Theodor Storm
Ein Fest auf Haderslevhuus
Theodor Storm

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Als die Hochzeit auf dem Hof der Braut gehalten war, zog Claus Lembeck nach der Insel zu seinem Burgbau; der Baumeister hatte ihn gerufen, denn zwischen den Werkleuten, da die dortigen Männer meist auf Seefahrt waren, befand sich viel fremdes und wüstes Volk, so daß des mächtigen Bauherrn eigne Person vonnöten war; auch stand das Werk so weit gediehen, als dieser den Plan genehmigt hatte. Die jungen Ehesponsen aber zogen in der Frühe eines heiteren Aprilmorgens mit einem Gefolge von Dienern, Amtleuten und Frauen zu Wagen und zu Rosse nordwärts hinauf nach Schleswig nach dem Schlosse Dorning. Sie saßen nicht in weichen Kissen: nebeneinander, aber jeder auf eignem Rosse – Frau Wulfhild auf ihrem lichten Schimmel, auf seinem schwarzen Hengste Rolf – waren sie an der Spitze des Zuges geritten; doch oftmals drängten die Tiere sich zusammen; dann warf das Weib sich mit der Brust zu ihm hinüber, daß Rolf nur kaum den Hengst bezwingen konnte.

Der Tag war heiß geworden, und es war schon Nachmittag, als sie den Weg zur Burg hinaufzogen. Als sie oben durch den ersten Mauerring geritten waren und die Hufen ihrer Pferde auf die Zugbrücke schlugen, die über den tiefen Zwinger herabgelassen worden, sah Frau Wulfhild unter sich hinab auf das Heer von spitzen Pfählen, womit der Graben angefüllt war: im selben Augenblick drang von drunten hinter einer Pforte ein wild Geheul herauf. »Was ist das?« frug sie den jungen Ehegemahl.

»Da drunten, Wulfhild? Das sind meines Vaters liebste Hunde; er läßt sie nachts im Graben laufen, sobald die Brücke aufgezogen ist. Wir wollen sie töten lassen, denn es sind grimme Wölfe, und statt der Spitzpfähle ein Würzgärtlein mit Blumen pflanzen!«

»So?« sprach sie sinnend. »Nein, nein, laß mir die Wölfe! Ihr habt einen weisen Vater, Rolf!«

»Nach Eurem Willen, hohe Herrin!« rief der Ritter fröhlich.

Aber vor ihnen vom Pfortenturm blies itzt der Wächter immer mächtiger, und drunten aus der weit offenen Torfahrt drang Getöse und Waffenschall; da spornten sie ihre Rosse und sprengten ihrem Geleite voran hinein. In der Mitte des Hofes, um die schon grünende gewaltige Linde, standen Burgleute und Gesinde und begrüßten sie mit lautem Zuruf: »Heil Ritter Lembeck, unserm Herrn! Heil seiner schönen Fraue, Heil!« Sie zügelten ihre Rosse, und Wulfhilds Auge flog wie herrschend über die dichte Schar; als aber die Leute jetzt zurücktraten, wurde ein Brunnen bloß, in dessen steinernem Überbau der Eimer hing. »Ha, Wasser!« rief sie. »Wer reicht mir zum Willkomm einen Trunk dort aus der Tiefe?«

Da stürzten Männer und Weiber an den Brunnen, und sie hätten den Eimer abgerissen; aber er hing zum Glück in Ketten und fuhr rasselnd in die Tiefe. Bald trag der Burgwart mit einem Glaspokale aus dem Schloßtor, und nachdem er mit dem klaren Quell gefüllt war, bot der Alte ihn der Herrin dar.

Sie hob ihn auf, daß die Sonnenstrahlen hindurchblitzten; dann trank sie und rief: »Das Wasser ist gut hier auf der Burghöh; aber, ihr Leute, Frau Wulfhild wird auch sorgen, daß es an Met und Fleisch nicht fehle!«

Da erhub sich neuer Zuruf, und dazwischen scholl von draußen das dumpfe Geheul der Wölfe. Rolf Lembeck aber flüsterte zu seinem Weibe: »Du wirst gefährlich, Wulfhild; du willst alles, mich und meine Leute!«

Sie lächelte nur; doch als sie drinnen im Gemach den schönen Mann allein hatte, umschlang sie ihn mit ihren festen Armen: »Dich will ich, Rolf! Was kümmert mich das andre!«

Der junge Eheherr sah ihn in die zärtlichen Augen, als ob er Rätsel lösen solle.

Im Hofe draußen war es allmählich leer geworden; nur Gaspard der Rabe, den die Herrin nicht zurückgelassen hatte, saß noch unter der Linde auf der Steinbank, die um ihren Stamm herumlief. Sinnend saß er; er kannte seine Herrin: es war vom Blut des großen Gerhard in ihr; die Kunkel war ihr nicht genug. Mitunter fuhr ein dünnes Lachen durch seine schmalen Lippen; dann, wie mißbilligend, schüttelte der den Kopf: »Hüt dich, Frau Wulfhild!« – leis, doch in scharfen Akzenten rief er es gegen das Burgtor hin – »der Vogel ist noch nicht dein eigen!«

 

Der Rabe hatte gekrächzt; ein Hauch des noch verborgenen Wetters mochte ihn gestreift haben; woher es kommen sollte, wußte er nicht. Ich aber will es jetzt erzählen.

Eine Meile von Dorning gegen Osten, hinter dem Dorfe Hammelef, lag das später im sechzehnten Jahrhundert abgebrochene Schloß Haderslevhuus; man nannte es auch eine Bergfeste, denn wie jenes lag es in diesem höhenarmen Lande auf einem Hügel von wenig über achtzig Schuh. Alter Buchenwald bedeckte diesen und begrub fast das Schloß in seinen Wipfeln; aber auch nach Osten breitete er sich aus, doch so, daß dort ein schmaler Sandweg dicht an der jäh abfallenden Hügelwand vorüberführte und den Hinaufblickenden den oberen Teil des stumpfen Schloßturms sehen ließ. Wer etwas weiter ging, gelangte an eine von den ältesten Bäumen überwölbte Auffahrt, die in Windungen zum Schloß emporführte; wer nicht dahingehörte oder dort nichts zu schaffen hatte, den brachte der Weg, um tausend Schritte weiter, in die Stadt hinab. – Vor Beginn jenes Sandweges aber führte ein andrer, breiterer Weg zu Westen in weitem Bogen um den Schloßhügel und durch die freie Landschaft nach demselben Ziele. Dies war der gewöhnliche Stadtweg; denn in dem andern war vor Jahren ein Bauernbursch vom Wolf zerrissen worden, und die Leute gingen dort nicht gern.

Die feste Burg, von deren Ursprung schon derzeit keine Kunde gewesen zu sein scheint, war mit den Wäldern und sonstigem Landbezirk seit Jahren im Pfandbesitz des Dänenkönigs Waldemar Atterdag, wenngleich sie zu dem Leibgeding der Witwe des Herzogs Erich gehörte. Ein schleswigscher Ritter, Hans Ravenstrupp, saß als Schloßhauptmann des Königs dort, ein Mann von gewaltigem Körperbau. Halbwüchsig war er einst ein wilder Gesell gewesen und von rascher Faust; er hatte den eignen Bruder einmal fast im jähen Zorn erschlagen. Doch je mehr seine mächtige Gestalt sich auswuchs, je mehr er gefürchtet, ja als überlegener Streitentscheider aufgerufen wurde, um so milder wurden seine Sitten; dazu half ihm auch sein froh und gut Gemüt, das ihm der Herr mit auf die Welt gegeben hatte. So war er ein glücklicher und fester Mann geworden. In einigen Händeln seines Königs hatte er grimmig und mit Glück gefochten; kam er dann heim mit seinen Burgleuten, so standen vor der offenen Torfahrt sein zartes dunkles Eheweib, drei Söhne und zwei Töchter, alle voll Kraft und Wohlgestalt, und schwenkten grüne Buchenzweige in den Händen; dann sprang er von seinem Streithengst, und sie gingen über den Hof in das große Tor der unteren Halle, das erst vor wenigen Jahrzehnten von der Herzogin hier gebrochen war; und Glück und Frieden gingen mit. Zogen an Sommerabenden dann Wanderer oder Reiter unten durch den Sandweg, so hörten sie manches Mal ein Lachen oder Rufen von frohen Kinderstimmen über sich; dazu wohl eine tiefe Männerstimme, die beruhigend dazwischensprach. Die gehörte dem Ritter Hans Ravenstrupp, der hier seine Abendmuße mit Frau und Kindern teilte; denn der Burggarten, den ausnahmsweise dieser fürstliche Bau besaß, lag dort hinter starken Mauerzinnen. Die Hügelwand freilich fiel hier steil und kahl hinab; aber hart daran war eine italische Pappel, derzeit eine Seltenheit hierzulande, so hoch hinaufgewachsen, daß sie die Mauer wohl um zwanzig Schuh noch überragte. An einem ihrer oberen Zweiglein flatterte jetzt an leichtem Faden ein Kunstschmetterling aus bunten Hahnenfedern, den die ältere Schwester Heilwig angefertigt und den der Vater dort befestigt hatte. Der älteste Knabe stand hinter den Würzebeeten an dem Taxusbusche, seine gespannte Armbrust in der Lage; die Jüngste, die kleine süße Dagmar, hatte die Mutter auf den Arm genommen, damit sie alles sehen könne. Nun kam aufs neu ein Lufthauch, der den Sommervogel flattern machte. »Schieß!« rief der Vater, und der Bolzen flog von des Knaben Armbrust; eine Feder stob aus dem Schmetterling und wurde von dem Winde hoch in die Luft getragen. Da klatschten alle in die Hände, der Vater und die Mutter auch, und die süße Dagmar schlug ihr Kinderlachen auf und ließ nicht ab, sich ihre Händchen rot zu patschen.

 

Es wurde alles anders. – Einige Jahre später, es war an einem Nachmittage des September 1349, da der Ritter mit seinem Schreiber an der Arbeit saß, kamen die damals elfjährige Dagmar und der um ein Jahr ältere Bruder Axel mit erschreckten Gesichtern zu ihm hineingestürzt. Etwas unwillig blickte er auf: »Was ist? Was habt ihr, Kinder?«

Sie waren fast außer Atem; aber Dagmar, das schmächtige Ding, war, wie um Furchtbares zu erzählen, mit erhobenen Armen vor ihn hingetreten.

»Nacht!« rief sie. »Es wird Nacht, Vater!« Und aus dem schmalen Gesichtlein sahen die schwarzen Augen zu ihm auf.

Der Ritter blickte um sich: sie hatte recht, die Sonne war erloschen, die Wände des Gemaches standen öd und lichtlos.

»Ja, Herr«, sagte der Schreiber; »es fällt wie Asche auf die Schrift.«

»Nein, Ringang, nicht wie Asche!« rief der Knabe. »Ich sah es: im Norden, weit hinaus, stieg schwarzer Nebel aus der Erde und schwimmt wie eine Wolke auf uns zu; sehr nur, es wird ganz finster hier! Kommt, kommt mit hinaus!«

Die Kinder faßten beide die Hand des Vaters; und er ließ sich von ihnen aus dem Gemach und nach dem stumpfen Turm hinaufziehen; auch die Mutter mit der älteren Tochter und die beiden älteren Söhne stießen auf dem Wege aus Hallen und Gemächern zu ihnen. Als sie die Platte des Turmes erstiegen hatten, stand schon ein Teil des Gesindes dort und wich ehrerbietig an die Seite; alle schwiegen, nur die alte Schaffnerin flüsterte mit ihrer heiseren Stimme zu dem einen oder andern: »Die Zeichen des Herrn erfüllen sich! Wißt Ihr noch, da um das Julfest dreizehn Kühe jählings wild geworden! Und da wir nach dem Backen das erste Gerstenbrot aufschnitten, schnitten wir nicht in schwarzes Blut? Des Herrn Gericht! O alle Heiligen, seid unsre Helfer!« – Aber niemand antwortete ihr.

Die Schloßfrau hatte die Hand ihres Mannes ergriffen, und bald lagen alle Kinderhände in der seinen; denn schon hatte das schwarze, von Norden kommende Dunstgespenst sich über sie gebreitet und sank in furchtbarem Schweigen auf die Erde.

»Kommt!« sprach der Ritter leise, indem er mit den Seinen zuerst die Treppenstufen hinabstieg. Und alle folgten ihm nach unten zu der kleinen Burgkapelle, deren Torklinke nur noch mit tappender Hand zu finden war. Drinnen aber zogen schwarze Nebelflocken unter der gewölbten Decke und verbargen das Antlitz des Kruzifixus über dem Hauptaltar; und von dem Bild der Mutter Gottes scholl die zerrissene Stimme der alten Schaffnerin: »O heilige Jungfrau, deine Augen! Wo sind deine Augen?« Alle lagen auf ihren Knien in den Stühlen und beteten stumm und schrien mit gerungenen Händen zu Gott und allen seinen Helfern.

Sie hätten es sich sparen können; denn der Schwarze Tod war gekommen, der die Welt leerfraß und gegen den nichts half als sterben.

In selbiger Nacht noch blies er den jüngsten Knaben an, und sein Eingeweide brannte, seine Lippen wurden wie Ruß, und am dritten Tage war statt des schönen Knaben ein schreckhafter blauschwarzer Leichnam auf dem in Todesqual zerwühlten Bette; dann griff er nach der schönen ältesten Tochter, dann nach den beiden andern Söhnen; und sie starben alle, alle. Hallen und Gemächer dufteten Tag für Tag nach frischem Gras und Thymian, das gegen die böse Pestluft überall gestreut wurde; aber die Mutter Erde und ihre Kräuter hatten keine Heilkraft mehr; es war, als ob selbst Gott der Herr die Macht verloren habe auf seiner Erde.

Ein paar Monde schien dann das Sterben im Schlosse aufzuhalten; da eines Tages trat die Schloßfrau zu ihrem Eheherrn in sein Gemach, gekrümmten Leibes, mit entstelltem Antlitz. »Benedikte!« schrie er.

»Ja, Hans, ich muß nun auch von dir!«

»Du nicht! Du nicht, Benedikte!« Und er streckte seine Arme nach ihr aus. »Herr Gott, wo bist du? Herr, schütze deine Menschen!«

Aber bevor er sie berührte, war sie mit ihrer letzten Kraft entflohen. »Ade, du mein Herzenstrauter! O süße Dagmar!« So rief sie noch zurück.

Er hatte ihr folgen wollen, aber ein bewußtloser Schrecken hatte ihn festgehalten; dann ging er taumelnd nach ihrem Ehegemach; aber es war leer, und seiner Sinne unmächtig, sank er auf das große Bett.

Die Schaffnerin, die noch lebte, fand ihn am andern Tage; aber sie erkannte, daß das große Sterben ihn nicht ergriffen habe.

Während sie ihn pflegte, war sein Weib verschwunden, und Dagmar, um die sich niemand kümmerte, das blauschwarze Haar wirr um ihr blaß Gesichtchen, lief, nach der Mutter weinend, durch Hall' und Gänge. Da wollte eine der Dirnen ein Gewandstück aus einer entlegenen Kammer holen; aber schreiend stürzte sie zurück, denn auf einem alten dort stehenden Bette lag ein schwarzer Leichnam, dem die Abendsonne das Gesicht beschien. Da die andern Dirnen hinzukamen, sahen sie, es sei die Schloßfrau, die einsam hier gestorben war.

Als der Ritter aus seinem Wirrsal aufwachte, war sein Weib nicht mehr im Hause. Die Kinder lagen drunten auf dem nahen Kirchhof; der aber hatte lang schon keine Erde mehr für neue Tote; seitwärts vom Walde war eine Niederung, dort hatte man mit Pfählen ein Viereck ausgeschlagen, wohin nun alle gebracht wurden, die der Tod erschlug. Draußen auf dem »Pestacker« war auch des Ritters Weib vergraben worden; so erzählte man ihm jetzt.

Er erwiderte kein Wort auf diese Kunde; aber er erhob sich bald von seiner Bettstatt. Den Gürtel lose um den grauen Leibrock geschlungen, die Otterkappe in die Augen gedrückt, schritt er langsam durch alle Hallen und sich kreuzenden Gänge des ganzen Baues, treppauf und -ab; mitunter riß er eine Tür in ihren schweren Angeln auf, er stand wie hintersinnig auf der Schwelle und blickte in das düstere Gemach; aber die Zellen waren alle leer und totenstill; wo die Älteste geschlafen hatte, lag in der Fensterbrüstung noch das verhungerte Rotkehlchen, das der kleine Axel ihr einst gefangen und jubelnd heimgebracht hatte; niemand hatte die Zellen öffnen dürfen, seitdem die jugendliche Gestalten als furchtbare Leichen dort herausgehoben waren.

Das Leben und die Arbeit lag danieder, alle Ordnung und Geschäft war aufgelöst; aber jeden Tag, morgens und wenn die Sonne niedersank, machte der Ritter seine düsteren Gänge durch die Burg; er rechnete nicht mit sich, weshalb; es war auch Sonstiges nicht für ihn zu tun. Ein paarmal war Dagmar ihm leise nachgeschritten, aber er sah nicht rückwärts; auch als sie in Angst und Sehnsucht stärker auftrat, schlossen nur seine Hände auf dem Rücken sich fester ineinander, und ohne sonstige Bewegung schritt er weiter. Da blieb sie stehen, legte die Finger auf ihre zitternden Lippen und verschluckte ein paar Tränen, die ihr aus den Augen fielen; dann kehrte sie um und suchte bei der alten Schaffnerin ihren stillen Unterschlupf.

Nur einmal, da bei seinem Vorübergehen das blasse Gesichtlein ihn so stumm und flehend angesehen hatte, ging er auf seinem Totengang nicht weiter. Er gedachte plötzlich einer Base seines toten Weibes, die einst in ihrer Jugend am Thüringer Hofe auf kurze Zeit zu den gelehrten Frauen gezählt worden sei; denn sie verstand zu lesen und zu schreiben, hatte sogar den Virgilium studiert; auch Paramentenstickerei und derlei Künste hatte sie verstanden. Sie war nun alt und lebte in einer kleinen Stadt von einem Rentlein, welches ihr die Sippe gab.

Der Ritter ging in sein Gemach; er setzte sich an seinen Schreibtisch und lud die Base ein, zu Zucht und Lehre Dagmars in sein Haus zu kommen. Und nicht lange, so war sie mit ihrem kleinen Hausrat eingerückt; darunter fanden sich ein Päckchen Pergamentrollen und beschriebener Blätter, eine sauber geschnitzte Mutter Gottes und eine kleine Anzahl von Glasscheiben, für welchen man auf ihr Verlangen das sonst nur mit dünnen Därmen bespannte Fenster ihrer Kammer zurichtete.

Seitdem lebte und schlief Dagmar mit der Base. »Wir wollen es gut mitsammen haben, Kind!« sagte die Alte, da sie zum erstenmal sich neben dem Mädchen in ihren breiten Sessel setzte.

Und Dagmar ergriff ihre beiden alten Hände.

»Aber du zitterst, Kind!« rief die Base.

»Ja, Bas', ich war hier so allein!«

Und die alten guten Augen sahen zärtlich auf das blasse Ding; aber Dagmar zitterte noch immer, sie war der Liebkosungen zu lang nicht mehr gewohnt. Allmählich, erst nach Monden, brach wieder ein zartes Rot durch ihre Wangen, und der süße Augenschein war wiederum darüber; und wenn noch so alt, sie hatte itzt doch eine, zu der sie gehörte, die keine andre in ihren Arm nahm als nur sie.

Der Ritter aber war am Ende ein finsterer Mann geworden; die Lust und Güte seines Herzens war bei den Toten; gegen die Lebenden war seine Hand von Eisen.

So ging die Zeit um ein paar Jahre weiter. Der König hatte harte Abgaben auferlegt, die härteste war der Viehzehente, und für falsche Angabe des Viehbestandes waren schwere Bußen ausgeschrieben. Der Schloßhauptmann saß den Vögten in dem Nacken, daß alles pünktlich eingetrieben werde: »Der König will es«, war seine einzige Antwort, wenn sie dagegen über des Volkes Unmacht klagten. Warfen dann die Armen sich ihm selber in den Weg, so wandte er schweigend ihnen den Rücken und schritt davon, bis der Schrei des Elends hinter ihm verhallt war.

Da eines Herbsttages, als schon der Duft des gefallenen Laubes durch das offene Tor der unteren großen Halle wehte, war ein Weib hier eingedrungen, als eben der Ritter in das Freie treten wollte. Sie war eine Witwe, tief verschuldet, und um Verschweigung zweier Rinder schwer gebüßt worden. Da sie unversehens ihm in den Weg trat, herrschte er sie an: »Was willst du? Geh mir aus dem Wege!«

Das Weib erschrak; sie vermochte nicht zu antworten, aber ihre Augenlider öffneten sich weit, als gebe sie dem zornigen Blick des Mannes ihre Seele preis. »Erbarmen!« lispelte sie kaum hörbar und warf sich auf die Fliesen nieder.

Der Ritter wollte an ihr vorüberschreiten, aber der Aufschrei einer Kinderstimme machte ihn stillestehen. Als er sich umblickte, sah er sein Kind; sie stand mit einem Fuß noch auf der letzten Stufe der aus dem Treppenturm herabführenden Stiege; die schmalen Händchen, die unter dem schwarzen Ärmelsaum des weißen Kleides hervorsahen, hingen schlaff herab; ihre dunklen Augen blickten erschreckt zu ihm hinüber.

»Du bist es, Dagmar?« sprach er; er hatte vielleicht in Jahresfrist kein Wort an sie verloren. Sie aber, da sie seine Stimme hörte, war an seinen Hals geflogen und drückte weinend den Kopf an seine Brust.

Der starke Mann bebte und frug mild: »Was willst du denn, mein Kind?«

Da sprach auch sie, doch ohne aufzusehen: »Erbarmen, Vater!«

Er aber hob die Faust gen Himmel und rief: »Fand ich Erbarmen? – Die Hände hab' ich im Gebet zerrungen! Gott schwieg, und so tu ich's auch.«

Da hob das kleine dunkle Haupt sich zu ihm auf, und aus den Kinderaugen drang so gramvoll süße Bitte, daß er verstummte und den zarten Leib, als müsse er ihn zermalmen, mit beiden Armen an sich preßte. »Mein Kind!... Du lebst!... Du lebst!« Und seine Augen tranken den Jugendglanz der ihren. »Oh, doch ein Glück auf Erden – Gott sei mir gnädig!«

Das arme Weib lag noch auf ihren Knien und hatte wortlos diesem Vorgang zugeschaut; jetzt streckte eine Hand sich gegen sie. »Bist du noch hier, Weib?«

»Ja, Herr!« Und ihre Stimme bebte in Erwartung.

»So gehe heim! Die Buße, ich zahle sie für dich!« – Und noch einmal, da sie schon hinausgeschritten war, rief er sie an: »Was ist dein Name, Weib?« Und als sie es ihm gesagt hatte, sprach er: »So gehe heim, Trin Harders, und herze deine Kinder! Du sahest, unser Gott hat auch mit seinen armen Knechten wiederum Erbarmen.«

Dann hob er sein Töchterchen auf seine Arme und trug sie in sein Gemach. »Dagmar, mein Kind«, sprach er, indem er sie sanft zu Boden ließ, »es ist so hell hier heute, und scheint doch keine Sonne von dem grauen Himmel!«

– – So war nun Dagmar zwischen dem schweigsamen Vater und ihrer fast siebzigjährigen Base und sah nimmer ihresgleichen. Ihre Welt war die düstere Burg und, wenn Frühling und Sommer kamen, der Garten, der dahinter lag, wo außer ihr dann nichts war als das Summen der Bienen und Hummeln und drüben jenseit des tiefen Sandweges das Rufen der Drosseln aus dem Walde. Der Ritter hatte seit seines Weibes Tod ihn nimmer wieder betreten; denn seitwärts, vorbei an den Wipfeln des Waldes, schimmerte der graue Fleck des Pestackers. Dagmars Augen aber sahen gern dort hinüber, oder sie saß auf einer Bank, neben der die hohe Pappel ragte, und unter dem Summen und dem Gesang der Vögel sah sie wie einst den Bruder nach dem Sommervogel schießen.

Meist saß sie freilich droben bei der Base in dem Gemache mit den Butzenscheiben; sie nähte und stickte; auch lernte sie lateinische Vokabeln oder schrieb mit der Feder nach, was ihr die Base vorgeschrieben hatte. Dazwischen kam wohl einmal der Vater, strich sanft über ihr dunkles Haar und ging dann schweigend wieder fort. Als er ihr dabei eines Tages einen Silberreif ums Haupt gelegt hatte, trug sie ihn ferner an jedem Tag.

Später holte die alte Dame auch ihre Schriftrollen aus der Truhe; und eines Abends, eigner Jugendstunden denkend, griff sie nach Hartmanns von Aue »Armem Heinrich« und begann zu lesen, indessen Dagmar mit offenem Munde ihr zu Füßen saß. Wie kristallene Tröpflein fielen die lichten Worte zu ihr nieder: der junge unheilbar sieche Burgherr im Schwabenland hatte auf seinem Vorwerk bei dem Meier sich verborgen; die Menschen sollten nicht sein Elend schauen, aber mit seinen noch immer schönen Augen streifte er einmal traurig seines Wirtes junge Tochter. Da ließ das Herzeleid um ihren Herrn sie nimmer schlafen; und als an einem Tage ein weiser Meister zu dem Herrn sprach: »Ich will Euch heilen; aber schaffet eine Jungfrau, die um Euch den Tod erkieset und aus der Brust sich das lebendige Herz will schneiden lassen!« Da, während der Herr und ihre Eltern sich entsetzten, rief das Kind: »Die Jungfrau bin ich! Nehmet nur das Messer, daß mein Herr genese!«

Ein schwerer Seufzer rang sich aus Dagmars Brust; sie griff nach ihrer Base Hand, als müsse sie den Strom der Dichtung hemmen. Dann aber brach ein so erhabenes Leuchten aus des Kindes Augen, daß die Base die Schriftrolle hinwarf und sie mit Hast in ihre Arme zog: »Kind, Kind! Ich glaube fürwahr, du wärst zu solchem auch imstande!«

»Ja, Bas'! – War das die Minne?«

»O Kind, Gott behüt dich vor der Minne!« Und die Base packte erschreckt das Schriftwerk an die Seite.

– So war Dagmar fast sechzehn Jahr geworden, und noch immer war sie zarterern Leibes, als sonst die Menschen sind. Da sie eines Tages eine Handvoll weißer Anemonen dem Vater in einen Krug ordnete, sah er ihr zu wie einem Wunder: »Du bist wie deine Mutter«, sprach er dann; »mein Vater, als ich zuerst die Braut ihm zuführte, weigerte mir lächelnd seinen Segen; die sei der Elbinnen eine und würd' nicht bei mir bleiben!« Und als er das gesagt hatte, riß er heftig das Kind an seine Brust.

Einer, der sie noch selber sah, soll einst geäußert haben, ihr Körper sei gewesen, als habe ihre anima candida ihn selber sich geschaffen.

 


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