zugedeckt; ich selbst war schon vorher in die Wohnstube gewiesen, in jenen engen aber traulichen Raum, in welchem ich die schönsten Geschichten meines Lebens gehört habe. Fast immer, so wenigstens scheint es mir jetzt, blühten hier auf den Fensterbrettern die roten Winterlevkojen; meine Blicke aber gingen nach dem eisernen Beileger-Ofen, der an der Wand gegenüber zwischen den beiden verhangenen Alkovenbetten stand und für mich einen Gegenstand der anziehendsten Betrachtung bildete; denn nicht allein, daß sich auf der vordersten Platte, wie nach einem Dürerschen Holzschnitt, die Verkündigung Maria dargestellt zeigte, daß er an den Seiten und oben an beiden Ecken mit blankpolierten Messingknöpfen geziert war, welche ich, aller Warnung unerachtet, nicht unterlassen konnte, vielfach abzuschrauben und mir fast ebensooft auf die Füße zu werfen; er strömte auch, was nicht jeder Ofen von sich sagen kann, einen leckeren Duft aus, welcher, mit dem der Levkojen vermischt, noch jetzt in meiner Erinnerung diesen Raum erfüllt, und war überdies allezeit von einer sanften Hausmusik umgeben. Das erstere hatte seinen Grund in einer Schüssel, je nachdem mit Waffeln, Pfeffernüssen oder Bratäpfeln gefüllt, die unfehlbar unter dem blanken Messingstülp auf der Ofenplatte warmgehalten wurden; und da von der dem Backhause nahen Küche aus geheizt wurde, so mangelte es von dort her nie am Gesange der Heimchen, der gesellig in das Zimmer hineinklang.

Ich muß hier, obgleich es einen nicht zu beseitigenden Vorwurf für ihn enthält, bekennen, daß mein alter Freund Johann Wies, ich weiß nicht weshalb, ein unerbittlicher Verfolger dieser musikalischen Tierchen war. Oft, wenn er mit seinem ehrwürdigen Gesicht unter der blauen Zipfelmütze, mit den friedlich gefalteten Händen in seinem Lehnstuhl saß, habe ich ihn darauf ansehen müssen, wie doch der gute alte Mann so grausamer Dinge fähig sein könne.

Aber jetzt dachte Johann Wies an keine Heimchenjagd; unter dem Schutze der Dunkelheit sangen sie sicher in ihrem warmen Backhause; und während ich ihnen und der alten Wanduhr zuhörte, die bescheiden dazu den Takt schlug, war auch schon Lena hereingetreten, von der Arbeit gesäubert, in frischer weißer Mütze mit schmal gefälteltem Strich, und setzte Teegeschirr und Abendbrot auf den mit Wachstuch überzogenen Tisch, der dicht unter Maria Verkündigung und den blanken Messingknöpfen seine Stelle hatte; bald kamen auch die beiden Alten, und nahmen je zu einer Seite des Ofens ihren Platz. Mutter Wies, die vom Lande war, trug ihr graues Haar unter ein Käppchen zurückgestrichen, wie man es früher bei unsern Bäuerinnen sah; ihre fleißigen Hände waren, wovon an unserer Küste das Alter selten verschont bleibt, mit Gichtknoten besetzt und zitterten, wenn sie die Tasse an den Mund führte; gleichwohl, sobald wir unsere Mahlzeit beendigt hatten, holte sie ihr Spinnrad aus der Ecke, und dem Tagewerk folgte nun noch das Werk des Abends. – Dann wurde der duftende Teller aus seinem Versteck unter dem Messingstülp hervorgezogen, und Johann Wies lehnte sich behaglich in seinen Lehnstuhl zurück. Auch ich saß oder vielmehr ritt auf einem solchen; denn es war eine von jenen nun verschwundenen Raritäten, die dem Sitzenden die eine Ecke entgegenstrecken; und zwar war er, mir unvergeßlich, mit einem bunten Flickenpolster ausgestattet.

Und dann – ja, dann erzählte Lena Wies; und wie erzählte sie! – Plattdeutsch, in gedämpftem Ton, mit einer andachtsvollen Feierlichkeit; und mochte es nun die Sage von dem gespenstischen Schimmelreiter sein, der bei Sturmfluten nachts auf den Deichen gesehen wird und, wenn ein Unglück bevorsteht, mit seiner Mähre sich in den Bruch hinabstürzt, oder mochte es ein eignes Erlebnis oder eine aus dem Wochenblatt oder sonstwie aufgelesene Geschichte sein, alles erhielt in ihrem Munde sein eigentümliches Gepräge und stieg, wie aus geheimnisvoller Tiefe, leibhaftig vor den Hörern auf. Oftmals griff die alte Mutter in ihr Rad und ließ es stillestehen, oder nickte aus seiner Ecke Johann Wies behaglich blinzelnd herüber; und dazu tickte die Uhr und sangen aus der Ofenwand die Heimchen; mitunter an Herbstabenden – und dann war es am allerschönsten – rauschten auch noch von fern die Lindenbäume, die drüben jenseit der Gasse hinter einer Gartenplanke standen; – wie weit dahinter lag dann die ganze Alltagswelt! In den Pausen wurden zwar auch die Pfeffernüsse und die Bratäpfel keineswegs verschmäht; aber lange hielt ich doch nicht Ruhe, und Lena war ebenso unerschöpflich, als ich unersättlich war; sie legte wieder die Hände ineinander und, den Kopf ein wenig übergebeugt, begann sie eine neue Geschichte, wobei sie langsam die Daumen umeinander bewegte. – Später, als ich selbst dergleichen Dinge ersann und niederschrieb, sandte ich ihr wohl das eine oder andere Buch; und sie hat dann lächelnd geäußert, das hätte ich von ihr gelernt.

Aber nicht nur die Kunst des Erzählens, auch die Achtung vor ernster bürgerlicher Sitte lernte ich in diesem guten Hause. – Ein kleiner Vorfall ist mir unvergeßlich geblieben. Die Tochter aus einer angesehenen Familie hatte sich mit einem Kavalier verlobt, dessen Aufführung man nicht das beste Zeugnis geben wollte; die kleine Stadt war voll davon, in und außer den Häusern wurde in Ernst und Spott darüber geredet, und auch an unserem Teetisch kam das Gespräch darauf. Da, in knabenhafter Unbedachtsamkeit und da es mich drängte, doch auch mein Teil dazuzugeben, entfuhr mir ein wenig sauberes Wort, das ich, Gott weiß wie, von der Gasse aufgelesen hatte. – Augenblicklich stockte die bisher lebhafte Unterhaltung, Lena sah auf den Tisch und fegte ein paar Pfeffernußkrumen mit der Hand zusammen, und erst nach einer längeren Pause blickte sie wieder auf und sprach, als sei nichts vorgefallen, von anderen Dingen. Ich glaube kaum, daß ich jemals so beschämt gewesen bin, und noch später als erwachsenen Mann überkam mich, wenn ich daran dachte, das unbequeme Gefühl einer empfangenen und wohlverdienten Züchtigung.

Dergleichen Zurechtweisungen beeinträchtigten indessen weder meine Zuneigung noch das sichere Gefühl, der Liebling des Hauses zu sein; war doch die zweite sehr geliebte Tochter, welche derzeit in einer fernen Großstadt in guten Verhältnissen verheiratet war, die treue und langjährige Pflegerin meiner Kinderzeit gewesen. Viel zu früh erschien jedesmal der Kutscher meiner Eltern, um mich nach Hause zu holen, oder schlug es, als ich später meinen Weg allein finden mußte, von der alten Wanduhr zehn. Ich weiß noch wohl, wie ich in der letzten Viertelstunde mit Lena kämpfte, ob nicht noch Zeit sei für wenigstens eine ganz kleine Geschichte, und wie es dann plötzlich in der Uhr einen Ruck tat und die Warnung vor dem Stundenschlage alle meine Hoffnung zunichte machte. Dann aber galt es nach Hause zu kommen; und das »Vorüben« und das »Janken« drüben in der Au, alles konnte mir unterwegs begegnen; dazu waren die Lichter in den Häusern schon ausgetan, denn die Straße wurde meist von sogenannten kleinen Leuten bewohnt, welche, wenn der Tagelohn verdient war, früh zur Ruhe gingen. So legte ich mich denn aufs Betteln und ließ nicht nach, bis Lena die Kommodenschublade aufgezogen und ihr Umschlagetuch herausgenommen hatte. – Wenigstens bis an das Ende der bösen Plankenstrecke mußte sie mich begleiten; aber auch dann noch ließ ich sie nicht los; zum mindesten mußte sie stehenbleiben und hinter mir her, und zwar recht laut, ein paarmal »gute Nacht« rufen, bis ich spornstreichs, mein flimmerndes Laternchen in der Hand, um die nächste Straßenecke schwenkte; denn von hier aus waren es nur noch wenige Schritte bis zum Hause meiner Eltern. – Alles dies hat viele Jahre so gedauert; und frisch und erquickend ist mir die Erinnerung an jene Menschen geblieben, denen ich so viele glückliche Stunden meiner Jugend verdanke. Allmählich aber ging die Zeit dahin; ich verließ unsere Stadt, um die Studien für meinen künftigen Beruf zu beginnen; sie blieben in ihrem Häuschen und trieben es in alter Weise fort.

Dann eines Tages kam der Tod, nahm Vater Wies aus seinem Lehnstuhl und legte ihn in ein noch bequemeres Ruhebett; und als ich nach Jahren heimgekehrt war und schon mein eigenes Haus begründet hatte, ergriff er auch die arbeitsame Hand der alten Mutter, zog sie von ihrem Backtroge und ihrem Spinnrade fort und hieß uns, sie auf dem schönen grünen Kirchhof zur Ruhe legen, wo von der See her die kühlen Lüfte über die Gräber wehen. –

Lena war nun allein; aber sie nahm eine junge Verwandte ins Haus und setzte mit deren Hülfe den elterlichen Betrieb fort. Oftmals in der schönsten Sommerzeit, wenn hinten in ihrem Gärtchen die Zentifolien blühten, kamen aus der großen Stadt die Schwester oder deren Kinder auf Besuch; dann wurde es lebendig in dem niedrigen Häuschen; Kammern und Herzen, alles voll Sonnenschein. – Aber auch diese jüngere Schwester sollte sie überleben. Als ich auf die Todesnachricht zu ihr ging, fand ich sie eben beschäftigt, aus Schubfächern und Kästchen ihre Barschaft zusammenzusuchen; es sollte heute noch alles an ihren Schwager abgesandt werden, damit – so sagte sie – die Überlebenden außer der Trauer nicht etwa noch mit der kleinen Not des Lebens zu kämpfen hätten.

Dann kam die Zeit, daß die Dänenherrschaft mich aus dem Lande trieb, und ich sah meine Freundin nur, wenn ich, in oft mehrjährigen Zwischenräumen, zum Besuch bei meinen Eltern einkehrte. Voll gesunden Zornes hoffte sie fest auf den endlichen Sieg der deutschen Sache. Dies und die Kränkungen, die sie dort von dem Übermut der feindlichen Nation erdulden mußte, gaben uns jetzt den Stoff zur Unterhaltung. Als endlich bei uns die deutsche Schmach ihr Ende erreicht und ich in meiner Vaterstadt wieder einen Platz gefunden hatte, traf ich Lena Wies noch rüstig an Körper und Geist, und mit der vollen Freude der Genugtuung trat sie bei unserem Wiedersehen mir entgegen. Sie hatte es gut in ihren alten Tagen; ihre Pflegetochter hatte geheiratet, und die jungen Leute, die nun die Wirtschaft übernahmen, hegten und verehrten sie wie eine Mutter. Und wieder saß ich jetzt behaglich an ihrem Teetisch, die roten Levkojen dufteten von den Fensterbrettern noch wie sonst, sogar der leckere Kuchenteller fehlte nicht unter dem blankpolierten Messingstülp; nur daß statt des alten Ehepaares jetzt ein junges da war und statt des aufhorchenden Knaben ein schon dem Alter entgegengehender Mann. Aber die Sitte, die geistige Luft des Hauses war dieselbe geblieben, und Lenas braune Augen blickten noch so klar und klug wie immer.

Sie hatte noch die Freude, aus den beiden Töchtern ihrer Schwester zwei wohlangesehene Predigerfrauen und aus ihrem einzigen Neffen einen der angeseheneren Ärzte jener großen Stadt werden zu sehen. Wiederholt und dringend wurde sie zu diesem eingeladen; aber sie meinte, sie passe nicht dahin, die Kinder könnten zu ihr kommen. Und so geschah es auch.

Der Ausgang des Lebens sollte ihr nicht leicht werden. Eine jener Krankheiten ergriff sie, die sich an den Menschen anhaften wie ein fressendes Tier, das er nicht abschütteln, noch ausreißen kann, sondern jahrelang mit sich umhertragen muß, bis er ihm endlich erlegen ist. In ihrem letzten Lebensjahre war ich als einer der dazu erforderlichen Zeugen bei der Niederschrift ihres Testaments zugegen. Sie hatte sich zu dieser feierlichen Handlung aufs sorgfältigste kleiden lassen, und empfing uns ernst und ruhig; ihr Antlitz schaute noch unverstellt aus der weißen Haube mit dem lila Seidenband; nur ihre Gestalt war jetzt zusammengesunken. Vorher nahm sie mich in eine Nebenkammer und sprach über ihren bevorstehenden Tod und die jetzt vorzunehmenden Verfügungen; nicht ihrer Leiden, sondern nur mit Dank der Liebe gedenkend, die sie während derselben von den Ihrigen empfangen hatte; nur eine Besorgnis äußerte sie dabei: sie fürchte, ihr sonst noch kräftiger Körper möge sie noch lange auf das Ende warten lassen.

Und lange hat es gedauert. Ihr wurde keine Qual, kein Entsetzen jener furchtbaren Krankheit erspart; aber sie blieb bis zu Ende aus dieselbe, die sie in gesunden Tagen gewesen war, ruhig in sich selbst, fürsorglich für andere. »Lena Wies stirbt wie ein Held!« pflegte ihr Arzt von ihr zu sagen. – Um das Hauswesen der jungen Verwandten nicht gar zu sehr mit ihrem Leid zu stören, begehrte sie in der letzten Zeit wiederholt, in eine kleine nach dem Hofe hinaus liegende Kammer gebracht zu werden. Aber freilich, für »Tante«, so lange sie noch da war, durfte nichts zu gut sein; und so blieb sie denn bei ihren Blumen, in der freundlichen Stube, wo die Erinnerung aller guten Stunden ihres Lebens bei ihr war.

Mitunter während ihrer Krankheit empfing sie auch den Besuch des Ortsgeistlichen; aber Lena Wies hatte über Leben und Tod ihre eigenen Gedanken, und es lag nicht in ihrer Art, was sie durch lange Jahre in ihr aufgebaut hatte, auf Zureden eines Dritten in einer Stunde wieder abzutragen. Still und aufmerksam folgte sie den Auseinandersetzungen des Seelsorgers ; dann, mit ihrem klugen Lächeln zu ihm aufschauend, legte sie sanft die Hand auf seinen Arm: »Hm, Herr Propst! Se kriegen mi nich!« – Und er, in seinem Sinne, mag dann wohl gedacht haben: »Wehre dich nur! Die Barmherzigkeit Gottes wird dich doch zu finden wissen.« – –

Als ich zum letztenmal in ihre Stube trat, erschrak ich bei ihrem Anblick; denn ihr Gesicht war ganz entstellt. Meine Bewegung entging ihr nicht; aber selbst dem Tode suchte sie mit ihrer guten Laune zu begegnen. »Ja kiek man mal! Wo seh ick ut!« rief sie, scheinbar mit der alten Munterkeit, mir entgegen. – Als ich mich kaum gesetzt hatte, entstand ein Lärmen draußen vor den Fenstern. »Da hebb't se all wedder de arme Jung to'm besten!« sagte sie; und krank und sterbend, wie sie war, ging sie aus der Stube und hinaus auf die Gasse. – Es war ein blödsinniger Knabe aus der Nachbarschaft, der sich vergebens gegen ein Rudel übermütiger Jungen zu wehren suchte. Bald aber hörte ich draußen vor der Haustür die gelassene Stimme meiner Freundin, und sah durchs Fenster, wie still und beschämt die Ruhestörer auseinander schlichen.

»Se hebben noch immer so väl Respekt vör Tante«, sagte, nicht ohne einen gewissen Stolz, die junge Frau, die neben mir am Fenster stand. – –

Das war das letzte Mal, daß ich Lena Wies gesehen habe. Noch einige schwerste Leidenswochen folgten; dann hat auch sie das trauliche Häuschen mit dem engen Kirchhofsgrab vertauscht, in dem sie jetzt bei ihren Eltern ruht.

– – Mitunter an stillen Sommervormittagen besuche ich die alten Freunde meiner Jugend und lese die Inschrift auf ihrem Grabkreuze. Auch hier singen dann die Grillen; aber es sind nicht die Heimchen des häuslichen Herdes, und Geschichten werden bei ihrem Gesange nicht erzählt.


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