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Aufsätze, Anzeigen und Vorreden

Aus Husumer Geschichtsquellen

I

Es ist vor kurzem einmal ausgesprochen worden, daß wir erst jetzt völlig aus dem Mittelalter herauszutreten beginnen; und in der Tat finde ich selbst in meinem Gedächtnisse Szenen und Gestalten, welche nur möglich waren, solange die abstrakte Lebensauffassung der Jetztzeit den derb sinnlichen Zug des Mittelalters nicht völlig verdrängt hatte. Mehr als einmal, in den Hochsommern meiner Knabenzeit, habe ich noch den Schinderknecht auf seinen brutalen Streifzügen durch die Gassen wandern sehen, in der einen Hand den Knüppel, um jeden ohne Zeichen laufenden Hund niederzuschlagen, unter dem andern Arm einen schmutzigen Sack mit verreckten Kötern; angstvoll bin ich mit einem Kameraden vor dem wüsten, lahmenden Unhold hergelaufen, um den kleinen Pinscher meines Freundes, der sich aus der aufgedrungenen Haft zu befreien gewußt hatte, wieder einzufangen und vor schmählichem Tode zu bewahren. Und dort aus der Süderstraße – ein freundlicheres, aber auch längst verschwundenes Bild – sah ich den Festzug der zünftigen Lehrjungen herabkommen, durch den die Schalksnarren mit ihrer Peitsche hin und wider sprangen; freilich, an der Spitze des Zuges tanzten Schäfer und Schäferin aus der Rokokozeit, und allen voran sprang der Läufer mit Blumenschurz und knallender Peitsche.

Aber nicht gar weit über meine eigene Erinnerung brauche ich hinauszugehen, um wahrzunehmen, daß auch den Einwohnern meiner kleinen Vaterstadt die beiden feuerfarbenen Gesellen des Mittelalters, der Henker und der Teufel, nicht wenig zu schaffen gemacht haben. Die Möglichkeit eines solchen Rückblicks ist von den alten Husumern dem Enkel fürsorglich erleichtert worden; denn sie hatten es an sich, daß sie leicht zur Feder griffen und allerlei Buchwerk von sich ausgehen ließen; nach dem berühmten Chronizisten D. Casp. Danckwart, welcher 1652 als Bürger-Meister, da er bei Tisch sich mit Lesung der Bibel ergetzte, durch einen unverhofften Todesfall dieser Stadt entrissen wurde, folgt noch eine ganze Reihe Husumer Autoren; und so liegen denn augenblicklich drei solcher Tröster mit ihren langatmigen schwarz und rot gedruckten Tituln vor mir aufgeschlagen.

Auch dem Autor des jüngsten dieser Bücher – »Ein zweifaches zweihundertjähriges Jubelgedächtniß, Hamburg 1723« – dem Hochwürdigen M. Johanni Melchiori Krafften, Past. Prim. wie auch Kirchen- und Schulen-Inspectori zu Husum, ist es, wie er in seiner die Geschichte der Archidiakonen beschließenden Selbstbiographie erzählt, noch vergönnt gewesen, die Geschäftstätigkeit des Teufels mit leiblichen Augen zu betrachten. Da er nämlich noch bei den Söhnen des Erbherrn auf Putloß, Herrn Otto von Rantzau, als Hofmeister fungierte, machte er in der Stadt Oldenburg, wohin jenes hochadlige Gut seine Kirchenfahrt hatte, die Bekanntschaft des dortigen Pastoris Primarii Lackmann, welcher ein sehr gelahrter und gottseliger Theologus und ein großer Freund des Studii Apocalyptici, auch der Meinung war, daß die Zeit der Tausend Jahre noch unerfüllet sei. »In dieser Stadt Oldenburg«, erzählt der Autor, »erlebte auch damahls einen sehr betrübten Zufall mit einem Studioso Theologiae, welcher mit einer großen unbedachtsamen Vermaledeyung die Cantzel verfluchet. Da er aber am Sonntage Palmarum über Phil. 2 wieder geprediget hatte, gerieth er die Nacht darauf in solche erbärmliche Umstände, die das Ministerium und alle Verständige nicht anders denn für eine leibhaftige Besitzung des Satans halten konnten, so bis auf den Char-Freytag währeten, und ich oft mit angesehen; da GOTT endlich ihm gantz wieder bei anhaltendem Gebet und singen zurecht half, daß er alles, auch was in der Zeit geschehen, erkannte, GOTT abbat und anbey zeigete, daß die Unflätereyen, die er getrieben, der Teufel wider seinen Willen, mit Gewalt, vermöge seiner Hände, gewirket. Worauf er wohl, und wie ich glaube selig, an Ostern starb.«

Auch den Henker, wenn auch nur von ferne, sehen wir in rüstiger Amtstätigkeit. Es ist nämlich »dieses Buch außer allen übrigen Gliedern und Zuhörern dieser gantzen Christlichen Gemeinde« auch allen Amt- und Würdenträgern der Stadt von dem »Hoch-Wohlgebohrenen Herrn Ober-Cämmerer Amptmann und Präsidenten« an bis herab zu den »wohlbestallten Herrn Vorstehern der Armenkist« namentlich und mit voller Titulatur zugeeignet; darunter aber genießt der Passus, welcher »denen Hoch-Wohl-Edlen, Hoch-Wohlweisen, Hoch-Ehren-Vesten, Hoch-Achtbahren und Hoch-Wohlgelahrten Herren« – folgen die Namen – »Sämmtlich Hoch-Wohl-ansehnlichen und wohl-verordneten Raths-Verwandten dieser Stadt« zugeschrieben ist, einer ganz besonderen Motivierung. »Ausser denen particulieren Wohlthaten / Gunst- und Liebes-Beweisungen /« schreibt der Verfasser, »muß unter andern sonderlich mit danckbahrem Gemüth Lebenslang auch erkennen / daß / da 1717. in der Fasten-Zeit von dreyen Juden in der mittern Nacht durch einen gewaltthätigen Einbruch so jämmerlich / fast um alle das Meinige war bestohlen worden / Sie ohn all mein Ersuchen gleich zugetreten / und da den Dieben war nachgesetzt worden / Sie sogleich solche einholen und processum criminalem wider sie fomiren lassen; da dann solches der Stadt nicht wenige Kosten verursachet; Obwohln / da die Diebe bey ihrer Hartnäckigkeit / die / von der Hochvornehmen Juristen-Fakultät in Hall nach eingeholtem Responso, zuerkannt gewesenen Tortur ausgestanden / die Müh und Kosten zu der Zeit wie vergebens waren / biß GOtt in diesem Jahr / auch in den Fasten um gleiche Zeit / das Gestohlene zum theil recht wunderbahr / ob wohl mit diesen recht schmertzlich betrübten Umständen / daß der Hehler das Leben dabey eingebüsset / und in der größten Verbitterung und Leugnen gestorben / wieder entdecket und der Ausgang dieser Sachen von GOttes sonderbahren Wegen / Rechten und Gerichten / ein mehrers offenbahren wird.«

Bekennen muß ich übrigens, daß unser trefflicher Pastor Primarius nur der Stammvater eines hiesigen Geschlechts gewesen ist; er selbst wurde in der Freyen-Reichs-Stadt Wetzlar als Sohn eines dortigen Schöpffen und Rathsverwandten geboren, und zwar 1673, da selbige von denen Frantzosen eingenommen und auch seines Vaters Haus mit einer großen Menge Soldaten bequartieret war, so daß seinen Eltern keine andere Lagerstätte, als nur die bloße Erde übrig geblieben, und seine hertzliebste Mutter, da sie die Noth mit ihm ankam, auf einer langen Lade ihre Geburtsschmerzen überstehen und ihre Wochen halten müssen, ohne das Geringste unter oder über sich zu haben als ihre Kleider. Oft habe sie ihn zu solcher Kiste mit der Hand geführet und angeredet: »Siehe, auf dieser harten Kiste habe ich Dich zur Welt gebracht!« Da sie dann mit Thronen der damahligen elenden Zeiten und dann auch der vielen Barmhertzigkeit, die GOTT an ihr und den Ihrigen gethan, sich mit vieler Gemüthsbewegung zu erinnern gepflegt habe.

Ein echtes Stadtkind aber und zwar ein Sohn des kunstreichen Goldschmiedes Matthias Petersen, welcher mit seinem ebenso geschickten Bruder die meisten Charten zu Danckwerths berühmter Landesbeschreibung in Kupfer gestochen hat, ist Petrus Goldschmied, Pastor zu Sterup in Angeln, der Verfasser des »wider die vorige und heutige Atheisten, Naturalisten, und namentlich wider den Schwarmgeist D. Beckern in der Bezauberten Welt« gerichteten, um 1704 an das Licht getretenen »Höllischen Morpheus, welcher« – laut dem Titul – »kund wird durch die geschehene Erscheinungen derer Gespenster- und Polter-Geister, darauß nicht allein erwiesen wird, daß Gespenster seyn, was sie seyn und zu welchem Ende dieselbigen erscheinen, aus allen aber des Teuffels List, Tücke, Gewalt, heimliche Nachstellungen und Betrug handgreiflich kann ersehen und erkannt werden.«

Zur besseren Veranschaulichung ist das Porträt dieses unsauberen Geistes sofort dem Buche vorgedruckt; zweifelhaft scheint es mir indessen, ob auch seine genauesten Freunde ihn darin haben erkennen mögen. Aus einem etwas feisten Antlitz schauen die kleinen Augen träge und mühselig vor sich hin, was eben nicht zu verwundern ist, denn der vorn hängende schwere Fettwanst steigt hinten zu einem ungeheueren Buckel auf, der überdies von einem kleinen munteren Drachen in Besitz genommen ist, ohne Zweifel dem Beherrscher des Fliegenungeziefers, von dem der arme Morpheus überkrochen wird. Und dies alles nebst dem drallen an der Erde schleifenden Sauschwanz muß der Vielbeschäftigte mittelst eines Rinds- und eines Hahnenfußes auf seinen Berufswegen mit umherschleppen. Es ist billig zu bewundern, wie diesem Mühseligen und Beladenen noch die Lust zu solchen Neckereien und Leibesübungen anwandeln konnte, wie der Verfasser solche bei ihm wahrgenommen hat.

Titelbild zu P. Goldschmieds Höllischem Morpheus.

»Was meine Ohren selbst gehöret,« meint derselbe, »kann ich mit Wahrheit aus der Feder fließen lassen. In meiner Jugend und meiner beyden seligen Eltern Leben hat man in ihrem Hause in Husum in der Norderstraße nicht weit von der Kirchen dergleichen Teuffels-Gaukeley offt gehabt. Denn meine selige Mutter in Erbschafft wegen ihrer ersten Ehe einen, wie man da sagt, Todten-Tisch empfangen, und ward solcher Tisch in der Nachbarschaft, wenn sich ein Sterbfall begab, gerne ausgeliehen. Was aber merkwürdig allhier war, war daß wir unfehlbar allezeit etliche Tage vorher, ehe der Todten-Tisch den Todten anzukleiden gebrauchet ward, höreten Winseln, Weheklagen, Heulen und dergleichen Geräusch, so zu solcher Zeit gewachst wird. Dahero meine itzo in Gott ruhende Eltern bewogen wurden, diesen Todten-Tisch aus dem untersten Hause wegzunehmen und oben hin auf den Boden zu bringen. Allein da man meinete, daß man allen Lerm abhelffen wollte, gab man Ursache zu größerem; sintemahl der Boden allezeit mit Poltern angefüllet ward, indem man die Treppe auff und niederging und an dem höltzern Tafelwerk anstieß. Solches Poltern agirete der Teuffel allezeit etliche Tage vorher, und das bisweilen mit solchem Ungestüm, daß meines seligen Vatern damahliger Lehrjung bewogen ward zu schreyen, daß Diebe im Hause wären. Da wir alle auffkamen aus dem Bette, war das Haus gantz veste verschlossen und nirgends eine geöffnete Luke; darüber wir endlich in uns schlugen, und des Teuffels Polterey mit oder über dem Todten-Tisch uns erinnerten.«

Diesem Berichte unsers alten Gewährsmannes gegenüber kann ich nicht verschweigen, daß auch auf dem Packhausboden meiner Großmutter, als der Ältesten der mütterlichen Familie, sich zwar kein Totentisch, wohl aber eine »Totenlade« von ähnlicher Extraktion befand. Noch sehe ich bei dem Tode meines Großoheims die schielende Leichenbekleiderin, deren bleichem Gesichte man es anzusehen glaubte, daß sie sich von Begräbniskringeln nähre, vor der grauen, dreieckigen Kiste knien und mit geschäftlichem Behagen die damastenen Bahrtücher und die schwarzen Flore und Bänder zur Verzierung der großen Wachskerzen hervorsuchen und in feierlicher Ordnung für ihren grausigen Zweck beiseite legen. Schon das hätte genügt, um jenes plumpe, nur bei solchen Gelegenheiten an das Tageslicht gezogene Ding uns Kindern unheimlich zu machen; allein der Kutscher, welcher auf dem Bodenraume darunter, und der Schreiber, welcher zur ebenen Erde seine Schlafkammer hatte, versicherten überdies einstimmig, daß sie, vom Schlafe aufgestört, schon einige Nächte vorher die alte Lade mit ihren Klumpfüßen deutlich die steilen Treppen hätten herabkommen hören. – Aber freilich, es war jetzt nicht mehr der Teufel, der solches Gaukelspiel trieb, auch nicht im Gegensatz hierzu, wie später bei Jung Stilling in seiner »Theorie der Geisterkunde«, Warnung oder Weckruf Gottes, es war jetzt das düstere Ereignis selbst, das ungeduldig seine Ankunft meldete und seinen Reflex in die Gegenwart zurückwarf; in andern Fällen wohl auch die rätselhafte Begabung der sich selber unergründlichen Menschenseele.

Herr Petrus Goldschmidt jedoch hatte es lediglich mit dem Teufel zu tun, und zwar scheinen die Begegnungen mit selbigem zu den alltäglichen Vorkommnissen seines Lebens gehört zu haben; daher er sich denn auch wenig dadurch in seiner geistlichen Ruhe stören ließ. So, da er 1692 sein Pfarramt zu Sterup angetreten, hat es in seiner Schlafkammer getobt, als wenn alle Wände über den Haufen geworfen und alles Tafelwerk in kleine Späne gerissen würde, so daß seine Liebste darüber sehr erschrecket; denn da er dem Gesinde mit dem Glöcklein ein Zeichen zum Aufstehen gegeben, hat es, je mehr er klang, desto mehr Gepolter gemachet, bis daß, da nach vielem Klingen das Gesinde mit Licht gekommen, das Gepolter sich ohne ein Merkzeichen geschehenen Schadens verloren habe. – Desgleichen an einem andern Abend, da auf einen nicht wohl beleumundeten Vorgänger die Rede gekommen, und der Verfasser gesprochen, »er wünsche hertzlich, daß derselben Person Seele wohl sein möge«, hat es, da die Wörter kaum gesprochen, mit einem Stabe zu dreien Malen an die Stubentür geschlagen und also gleichsam seine Rede beantwortet; darauf denn unter dem Baurischen Gesinde ein Schrecken und hernach mancherlei Meinungen entstanden. »Ich aber, wie billig,« fügt der tapfere Pastor hinzu, »habe in solchen Fällen über des Teufels Gaukelspiel lachen müssen.«

Wie handgreifliche Späße aber der Teufel sich zu jener Zeit im hellsten Sonnenschein erlaubte, davon liefert ein früheres Erlebnis des Verfassers den schlagendsten Beweis. Er erzählt die Sache folgendermaßen: »In der Zeit anno 1685, da ich mich bei meinem itzigen Herrn Schwiegervattern, Wohlehrwürdigem Prediger des Kirchspiels Esgrus in Angeln, auffhielte, als Informator seiner Söhne, begab's sich, daß ich an meiner linken Hand ein Geschwür empfing und deswegen den Wundarzt in dem nächstangelegenen Flecken Cappel, Nahmens Daniel Preß, gebrauchen muste, solchen Schaden zu verbinden und zu heilen. Nachdem nun auff einen Sonnabend Nachmittag gegen 3 Uhr wieder von Cappel abritte zu Hause und zwischen dem Dorffe Meelby und Sandbeck in dem Redder kam, begegnete mir eine Vornehme und bei der gantzen Holsteinschen Noblesse in sondern Ehren, so wol des Geschlechts als Alters, Geehrte und sonst bei jedermann im Lande der Gottseligkeit halben berühmte Hochadeliche Persohn, welcher Nahme mit großen Römischen Buchstaben F. H. V. A. F. nur exprimire, nebst zwo bey ihr in der Carosse, welche der bekandte Kutscher mit vier Pferden trieb, gleich als wenn sie einen fernen Weg reisen wollten. Da mir die Hochadeliche Persohn sehr wol bekandt war, war ich desto bereiter, auch gehorsahme Reverence derselben zu machen, da denn zugleich das Pferd, welches ich ritte, anfing zu schnauben und alle poßierliche Sprünge zu machen, sogar auch, daß mit demselben in die Strenge der beyden vordersten Pferden vor den hintersten hineinkam. Alle Persohnen sassen und lachten, doch hielt Kutsch und Pferde still, daß meines Pferdes Hinterfüße glücklich aus den Strengen herausbrächte. Darauff ich denn meine Entschuldigung gegen die Persohnen machte, die aber kein eintziges Wort, sondern nur lauter lachende Minen mir machten, da sie mich alle wol kannten. Schämte mich also nicht wenig über das Gepolter, so da gemachet hatte, und gab dem unberittenem Pferde die Schuld, und in solcher Alteration brachte es desto geschwinder auf dem Rückweg zu Hause. Sobald ich nun ins Hauß gekommen, erzehlete die Faute, so begangen hätte, wiewol mit Bestürtzung derer, die es anhöreten, indem man gewiß wüste, daß die Hohe Persohn nicht außgefahren wäre und gar gewiß auch in desselben Augenblick aufs ihren Adelichen Sitz mit den Ihrigen sich befandt. Hätte also damahls nur mit den vermummeten Teuffeln meine Complementa gehalten, und diese mich geäffet.«

Nach einer solchen Erzählung macht der Autor dann wohl einen Halt zum Atemholen; er stemmt gleichsam die Arme in die Seiten und ruft, triumphierend um sich blickend: »Ich möchte wohl wissen, was Doktor Becker auf diese Geschichte antworten wollte!«

Freilich, der Verfasser von » De betoverte Wereld«, der tapfere westfriesische Pastor, konnte ihm nicht mehr antworten; er ruhte schon seit sechs Jahren im Grabe, nachdem seine orthodoxen Amtsbrüder, unter Anschuldigung des Socinianismus und Cartesianismus, ihn zwar nicht um seine Überzeugung, wohl aber um Amt und Brot gebracht hatten. – Aber auch an dem toten Manne scheint der lebende Kollege desselben einen schwer zu bewältigenden Gegner zu haben; denn obwohl er dessen Schrift für »altväterliches Plauderwerk« erklärt, das nur Ekel und Gelächter erregen könne, und auch während dem Schreiben eine »vornehme Persohn« ihn gebeten, er möge mit Verwerfung der ungebackenen Beckerschen Gründe nicht zu weitläufig sein, weil fast kein Einziger des D. Beckers Sachen mehr ansehen möge, so ist er doch unermüdlich, mit Zitaten und Exempeln wider ihn ins Feld zu ziehen und klärlich darzulegen, »wie Satan spielet in den Kindern des Unglaubens.« – »In unserm Europa« – ruft er in der Vorrede aus – »floriret, GOtt Lob! das Christenthum; ach leider! nicht minder die Atheistsrey. Die übrige Länder und Reiche zu verschweigen, so kann Holland dieser Ottergezüchte fast jährlich neue Gebührten geben. Doctor Balthasar Becker in seiner bezauberten Welt und mit ihm Zacharias Webber in seiner unverschämten Vertheidigung der Beckerischen Narrheit beweisen es mit ihren Exempeln; indem sie die Gewalt und Macht des Teuffels verkleinern, dessen grausame Blicke verlachen und zur Sicherheit und Gottlosigkeit also alle Pässe öffnen. Allein alle Unart hat die Ruthe zum Lohn und die Peitsche zum Verdienst; auch haben diese beyde ihre Castigationes billigst empfangen von hochgelehrten Leuten, indem der Letztere bei allen Redlichen verlachet, und dieser seiner Gottlosen und unzeitigen Klugheit halben seines Predigampts entsetzet worden.«

Die behagliche Genugtuung, welche sich in diesen Worten ausspricht, dürste jedoch wenige Jahre später eine gewisse Trübung erfahren haben. Der fromme Verfasser des »Höllischen Morpheus«, welcher 1705 auch gegen Thomasius ein Buch: »Verworfener Hexen- und Zauberer-Advokat« herausgab, wurde – vielleicht um jener Glaubenswerke willen – im Jahre 1706 trotz Protestes der Bürgerschaft und allerdings ohne Erfolg in seiner Vaterstadt zur Diakonenwahl präsentiert, sodann 1710 Superintendent zu Parchim in Mecklenburg und 1711 Doktor der Theologie; schon in dem darauf folgenden Jahre aber wurde auch er »seines Predigtampts entsetzet«, und zwar nicht, weil er wie Balthasar Becker es gewagt hatte, einen frischen Luftzug in die dumpfe Atmosphäre seiner Zeit zu bringen, sondern – wie berichtet wird – weil er sein Amt durch Simonie sollte erlangt haben. Wegen solchen Undanks scheint er sich schließlich von den geistlichen zu den geistigen Dingen hingewandt zu haben; denn er hielt zuletzt ein Wirtshaus in der Gegend von Hamburg, wo er bald darauf im Jahre 1713 starb.

II

Ich komme nunmehr zu meinem dritten Autor.

Im Jahre 1687, welchem, nach Laß' Husumischen Nachrichten, Bürgermeister und Rath hiesiger Stadt nach gehegtem peinlichem Halßgericht, wie auch vorgenommener scharffer Befragung, wider die Margaretha Carstens, dieweilen selbige außer Pein und Banden nunmehro freiwillig bekandt und darauf nachgehendes beständig geblieben, »daß sie nicht allein der berüchtigten Zauberey schuldig, sondern auch mit dem Satan bereits im 21. Jahre ihres Alters ein Verbündniß gemachet und auf dessen angetragene Hülfe sich demselben völlig ergeben«, – für Recht erkannten, »daß der Körper dieser Angeklagten« – denn sie wurde vor dem Exekutionstage tot in der Fronerei gefunden – »gleich als wenn sie beym Leben, zur wohlverdienten Strafe, als auch Andern zum merklichen Exempel und Abscheu von dem Scharfrichter am gewöhnlichen Richtsatz geführet und also zur Asche gebrannt werden solle, cum confiscatione omnium bonorum«, in demselben Jahre ließ ein emeritiertes Mitglied dieses Raths, der Rathsverwandte und Fürstl. Gerichts-Secretarius Augustus Giese im Sinne der Humanität und Aufklärung eine Schrift ans Licht treten, welche den Titul führte: »Der Weh-schreiende Stein über die Gräuel, daß man die Diener der Justiz bis anhero nicht zu Grabe tragen und nun auch etlicher ihrer Frauen in Kindes-Noth niemand helffen will, – aufgerichtet zu Husum 1685, von einem Hauptparticipanten der Leyden, so der Magistrat darüber eine gute Zeit lang ausgestanden; gedruckt zu Hamburg 1687.«

Dieser ersten anonymen Ausgabe folgte zwei Jahre nach des Verfassers Tode mit dessen Namen die mir vorliegende; gedruckt zu Schleswig 1699.

Herr Augustus Giese, welcher, obwohl ein in Königsberg und Helmstedt gebildeter Jurist, sich nach Kraffts Zeugnis »sonderlich im studio biblico übete« und überdies, ausweislich der Titel seiner vielen übrigen Schriften, mit einem starken Drang zum christlichen Moralisieren behaftet war, »erlebete unter göttlicher Vorsorge die Zeit, wo er von allen äußerlichen Geschäften seines gehabten Amtsberufes dispensirt worden, um Gott in der Stille desto ungehinderter zu dienen und mehrere Stunden auf Ausarbeitungen nützlicher Schriften anwenden zu können.« Zu diesen Schriften gehört auch unser Büchlein, in welchem der Verfasser »sammt Erweisung Christlicher Pflicht in solchen Noth- und Liebesdiensten« mit der Behaglichkeit des Alters von den Mühseligkeiten seiner hinter ihm liegenden Berufsarbeit zu erzählen weiß.

Es war nämlich bei den Husumern jener Zeit die herrschende Scheu vor den »unehrlichen Leuten« zu einem wahren Ehrlichkeitsfanatismus ausgeartet, so daß nicht nur der Scharfrichter und seine Leute und Berufsverwandte, der Racker und der Griper, sondern auch alles, was mit ihnen in die flüchtigste Berührung gekommen, diesem unerbittlichen Banne anheimfiel. Insonders trat dies bei dem Leichtragen jener Diener der Justiz zutage. »Mir grauet noch dafür,« sagt der Verfasser, »wenn ich an die Mühe und an die Sorge und an die Hertzensangst denke, die der Rath darüber in den 38 Jahren, die ich im Amte gewesen bin, mehr als über jemigem andern Dinge auf der Welt außgestanden hat.« – Wenn es nur verlauten wollen, daß Solcher einer krank sei, so ist ihm das Herz gleichsam in die Presse gesetzet, und je nachdem dann kund geworden, wie selbiger kranker werde – werde nicht aufkommen – liege in Zügen – habe es abgeleget, – ist ihm in Aussicht, was nun ausbrechen werde, immer angster geworden; und wenn nun einerseits das Überlaufen und Lamentieren losgegangen »von Leuten, die der Leiche wollten loß sein und für den zunehmenden Gestank lenger nicht bleiben konnten«, und andrerseits der Rat, der hier allenthalben nur seinem Leiden entgegengesehen, trotz Bitten und Exequieren niemanden hat erlangen können, der die Leiche hätte beschicken und zu Grabe tragen wollen, so hat unser Gerichts-Secretarius, der dabei nicht allein die Feder führen, sondern auch seinen andern Strang vollauf hat ziehen müssen, sich darüber »manmichmal selbsten, Gott weiß es, den Tod gewünschet.«

Das älteste Exempel betrifft die Bestattung des um 1633 oder 34 verstorbenen Scharfrichters M. Albert Müller. »Derselbe ward,« berichtet der Verfasser, »alwie unstreflich Er Hausgehalten, auch bei seinem Absterben die Register dieses Ohrts wol bedacht hatte, durch die damahlige Sechs Biertreger, als Sie hir je und allewege mit zum Angriff (Diebsgreifer) bestellet gewehsen, zu Grabe getragen. Was dem Raht zu der Zeit im Wege gewesen, wofür sie anders nicht thun können, weiß ich nicht: So viel weiß ich aber wol, als der Ich Ihn mit zu Grabe gesungen, daß es ein über alle maßen elendes und verdrießliches Spectacul war, zu sehen, wie die sechs alte, ungleich gewachsene und zu einem solchen actu sehr ungeschickte Kerle, als Sie wahren, mit der Leiche so abscheulich fortkamen, wie sie darunder stolperten und steneten und (denn der Sehl. Mann war ein starker und schwerer Mann) alle Tritte schier wollten über den Haufen gefallen. Und zu allem Wahrzeichen hatte Ihrer Einer seinen alten und scheuslichen Huet in dem aufheben auf den Sark gesetzet, und weil er ihn von dannen, indem er die Last auf den Schultern hatte, nicht herunderlangen können (und hätte es ein ander wollen thun, dem wehre es eine ewige Schande gewesen) so geschach es, daß der Huet oben auf dem Sark stehen bleiben und sich bis an die Grabstete zu Jedermanns Gelechter müssen schautragen lassen.«

»Ist eines;« wird von dem Autor angemerkt. – »Der Sohn und Amts-Successor, M. Philipp Müller, hatte, um solchem Uebelstande vorzubeugen, mehrere nicht von den geringsten aus der Bürgerschaft angesprochen und von einigen derselben auf Treu und Glauben die Versicherung empfangen, daß sie ihn, falls er vor ihnen stürbe, zu Grabe tragen wollten; ein fürstliches Mandat war ergangen, daß, wenn der Rath die Bahre zuerst angegriffen, die, welche sich dem Leichtragen entziehen oder demnächst denen, welche getragen, Solches aufrücken würden, mit hoher Geldstrafe Andern zum Exempel sollten angesehen werden; als aber nun die Stunde kam und der todte Meister in seinem Sarge hinausgetragen werden sollte, da half weder, daß der Fürstl. Befehl öffentlich verlesen wurde, noch daß Bürgermeister – es war Titus Axen, der frühere Hamburger Domherr, unsers Autors Schwiegervater – und Rath in die Frohnerei traten und die Bahre ein Stück hervorruckten; denn während dessen hatten sich drei der Leichträger absentirt, und die Noth im Lager währete so lang, bis von den Herren Predigern einige vortraten und der auf der Gasse zur Leichfolge versammelten Bürgerschaft so lange und beweglich zusprachen, bis ihrer drei ein redliches Stück thaten und sich den übrigen Trägern zugesellten. So kam die Leiche denn dies mahl noch so ziemlich zu Grabe. Als man jedoch die Ausreißer, unter denen sich Viele vom Handwerk befanden, wollte greifen lassen, da hatten es die ›sogenannten vier Emter oder Handwerkszunften‹ durch hir und dar einseitig ingehohlte Zeugnußen und was dabey mehr passieret, zu Wege gebracht, daß sie von dem Leichtragen quaestionis, kurtz zu sagen, eximieret sein sollten. Und wie damit, als sie es vorhatten, für den Magistrat und für die Ehre der andern Bürgerschafft zugesehen wehre, dazu ist best, daß man dieses mahl still sweige.«

Die volkstümliche Unehrlichkeitslogik sollte sich bald noch schärfer geltend machen. – Ein Rademacher, ein frommer, ehrlicher Mann war gestorben und sollte bestattet werden. Die Schule und ein zahlreiches Gefolge war vor dem Sterbehause versammelt; als es nun aber zum Aufheben des Sarges kam, siehe, da fehlte es wiederum an den nötigen Trägern; von den Anwesenden wollte auch niemand zutreten, und so war das Ende vom Liede, daß, nachdem man eine gute Zeitlang gewartet, gesungen und geläutet hatte, endlich die Schule und der ganze Umstand » novo atque hactenus inaudito exemplo« dasmal davongehen und die Leiche unbegraben zurücklassen mußten. »Und fragest du, womit es dieser verbrochen habe, daß ihm dergestalt mitgefahren worden, so magst du wissen: Er hatte sich als ein Nachbar vermögen lassen, dem verstorbenen Scharfrichter das Todtenhembd anzuziehen, und das war in so langer Zeit noch nicht abgekühlet.« Es war sogar des einen dieser Ehrlichkeitsfanatiker sein »Paeschetag«; nämlich Er war zum Abendmahl gewesen; und das waren die Früchte davon.

Jedennoch auch dieser Mann kam gleichwohl darnach ehrlich zu seiner Ruhe, und der Magistrat versuchte nun eine neue Maßregel. – Geraume Zeit zuvor hatte der Archidiakonus Cröchel nach seinem Geburtsorte, einer fürnehmen Reichsstadt, über dortiges Verhalten in derlei Dingen eine freundschaftliche Anfrage getan und zur Antwort erhalten: wer andere Leute zu Grabe trage, der trage auch den Scharfrichter; ob er als ein Stadtkind denn das vergessen habe? Das seien ja die Buchbinder. – An die Buchbinder kam es für diesmal nicht; vielmehr wurde unter Herrschaftlicher Konfirmation nunmehr verordnet, daß die Leichen des Scharfrichters, des Gripers und der Bierträger sollten von den hierorts für ehrlich geltenden Nachtwächtern, diese aber von andern Bürgern, einerlei ob Handwerker oder nicht, zu Grabe getragen werden und solches ihnen in alle Wege unverweislich sein; auch wurde, um dieses zum Effekt zu bringen, die Zahl der Nachtwächter von sechs auf acht vergrößert. – »Und damit«, sagt der Verfasser, »wahr nun das heilige Grab wol verwahret;« – und wir müssen annehmen, daß die Nachtwächter ihren neuen Dienst eine Zeitlang in Ruhe verrichtet haben, – bis einmal einem derselben ein Kind gestorben war. Da ging der Lärm von neuem los, ärger als zuvor; die aus dem Handwerk dazu gebeten waren, wollten das Kind des Vaters nicht tragen, der den Scharfrichter getragen hatte; sie suchten durch aus Schleswig beigebrachte Zeugnisse sogar den Nachtwächter qua solchen unehrlich zu machen; allein Bürgermeister und Rat löseten es ihnen auf, daß hierorts nicht wie dorten derselbe zum Angriff bestellet und demnach ehrlich sei; ein widerspenstiger Schuhmacher wurde zur Haft gebracht und darin trotz lamentierender Weiber gehalten, bis er anderen Sinnes geworden war. Über alle dem stand die Leiche länger als drei Wochen über der Erde. Endlich unter besondrem Beistand der gnädigsten Herrschaft und ihrer Ministri wurden die vier Ämter besiegt, so daß sie sich resoloierten, künftig gleich andern Bürgern die Nachtwächterleichen zu Grabe zu tragen. Nur aus besondrer Güte des Rats und auf ihre flehentliche Vorstellung, daß sie, bis der gegenwärtige Sturm sich ein wenig gelegt, ihr »bandeloses Gesinde« nicht wurden halten können, wurde für diesmal davon Abstand genommen; jedoch erst, nachdem sie sich vor dem Sterbehause sistieret und ihnen daselbst die Meinung des Rates öffentlich war kund getan worden.

Ohn Ärgernis ging es bei alledem auch künftighin nicht ab; ein armer Fußknecht, der seines Christentums von jedermann gutes Zeugnis hatte, mußte nach seinem Tode einen ganzen Tag unbekleidet liegen, bis gute Frauen aushalfen; um das Kind eines andern Fußknechts hinzutragen, mußte Verfasser seinen Drescher erbitten, nachdem Schule und Umstand, Gott weiß, wie lange, gewartet hatten; ein Leineweber kam wegen Widerspenstigkeit ins Gefängnis, ein Weißbäcker trotzte wenigstens damit, daß er beim Leichtragen eines Nachtwächters mit den allerschmutzigsten Kleidern aufgezogen kam, und ein anderer Bürger warf – mochte schaufeln wer da wollte –, als die Leiche ins Grab gesenkt war, die Schaufel unmutig fort und lief davon.

Alles aber war Kinderspiel gegenüber dem, was sich bald darauf in dem anderen sexu begab. »Nemlich,« sagt der Autor, »es ist bekandt, daß unser Scharfrichter hat einen Knecht, und der Knecht hat eine Frau, und der Frauen kam die Zeit, daß sie nach aller Frauen Weise in die Wochen solte. Und da solte sich verstehen, daß wie das weibliche Geslecht gemeiniglich weicher und mitleidiger und vornehmlich in Fällen, so die Geburt angehen, williger ist, so daß sich auch ein Weib, das bey den Dingen hergekommen, nicht siech leget, einer Kue, wen Sie kalben sol, Hülfe zu thun; also viel weniger ein solch armes Mensch die weibliche Handreichung solte vermißt haben. Aber was geschieht? Und was hat der Feind Gottes und alles Guten zu thun? – Erstlich die Bademutter, die zu solchem Amt expresse bestellet und von der Gemeine ihr Jahrgehalt gehabt hat, setzet den Kopf auf und wil nicht, und weil Sie nicht wil, so wollen die andern, die dergleichen auch zu thun pflegen, auch nicht; und als Sie vorgeben, sollen andere junge Frauen gedrohet haben, keine solche mehr zu fodern, noch zu leiden, daß sie an ihren Leib Hand anlege.« Selbst die ernstliche Zusprache des Rates hat hier nicht verfangen wollen; die Macht der Finsternis ist so groß gewesen, daß, was man auch gesaget und gesungen, das arme Mensch in der höchsten Not hilflos so lange hinsitzen müssen, bis sie das Kind darüber eingebüßet. Der Verfasser kann es nicht unbilligen, daß die Bademutter darüber fürerst ihr Jahrgeld quitt geworden ist; dann versucht er auf vielen Seiten und nicht in sanftester Weise eine Ehrenrettung des Schinders. – »Was pecciret er dadurch an seinem Nebenmenschen, daß er den Unflath wegbringet? – Ich bitte sie, meine saubere junge Frau, Sie bedenke doch, was Sie saget: Will Sie darin sitzen bleiben bis über die Ohren? – Ich muß Euch die Wahrheit sagen, ihr lieben Engelchen, vestris sordibus sordet, oder, daß ich deutsch mit Euch rede, euer eigner Bisem ist es, der so reucht!« und weiter, omissis omittendis: »Und Wir, solche Mistfliegen und Dreckwürmer und Stinkmatzen, als Wir sind, deren etliche sich dünken lassen, lauter Blumen in Gottes Riechbuschlein zu sein. Wir vermessen Uns noch, in unserer schwülstigen Inbildung in dem Unflath des leidigen Sathanas, da er Uns von dem Nacken bis an den Hacken mit angesmiret, recht wohl zu riechen, und dorfen für einen mit dem Bluht Christi erlöseten Menschen, den er in der heiligen Taufe zu seinem Kinde angenommen, die Nase rumpfen, dürfen Ihn aspernieren, und mit unserm gleichsam feuerspeienden Drachenrachen den Rakà, oder Rakker heißen! Da wir uns billig für GOtt, wenn Wir Uns ansehen, in den Mist verkriechen, Uns selbsten anspeien, und für einen Ueberswang seiner Gedult, daß er Uns leben leßet, aufnehmen solten.«

Die von dem Henker und seiner Umgebung ausgehende Anrüchigkeit reichte noch weiter. – Um die Zeit, »als der Ungeist den gemeinen Mann wider das Leichtragen zu animiren am geschäftigsten war,« genas im Gefängnis – Autor weiß nicht einmal bestimmt, ob in der Fronerei – ein Frauenzimmer eines Kindleins, so daß die leibliche Geburt so weit ihre Richtigkeit hatte. Aber nun sollte das liebe Kind die heilige Taufe haben, und kein Mensch weit oder seit wollte Gevatter stehen; die Herren Geistlichen lehnten ihre Mitwirkung mit dem Bemerken ab, wenn man ihnen das Kind durch die Gevattern präsentiere, so wollten sie ihr Amt tun. Bereden ließ sich niemand, stocken und blocken zu so heiliger Verrichtung konnte man die Leute auch nicht, und das Kind sollte doch getauft sein. Endlich waren zwei erwachsene Kinder – es ist nicht klar, ob der armen Mutter oder des wohledlen Rates selbst – als Gevattern aufgebracht, und unser Herr Stadtsecretarius hatte sich schon mehrmals mit diesen und anderen Ratsmitgliedern in der eitlen Hoffnung, bei Wege lang den dritten Gevatter zu finden, zur Vornahme der heiligen Handlung in die Kirche begeben; da, wie sie einmal wieder nach vergeblichem Versuche das Gotteshaus verlassen wollen, gedenken sie eines gutherzigen Bürgers, und als sie ihn zu sich in die Kirche fodern lassen, erklärt derselbe: Ja, er wolle es in Gottes Namen tun, wenn seine Frau und Kinder es nur leiden wollten. Die Ratsmitglieder dagegen animierten ihn, wie er der Herr im Hause und Vater seiner Kinder wäre, und daß ihm der Gevatterpfennig aus der Stadtkämmerei sollte verabreicht werden. – Und damit gingen die Herren Ratsverwandten nach Hause, froh und guten Mutes, daß der Anschlag so wohl geraten, und sie es ihrer Meinung nach so gut ausgerichtet hätten. – »Aber was geschieht da?« ruft der Verfasser. »Indem ich sitze, ermüdet von dem, was passieret wahr, siehe, so komt des Mannes Tochter, ein sonst wohlgeschaffenes Mensch, über zwanzig bis dreißig Jahr alt, raufet die Haar auß den Kopf und schreiet, als laut sie kan: Ob man ihren alten Vater nu schenden wolle? Und Sie seine Kinder hetten sich, wiewohl Sie Geldes und Guhts nicht viel über hetten, doch der Ehre beflissen, und solten nun so übel, daß es GOtt müße erbarmen, geschendet werden! Nein, dazu solle es nicht kommen, und solte es Ihr auch ihren Kopf kosten! Und was deß eitlen unnützen Zetergeschreies, womit sie mir das Haus füllete, mehr wahr.« – Der langmütige und in solchen Fällen vielgeprüfte alte Herr tat mit allem, was er je gelernt, sein Bestes und suchte ihr freundlich aus einander zu setzen, worin die rechte Ehre bestehe. Da aber nichts verschlagen wollte, so kehrte er endlich das Rauhe nach außen, und er sagte ihr, »sie solle sich hinscheren, sich auf den Hindern setzen und das Rad vor die Schienen nehmen, oder man werde einer solchen als Sie sei, etwas anders beweisen; da Sie denn besseren Kauf gab, und so viel endlich erfolgte, daß der Mann mit unberauftem Haar und Bahrt hingehen und das gute Werk endlich verrichten mögen.«

Der Ratsverwandte und Fürstliche Gerichts-Secretarius Augustus Giese starb hochgeehrt im Jahre 1697, mit Hinterlassung vieler gedruckter und noch mehrer ungedruckter Schriften; der »Weh-schreiende Stein« wurde, wie berichtet, sogar zum zweitenmal aufgelegt; auch scheint man kein Haar darin gefunden zu haben, als 1724 der Amtmann, Baron von Gersdorff, die ganze Bürgerschaft zu dem Begräbnis seiner Kammerjungfer invitieren ließ; aber den Scharfrichter wollten die Husumer doch nicht begraben, oder vielmehr, es scheint, als habe der Scharfrichter, der übrigens, solange es hierorts einen solchen gegeben, allezeit Müller oder plattdeutsch: Möller geheißen hat, sich bei dem verordneten Nachtwächterbegräbnis nicht beruhigen können; denn schon 1706 ergeht auf seine Interpretation an Bürgermeister und Rat ein Fürstl. Pönalmandat, daß sie die Bürgerschaft anzuhalten, »den Scharfrichter und die Seinigen, falls ihnen etwas Menschliches widerfahren sollte, gleich andern redlichen Leuten zu Grabe zu tragen, zu folgen und zu bestätigen.« Als aber der Meister 1715 stirbt und schon vier Tage als Leiche über der Erde gestanden hat, findet dessen Witwe Veranlassung, höheren Orts supplizierend auszuführen, daß Bürgermeister und Rat sich hautement dahin deklarieret, da ihres Mannes seliger Vater durch die Nachtwache hingetragen, so könne ihrem Mann auch keine honorablere Beerdigung zugestanden werden, daß aber solche Prostitution wider das Hochfürstliche Mandat und die Usance stritte, indem die vorige Beerdigung als ein factum unicum et alienum nicht in Betracht kommen könne. – Am 4. Februar 1715 erfolgt die Einschärfung des Pönalmandats; am 8. aber setzet der Rat sich hin und verfaßt seine alleruntertänigste Remonstration. In dem Konzepte – denn es sind nunmehr die alten Scharfrichterakten unserer Stadt, worin ich blättere – wird zunächst die Aufhebung jenes älteren Mandates durch ein noch selbigen Jahres darauf ergangenes dokumentiert und überdies angeführt, die zum Begräbnis bestimmten Personen hätten erklärt, sie wollten lieber alles, was über sie verhängt würde, erleiden, als sich und ihre Kinder solchem blâme auszusetzen; und so sehr war auch bei den Konzipienten der »Wehschreiende Stein« ihres seligen Amtsbruders schon in Vergessenheit geraten, daß sie sich nicht verhielten, als auf einen Präzedenzfall, auf jenes »Bierträger-Begräbnis« des alten Albert Müller zu pochen, welches dort als ein »über alle Maßen elendes und verdrießliches Spectacul« gebrandmarkt war. – Allein das Konzept wurde nicht mundiert. In dem demnächst abgesandten Schriftstück ward vornehmlich nur die nicht genugsame Verwunderung darüber ausgesprochen, daß Supplikantin nicht allein dieser Sache halben Lärmen anzufangen sich gelüsten lassen, sondern sogar sich unterstehe, die Nachtwächter zu blamieren, die hierorts ehrliche Bürger und zu allen Gewerken und Innungen zugelassen seien, auch im Todesfalle nebst Frauen und Kindern von den honettesten Bürgern zu Grabe getragen würden; im übrigen machen Remonstranten sich anheischig, »nebst dem Ministerio und den vornehmsten Bürgern der Stadt die Leiche zu folgen und aus dem Sterbehause bis an ihre Ruhestatt gewöhnlichermaßen zu begleiten, auch die Trauerleute wieder ans Haus zu bringen und das zu tun, was bei andern Leichen prätendiert werden könne«; wünschen aber aller anderen Zumutung von der Supplikantin entübrigt zu werden. – Es erfolgt dann unterm 11. Februar auch der Bescheid, daß letztere, da es mit der Nachtwache solcherweise beschaffen, sich mit dem Hintragen durch selbige zu begnügen, und es übrigens ratione der Begleitung mit der getanen Offerte sein Verbleiben habe; und so mag nach allem Streit, der über seiner Bahre sich entzündet, auch dieser Meister schließlich, zwar von Nachtwächtern getragen, aber von einem hochachtbaren Gefolge in stattlichen Perücken und Trauermänteln begleitet, aus der Fronerei an seinen letzten Ruheort gekommen sein.

Um 1741 taucht der Scharfrichter als ein fast überlustiger Geselle in den Akten auf, der es vorzieht, schon bei lebendigem Leibe den Herren vom Rat und andern guten Leuten zu schaffen zu machen. Er beschwert sich wiederholt bei der Statthalterschaft über unrechtmäßige Schmälerung seiner Diensteinkünfte: alle Jahr müsse er zwar vier Wochen hindurch Hunde schlagen lassen, aber Hundezeichen dürfe er nicht mehr verkaufen; »vor Einen am Pranger auszustäupen«, was anderwärts mit fünf Talern honoriert werde, seien ihm »eine Zeithero nur acht Schillinge zugeleget«, was er allein an Besen und Stricke verwenden müsse; für den zuletzt ausgestäupten Juden habe er sogar nicht einen Heller bekommen; was aber das beste Akzidenz des Dienstes, das Betreiben von Kuren anlange, so sei dies schon 1725 bei schwerer Strafe verboten worden; sonach bringe der Dienst nicht mehr ein, als ihm seine Knechte und Pferde kosteten, und habe er längst, wenn ihm von seiner Schwiegermutter, der Scharfrichterin in Schleswig, nicht Assistance geleistet worden, benebst Frau und Kindern krepieren müssen.

Aber der Magistrat bleibt nicht dahinten; von weit und breit werden Zeugen vernommen, um darzulegen, daß das mangelhafte Auskommen des Imploranten nur von seiner »unartigen Aufführung und seiner üblen und verschwenderischen Lebensart« herrühre.

Und wahrlich, ein Duckmäuser oder »Küß-den-Pfennig« ist unser Meister nicht gewesen! Er klopft des Nachts die Wirte aus den Betten, und wenn sie nicht öffnen wollen, so schlägt er ihnen brevi manu die Fenster ein, denn es geht bekanntlich auch auf diesem Wege; wird er dagegen eingelassen, so bläst er die angezündeten Lichter aus, nimmt die Bierkrüge von den Riegen und geht damit von dannen. Er prügelt Brunetto den Perückenmacher und Stehnmeyer den Kupferschmied, und schlägt dem Gerichtsdiener Hut und Perücke vom Kopf; er spielt im Bierhause mit Handwerksleuten und Reutern Scharwenzel und »Eben oder Uneben«, und wenn er sein Geld verspielt und ihnen seine Taschenuhr hat zum Pfande geben müssen, so zieht er den Hirschfänger und fordert sie heraus, sich mit ihm zu schlagen, und erklärt ihnen, solche Kerls achte er »nicht mehr als das Sand auf der Diele.« Aus der Fronerei, wo er mit seinem Stiefvater Osthausen wohnt, der während seiner Unmündigkeit den Dienst verwaltet hat, hört man um Mitternacht die Degen klirren; auch sieht man den Meister mit bloßer Klinge aus dem Hause laufen. Sogar der Reuter-Wachtmeister ist nicht sicher vor seiner Rauflust. Nachdem er in der Schankstube Händel mit ihm angefangen, weiß er ihn trotz seines Sträubens auf die Gasse hinaus zu nötigen; am Hafen angekommen, läuft er in ein Haus, reißt dort einen Pallasch von der Wand, und nun wird die Sache auf offener Straße ausgefochten, wo freilich unser Meister mit einer Hiebwunde an der Hand gezeichnet wird. – Aber auch sanftere Anregungen bewegen ihn. Nachdem in einer Nacht des Michaelisjahrmarkts ein Widersacher von ihm zu Boden geworfen ist, dinget er sich Spielleute und zieht solcherweise, die dunkle Stadt mit Musik erhellend, vergnüglich durch die Gassen; auch in dem benachbarten Garding, wo er eine Exekution zu vollstrecken hat, läßt er die Stadtpfeifer kommen und nach wohlgetaner Arbeit sich mit Musik aufwarten. – Des schnöden Silbers achtet er nicht sehr; der Gastwirt Meyer, wenn er nachts bei diesem angekommen, hat es oft gesehen, wie er ganze Hände voll Geld in der Stube umher und über Tisch und Bänke gestreut hat. Zeuge meinet freilich, in Völlerei und um Gelegenheit zu unnützen Händeln zu suchen; allein er scheint des Meisters freigebiges Herz zu verkennen und nicht zu wissen, daß derselbe, nachdem er in der Schenkstube fast sein ganzes im Lederhandel eingestrichenes Geld verspielt, noch draußen dem auf dem Markte Wacht haltenden Reuter einige Münzen hingelanget, und auch des Handschuhmachers und andern Kindern ganzer Zwölfschillingstücke zugeworfen hat.

Daß er ein arger Schelm gewesen, steht gleichwohl nicht zu leugnen. Den Goldschmied Hansen und seinen Bruder, den Buchbinder, welchen letzteren er schon früher einmal aus dem Fenster geworfen hat, weiß er eines Abends zu bereden, daß sie ihn aus der Bierstube, wo er, wie gewöhnlich, Lärmen gehabt, nach seiner Fronerei begleiten. Hier werden sie von ihm forcieret, Tee, Wein, Branntwein und allerlei starke Getränke zu trinken; die ganze Nacht will er sie nicht fortlassen und treibt allerlei Spötterei mit ihnen. Dem Buchbinder nimmt er die »Tüffeln« weg und droht, sie seinem Knecht zu geben, wo sie dann nimmer wiederkommen würden; und während solcher Scherze muß der ehrsame Handwerksmeister in den Stiefeln des Scharfrichters sitzen, die dieser mitleidig ihm geliehen hat. Ja, zu ihrer mehreren Beschimpfung sucht der treulose Gastgeber am andern Tage zu verbreiten, daß er die beiden in seinen Gefangenkeller geworfen gehabt. Dessen allen beklagen sich die würdigen Bürger auf das bitterste.

Es scheint übrigens durchaus in der Natur dieses lebhaften Halbmeisters gelegen zu haben, seine Gelage mit dergleichen kleinen Schnörkeln zu verzieren; er ist stets bereit, etwas zum besten zu geben, aber seinen Spaß, freilich, will er davon haben. Bei einem Glasermeister, wo er mit andern zusammentrifft, läßt er erst Bier, dann vier Flaschen Franzwein holen; als aber die liebe Gottesgabe ausgetrunken ist, streicht er den berauschten Gästen das Gesicht mit Schwärze an; die junge ebenfalls schwarz angestrichene Tochter der Grete Rohrmannsch hat er, wie es in den Akten heißt, »so vollgesoffen, daß sie wie todt dagelegen und ihr die Flammen als ein Rauch aus dem Halse geschlagen«; die Mutter derselben, welche sie abzuholen kommt, erhält sofort denselben Anstrich. Wir erfahren dies alles aus dem Zeugnis der Grete Rohrmannsch selber; ob sie beim Trinken mitgehalten, darüber läßt sie nichts verlauten. Aber der demnächst vernommene Glasermeister hat uns verraten, auch sie habe zwei Flaschen Sekt geholt und sei derart in Lust gewesen, daß sie ein Nest mit Eiern von dem Bette gerissen und dabei gegackelt habe wie eine Henne.

Man sieht, die Scheu vor der Berührung mit dem Scharfrichter ist nicht mehr allzu groß; ob aber die wohlehrsamen Zunftmeister ihren lustigen Freund, als ihn selber der grimme Tod bezwungen, ebenso geduldig zu Grabe getragen, als sie sich bei seinen Lebzeiten von ihm haben aus dem Fenster werfen und unter den Tisch trinken lassen, davon ist leider keine Kunde auf uns gekommen. Gewiß ist nur, daß bald nach obigen Vorgängen, im Jahre 1746, noch eine Königl. Verordnung erging, daß ein Scharfrichter und die Seinigen öffentlich nach dem in Ansehung anderer Eingesessenen eingeführten Gebrauche zu beerdigen; der Abdecker aber wo möglich durch andere Abdecker, oder, wenn diese nicht zu erlangen, durch Taglöhner oder geringe Arbeitsleute, welche dazu von dem Scharfrichter oder ex aerario publico zu dingen, auch, sofern sie in Güte sich dazu nicht verstehen wollen, durch Straf- und Zwangsmittel anzuhalten, an einem etwas abgesonderten Orte auf dem Kirchhofe bei später Abends- oder früher Morgenszeit zu begraben.

Dies scheint die letzte urkundliche Spur jenes so lange und mit so großer Zähigkeit durchgeführten passiven Widerstandes zu sein. Freilich die Scheu vor dem Freimann war damit noch nicht besiegt; das hat vor etwa vierzig Jahren noch der letzte Scharfrichter in unserer Nachbarstadt Schleswig erfahren müssen. Er war, wie mir ein dortiges Stadtkind erzählte, in seiner Würde herab gekommen, so daß er sich sogar mit dem sonst dem Schinder überlassenen Hunde-Werfen beschäftigte; aber sein Frongeld pflegte er jährlich, von Haus zu Haus gehend, einzukassieren. Dann, sowie er sich näherte, wurde die Haustür weit geöffnet, die Stubentüren jedoch hinter den Bewohnern sorgsam geschlossen. Ohne eines Menschen ansichtig zu werden, trat der Fron in die leere Außendiele; er strich das ihm auf einen Tisch oder auf der Fensterbank bereit gelegte Geld ein, trank auch wohl den dabei gestellten Schnaps, und ging dann fort, um ganz dasselbe im Nachbarhause zu erfahren.

In meiner Vaterstadt den letzten Scharfrichter überhaupt und aus dem Geschlechte derer Müller anlangend, einen großen breitschultrigen Mann, den ich in meiner Knabenzeit noch oft gesehen habe, so schien er mir als völlig verkehrsberechtigt angenommen, wenn er auch, solange die alte Kirche stand, zum Gottesdienste in seinen abseits gelegenen »Scharfrichterstuhl« gehen mußte. Er hatte übrigens nichts von dem unruhigen Temperamente seines großen Vorfahren und hat, soviel ich weiß, niemandem Beschwerde verursacht, als etwa einem Delinquenten, dem er, wie man sagte, nicht völlig glücklich das Haupt vom Rumpfe getrennt hatte. Sein Sohn und Erbe gelangte nicht zur Nachfolge; nicht sowohl, weil er zum Beweise seiner Kunstfähigkeit sich nur auf die Beibringung eines Attestes über die Kaltblütigkeit seines Gemütes zu berufen vermochte, sondern weil der Anbruch einer lichteren Zeit, wenn sie auch bis heute die dunkle Gestalt des Scharfrichters nicht ganz verdrängen konnte, das Amt desselben doch für unsere kleine Stadt zu einer bloßen Sinekure gemacht hatte. – So kam es, daß der Letzte des Geschlechtes, um doch der angestammten Beschäftigung mit den Köpfen seiner Nebenmenschen nicht völlig zu entraten, unter die Barbiere gegangen ist. Da er seit lange die Stadt verlassen hat, so vermag ich nicht zu melden, ob er in dieser Abschwächung des väterlichen Berufes die zu hoffende Befriedigung gefunden hat. Übrigens scheint den wohledlen Herren unseres Rates durch diesen letzten Sprossen noch einmal eine der ihnen so oft aus diesem Geschlecht gekommenen Beunruhigungen erstehen zu wollen; denn, wie verlautet, will derselbe die vor drittehalbhundert Jahren von seinem Urahn für den Antritt des Dienstes gezahlten vierhundert Kronen nunmehr im Wege Rechtens für sich zurückfordern.

Die alte Fronerei mit ihrem turmartigen Eckbau und der überkopf eingehängten Luke als Wahrzeichen, lag in der Stadt an dem sogenannten Kuhsteige, welcher geraden Weges zu der Stelle führt, wo um 1572 bei weiland Bürgermeister Luthens Fischteich ein Hochfürstlicher Hofverwalter wegen begangener Untreue zuoberst in einem gedoppelten Galgen in seinem Fuchspelze aufgehangen wurde. Sie hat noch bis vor einigen Jahrzehnten in unveränderter Gestalt bestanden, und auch den Gefangenkeller, worin einst der scherzliebende Meister nach seiner Angabe seine beiden Freunde eingesperrt gehalten, habe ich noch in seinem Urzustande betreten. Meine Phantasie aber sah hier eine andere Gestalt, die besser zu den doppelten Eisengittern und den feuchten dunkeln Mauern paßte. Hier hatte zu Anfang des Jahrhunderts der furchtbare Hinrich Schlachter, eine der Schreckgestalten meiner Kindheit, nach Empfang des Todesurteils seine letzten Tage vollbracht. Eine alte angesehene Dame, seine Wohltäterin, hatte er mit vielen Messerstichen nachts in ihrem Hause ermordet; und sie war nur die erste gewesen; eine ganze Reihe reicher Matronen, darunter meine eigene Urgroßmutter, sollte er auf seiner Liste gehabt haben. Wie oft hat meine Großmutter mir das erzählen müssen! »Hinrich, Hinrich, lat he mi doch leven, wat hev ick em doch dan!« Diese letzten Worte des mit seinem Mörder ringenden Schlachtopfers, welche von der entfliehenden Dienstmagd noch vernommen wurden, wie gellten sie in meine Kinderohren! Und weiter dann: am Tage nach dem Morde, während das Entsetzen bleischwer über der kleinen Stadt liegt, tritt ein Nachbar in das Schlachthaus des Mörders, der eben eine Kuh zu Boden gestochen hat, und erzählt mit Schauder und Wehklage dem scheinbar von nichts Wissenden dessen eigene Tat. Der aber, sein blutiges Messer aus den Zähnen nehmend, hohnlacht und meint: »En ole Wif oder 'n ol' Ko!« und was darum so viel Aufhebens zu machen sei!

Freilich sein Hohn half ihm nicht; das Todesurteil wurde über ihn gesprochen; aber auch er wurde, ähnlich der Hexe von 1687 und einer früheren um 1608, am Morgen der Hinrichtung tot im Gefängnisse gefunden. Ob ihm, wofür sich das öffentliche Gerücht derzeit erklärte, von seiner bürgerlich wohlreputierten Sippschaft ein Gnadenmittel zugesteckt worden, oder ob, was in Rücksicht der anderen Fälle annehmbar erscheint, hier eine andere traditionelle Aushülfe obgewaltet, darüber ist nichts mehr zu entscheiden. Jedenfalls stand auch damals noch die Hochnotpeinliche Halsgerichtsbarkeit mit dem Tode auf zu vertrautem Fuß, um dadurch ihre Prozedur als beschlossen anzusehen. Mit dem bestimmten Glockenschlage – so wird erzählt – unter Zuströmen des Volkes, wurde der Leichnam des Mörders mit Ketten auf den Schinderkarren befestigt, vor das Rathaus gefahren, und demselben das Urteil, wie Rechtens, nochmals dahin publiziert, daß er von unten auf gerädert und sodann sein toter Körper auf das Rad geflochten werden solle. Hierauf ging es hinaus zur Richtstatt, wo jedoch nur der letzte Teil des Spruches an ihm vollzogen wurde.

Das war die letzte große Exekution des Husumer Scharfrichters. – Jetzt ist die alte Fronerei zu zwei bürgerlichen Häusern umgebaut; in dem einen hat sich ein Bäcker eingerichtet, der in der ganzen Stadt die lachendsten Kringel backt; in dem früher so düsteren Gefangenkeller hat ein Töpfer seine Niederlage von traulich blinkendem, grün und rot glasiertem Küchengeschirr; und auf der einst so unehrlichen Stelle scheinen die ehrlichen Gewerbe fröhlich zu gedeihen. Hoffentlich werden auch die wenigen noch übrigen Fronfesten des Deutschen Reiches in nicht zu ferner Zeit einen ebenso tröstlichen Umbau feiern, wenn auch die Strafgesetzgebung des Norddeutschen Bundes ihre sinkenden Fundamente noch einmal zu unterbauen versucht hat; und, die nach uns kommen, werden dann auch bei diesen Mauern stehen bleiben und sich das für sie Unbegreifliche zu beantworten suchen, wie jemals einem Menschen das Abschlachten eines andern von Staats wegen als eine amtlich zu erfüllende Pflicht hat zugemutet werden können; denn nicht auf seiten des Delinquenten, sondern auf seiten des Henkers liegt für unsere Zeit die sittliche Unmöglichkeit der Todesstrafe. Als ein sicheres Zeichen aber für das endliche Verschwinden derselben dürfen wir wohl den an sich unheimlichen Umstand begrüßen, daß, während im übrigen das Gerichtsverfahren in die Öffentlichkeit hinausdrängt, dieser furchtbare Akt, der wie nichts anderes des freien Himmels und des zustimmenden Zeugnisses der Nation bedarf, neuerdings im Gegenteil der Öffentlichkeit entzogen und als ein Schauderstück für wenige Eingeweihte in die beklemmende Enge der Gerichtshöfe hineingeflüchtet ist.

 

Da es sich in diesen kulturhistorischen Kapiteln um Autoren meiner Vaterstadt gehandelt hat, so möge gestattet sein, aus dem » Ad lectorem« der nach dem Brande des hiesigen Kirchturmes 1669 von dem Pastor Holmer gehaltenen und demnächst nebst »Christlichem Bericht« über die betreffenden Vorgänge in Druck gegebenen »Feuer-Predigt« eine ebenso anmutige, als charakteristische Anekdote mitzuteilen.

Anno 1552 wurde als zweiter Prediger seit Durchführung der Kirchen-Reformation in unserer Stadt erwählet Petrus Bokelmann, welcher wegen seiner qualiteten bey der Hohen Herrschaft in sonderlichen ansehend gewesen. Es hat sich zugetragen, als I. Fürstl. Gn. Hertzog Adolph den Hispaniern unter den Duc de Alba in Niederland gedienet und allhie zu Schiffe wieder angelanget, hat gemelter H. Pastor die Danksagung getan mit folgenden Worten: »Wir danken billig dem Allerhöchsten Gott, der unseren gnädigen Landes-Fürsten mit guter Gesundheit wieder anhero verholffen: aber wem hat er gedienet? – Dem Teuffel und seiner Mutter!«

Der leutselige Hertzog, der zugegen war und solches anhörete, lasset ihn nach gehaltener Predigt zur Tafel nötigen, und unter der Mahlzeit spricht er zu ihm: »Vater, es gab stark Bier in der Kirchen.« Der Pastor antwortete: »Gnädiger Fürst und Herr, ich kann nicht anders, als nach Gottes Wort und meinem Gewissen reden«; darauf der Hertzog gesaget: »Nun, nun; bleibet auch dabey!« Von diesem leutseligen Fürsten ist noch bis auf den heutigen Tag das Sprichwort bei uns geblieben: »Es ist jetzt nicht mehr als wie zu Hertzog Adolphs Zeiten.«

Peter Bokelmann war übrigens aus der »fürnehmen Stadt Braunschweig« gebürtig; als Student zu Wittenberg hatte er bei Luther im Kollegium gesessen; der Name seiner Mutter, Gesa Leßin, könnte vielleicht auf eine Beziehung auch zu unserem anderen großen Reformator deuten.

In der Kapelle unseres St. Jürgens-Stiftes, wohin beim Abbruch der Stadtkirche ein Teil der alten Bilder gerettet wurde, schaut noch aus dunklem Grunde über dem kleinen Ringkragen der runde, energische Kopf des alten Herrn in die neue Zeit hinein. Das Haar ist verbleicht und der Scheitel kahl; denn wie es bei Krafft heißt: »Als es mit ihm zum hohen Alter gekommen und von ihm verlangt ward, daß er, gleich Herman Tasten, sich möge abschildern lassen, so thät er solches 1572.« Aber über der gebogenen Nase blicken die braunen Augen so fest und kampfbereit, als müsse der in dem weißen, krausen Vollbart fast versteckte Mund sich öffnen, um auch heuer, wo es not täte, noch einmal mit einem derben Wort darein zu fahren.

Neben seinem Bildnis hatte er die nach seinem Tode durch eine andere Inschrift verdrängten Worte setzen lassen:

Ista Petri Bokelmanni Pastoris imago est.
Hunc precor ad formam, Christe, refinge tuam.

Besprechung von M. A. Niendorfs »Liedern der Liebe«

In den neueren und neuesten Werken deutscher Poesie, denen wir, nicht eben im Einverständnis mit der hergebrachten Kritik, sowohl an sich als für die Entwicklung unsrer Literatur eine Bedeutung zugestehen, meinen wir als einen besonderen Fortschritt ein Streben nach Emanzipation von der Phrase und dem konventionellen poetischen Apparat und somit eine zunehmende Erkenntnis des organischen Zusammenhangs zwischen Form und Inhalt zu erkennen. Namentlich von diesem Gesichtspunkte aus mußte man den Verfasser der »Hegler Mühle« als ein beachtungswertes Talent bezeichnen. Freilich ist die Konzeption des Ganzen und die Durchführung im einzelnen so mangelhaft, der Dichter fällt so oft in das Platte, absolut Unpoetische, daß er es zu einem reinen und vollen Eindruck auf den Leser nicht zu bringen vermag. Allein gleichwohl ist die »Hegler Mühle« so reich an tiefen, echt poetischen Motiven, der Dichter geht so frisch und ohne Phrase an seinen Stoff heran, und es ist ihm im einzelnen doch so vieles gelungen, daß man sich der Hoffnung nicht erwehren konnte, die Mängel dieses Erstlingswerkes in einem späteren durch Ernst und Fortbildung ausgeglichen zu sehen.

Der Dichter scheint indessen diese Hoffnung nicht erfüllen zu wollen; seine späteren Werke sind die schwächeren. Die Liebeslieder enthalten eigentlich kein einziges Gedicht, welches diesen Namen in der Tat verdiente, sondern nur einen neuen Beweis, daß in der deutschen Poesie nichts spärlicher vertreten ist, als eben das Liebeslied, so viele und weite Rubriken demselben auch in allen Arten von Gedichtsammlungen eingeräumt sein mögen. Wie hätten auch sonst die guten Definitionen und schlechten Verse des Grafen von Münch-Bellinghausen »Mein Herz, ich will dich fragen, was ist denn Liebe, sag!« vor noch nicht langer Zeit zu einer solchen Tagesberühmtheit gelangen können! Wie wäre es anders erklärlich, daß ein Kritiker wie Karl Gödeke uns in seinen »Edelsteinen« unter der Rubrik des Liebesliedes eine Anzahl von Gedichten bringt, die augenscheinlich weder unter der Gewalt dieser schönen Leidenschaft entsprungen, noch auch imstande sind, den Leser nur die leiseste Regung derselben wiederempfinden zu lassen?

Die eigentliche Aufgabe des lyrischen Dichters besteht aber unsrer Ansicht nach darin, eine Seelenstimmung derart im Gedichte festzuhalten, daß sie durch dasselbe bei dem empfänglichen Leser reproduziert wird, wobei freilich der Wert und die Wirkung des Gedichtes davon abhängen wird, daß sich die individuellste Darstellung mit dem allgemeingültigsten Inhalt zusammenfinde. Die besten lyrischen Gedichte sind daher auch immer unmittelbar aus der vom Leben gegebenen Situation heraus geschrieben worden; die höchste Gefühlserregung wird, wie das jeder schon im täglichen Leben an sich erfahren mag, auch immer den schlagendsten Ausdruck finden; und wenn Goethe einmal den Ausspruch getan, es müsse der Dichter sich den Stoff durch die Zeit erst in eine gewisse Ferne rücken lassen, ehe er an die Behandlung desselben gehe, so sind doch gerade seine Lieder von unsterblichster Wirkung nachweislich unter der Herrschaft des Momentes entstanden, worüber der vor einigen Jahren herausgegebene Briefwechsel mit der Frau von Stein die mannigfachsten und interessantesten Aufklärungen enthält. Daß übrigens dem Dichter, namentlich dem Novellisten, auch eine selbsterfundene Situation mit solcher Lebendigkeit aufgehen könne, daß er dadurch zu einer vollkommen lyrischen Produktion im Charakter und der Stimmung seiner eignen Gestalten veranlaßt wird, ist durch das hier Gesagte selbstverständlich nicht ausgeschlossen und von Mörike in seinem »Maler Nolten« durch das unergründlich schöne »Früh, wenn die Hähne krähn« aufs vollkommenste dargetan, während die Eichendorffschen Lieder, so tief sie immer sein mögen, doch nur aus einer und derselben Grundstimmung mit den Novellen, in denen sie vorkommen, nicht aber aus diesen selbst entsprungen sind.

Es beruht daher auch das willkürliche und massenhafte Produzieren lyrischer Gedichte, das eigentliche Machen und Ausgehen auf derartige Produktionen auf einem gänzlichen Verkennen des Wesens der lyrischen Dichtkunst; denn bei einem lyrischen Gedichte muß nicht allein, wie im übrigen in der Poesie, das Leben, nein, es muß geradezu das Erlebnis das Fundament desselben bilden. Den echten Lyriker wird sein Gefühl, wenn es das höchste Maß von Fülle und Tiefe erreicht hat, von selbst zur Produktion nötigen, dann aber auch wie mit Herzblut alle einzelnen Teile des Gedichtes durchströmen. Eine Folge hiervon und zugleich ein Beweis für unsre Ansicht ist es, daß selbst unsre besten Lyriker, wie Günther, Hölty, Goethe, Claudius, Uhland nur wenige Lieder geschaffen haben, welche die seit ihrem Erscheinen verflossene Zeit überdauerten.

So wie mit den lyrischen Gedichten im allgemeinen, so ist es im besonderen mit den Liebesliedern. Es kommt nicht darauf an, geistreiche Gedanken über die Liebe in Versen vorzutragen, wie dies z. B. in Geibels »Minnelied«, freilich in schönster Weise, geschieht; denn hier entsteht schon ein Mittelding zwischen lyrischer und didaktischer Poesie; das echte Liebeslied soll vielmehr in seinen Versen die Atmosphäre der Liebe einfangen, daß es uns beim Lesen mit unwiderstehlicher Gewalt der Ahnung oder Erinnerung überkommt.

Die Niendorfsche Sammlung, an die wir die vorstehenden Bemerkungen anknüpfen, bringt uns kein einziges Gedicht, in dem und in dessen einzelnen Teilen ein volles energisches Gefühl pulsierte. Man fühlt, daß es dem Verfasser mehr um das Versemachen als um die Liebe zu tun gewesen ist; die unbedeutendste Gefühlsanwandlung, über die es fast nirgends hinauskommt, die oberflächlichste Reflexion müssen ihm den Stoff zu einem Gedichte hergeben. Kleine anmutige Motive, an denen es allerdings nicht fehlt, z. B.

S. 42

Ich hang an dir!
Ich hang an dir, wie ein Tröpflein Tau
An der roten Rose der Werderau.

S. 207

Sie lächelten, doch nicht wie du.

wiewohl auch diese nicht selten in phantastische Spielerei ausarten, z. B. S. 15, wo »Schön Ännchen« zu Ende jeder Strophe wünscht:

O Mondenschein,
Möchtest du mein Liebster sein!

werden ihm Veranlassung, ein längeres Gedicht daran zu hängen, das nur zu deutlich zeigt, es sei nur um des hübschen Refrains willen gemacht worden. – Wie geringen Teil überhaupt die Empfindung an diesen Liedern hat, beweist schon das gemachte, jetzt hoffentlich für immer in der Poesie, wenigstens in der Lyrik, beseitigte Hereinziehen ausführlicher Bilder und Gleichnisse, sowie das verbrauchte Personifizieren von Himmel, Wind, Wolke, Muschel, Rose und hundert andern leblosen Gegenständen, dem man hier überall begegnet. In den allermeisten Fällen wird ein solches Verfahren, das, wie unmerklich auch immer, dennoch auf einer Verstandesoperation beruht und daher zum Verständnis der Rückoperation verlangt, nicht allein dem Leser den unmittelbaren Eindruck des Gefühls verkümmern, welches der Dichter ausdrücken wollte, sondern es wird auch fast immer ein Beweis sein, daß dasselbe nicht in rechter Fülle und Tiefe bei dem Dichter vorhanden gewesen ist. Die vorliegende Sammlung liefert hiefür den schlagendsten Beleg.

Daß bei alledem der Verfasser seiner ursprünglichen Naturanlage nach eines tiefern Tones fähig ist, das ergibt sich auch hier wiederum aus einzelnen Strophen und Liedern, denen es freilich, wie in der »Hegler Mühle«, überall an einer gründlichen Durchführung im einzelnen fehlt, z. B.:

Wider der Welt Rede

Wo dir ein heimlich heilig Blatt
Aus deinem Herzen ward gerissen,
Und durch der Neugier Augen hat
Den Rutenlauf hinwandeln müssen:
Verzage nicht, und glaub es mir,
Es ging schon manchem so wie dir!

Hör alles an und fasse dich,
Ob sie dir trauern oder scherzen;
Hat alles seinen bösen Stich
Und treibt den Stachel dir zu Herzen,
Verzage nicht! Ertrag es still!
Gebeut dem Zorn, der widerwill.

Denn bist du still: es spricht sich tot,
Die Welt sucht morgen schon das Neue,
Und hieltest du's in Schmerz und Not:
Dein ist es erst mit rechter Treue.
Verzage nicht! Du kommst zur Ruh!
Du hast's allein, dein Gott und du.

wo den Hauptanforderungen der Kritik schon durch Hinweglassung der mittleren Strophe Genüge geschehen wäre.

Nach dem hier Gesagten können wir mit der von dem Dichter in seinem Einleitungsgedicht »Das Lied der Liebe« ausgesprochenen Ansicht keineswegs übereinstimmen:

Und dieses Lied – ob es tausendmal
Und abermal tausend erklungen,
Die Liebe, die Liebe voll Lust und Qual,
Wird nimmer zu Grabe gesungen.
Wollt's Gott, ich hätte durch hundert Jahr
Gesungen ihr tausend Lieder
:
Mit zitternden Händen und greisem Haar,
Ich würde der Liebe nicht müder.
O Liebe, du Liebe, du Harfenpreis,
Du Segensfrucht an dem Lorbeerreis,
Ich sänge dir wieder und wieder.

denn wenn auch die Liebe an sich in der Weltordnung, so auch in der Poesie ihre ewige Berechtigung hat: so wird sie dem einzelnen Dichter doch niemals ein stets handgerechter Stoff sein, aus dem er beliebig seine Lieder zu fabrizieren vermöchte; er wird vielmehr die Offenbarung abwarten müssen, wie bei allem, was heilig ist. Am allerwenigsten aber haben die Lieder der vorliegenden Sammlung es vermocht, uns zur Übereinstimmung mit der Ansicht ihres Verfassers zu bewegen.

Man könnte uns, und scheinbar mit Recht, den Einwurf machen, wir hätten für die Besprechung eines Buches, an dem wir so weniges gelten lassen, keinen Raum in diesen Blättern verlangen dürfen; allein das nicht alltägliche Talent, welches wir in der »Hegler Mühle« zu erkennen meinen, konnte doch immerhin den Anspruch machen, daß bei Gelegenheit eines von demselben Verfasser herrührenden Werkes das gesagt würde, was wir seit lange gegen eine ganze Klasse von Poeten auf dem Herzen hatten.

Anzeige der Lieder von Julius von Rodenberg

Erst in neuerer Zeit hat die Kritik mit einer tieferen Auffassung der Form in der Poesie begonnen. Die sogenannte »schöne Form«, deren Wesen man in den rhythmischen und musikalischen Wohllaut des Verses setzte, ohne dabei ein notwendiges Verhältnis derselben zum Inhalt zu verlangen, fängt allmählich an, im Preise zu sinken; und man will jetzt unter Form vielmehr nur die Art und Weise verstanden wissen, in welcher der eigentümliche Gehalt eines Stoffes zum poetischen Ausdruck gebracht wird. Formvollendung in diesem Sinne, welche ihrer Natur nach schon einen künstlerischen Stoff und ein intimes Verhältnis des Dichters zu demselben voraussetzt, ist daher recht eigentlich Sache des Talentes; während jede Handhabung der Form, welche zu dem Stoffe selber in kein Verhältnis tritt und ihm daher auch nicht zum Ausdruck verhelfen kann, wenn auch nicht von vornherein und durchweg der Routine angehört, so doch wenigstens geradeswegs dahin führt. Geibels poetische Entwicklung, der in der deutschen Literatur recht eigentlich der Dichter der schönen Form ist und in dieser Richtung das Mögliche und ohne Zweifel höchst Anerkennungswertes geleistet hat, bietet hierfür die reichlichsten Belege. Wir erinnern beispielsweise nur an die Troubadour-Lieder, die Schleswig-Holstein-Sonette und die kürzlich in Gödeckes Wochenschrift teilweise publizierte Oper »Lorelei«, Dichtungen, die augenscheinlich weder aus einem Drange der Phantasie oder des Gedankens, noch der Empfindung, sondern vielmehr aus der anmutigen Gewohnheit musikalischer Rhythmenbildung entstanden sind. Wie schon oft gesagt, die »schöne Form« ist ein Gefäß, womöglich ein goldenes, bereit, den mannigfachsten beliebigen Inhalt zu empfangen; die poetische Form in unserm Sinne sind nur die Konturen, welche den Körper vom leeren Raume scheiden.

Zu den Dichtern der schönen Form gehört auch Julius von Rodenberg. Er ist, wie kein andrer der jungen Poeten, wenn man so sagen darf, aus Geibels Schule hervorgegangen; im übrigen freilich, was den Wert seiner Produktionen anbelangt, in keiner Weise mit ihm zu vergleichen, abgesehen davon, daß der beiden gemeinschaftliche Ton, so wenig er eine durchschlagende Originalität zuläßt, dem älteren Dichter immerhin insofern eigentümlich ist, als er von diesem zuerst in die deutsche Lyrik eingeführt wurde. Julius von Rodenberg besitzt weder die Phantasie und den Gedankenreichtum, noch auch die Geistes- und die Gemütsbildung, welche der Muse Geibels überall zugute kommt; und verhält sich zu diesem durchweg wie ein Schüler zum Meister, den zu erreichen ihm durch den geringeren Gehalt seiner Persönlichkeit auch für die Zukunft versagt ist. Der rasche Erfolg der Sammlung, durch den allein wir zu dieser Besprechung veranlaßt werden konnten, erklärt sich wohl nur dadurch, daß der Verfasser es verstanden hat, die allgemeingültigsten Gedanken und Empfindungen in einer freilich weder tiefen noch eigentümlichen, aber darum desto verständlicheren Weise auszusprechen. Wie hiervon bis zum Trivialen kaum ein Schritt ist, braucht nicht hervorgehoben zu werden. Jugend, Frühling und Liebe sind das Thema dieser Lieder; der Dichter ist jung und will jung sein. Freilich nur insofern die Jugend den Keim zur männlichen Tat und zur unvergänglichen Geistesjugend in sich trägt (S. XII und 68). Doch trotz dieses ernsteren, wir möchten sagen praktischen Anspruches oder vielleicht auch wegen desselben finden wir überall nur eine leichte Gefühlserregung, welche mehr aus der Einbildungskraft als aus dem Leben entsprungen scheint, und obgleich der Verfasser selber sagt:

S. 232

Ich hab getrunken aus der Leiden Borne,
Von Schmerzen gehen mir die Augen über,

so zeigen doch seine Lieder keinesweges, daß er sich seinen Stoff durch Kampf und Schmerz zum inneren Eigentum erworben habe. In den Liebesliedern begegnen wir nur der Liebe in abstracto, und es fehlt überall – nur auf S. 58 findet sich eine eben nicht glückliche Ausnahme – der Hintergrund des inneren Erlebnisses. In gleicher Allgemeinheit sind die übrigen Stoffe behandelt; fast nirgend befinden wir uns auf dem Boden bestimmter oder gar wirklicher Verhältnisse; selbst beim »Studentenabschiede« (S. 105) fehlt jede konkrete Unterlage. Die Abteilungen »Liebeslieder« und »Wanderlieder«, worin der größere Teil der Sammlung zerfällt, haben für den Inhalt nicht eben viel zu bedeuten, nur daß bei den letzteren mitunter an bestimmte Örtlichkeiten angeknüpft ist; das Thema bleibt im ganzen dasselbe.

Wir teilen beispielsweise mit:

S. 16

Die reinen Frauen

Die reinen Frauen stehn im Leben
Wie Rosen in dem dunklen Laub;
Auf ihren Wünschen, ihrem Streben
Liegt noch der feinste Blütenstaub.

In ihrer Welt ist keine Fehle,
Ist alles ruhig, voll und weich;
Der Blick in eine Frauenseele
Ist wie ein Blick ins Himmelreich.

Wohl sollst du hören hohe Geister,
Verehren sollst du Manneskraft;
Doch sollen lehren deine Meister,
Was Kunst vermag und Wissenschaft.

Doch was das Höchste bleibt hienieden,
Des Ew'gen nur geahnte Spur,
Was Schönheit, Poesie und Frieden,
Das lehren dich die Frauen nur.

Ein für diese Richtung der Poesie in Konzeption und Ausführung besonders bezeichnendes Gedicht ist S. 125 »Notturno«, dessen Mitteilung uns jedoch der Raum hier nicht gestattet.

In der Abteilung »Helgoland« gehört das bekannte »Marie vom Oberlande« zu den Liedern, die sich bei übrigens poetischer Dürftigkeit durch ihre rhythmische »Weise« und durch eine gewisse Fasson unsern Musikern zur Komposition zu empfehlen pflegen, und denen wir auch in dieser Beziehung einen verhältnismäßigen Wert nicht bestreiten wollen. Inniger und, wie wenige Stücke der Sammlung, von einer bestimmten Stimmung getragen ist dagegen das Gedicht S. 169:

Dämmerung

Horch, nach des Tages glühender Hitze,
Wie atmet das Meer so kühl und leicht!
Ich liege allein auf der Felsenspitze,
Die Sonne ist unter, der Himmel bleicht.

In wallende Nebel hüllt sich die Ferne,
Dort an der Düne irrt noch ein Kahn;
In die Dämmerung treten die ersten Sterne
Und sehn mit den goldenen Augen mich an.

Bewegten Herzens muß ich lauschen,
Wie sich die Brandung am Felsen bricht;
Der Winde Gesang und der Wellen Rauschen
Erklingt mir wie ein unsterblich Gedicht.

Voll stürmischer Lust, voll brausender Klage,
So wonnetrunken, so gramverwirrt;
Ein Lied, wie es von Anfang der Tage
Bis an den letzten erschallen wird.

Ich hörte die Glocken des Meeres läuten,
Vernahm der Seejungfraun Gesang;
Ich aber konnte den Sinn nicht deuten,
Mein Herz war bezaubert vom wilden Klang.

obgleich es doch auch wiederum am Ende in den hergebrachten Phrasen und den alten poetischen Theatereffekten verpufft.

Von den geharnischten Sonetten (S. 211-249), namentlich denen für Schleswig-Holstein, das der Dichter übrigens nicht bloß mit der Feder vertreten zu haben scheint, kommen die ersteren über ein kaltes Pathos nicht hinaus, während in den späteren mitunter eine Wärme des Gefühls hervorbricht, die im allgemeinen außer dem Bereiche dieser dichterischen Persönlichkeit zu liegen scheint.

S. 220

Am Kyffhäuser

Und wieder einmal fuhr er aus dem Schlafe ...
»Wer hat mir das getan, wer weckt mich wieder?
Wer singt mir stürmisch jene alten Lieder?
Wer geht so hart auf meinem Epitaphe?

Bist du es, deutsches Volk? Du deutscher Sklave?
Was regst du wieder deine trägen Glieder?
Wozu der Lärm? O leg dich, leg dich nieder!
Am wohlsten ist ja mir und dir im Schlafe!« –

Da rief ich: Nein, o nein, mein deutscher Kaiser!
Das Heil ist nah, nun darfst du nicht mehr zagen;
Der Morgenwind fährt schon durch Busch und Reiser.

O Lust von Morgen! sieh, schon will es tagen,
Das Frühlicht blitzt schon durch die goldne Aue –
Und du, mein Fürst, nur einmal noch vertraue!

Es hängt mit der vorhin besprochenen Natur dieses Talentes zusammen, daß sich überall in den Gedichten die bestimmtesten Anklänge an andre Dichter finden, im einzelnen wie in der Konzeption; und zwar kommen diese Anregungen unverkennbar nicht etwa durch den Stoff oder durch die lyrische Stimmung fremder Gedichte, als vielmehr fast immer nur durch den rhythmischen Tonfall derselben.

Übrigens kann niemand die Grenzen seines Talentes richtiger charakterisieren, als dieses vom Dichter in nachstehender Insolvenzerklärung selbst geschehen ist:

S. 45

Das ist das köstlichste Empfinden,
– Ich fühl es meinem eignen an! –
Auf das man keine Reime finden,
Und keine Verse machen kann!

Es sei uns vergönnt, an Vorstehendes die kurze Erwähnung eines neuen Poeten anzuknüpfen, der als leibhafter Antipode der Rodenbergschen Richtung auftritt. Das soeben erschienene Büchlein heißt:

Lieder und Episteln von K. H. Preller

Nach einem frischen, jugendlich übermütigen Einleitungsgedicht:

– – – – – – – – – – – – –
Groß ist unsre Zeit. Die Lichter
Junger hoffnungsvoller Dichter
Wie pompös gestirnt sie stehn!
Schwer hält's, etwas zu bedeuten,
Denn vor lauter großen Leuten,
Fürcht ich, wird man übersehn!

tritt der Verfasser in einzelnen Gedichten (S. 17, 56, 90, 100) und am Schlusse seiner Sammlung in den neun polemischen Episteln gegen die Phrase und die falschen Poeten in den Kampf. Den größten Teil des Buches bilden indessen lyrische Gedichte, die unter diesen Umständen offenbar mit Ansprüche, als Musterstücke zu gelten, von dem Dichter eingeführt sind. Das erste, was uns beim Aufschlagen des Buches in die Augen fiel, war:

S. 17

Mädchenlied

Die Sonne will erblassen,
Der Tag entwich.
Du hast mich ahnen lassen,
Du liebtest mich.

Und nun liegen die Wogen
Im Sternenlicht.
Du bist fortgezogen;
Ich begreife dich nicht.

Wir müssen gestehen, daß wir eine so echte Simplizität, einen so tiefen Naturlaut in dem Wüste der neueren Lyrik lange nicht gehört hatten und danach das Selbstbewußtsein des Verfassers für hinlänglich gerechtfertigt hielten; allein wir hatten eben die Perle der Sammlung getroffen. Der Gegenstand wie der poetische Gehalt der übrigen Gedichte ist meist ein sehr unbedeutender; und unerachtet des nicht zu verkennenden Strebens nach einem realen Hintergrunde:

S. 5

Genrebild

Auf dem Landweg zwischen zwei Gebüschen
Geht ein Mann in einem grünen Tuchrock.
Langsam geht er, und die Sonne brennt ihm
Auf den Rücken, und der Staub beschwert ihn.
Fünfzig Jahre mag er etwa zählen,
Seine Kindheit hat er längst durchmessen.
Seine mühevolle Jugend auch längst.
Werktags hat er stets viel Schweiß vergossen,
Sonntags ist er manchmal – froh gewesen.
Wie er langsam geht, und so bedächtig
Seine Pfeife raucht im heißen Wetter!
Denken mag er wohl an Korn und Rindvieh,
Die sind immer sein Erwerb gewesen,
Aufs Erwerben war er angewiesen.
Noch ist er zu sehn! Wie geht er langsam! –
Hinter ihm liegt Arbeit, vor ihm Arbeit,
Hinter ihm liegt Sorge, vor ihm Sorge,
Hinter ihm Gespielen, vor ihm Erben –
Warum soll er große Schritte machen?

wird der Dichter dennoch sehr oft von der Phrase, seinem beschrieenen Erbfeinde, mehr oder minder überwältigt. Z. B.:

S. 36

Unter dunkelgrünen Bäumen
Möcht ich ruhn am Waldessaum,
Möchte singen, möchte träumen
Ewig sel'gen Liebestraum usw.

S. 37

Nach dieser Tagesschwüle
Segne die Abendkühle,
Segne die milde Nacht!
Mit leisem Engelsflügel
Schwebt über Tal und Hügel
Des Friedens stille Wundernacht usw.

Möge der Verfasser des schönen »Mädchenliedes« und des »Genrebildes« noch jung und unbefangen genug sein, um seinen gerechten Grimm gegen alles Unwahre und Konventionelle auch seinem eignen Talente zugute kommen zu lassen.

Des Knaben Wunderhorn

Vierter Band

Die ursprünglichen Herausgeber des Wunderhorns, das bald nach seinem Erscheinen auf Ton und Stimmung der deutschen Lyrik von so bedeutendem Einfluß wurde, ließen sich bei ihrer Arbeit bekanntlich und ausgesprochenermaßen nicht sowohl von einem literarischen oder kulturhistorischen als vielmehr lediglich vom poetischen Interesse leiten; nicht darauf kam es ihnen an, ob ein Gedicht in der Tat zum poetischen Eigentum des Volkes gehörte, sondern nur, ob es nach ihrer Ansicht die Berechtigung hatte, dazu zu gehören. Hieraus entstand ein Zwiefaches. Einmal, daß man keinen Anstand nahm, an den überkommenen Texten zu ändern, andernteils, daß auch von bekannten und lebenden Dichtern Stücke aufgenommen wurden, denen man, wie z. B. der Pfeffelschen »Tabakspfeife«, den Charakter des Volksliedes zuerkannte. In dieser letzteren Beziehung ist auch der gegenwärtige vierte Band dem alten Plane treu geblieben, und es sind nicht allein in übrigens geschickter Auswahl Lieder von Johann Rist (S. 166,170), Martin Opitz (S. 172, 206) und anderen alten Dichtern aufgenommen, sondern wir finden auch, und gewiß im Sinne der ursprünglichen Herausgeber, S. 332 das unvergleichliche »Fridericus Rex, unser König und Herr« von Willibald Alexis aus dessen Roman »Cabanis«.

Im übrigen hat der Herausgeber des vorliegenden Bandes es sehr wohl erkannt, daß die ohnedies von jeher angezweifelte Berechtigung zur poetischen Redaktion der alten Texte jedenfalls an die Persönlichkeit der alten Herausgeber geknüpft gewesen sei, und sich in dieser Beziehung darauf beschränkt, die vorgefundenen Lieder, außer wo sich aus neueren Quellen bessere Lesarten darboten, in unveränderter Gestalt zu geben. Andererseits hat indessen Hr. L. Erk sich veranlaßt gefunden, sowohl über den handschriftlichen als auch über den Arnimschen Nachlaß überhaupt hinauszugehen; denn nicht allein, daß aus neueren, erst nach Arnims Tode erschienenen Sammlungen, unter Hinweisung auf die früheren Bände, einzelne Stücke abgedruckt sind, welche ihrem Inhalte nach zur Vergleichung mit den dort mitgeteilten Texten auffordern, z. B. S. 133 »Maria« aus Simrocks Volksliedern; die überwiegende Mehrzahl der Stücke aus den späteren Sammlungen ist ohne Hinweisung auf Früheres aufgenommen und scheint zu dem Inhalt der Bände in keinem weiteren Verhältnis zu stehen, als daß vielleicht Arnim und Brentano, falls sie denselben gekannt, sie ihrer Sammlung würden einverleibt haben. So z. B. S. 71 das von Heine im »Salon« mitgeteilte: »Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht«, S. 127 »Die Verlassene« aus Walkers »Sammlung deutscher Volkslieder. 1841«, S. 173 »Wo wird mein Schatzeln sein« aus »Silchers Volksliedern« usw.

Ist nun durch ein solches Verfahren die Einheit des vorliegenden Bandes allerdings beeinträchtigt worden, so hat er dafür durch dasselbe an Reichtum und Mannigfaltigkeit ohne Zweifel gewonnen, und die Leser werden kaum Ursache haben, sich darüber zu beklagen. Wer das Buch nach Goethes, bei Gelegenheit des ersten Bandes erteiltem Rate liest, d. h. nicht zuviel auf einmal, der wird sicher seine Rechnung dabei finden. Es ist wie ein Gang auf freier Heide; nur einzeln blüht zwar die wilde Rose, aber es grünt und duftet doch überall, und überall ist man in der Natur und überall auf deutscher Erde.

Eines dieser Lieder, in welchem sich ein Stück Volksleben zu einer besonders lebendigen Szene entwickelt, können wir uns nicht enthalten hier, wenigstens dem größten Teile nach, wiederzugeben:

S. 27

Die junge Schnur und die alte Schwieger

Heinz, willtu Christein haben?
Sprach die alte Schwieger.
Will sie's sein,
So ist sie mein,
Sprach der Sohn hinwieder.

Wann wollt ihr dann Hochzeit haben?
Sprach die alte Schwieger.
Gilt uns gleich,
Wann es sei,
Sprach die Schnur hinwieder.

Was soll ich euch ins Haus schenken?
Sprach die alte Schwieger.
Dein neuen Pelz,
Mir gefällt's,
Sprach die Schnur hinwieder.

Was wollt ihr für ein Handwerk treiben?
Sprach die alte Schwieger.
Gelt, mein Heinz,
Wir treiben keins!
Sprach die Schnur hinwieder.

Womit wollt ihr euch dann nähren?
Sprach die alte Schwieger.
Mit Käs und Brot,
Und was man hat,
Sprach die Schnur hinwieder.

Wo wollt ihr heint dann liegen?
Sprach die alte Schwieger.
Bei dem Herd,
Auf der Erd,
Sprach die Schnur hinwieder.

Wo wöllt ihr dann Hausrat nehmen?
Sprach die alte Schwieger.
Frag nit drum,
Wo wir's bekumm,
Sprach die Schnur hinwieder.

In welches Haus wollt ihr dann ziehen?
Sprach die alte Schwieger.
In dein Haus,
Du mußt draus!
Sprach die Schnur hinwieder.

Das Haus, das ist mein eigen!
Sprach die alte Schwieger.
Ist es dein,
Es wird noch mein,
Sprach die Schnur hinwieder.

Wolltst du auf mein Tod hoffen?
Sprach die alte Schwieger.
Lebst du lang,
So ist mir bang,
Sprach die Schnur hinwieder.

Gib mir meinen Pelz wieder,
Sprach die alte Schwieger,

usw.

Daß die junge Schnur und die alte Schwieger sich demnächst in die Haare geraten, versteht sich bei einem so dramatischen Realismus ganz von selbst.

Wir können diesen Aufsatz nicht schließen, ohne den lebhaftesten Wunsch auszusprechen, der Herausgeber der ersten Bände der Arnimschen Werke, Herr Wilhelm Grimm, möge sich jetzt seines bei Gelegenheit des ersten Bandes gegebenen Versprechens erinnern, am Schlusse der Sammlung von Arnims Leben und Wirken eine eingehende Darstellung zu liefern. Arnim hat seinen Einfluß, wie bedeutend auch immer, doch mehr mittelbar durch andere Dichter als unmittelbar auf die Nation geübt; keinem unsrer Dichter wäre daher eine Würdigung von solcher Hand mehr zu wünschen, und keiner hat sie gleichwohl weniger erfahren als eben Arnim.

Klaus Groth

Das vorliegende Bändchen zeigt uns den als plattdeutschen Dichter mit vollstem Rechte zu so rascher Zelebrität gelangten Verfasser des »Quickborn« als hochdeutschen Dichter. Zur Erklärung des etwas auffallenden Titels sagt derselbe in einer Vorrede, mit welcher er das Buch seinem Freunde, dem Professor Müllenhoff, widmet, es seien diese Gedichte fast ohne Ausnahme gleichzeitig mit dem »Quickborn« entstanden, teils aus den allgemeinen Formstudien, die das Werk erheischt habe, teils, indem Stimmungen, Gedanken und Betrachtungen einen Ausdruck gesucht, die im Plattdeutschen nicht zu ihrem Recht hätten kommen können.

Hieraus erklärt sich denn auch die große Verschiedenheit, welche zwischen den plattdeutschen und hochdeutschen Gedichten desselben Verfassers obwaltet; denn während die ersteren fast überall auf dem Boden des Erlebnisses und der leibhaftigsten Wirklichkeit stehen, zu deren Ausführung die plattdeutsche Sprache nach ihrem eigenen Wesen und ihrem besonderen Verhältnisse zum Dichter den vollsten Ausdruck leihen konnte, beruhen diese hochdeutschen Gedichte mehr auf der Reflexion und auf einer Empfindung, die fast ohne Ausnahme nicht sowohl aus dem unmittelbaren Leben als aus poetischen Reminiszenzen entsprungen ist. Es läßt sich das Seite für Seite nachweisen; z. B.

S. 14

Es glänzt in der Muschel die Perle,
Es blitzt von der Lilie der Tau,
Doch heller leuchtet die Träne
In deinem Auge blau.

S. 15

Wie Melodien zieht es
Mir leise durch den Sinn,
Wie Frühlingsblumen blüht es
Und schwebt wie Duft dahin.

S. 16

Es steht vor ihrem Hause
Ein großer Lindenbaum;
Den seh ich alle Tage
Und jede Nacht im Traum.

Fast überall ist es nur eine mäßige und oberflächliche Gefühlserregung, welcher diese Gedichte ihr Leben verdanken. S. 20 sinkt der Dichter zum trivialsten Ton der Tagesliteratur herab; und wir können uns nicht enthalten, das betreffende Gedicht in seiner ganzen Ausdehnung mitzuteilen, da es ebenso interessant als belehrend ist, zu zeigen, wohin selbst eine so tiefe und bedeutende dichterische Persönlichkeit wie Klaus Groth gelangen kann, wenn sie über ihren Kreis hinaustritt:

Nicht das kleinste Angedenken
Wurde mir von deiner Hand;
Willst du mir ein liebes schenken,
Gib aus deinem Haar das Band.

Was von allem deinem Glanze
Meinem Aug das Liebste war:
Unter einem Rosenkranze
Dieses reiche dunkle Haar.

Deine Wangenröte lachte
Heller an der schwarzen Pracht,
Und der dunkle Stern entfachte
Doppelt bei der tiefsten Nacht.

Wenn die reichen Flechten fielen
Auf die Schultern, marmorweiß,
Schienen Nacht und Licht zu spielen
Um der Schönheit höchsten Preis.

O entflechte deine Haare!
Gib mir dann das Seidenband,
Daß es mir ein Bild bewahre
Von dem Schönsten, was ich fand.

Immer soll sie mich umschweben,
Der entbundnen Locken Pracht,
Und das Band sich still verweben
Meines Kummers tiefer Nacht.

Wen möchte man, wenn es nicht unter seinem Namen erschienen wäre, wohl weniger für den Dichter dieser Reime halten als den Verfasser des »Quickborn«! Sogar »die tiefe Nacht des Kummers«, dieser alte deus ex machina, muß am Ende auftreten, den von den hochdeutschen Poeten selbst schülerhafte kaum noch zu zitieren wagen.

»Den reicheren Teil meines Stoffes«, sagt der Verfasser in der erwähnten Vorrede, »zog natürlich der ›Quickborn‹ an sich.« Das ist allerdings richtig; Klaus Groth ist ein realistischer Poet, es geht ihm wie dem Antäus, wenn er die Mutter Erde verläßt, und seine eigensten Stoffe gingen daher in den »Quickborn«; für die hochdeutsche Fassung blieb meistenteils nur das an sich Schwächere oder das seiner Natur nach dem Dichter weniger Entsprechende. Aber das ist es nicht allein; es liegt auch vielleicht zum allergrößten Teil in der Form, und zwar in der Form, wie deren Wesen im Literaturblatte mehrfache Erörterung gefunden hat. Klaus Groth hat irgendwo bei Besprechung seines »Quickborn« einen besondern Nachdruck auf die Überwindung der formellen Schwierigkeit gelegt, mit welcher der plattdeutsche Dichter zu kämpfen habe. Allein er hat in seinen »Paralipomena« tatsächlich dargetan, daß in einer und der hauptsächlichsten Beziehung wenigstens die größere Schwierigkeit auf seiten des hochdeutschen Dichters ist. Allerdings reicht die plattdeutsche Sprache nicht so weit wie die hochdeutsche, eine Menge von Stoffen sind sogar von vorneherein gänzlich ausgeschlossen; allein dagegen bietet sie auch dem Dichter, soweit ihr Gebiet geht, die allergrößten Vorteile. Sie wird von einem Teile des Volkes gesprochen, der seinen Ausdruck noch mehr aus der unmittelbaren Anschauung als aus der Reflexion schöpft, und besitzt daher eine Fülle anschaulicher lebendiger Worte und ganzer fertiger Wendungen; in diesen seit Jahrhunderten aufgehäuften und – was die Hauptsache ist – durchaus unabgenutzten Reichtum hat der Dichter nur hineinzugreifen, und es wird sich die im Sprachschätze fertig vorgefundene Phrase an der richtigen Stelle ausnehmen, als sei sie speziell aus der jedesmaligen Situation erwachsen und gehöre dem Dichter eigentümlich. Daß eine solche richtige Verwendung des im Sprachschatze Vorhandenen eben auch einen Poeten erfordert, versteht sich freilich von selbst. In der hochdeutschen Sprache dagegen ist alles Fertige bereits so abgegriffen und verbraucht, daß es nur in den seltensten Fällen und durch die größte Kunst des Dichters einen frischen Eindruck hervorzubringen vermag, in der Regel aber sogar mit Sorgfalt vermieden werden muß; und von dem mit eigentümlicher, energischer Anschauung begabten Dichter, wie z. B. Eduard Mörike einer ist, auch ganz von selbst vermieden und aus dem persönlichen Reichtume des Dichters ersetzt wird. Daß nur sehr Einzelne diesen Reichtum besitzen, ist ebenso gewiß, als daß der Verfasser des »Quickborn« sich dieser in den Sprachverhältnissen liegenden schweren Forderung an den hochdeutschen Dichter bei Abfassung seiner »Hundert Blätter« in keiner Weise bewußt gewesen ist. Denn überall begnügt er sich mit dem überkommenen konventionellen Apparat und kommt sehr oft über die Phrase im allerschlimmsten Sinne nicht hinaus.

Überdies aber, was freilich mit dem vorhin Erörterten aufs genaueste zusammenhängt, ist dem Verfasser, der ein so feines Ohr für die plattdeutsche Sprache besitzt, das Geheimnis des hochdeutschen Sprachklanges verschlossen geblieben.

Während das erste Fünfzig von den »Hundert Blättern« aus vermischten Gedichten, besteht das zweite Fünfzig lediglich aus Sonetten. In einen großen Teil derselben hat der Verfasser Gedanken und Betrachtungen über Gelesenes niedergelegt, und wir gewinnen dadurch einen Einblick in seinen Bildungsgang und seine Studien, worunter, nach den Sonetten zu urteilen, die Naturwissenschaften einen bedeutenden Teil einzunehmen scheinen. In bezug auf Platen, für den, und zwar gegen Heine, dessen unsterblich Teil er noch nicht entdeckt zu haben scheint, der Verfasser sich in vier Sonetten erklärt, heißt es S. 91:

3

Das Wort zu prüfen nach dem feinsten Klange,
Den Duft zu kosten und den Sinn zu schmecken,
Den reinsten Ton im Rhythmus zu entdecken,
Das konntest du und übtest du im Sange.

Allein den Weg dir hau'n im wilden Drange,
Die Sprache schmieden und die Verse strecken,
Den Widerhall in trunknen Seelen wecken:
Dazu war dir das Herz zu adlig bange.

So stehst du da in deiner Marmorglätte,
Im Ebenmaß von abpolierter Reinheit,
Mit steinern – todeskalten schönen Formen.

Und nur der Dichter naht sich deiner Stätte
Und lernt an deiner durchgeprüften Feinheit
Die strenge Kunst in ihren starren Normen.

4.

(H. Heines »Fresko-Sonett VIII«)

Wer ganz, wie du, sich hingibt an das Schöne,
Den kann der Schmutz des Niedern nicht besudeln,
Ob er verkannt wird von bebrillten Pudeln,
Ob ihn ein frecher Satyr neck und höhne.

Und wenn dein Volk nicht lauscht auf deine Töne,
Der nie sich beugte, flachen Sinn zu hudeln,
Der nie herabstieg, schalen Witz zu sprudeln –
Du stehst zu hoch, daß dich der Pöbel kröne.

Wir aber, welche deinen Wert ermessen.
Wir wollen dich als strengen Meister ehren,
Und zu dir wallen, wie zum Richterthrone.

Was du der Schwachheit zolltest, sei vergessen,
Und sollte Deutschland uns den Kranz gewähren:
Wir siechten dir daraus die Lorbeerkrone.

Da die Sonette nur in das Gedankenleben des Dichters einführen, so sind sie für alle, welche durch den »Quickborn« ein näheres Interesse an seiner Persönlichkeit gewonnen haben, jedenfalls der lesenswerteste Teil des Büchleins, wenn auch in ihnen der zu entwickelnde Gedanke oft nicht mit völliger Klarheit und Präzision heraustritt.

Im übrigen – ist es eben schwierig, in zweien Sprachen ein Dichter zu sein; obgleich wir nach dem anmutigen, im »Quickborn« mitgeteilten Gedichte »Das Laub beginnet fallen« schon fast geneigt waren, es bei Klaus Groth als möglich anzunehmen.

Anzeige der Gedichte von Hermann Kette

Wir haben hier die ersten Arbeiten eines jungen Poeten, von denen wir zuviel sagten, wenn wir behaupteten: sie seien pures Gold. Wir brechen auch nicht in die Worte Turandots aus: »Seht her und bleibet Eurer Sinne Meister«; wir versichern dem Gedichte lesenden Publikum sogar, es werde nicht nur Anklänge an diesen und jenen Meister finden, sondern gelegentlich auch der begründeten Ansicht sein, dies und das schon besser gelesen zu haben. Nichtsdestoweniger nehmen wir nicht Anstand, die vorliegende kleine Sammlung mit Wärme zu empfehlen, die teilweis in dem wirklichen Wert der Dichtungen, überwiegend aber darin ihren Grund hat, daß wir hier wieder ein junges Talent auf dem Wege erblicken, der uns immer mehr und mehr als der einzig richtige erscheinen will. Nicht die Größe der Aufgabe macht's, sondern das richtige Verhältnis zwischen Kraft und Ziel. Wir haben nicht nur immer noch Talente, die das furchtlose Mühen der Titanen fortsetzen und in Gottes Himmel hineinbauend den alten Lenker aller Dinge stürzen und sich an seine Stelle setzen möchten, sondern nur allzuoft auch steht die pygmäenhafte Kraft zur titanischen Aufgabe in solchem Mißverhältnis, daß man nicht weiß, ob man die Kühnheit des Unternehmens mehr verurteilen oder belachen soll. Von solcher Großmannssucht haben wir bei unsrem Dichter nichts, er kennt die Grenzen seiner Begabung und hält sie inne. Er wirtschaftet mit dem ihm gewordenen Pfunde wie ein ehrlicher Mann, aber nicht wie ein Schwindler, der, weil er hundert von hundert verdienen will, zuletzt selbst der Betrogene wird und seinen Einsatz unter den Händen verschwinden sieht. Ob solch gerader Weg bloß um seiner Gradheit willen immer zum höchsten Ziele führt, mag billig bezweifelt werden, aber wer ihn betritt (versteht sich mit Beruf), wird immer zu den liebenswürdigen Erscheinungen zählen, und Handwerksbursche auf den Wegen und Mägde in ihren Spinnstuben werden von ihm sprechen und singen, wenn auch niemals ein pomphaftes Monument über ihn zur Nachwelt spricht.

Als einen Belag für die heitre Frische und Munterkeit der vorliegenden Dichtungen geben wir das Folgende:

Amor als Auktions-Kommissar

Ein ledig Herz macht nur Verdruß
Und kann zu gar nichts frommen,
So sprach ich einst, kam zum Entschluß
Und ließ mir Amorn kommen.

Bei Laune eben war der Gott,
Versprach mir ohne Weigern,
Mein Herz, wie ich es ihm gebot,
Meistbietend zu versteigern.

Er lief die Gassen ab und auf
Und rief mit ernster Miene:
Wer Lust verspürt zum Herzenskauf,
Erscheine zum Termine!

Und im Termin, der öffentlich
Im Rathaus ward gehalten,
Viel Käuferinnen fanden sich,
Absonderlich die Alten.

Und er, der Schalk, als Kommissar,
Mit einer großen Brille
Und einer Atzel überm Haar,
Bot mit der Glocke Stille:

Ein Männerherz steht zum Verkauf
Ein junges, warmes, rotes;
Wer, meine Damen, bietet drauf?
Ich harre des Gebotes.

Und sieh, in Samt und Seide stolz
Vom Fuße bis zur Scheitel,
Hob eine einen Beutel Gold's:
Ich biete diesen Beutel!

Der Beutel schaute stattlich aus,
Ich winke und ich nicke,
Doch Amor zieht die Stirne kraus
Bis unter die Perücke:

Wer, meine Damen, bietet mehr?
Ein Beutel Gold's zum ersten!
Wer bietet, meine Damen, wer?
Ein Beutel Gold's zum ersten!

Und eine zweite, bodenwärts
Den sanften Blick geschlagen,
Sprach leis: Ich biete Herz für Herz.
Das, dacht ich, ist zu wagen.

Die Maid schien ohne Lug und Trug,
Mit leidlichen Manieren,
Und bei Geschäften Zug um Zug
Ist nicht viel zu riskieren.

Die Maid sah gut und ehrlich aus,
Ich winke und ich nicke,
Doch Amor zieht die Stirne kraus
Bis unter die Perücke:

Ein Beutel Gold's, wer bietet mehr?
Ein andres Herz, zum ersten!
Wer bietet, meine Damen, wer?
Sie Schelmchen da, wie wär's denn?

Und sieh, das muntre Schelmenkind
Rief laut zum Kommissare:
Herr Kommissar, man kauft nicht blind,
Zeigt doch einmal die Ware!

Das Herz ist nicht mehr ungebraucht,
Und hat schon wunde Stellen,
Die erste Hitze ist verraucht,
Herr Kommissar, nicht prellen!

Auch ist es leicht nur von Gewicht,
Ihr solltet, Herr, Euch schämen,
Ich kauf es nicht und tausch es nicht,
Geschenkt, da will ich's nehmen.

Ich ward vor Ärger weiß wie Kalk
Und wollt es mir verbitten.
Doch Amor rief, der lose Schalk:
Zum ersten, zweiten, dritten!

Weg war mein Herz. Zu mir gewandt
Hört ich ihn spöttisch sagen:
's war ein Verkauf aus freier Hand,
Und ich hab zugeschlagen.

Und siehe da, der Götterknab
Nimmt vom Gesicht die Brille,
Und von der Stirne frei herab
Fließt seiner Locken Fülle.

Sie aber schauet lächelnd drein.
O Schelm, o Schelm, bedenke:
Wer was geschenkt nimmt, sorge fein,
Daß er was wieder schenke!

Theodor Fontane

Es mag allerdings, um das Höchste in der Poesie zu erreichen, dem Dichter die Fähigkeit, den Stoff lediglich aus sich selber zu entwickeln, die Gestalten seiner Phantasie, nachdem sie einmal geschaffen, völlig abgetrennt und selbständig von sich handeln und leben zu sehen, erforderlich sein; gleichwohl ist diese Kunst eine so freie, daß wir im Mittelpunkte unsrer Literatur und im Herzen unsers Volkes einen Dichter sehen, welcher jene Fähigkeit nicht besaß, und in dessen Werken wir, in dramatischen wie in epischen Stücken, stets und unabweisbar die Persönlichkeit des Autors, die eigentümliche Art seines Geistes und Gemütes so empfinden, daß wir darüber zu einem ungemischten Interesse an dem behandelten Stoffe nicht gelangen können. Zu diesen letzteren Dichternaturen, die wir wie Schiller, so wenig ihm das eigentliche Lied geglückt ist, die wesentlich lyrischen nennen möchten, wenn nicht fast überall die Reflexion dem unmittelbaren Ausdruck der Empfindung in den Weg träte, gehört auch Theodor Fontane, der mit einer Sammlung von Gedichten (Berlin, Karl Reimarus) zuerst im Jahre 1851 in die neueste Literatur eintrat. Der lyrische Teil dieser Sammlung ist vorzugsweise eine Gedankenpoesie, wie ihn denn auch der Verfasser selber unter die Rubrik »Lieder und Sprüche« gestellt hat; doch steht dieser Gedankengehalt, wenn wir im ganzen auch mehr Enthusiasmus als Innigkeit in der Natur des Dichters finden, stets unter dem Einfluß der Empfindung oder ist vielmehr geradezu aus ihr hervor gegangen. Die meisten dieser Gedichte sind das, wofür man vor einigen Jahren in der Poesie den Namen »Vigilien« erfand; der Dichter hat in ihnen niedergelegt, was er in seinem Verhältnis zu Gott, zu den Menschen und an sich selber an Kampf und Zweifel durchmachte. Sie sind daher, wir möchten mit einem juristischen Ausdruck sagen »höchst persönlich« und von einem fast biographischen Interesse. Wir sehen in ihnen eine jugendlich ringende Persönlichkeit im Kampfe mit unzusagenden Lebensverhältnissen, von denen der Dichter bald um jeden Preis sich losreißen will, an die er sich dann aber wieder im Gefühl menschlicher Unzulänglichkeit gefesselt fühlt, bis er endlich das »still getragne Joch« abschüttelt, sich der Poesie als seinem Lebensberufe zuwendet, und als »neugeborner Sänger« im Vollgefühle der errungenen Freiheit ausruft:

Nun kann ich wieder wie die Lüfte schweifen,
Am Strom, im Wald aufs neue bei den alten
Geliebten Plätzen Rast und Andacht halten
Und lächelnd nach der Abendröte greifen.

Dem Markte fern, dem Feilschen und dem Keifen,
Fühl ich der Seele Schwingen sich entfalten,
Mir kehrt die Kraft, mein Denken zu gestalten,
Der Keim wird stark, zur Frucht heranzureifen.

Bald werd ich neu zu Freud und Frohsinn taugen;
Schon lern ich aus des Frühlings heitren Klängen,
Wie süßen Nektar, Lust am Leben saugen;

Schon lächl ich wieder, statt den Kopf zu hängen,
Und zwischen mich und deine lieben Augen,
Seh ich sich fürder keine Wolke drängen.

Bald aber, wie es bei einer Persönlichkeit natürlich, deren wesentliches Element die Begeisterung ist, sehen wir ihn, durch das Geschwätz der Gevatterschaft gequält und gedrungen, sich durch eigenen Zuruf darüber zu erheben; an einer andern Stelle wieder sucht er sich über »die irdischsten der Erdensorgen« zu trösten und sagt in den letzten Versen, in denen sich die Poesie mit der Geliebten und der Besitz derselben mit seiner neuen Berufswahl zu identifizieren scheint:

Doch ob das Glück mir auch ein dürrer Bronnen,
Und ob ich auch entbehren mag und leiden,
Ich habe doch das beste Teil gewonnen.
Und sollt ich diese Stunde noch entscheiden
Mich zwischen dir und einer Welt von Wonnen,
Es bliebe doch beim alten mit uns beiden.

Und das ist das Schöne an diesen Gedichten: die Gemütserhebung und der Glaube behalten schließlich überall die Meisterhand. Daß sie außerdem auch ihrer Form nach, des so sehr individuellen Inhalts unerachtet, eines allgemeinsten Interesses wert sind, dafür möge noch ein Gedicht hier Zeugnis geben, in welchem der Dichter die sittlichen Lebensformen mit den Bedürfnissen seines innern Lebens in Einklang zu bringen sucht:

Zur Verlobung

Es paßt uns nicht die alte Leier
In unsern jungen Liebesrausch,
Wir denken und wir fühlen freier,
Und wollen's auch beim Ringetausch;
Der Treue Pfand zu dieser Stunde
Empfang es in Champagner-Wein:
Der güldne Ring auf Bechers Grunde
Soll Sinnbild meines Lebens sein.

Laß übersprudeln mich, und freue
Der Kraft dich, die da schäumt und gärt;
Tief innen, wie dies Bild der Treue,
Lebt meine Liebe unversehrt.
Trink aus! begeistern und erheben
Laß dich zu heil'ger Leidenschaft,
Und trinke dann aus meinem Leben
Dir gleiche Lust und gleiche Kraft.

Wie uns übrigens der Dichter seine Empfindungen meistens durch Vermittlung der Reflexion gibt, so führt ihn die Eigentümlichkeit seiner Natur im weitern Verfolge auch zum Allegorischen und Lehrhaften; und die Dinge um ihn her, der Schnee, die Wolken, ein gelähmter Zugvogel, veranlassen ihn zu beschaulichen, zum Teil sehr reizenden und tiefsinnigen Gedichten, deren besonderer Vorzug überall darin besteht, daß sie von einer lebhaften und eigentümlichen Gefühlserregung getragen sind.

Besondere Vorliebe und Beruf scheint Fontane für die Ballade zu haben, durch welche er auch bisher dem Publikum am bekanntesten geworden sein mag. Zugleich ist dies aber die Dichtungsart, worin die angedeutete Natur des Verfassers am meisten zutage tritt; denn so wenig er es unterläßt, seine Helden, sowie die Szenerie, in der sie auftreten, zu charakterisieren, so entläßt er sie doch niemals aus dem Banne und der Atmosphäre seiner empfindungsvollen Begeisterung; er begleitet sie unablässig mit seiner Liebe, seinem Zorn und seinem Mitleid, und überall und zunächst sehen wir die Gestalt des Rhapsoden selbst, der mit beredtem Munde uns diese Vorgänge schildert, auch wohl, von der eignen Darstellung fortgerissen, selber in die Szene tritt, wie dies in »Schloß Eger« der Fall ist, wo der Dichter, nachdem er uns den Tod der böhmischen Grafen geschildert, am Schlusse, die objektive Vortragsweise aufgebend, in die Handlung hineinruft: »Schau nicht in die Sterne! Rette dich, Wallenstein!« In dem schwunghaften Vortrage und dem feinen Pathos, in einer gewissen Feierlichkeit und Pracht der Sprache, wie wir solches seit Schillers Dichtungen dieser Art nur noch in dem »Herz von Douglas« von Strachwitz gefunden haben, liegt daher ein Hauptreiz der Fontaneschen Balladen. Trotz der geistigen Verwandtschaft ist es aber nicht sowohl Schiller, der in der Periode des Werdens als Vorbild auf den Dichter eingewirkt hat, als vielmehr der seiner Natur viel ferner stehende Bürger, unter dessen Einfluß und in dessen Weise er die stillen Trauerspiele am Hof und Herd und aus dem täglichen Leben darzustellen gesucht hat. Hier, wo es ihm mitunter nur darum zu tun ist, ein Gefühl oder einen Gedanken in Szene zu setzen, wie z. B. in »Schön Anne« und »Graf Hohenstein«, erfindet er seine Stoffe selbst. Doch scheint er, wenn wir aus dem später im Deutschen Museum abgedruckten »Tag von Hemmingstedt« und den Balladen in der Argo (Belletristisches Jahrbuch für 1854 herausgegeben von Th. Fontane und Fr. Kugler) schließen dürfen, diese Art der Konzeption gänzlich verlassen und die Vorliebe für das Historische, worin auch ein großer Teil der gesamten Gedichte wurzelt, ein für allemal nach dieser Richtung hin die Auswahl seiner Stoffe bestimmt zu haben, welche er nun, statt sie aus sich selbst zu schöpfen, zwischen den Zeilen der Geschichte findet. Überhaupt liegt Fontanes poetische Begabung mehr in der Darstellung als in der Erfindung; die Schilderung, der Vortrag ist seine eigentliche Force, und von dieser Seite ist es begreiflich, daß, wie vorhin erwähnt, Bürger und späterhin Freiligrath, sowie in der unten zu erwähnenden »Schönen Rosamunde« und in den »Männer und Helden« auch Uhland auf ihn eingewirkt haben, bis er endlich in den altenglischen Balladen, von denen uns seine Übersetzungen vorliegen, ein bleibendes Vorbild und zugleich, da überall in der Behandlung die starke und eigentümliche Subjektivität des Dichters hinzutritt, seinen eigenen selbständigen Ton gewonnen zu haben scheint. Hierher gehören aus der Sammlung schon »Schloß Eger« und »Marie und Bothwell«, obgleich diese wiederum in Stil und Behandlung gegen die später in der Argo abgedruckte »Johanna Gray« und »Die Hamiltons« zurückstehen. Leider gestattet uns der Raum nicht, eine dieser Balladen hierher zu setzen. Wir bemerken nur noch, daß sie fast alle, sei es infolge des erwähnten Bildungsganges oder einer besonderen Vorliebe für die englische Geschichte, fast sämtlich aus dieser ihre Stoffe entlehnen, wozu übrigens auch ein zweimaliger längerer Aufenthalt ihres Verfassers in London das seinige beigetragen haben mag. Wir finden an sich hiergegen nichts zu erinnern und wollen nur als Wunsch aussprechen, daß der Dichter nicht unterlassen möge, mitunter, wie in dem »Tag von Hemmingstedt«, auch seine Augen auf der Heimat ruhen zu lassen.

In den oben erwähnten Übersetzungen altenglischer Balladen scheint der Dichter, wie er dies auch selbst bei den in der Argo mitgeteilten Stücken ausspricht, nicht sowohl einen literarhistorischen als vielmehr lediglich einen poetischen Zweck verfolgt zu haben; es sind daher auch je nach der Beschaffenheit der einzelnen mehr Bearbeitungen als Übersetzungen; denn der Übersetzer ändert oder verwirft stellenweise oder tritt auch wohl selber dichtend hinzu, ganz wie es ihm erforderlich scheint, um aus den alten Dichtungen ein künstlerisches Ganze herzustellen. Überall aber ist die Natur unseres Dichters so wirksam, daß sie sämtlich, wie sie nun vorliegen, in seinem Ton und wie aus einem Gusse geschrieben sind. Ob dies Verfahren an sich berechtigt sei, scheint uns eine müßige Frage und die Entscheidung derselben lediglich vorkommendenfalls von dem Talente dessen abzuhängen, der es einschlägt. Wer aber den wunderschönen »Aufstand in Northumberland« in der Argo gelesen hat, wird unserem Dichter diese Berechtigung nicht abzusprechen wagen.

Ein eigentümliches und, obgleich es dem Verfasser irgendwo die Xenie

Der bei Hemmingstedt des Siegs Standarte getragen,
Flicht nun als Perüquier preußischen Helden den Zopf

eingetragen, teilweise vortreffliches Werk sind die »Männer und Helden« (Berlin 1850), worin in acht Liedern preußische Kriegshelden gefeiert und charakterisiert werden. Wie wir schon erwähnten, steht der Dichter hier noch unter Uhlands Einfluß. Daß die Sachen zum Teil den Eindruck größerer Selbständigkeit machen, als worauf sie in der Tat Anspruch haben, beruht auf der glücklichen Wahl des Stoffes, die immerhin ein Verdienst des Verfassers bleibt. Die Gedichte haben, woraus sich auch die starken Sympathien und Antipathien, welche sie gefunden haben, erklären lassen, etwas spezifisch Preußisch-Militärisches. Im »alten Derffling«

Sonst focht er still und friedlich
Nach Handwerksburschen-Recht,
Jetzt war er unermüdlich
Beim Fechten im Gefecht;

Er war der flinke Schneider,
Zum Stechen wohl geschickt,
Oft hat er an die Kleider
Dem Feinde was geflickt.

tritt dies am wenigsten und daher die Verwandtschaft mit Uhland am meisten hervor. Der »alte Dessauer«,

Wir haben viel vonnöten,
Trotz allem guten Rat,
Und sollten schier erröten
Vor solchem Mann der Tat.

Verschnittnes Haar im Schopfe
Macht nicht allein den Mann;
Ich halt es mit dem Zopfe,
Wenn solche Männer dran.

»Ziethen« und namentlich »Seidlitz« konnten in dieser Weise vielleicht nur von einem Preußen geschrieben werden. »Schwerin« und »Keith« dagegen, zum Teil auch »Schill«, sind mehr äußerlich gehalten und stehen weit unter den erstgenannten. – Aus dem begleitenden Widmungsgedicht »An den Grafen Schwerin, zur Zeit Präsidenten der zweiten Kammer« erfahren wir die politische Gesinnung des Verfassers, die auch auf seine übrigen, namentlich historischen Dichtungen nicht ohne Einfluß ist:

Du stehst in Lieb und Treue
Zu Thron und Herrscherhaus,
Und baust doch für das Neue
Die alten Pfeiler aus.

und zum Schlusse:

Treulos sind alle Knechte,
Der Freie nur ist treu.

Das Gedicht »Von der schönen Rosamunde« (2. Auflage; Dessau, bei Moritz Katz, 1853), welches in neun Kapiteln die bekannte Liebesgeschichte König Heinrichs mit Cliffords schöner Tochter mehr erzählend als darstellend behandelt, möchten wir der sauber gearbeiteten Verse unerachtet unter die Jugendarbeiten unseres Dichters zählen. Es entbehrt nämlich, wie das in den späteren Fontaneschen Balladen nirgends in dieser Weise vorkommt, die Charakteristik der auftretenden Personen so sehr jedes tieferen und individuellen Zuges, daß namentlich die Königin Leonore in ihrer einseitigen Böswilligkeit ganz wie die Figur eines Kindermärchens wirkt. Im übrigen ist, was damit zusammenhängen mag, daß es dem Dichter hier nicht sowohl auf bedeutende Handlung, als der Natur des Stoffes nach auf Situationen ankam, der Beschreibung der Szenerie und insbesondere der Naturschilderung ein großer Teil des Gedichtes eingeräumt, und es sind unserer Ansicht nach eben diese Partien, welche demselben einen verhältnismäßigen Wert verleihen. Ganz vortrefflich in dieser Beziehung ist das achte Kapitel, worin der Sturm, bei Schloß Woodstock vorüberjagend, Rosamundens Hilfeschrei auffängt und ihn übers Meer nach Frankreich bis in des Königs Zelt hinüberträgt, und nicht weniger das zweite Kapitel, worin Heinrich Rosamunden in nächtlichem Ritte nach Schloß Woodstock führt:

Es regt sich nichts, nicht Blatt, nicht Ast,
Kein Ton von Nachtigallen:
Es glaubt das Ohr, es höre fast
Die Mondesstrahlen fallen.
So klar-durchsichtig ist die Luft:
Man sieht der Nachtviole Duft
Wie Wölkchen aufwärts steigen.

In dem vorerwähnten Jahrbuche Argo ist der Dichter zuerst auch als Novellist aufgetreten. Die erste dieser Novellen »Tuch und Locke« scheint uns in Ton und Kolorit so sehr gelungen, daß wir durch die Frische und Lebendigkeit der vor uns entfalteten Situationen fast für die hier noch obwaltende Schwäche der Komposition und ein paar kleine Ungeschicklichkeiten der Ausführung entschädigt werden; die zweite »James Monmouth«, welche wiederum aus der englischen Historie entnommen ist und in kühnen, aber skizzierten Zügen das Schicksal der unglücklichen Stuarts erzählt, wüßten wir nicht besser zu charakterisieren, als wenn wir sie eine Fontanesche Ballade in Prosa nennen. Denn in der Tat besitzt sie alle Eigentümlichkeiten und, soweit dieselben reichen, auch alle Vorzüge einer solchen, und überdies vielleicht das beste lyrische Gedicht des Verfassers:

Es zieht sich eine blutige Spur
Durch unser Haus von alters,
Meine Mutter war seine Buhle nur,
Die schöne Lucy Walters.

Am Abend war's, leis wogte das Korn,
Sie küßten sich unter der Linde,
Eine Lerche klang und ein Jägerhorn, –
Ich bin ein Kind der Sünde.

Meine Mutter hat mir oft erzählt
Von jenes Abends Sonne,
Ihre Lippen sprachen: Ich habe gefehlt!
Ihre Augen lachten vor Wonne.

Ein Kind der Sünde, ein Stuartkind,
Es blitzt das Beil von weiten,
Den Weg, den alle geschritten sind.
Ich werd ihn auch beschreiten.

Das Leben geliebt und die Krone geküßt
Und den Frauen das Herz gegeben,
Und den letzten Kuß auf das schwarze Gerüst –
Das ist ein Stuart-Leben.

Das dem Erscheinen nach neueste Werk Fontanes, »Ein Sommer in London«, eine Frucht seines zweimaligen Aufenthalts daselbst, bestätigt uns, was wir vorhin über die dichterische Persönlichkeit des Verfassers gesagt haben. Bei aller Kenntnis des Landes sowie seiner Geschichte und Literatur, womit ohne Zweifel ausgerüstet er dort die Dinge und Verhältnisse angeschaut, erhalten wir nicht sowohl eine Darstellung dieser Dinge selbst, als vielmehr des Eindrucks, den sie ihm zurückgelassen, und dadurch freilich ein ebenso interessantes als geistvolles Buch, worin fast jedes Kapitel sich zu einem kleinen abgeschlossenen Ganzen abrundet.

Indem wir hiermit von dem Dichter Abschied nehmen, können wir nicht umhin auszusprechen, daß, so Schönes er auch geleistet haben mag, doch seine besten Leistungen unserer Ansicht nach noch in der Zukunft liegen, vorbehaltlich dessen, was sein Pult uns vielleicht noch verschließt.

Wie wir hören, befindet er sich jetzt wieder in England, um ein Buch über die altenglische und schottische Balladenpoesie zum Abschluß zu bringen.

Vorrede zu den »Deutschen Liebesliedern«

Die massenhafte Veröffentlichung von »Gedichten« mag es verschuldet haben, daß gegenwärtig im Publikum wie in der Kritik eine seltsame Mißkennung der Lyrik herrscht, ihres Wesens und ihres Verhältnisses zum Leben der Nation. Dies äußert sich ebensosehr in dem Geltenlassen des Unbedeutenden, des »Mittelguts«, als in der Nichtbeachtung oder geringen Beachtung des Bedeutenden.

Die vorliegende Sammlung soll einen Beitrag zum Verständnis der lyrischen Dichtkunst liefern, indem sie in einer bestimmten Gattung derselben und aus einem bestimmten Zeitraume das nach der Ansicht des Herausgebers wirklich Lebensfähige zusammenstellt. Das Liebeslied mit seinem der sich bewußt werdenden Empfindung zunächst liegenden Stoffe schien in dieser Beziehung das geeignetste. Unter Liebesliedern sollen zunächst nicht Lieder ohne Liebe, dann aber auch nicht Lieder über die Liebe verstanden werden, sondern solche, in denen es gelungen ist, die Atmosphäre dieses Gefühls in künstlerischer Form festzuhalten und auf den Hörer zu übertragen. Die zierlich geschnittenen Tändeleien der Zopfpoeten und die Traumbilder des Hainbundes gehören daher ebensowenig hierher als die Leistungen namhafter lebender Poeten, in denen – mehr oder minder geistreich – eine bequeme Gefühlsanwandlung zu einem Lieder-Dutzend ausgemünzt ist; oder als alle die Wässerlein, die so glatt und zierlich über das Herz der Poeten hinrieseln, deren Quellen aber ganz anderswo zu suchen sind. Auf der andern Seite mußten ebensosehr die nackten Leidenschaftlichkeiten alter und neuer Dichter und Dichterinnen ausgeschlossen bleiben.

Die Ausbeute, obgleich nicht viel des Wesentlichen übergangen sein dürfte, ist keine große. Wir haben manche Lieder, in denen einzelnes gelungen ist; aber wir haben wenige, die von schülerhaftem Pathos und Bilderkram frei sind; wenige, in denen man nirgend auf taube Worte oder auf schlaffe, puls- und blutlose Verse trifft. Die Kunst, »zu sagen, was ich leide«, ist nur wenigen gegeben, und selbst den Meistern nur in seltenen Augenblicken. Ganz fleckenloser und vollendeter Gedichte, wie Goethes »Freudvoll und leidvoll« oder Mörikes »Früh, wenn die Hähne krähn«, vermag auch diese Sammlung nur eine sehr geringe Anzahl zu bringen.

Sie beginnt mit einem Liede Günthers; aus einer Zeit, wo sonst den deutschen Poeten nichts ferner lag als der Gedanke oder gar der Drang, ihre eigenste Persönlichkeit der Dichtung anzuvertrauen, und wo vielleicht eine so zügellose Natur wie Günthers dazu gehörte, um eine einzelne Ausnahme hervorzubringen. Er war der Vorläufer der neuen Lyrik; aber sein Beispiel blieb scheinbar ohne Wirkung. Erst viel später wurde durch Klopstock dieser Kunst das ihr zukommende Gebiet dauernd wieder gewonnen; er selbst jedoch fand noch keine »Weisen«, welche das Ohr der Nation zu behalten vermocht hätte. Claudius, Bürger und Goethe waren es insbesondere, welche zuerst für den Ausdruck des Naturlautes auch die nationale Kunstform fanden. Von ihren Liedern aus datiert sich die neue deutsche Lyrik, welche bis auf die Gegenwart in steter Fortentwicklung geblieben ist.

Für unsere Sammlung haben wir es nur mit den beiden letzteren zu tun. Bürgers unkritische und ungezügelte Natur läßt – ähnlich wie bei Günther – nur selten eine reine Produktion aufkommen. Welch ein Sonnenglanz des vollsten Liebeslebens liegt nicht auf den Strophen:

Mädel, schau mir ins Gesicht!
Schelmenauge, blinzle nicht!
Mädel, merke, was ich sage!
Gib Bescheid auf meine Frage!
Holla, hoch mir ins Gesicht!
Schelmenauge, blinzle nicht!

Bist nicht häßlich, das ist wahr!
Äuglein hast du, blau und klar;
Stirn und Näschen, Mund und Wangen
Dürfen wohl ihr Lob verlangen.
Reizend, Liebchen, das ist wahr,
Reizend bist du offenbar!

Aber im weiteren Verlauf verläßt den Dichter jede konkrete Anschauung, und er fällt aus einer Redensart und aus einem Gemeinplatz in den andern. Und ähnlich geht es ihm in den meisten seiner Lieder. Freilich, wo es ihm einmal gelingt, wie in der »Abendphantasie eines Liebenden«, erhebt er sich dafür auch zu einem Hymnus, der noch späte Geschlechter die berauschende Kraft jener unseligen Leidenschaft mitempfinden lassen wird.

Zur selben Zeit dichtete Goethe in seinem unbeirrten Naturgefühl jene allbekannten Lieder, die uns durch ihre Anmut und durch ihren frischen und gesunden Lebensgehalt für die zu Anfang noch unsichere und von dem alten konventionellen Bann noch keineswegs befreite Kunst entschädigen. – Neben ihnen standen nur wenige, die mit einigem Erfolg – nach Claudius' Ausdruck – »auf Mutter Natur trotzten«. Goeckingks ihrer Zeit vielgelesene »Lieder zweier Liebenden« haben zwar den Vorzug des Natürlichen; allein sie kommen auch nur in sehr einzelnen Stellen darüber hinaus. J. G. Jacobis spätere Liebeslieder, wenn in ihnen auch bis zu einem gewissen Grade die Spielerei des Gleimschen Kreises überwunden ist, scheinen doch mehr aus der süßen Gewohnheit des Versemachens hervorgegangen zu sein, als aus dem Drang, ein inneres Erlebnis poetisch zu fixieren. Hölty, der Lyriker des Hainbundes, mußte sterben, ehe er vom Traum zum Leben erwacht war.

Die Romantiker suchten besonders das, was wir »Stimmung« zu nennen pflegen, in ihren Gedichten auszubilden, indem sie neben der Empfindung die äußere Umgebung, welche sie hervorgerufen oder auf sie eingewirkt hatte, in die Darstellung hineinzogen. Allein fast in keinem ihrer Lieder ist der Strom der Empfindung stark genug, daß er die Phantasie des Dichters sich hätte dienstbar machen können. So geschah es denn, daß sie fast überall in den Detailanschauungen hängen blieben. Die Volkslieder des Wunderhorns, wenn sie auch einerseits vom Pathos zur Simplizität hinleiteten, brachten andererseits doch auch allerlei konventionellen Aufputz, den man nicht verschmähte, in die neuen Dichtungen aufzunehmen, statt sich jenes reine Element allein zur Erinnerung dienen zu lassen; man hielt sich vielmehr, wie man es im Volksliede gesehen, von der folgerichtigen Durchführung des Gedankens entbunden und warf dafür eine Menge von Anschauungen bunt und willkürlich durch einander. – Bei Tieck, wenn auch ein einzelnes Mal, wie in dem hier mitgeteilten »Herbstliede«, ein hinreißend süßer Ton hervorbricht, kommt das Naturgefühl doch selten über ein zusammenhangloses Stammeln hinaus. Eine ähnliche Unfähigkeit zur Hervorbringung geschlossener Kunstwerke, namentlich in der Lyrik, findet sich auch bei den Spätern. Arnim, so sehr es ihn überall in seinen Dramen und Erzählungen drängt, sich lyrisch auszusprechen, so tief und warm und lieblich es uns aus einzelnen Stellen seiner Lieder anmutet, vermag doch fast nirgends seinen Stoff zu einer klaren Gestaltung herauszubilden; und seine schon an sich dunkeln und gedankenschweren Lieder werden, aus dem Zusammenhange gerissen, noch um vieles unverständlicher. Brentanos Lyrik dagegen scheint, gerade wo sie in der Form am vollendetsten ist, wesentlich von der Melodie gemacht zu sein; oder es stehen dabei, wie in dem mitgeteilten »O lieb Mädel, wie schlecht bist du«, Lebenserfahrungen im Hintergrunde, welche mit den im ersten Teile der gesammelten Schriften enthaltenen Liedern in ebenso unerfreulichem als sprichwörtlichem Zusammenhange stehen. Die Lieder im »Florentin« von Dorothea Veit sind ganz in der zerfahrenen Weise der Romantiker gedichtet und stehen zu dem übrigen Werte des Buches in keinem Verhältnis. In Eichendorffs improvisierten Liedern ist überdies die in dieser ganzen lieblichen Poesie der Verschollenheit herrschende Grundstimmung zu mächtig, um ein bestimmtes einzelnes Gefühl zur Geltung kommen zu lassen. Chamissos »Frauen-Liebe und Leben« beruht auf den willkürlichen Voraussetzungen einer eingebildeten Welt und trägt, einzelnes ausgenommen, in dem gezierten rhetorischen Vortrage die deutliche Spur davon.

Eine reine Wirkung erlangt das Beispiel des Volksliedes und der Goetheschen Liederdichtung erst in der Lyrik seit Uhland; und wenn diese Kunst wesentlich darin besteht, den Naturlaut in künstlerischer Form zum Ausdruck zu bringen, so dürfen wir glauben, hier wenigstens keinen Rückschritt getan zu haben. Die letzten Seiten dieses Buches mögen dafür Zeugnis geben.

Neben Goethe ist, wie billig, Heinrich Heine am reichlichsten vertreten. Er, wie wenig andere, hat gezeigt, was die einfachsten Worte vermögen, sobald nur die rhythmische Weise dazu gefunden ist; er erhob – man gestatte den Ausdruck – das »Stimmungsgedicht« zu einer eigenen Gattung, indem er mit einem seltenen Sinn für das Wesentliche den Hörer in eine das Gemüt ergreifende Situation versetzt und ihn dann schweigend diesem Eindruck überläßt; er macht es um uns tagen und Abend werden und erfüllt unser Herz mit dem ganzen Eindruck, den wir in der günstigsten Stunde von der Natur selber hätten empfangen können. Was Heine durch eigene und durch die Schwäche seiner Zeit gesündigt und verfehlt, darf nicht verkannt werden; aber ebensowenig, daß er der deutschen Poesie eine große Anzahl durchaus erfreulicher Produktionen hinterlassen hat. Wem, der mit seinem »Liederbuche« jung gewesen, wäre nicht die Welt in einem Zauberlicht erschienen, als sei ihm eine zweite wunderbare Existenz geschenkt! – Seinen bewegten Melodien hätte ein noch größerer Raum verstattet werden müssen, wenn nicht in den meisten derselben, z. B. in dem hier mitgeteilten »Mein Liebchen, wir saßen beisammen«, die Liebe mehr nur Vorwand und Staffage für eine weit allgemeinere und weniger reale Stimmung wäre. Dagegen sind aus dem »Romanzero« jene wenigen Stücke aufgenommen, in denen die noch immer farbenreiche Welt der Liebe schon in der grellen Beleuchtung der Begräbniskerzen steht, so daß Alfred Meißner in seinem Liebesgedächtnis mit Recht sagen konnte, solche Töne habe die deutsche Lyrik noch nie vernommen.

Dingelstedts »Roman« ist lediglich aus äußeren Gründen zurückgelegt. Der Verfasser zeigt freilich hier wie auch in anderen Dichtungen, daß es ihm mehr nur um eine Selbstbefreiung als darum zu tun ist, seinen Stoff zum endgültigen künstlerischen Ausdruck zu bringen; allein andererseits sind diese Verse ebensosehr durch den frischen, unmittelbaren Hintergrund des Erlebnisses und den darin abgespiegelten innern Kampf einer bedeutenden Persönlichkeit ausgezeichnet, als im übrigen charakteristisch für eine unlängst vergangene Zeit, in welcher unsere Poesie einen Ton sinnlicher Gereiztheit und rücksichtsloser Leidenschaftlichkeit anzustimmen begann, wovon ihr glücklicherweise gegenwärtig nur noch das Bewußtsein eines erweiterten Gebietes und einer größeren Bewegungsfreiheit zurückgeblieben scheint.

Bei Rückert, der jeder kleinen Gefühlsregung zu ihrem Rechte zu verhelfen weiß, ohne aber, selbst wo es sich um Trennung und Zerwürfnis handelt, über eine anmutige und beschauliche Reflexion hinauszukommen, haben wir uns darauf beschränken müssen, dem Leser die schönsten Stellen seines Frühlingsgartens vor Augen zu führen; wer an diesem behaglichen Liebesleben in seiner ganzen Breite teilnehmen will, wird ohnehin die Sammlung des Dichters selbst zur Hand nehmen müssen.

Von Immermann, dem mächtigen Wiederdichter »Tristan und Isoldens«, war für unsern Zweck nur weniges mitzuteilen; allein diese knappen Verse haben die Innerlichkeit von Naturlauten und lassen uns die Bedeutung jenes erst kurz vor des Dichters Tode gelösten Verhältnisses ahnen, worüber wir in der jüngst erschienenen Biographie der Gräfin Elisa von Ahlefeldt vielleicht nicht ganz unparteiische Aufschlüsse erhalten.

Auch an den wohl schon fast vergessenen Ferrand möchte dies Buch noch einmal erinnern, in dessen Liedern, wie bei dem ihm verwandten Hölty, das Vorgefühl eines frühzeitigen Todes eine Friedhofsstille verbreitet, in der wir uns die sanften, schwermütigen Stoffe des Dichters gern gefallen lassen.

Wenn der Herausgeber seine Absicht erreicht hat, so wird man aus dieser Rekapitulation erkennen, daß der Schatz echter Lyrik nicht zu groß ist, und daß wir alle Ursache haben, ihn nicht zu unterschätzen. Den meisten derjenigen, welche sich gegenwärtig als Dichter geben und auch von dem größten Teil des Publikums wie der Kritik dafür genommen werden, fehlt das, was wesentlich den Dichter von dem Denker unterscheidet: die Fähigkeit der Formgebung.

Vorrede zum »Hausbuch aus deutschen Dichtern«

Das vorliegende Buch ist eine Rekapitulation aus einer mehr als dreißigjährigen Lebenserfahrung; zunächst dem Wunsche entsprungen, für mich und die Meinigen aus den neueren deutschen Dichtungen geringeren Umfangs das zusammenzustellen, was daraus während jenes langen Zeitraumes meine besondere Teilnahme erregt hat und derart in mir haften geblieben ist, daß ich je zuweilen dahin zurückgekehrt bin.

Es ist dies nicht immer das Schöne, sondern ebensosehr das Charakteristische, das Häßliche nicht ausgeschlossen, wo es sich, wie z. B. in Hebbels übrigens auch durch eine mächtige Naturstimmung getragenen »Heideknaben«, durch lebendige Gestaltung ein Recht zur Existenz erworben hat; es ist zwischenein auch wohl das Hausbackene, sofern darin ein warmes Stück Menschenleben und dann gelegentlich und wie von selbst auch ein Stück Poesie zum Vorschein kommt, wie das in einzelnen Idyllen von Voß und in den Gedichten des alten Pastors von Werneuchen der Fall ist, für welchen letzteren ich eine gewisse heimliche Liebe nicht sowohl trotz, sondern vielmehr urkundlich jener anmutigen Parodie mit unserm Altmeister Goethe zu teilen glaube; – es ist ferner, wenn auch vorzugsweise, so doch nicht allein das in der Ausführung Makellose, sondern auch das, wo die zwingende Gewalt des Ganzen die einzelnen Mängel derselben vergessen läßt; endlich sind es nicht gerade die Behandlungen großer Stoffe, zumal nicht jene aus mythologischen, historischen oder ethnographischen Studien zusammengearbeiteten Dichtungen, in denen wir zwar die Größe des Wollens – auch wohl des Anspruchs – nicht verkennen können, die aber wegen der unzulänglichen Zeugungskraft ihrer Verfasser dennoch totgeborene Dinge bleiben, sondern es sind lieber solche, in denen der wenn auch weniger große Stoff »mit urkräftigem Behagen« zur Erscheinung kommt. – Da das Buch einen rein kritischen Standpunkt einnimmt, so waren von vornherein alle Gedichte ausgeschlossen, welche die Bedeutung, die ihnen etwa zuzugestehen ist, nicht in, sondern neben sich haben; somit alle, welche nur in bezug auf die Entwicklung unsrer Literatur oder als Illustrationen, sei es zur allgemeinen Geschichte oder zu der Biographie ihrer Verfasser, eine solche in Anspruch nehmen können.

Die Phrase wird hoffentlich in diesem Buche keine Stätte gefunden haben; mindestens im wesentlichen nicht, wie ich vorsichtshalber hinzusetzen möchte; denn was wäre durchweg frei von dieser weltbeherrschenden Krankheit!

Fragt man nun aber, woher bei der Flut von Anthologien auch noch diese sich das Recht nimmt, in die Welt zu treten, so erwidere ich folgendes:

Obgleich sich niemand davon freisprechen dürfte, daß er nicht einmal vorübergehend oder im einzelnen auch dem Unberechtigten einen Platz eingeräumt hätte, so scheint mir doch in fast allen Anthologien, soweit sie mir vor Augen gekommen sind, die Mittelmäßigkeit einen unverhältnismäßigen Raum einzunehmen. Zwar ist in der Poesie – vielleicht in jeder Kunst – die Fähigkeit des Urteilens kaum weniger selten als die des Schaffens; allein auch wo die Auswahl voraussetzlich von nicht unbefugter Hand herrührt, pflegt es damit nicht besser zu stehen. – Die Ursache hiervon dürfte, abgesehen von einem Streben nach äußerer Vollständigkeit, zum Teil in der Macht des Erfolges zu suchen sein.

Jede Literaturepoche wird bekanntlich von einer Schar von Anempfindern und Nachahmern begleitet, welche, solange dieselbe dauert, gleich den Grillen im Sommer nach Kräften in dem großen Konzerte mitsingen, um dann mit ihrem Ende spurlos zu verschwinden. Ebenso ist es aber eine gleicherweise alte und neue Erfahrung, daß manche dieser Mitsänger, während ihr Sommer dauert, ein Publikum, ja oft ein größeres als die echten Sangesmeister, finden und so ihre vorübergehende Existenz durch eine Reihe von Auflagen zu dokumentieren vermögen. – Von diesem Punkte scheint mir der mechanische Druck auszugehen, durch welchen, zum nicht geringen Verderb, grade die am meisten in den Familien eingebürgerten Sammlungen mit jenen farblosen Versifikationen angefüllt sind, von denen aus jedem mäßigen Gefühl ein Dutzend gemünzt werden könnte, gegen die sich aber freilich nichts einwenden läßt, als daß sie eben nichts bedeuten! – Dem entgegen zu treten, soll dieses Buch einen Versuch machen.

Die Sammlung beginnt mit Claudius, der in einer Zeit, wo sowohl die poetische als die musikalische Lyrik in Deutschland sich in konventionelle Tee- und Kaffeeliedchen verloren hatte, zuerst den unmittelbaren Ausdruck der Empfindung, namentlich, und bis jetzt kaum übertroffen, der Naturempfindung wiederfand; der, bevor ein solcher Ton von Goethe laut geworden, sein Neujahrslied anhub:

»Es war noch frühe Dämmerung
Mit leisem Tagverkünden,
Und nur noch eben hell genung,
Sich durch den Wald zu finden;
Der Morgenstern stand linker Hand,
Ich aber ging und dachte
Im Eichtal an mein Vaterland,
Dem er ein Neujahr brachte.«

und sein von Naturgefühl getränktes keusches »Wiegenlied beim Mondschein« gedichtet hatte, das dieses Buch der Vergessenheit zu entreißen sucht.

Zur näheren Verdeutlichung des Gesichtspunktes, von welchem aus die vorliegende Sammlung entstanden ist, sei es mir verstattet, noch einige Bemerkungen vorauszuschicken.

Wie ich in der Musik hören und empfinden, in den bildenden Künsten schauen und empfinden will, so will ich in der Poesie womöglich alles drei zugleich.

Von einem Kunstwerk will ich, wie vom Leben, unmittelbar und nicht erst durch die Vermittlung des Denkens berührt werden; am vollendetsten erscheint mir daher das Gedicht, dessen Wirkung zunächst eine sinnliche ist, aus der sich dann die geistige von selbst ergibt, wie aus der Blüte die Frucht. – Der bedeutendste Gedankengehalt aber, und sei er in den wohlgebautesten Versen eingeschlossen, hat in der Poesie keine Berechtigung und wird als toter Schatz am Wege liegen bleiben, wenn er nicht zuvor durch das Gemüt und die Phantasie des Dichters seinen Weg genommen und dort Wärme und Farbe und womöglich körperliche Gestalt gewonnen hat. – An solchen toten Schätzen sind wir überreich.

Die Lyrik insbesondere anlangend, so ist nach meiner Kenntnis unserer Literatur die Kunst, »zu sagen, wie ich leide«, nur wenigen, und selbst den Meistern nur in seltenen Augenblicken gegeben. Der Grund ist leicht erkennbar.

Nicht allein, daß die Forderung, den Gehalt in knappe und zutreffende Worte auszuprägen, hier besonders scharf hervortritt, da bei dem geringen Umfange schon ein falscher oder pulsloser Ausdruck die Wirkung des Ganzen zerstören kann; diese Worte müssen auch durch die rhythmische Bewegung und die Klangfarbe des Verses gleichsam in Musik gesetzt und solcherweise wieder in die Empfindung aufgelöst sein, aus der sie entsprungen sind; in seiner Wirkung soll das lyrische Gedicht dem Leser – man gestatte den Ausdruck – zugleich eine Offenbarung und Erlösung, oder mindestens eine Genugtuung gewähren, die er sich selbst nicht hätte geben können, sei es nun, daß es unsre Anschauung und Empfindung in ungeahnter Weise erweitert und in die Tiefe führt, oder, was halb bewußt in Duft und Dämmer in uns lag, in überraschender Klarheit erscheinen läßt.

Am ärmsten scheint mir unsre patriotische und sogenannte politische Lyrik. So unzweifelhaft es ist, daß das Leben in Staat und Gemeinde ein ebenso berechtigter Gegenstand für die menschliche Empfindung und daher für die Lyrik ist, als das Einzel- oder Familienleben, so ist es hier, wie in der Natur dieser poesis militans liegt, doch weit seltener gelungen, den Stoff von dem Boden der bloßen Wirklichkeit abzulösen und andrerseits sich nicht an rhetorischer Phrase und Bildermacherei genügen zu lassen. So kommt, um Beispiele anzuführen, Uhlands »Wenn heut ein Geist herniederstiege« – abgesehen von dem selten schönen Anfang und Ende – kaum über eine poetisch gefärbte Kammerrede hinaus; so ist neuerdings von den vielen Gedichten für meine Heimat Schleswig-Holstein auch nicht eins zu einer irgend in Betracht kommenden Innerlichkeit gelangt.

Wenn wir auch, was Dingelstedt in Bezug auf die Zeit nach Uhland, Rückert und Heine in seiner Gedichtsammlung von 1858 ausgesprochen,

Die Lyrik, unser alter Stolz und Halt,
Wird nicht mehr jung, die jüngste niemals alt.

nicht mögen gelten lassen, sondern sogar durch diese Sammlung zu widerlegen hoffen, so ist doch nichts unrichtiger als die von A. Meißner aufgestellte Parallele:

Im Gartenteich wird nie ein Schiffer scheitern,
Im kleinen Liede kein Poet erliegen.

Denn gilt es dabei auch nicht einen Berg zu versetzen, so gilt es doch eine Perle zu finden, und nur wenige Muscheln haben Perlen.

Heine sagt sehr richtig: »Ein Lied ist das Kriterium der Ursprünglichkeit.« Die meisten unserer sogenannten Dichter aber sind ihrem eigentlichen Wesen nach Rhetoriker mit mehr oder minder poetischem Anstrich und der lyrischen Kunst so gut wie ganz unmächtig. –

Die Auswahl selbst anlangend, so ist sie bei den älteren Dichtern, deren Werke jetzt in aller Händen sind, eine verhältnismäßig beschränktere; bei einigen wenig bekannten dagegen, auf welche dieses Buch aufmerksam zu machen wünscht, eine verhältnismäßig weitere. Wo die Fassung von den bisherigen Drucken abweicht, beruht dies auf handschriftlicher Änderung der Verfasser. Was ich von Eigenem beifügen zu müssen gemeint habe, möge seinen Platz zwischen dem übrigen selbst zu behaupten suchen.

Bei der Revision der Sammlung sind an literärhistorischen Werken von mir benutzt: Deutsches Lesebuch von W. Wackernagel, Tl. 2; Elf Bücher deutscher Dichtung von Karl Gödeke; Deutschlands Dichter von 1813 bis 1843 von demselben; Poetischer Hausschatz des deutschen Volkes von O. L. B. Wolff; Die deutschen Dichter der Neuzeit von Ignaz Hub; Deutsche Lyriker seit 1850 von E. Kneschke; Geschichte der deutschen Literatur von Heinrich Kurz; von den vorhandenen Anthologien insbesondere: Deutscher Dichterwald von Georg Scherer, welche in Betreff der lebenden Dichter auch als Selbstanthologie der Verfasser ein besonderes Interesse beanspruchen kann.

 

Möge nun dies Buch dazu helfen, einesteils auch dem größeren Publikum einen Maßstab für poetische Leistungen in die Hand zu geben; andernteils diejenigen mit unserer Lyrik wieder zu befreunden, welche der ungeheuere Wust des Nichtigen von dieser Dichtungsart zurückgeschreckt hat; und möge endlich nicht verkannt werden, daß, wie die Arbeit, so auch das Verdienst dieses Buches, insoweit es ein solches beanspruchen kann, zum großen Teil in dem zu suchen ist, was dasselbe nicht enthält.

Husum, 7. Juni 1870.
Th. St.

Anzeige des zweiten Teils von Klaus Groths »Quickborn«

Unter diesem Titel ist soeben ein neuer Band plattdeutscher Dichtungen erschienen, welchen alle mit Freuden begrüßen werden, denen der ursprüngliche »Quickborn« des Verfassers lieb geworden und geblieben ist. Und wenn auch mit Recht die lebendige Gegenwart uns mehr als je in Anspruch nimmt, so dürfte es doch manchem eine willkommene Erquickung sein, für eine kurze Zeit aus dem ungeheuren Allgemeinen in ein individuell Begrenztes, aus der strengen, abspannenden Wirklichkeit in eine ideale Welt einzukehren, wo Kampf und Schuld, die auch hier nicht fehlen, in dem Frieden der Kunst beschlossen und gesühnt sind.

Es ist ein reiches und tüchtiges Buch, das vor uns liegt, und völlig geeignet, von dem Leben nicht nur der Menschen, sondern auch des Dichters Zeugnis abzulegen.

Die Sammlung beginnt mit »De Heisterkrog«, einer umfangreichen poetischen Erzählung in ungereimten Jamben. – In der Schilderung des Bredstedter »Michelimarkts«, womit die Dichtung sich eröffnet, werden wir vielleicht kaum ganz über die Wirklichkeit hinausgehoben; aber schon zu Ende dieses Gesanges beginnt der Dichter, uns in seiner Welt heimisch zu machen. Mit sicherer Hand, in lebendigen, charakteristischen Zügen läßt er vor unsern Augen die Eindeichung des wüsten Vorlandes geschehen, und bald auch erhebt sich aus dem üppigen Marschgrase des »Nien Koogs« der große Bauerhof, der im Erdbuche »Süderwisch«, im Volke aber nach den Vögeln, die dort in den hohen Eschen ihre Nester haben, »de Heisterkrog« genannt wird. – Hiermit ist der Schauplatz der Dichtung gegeben. Deutlich sehen wir den Gründer dieses Hofes, den klugen Holländer Rip van Haarlem, wie er vor seinen Eschen steht und dem Treiben der Elstern zusieht – »mein Hexters«, wie er sie in seiner Muttersprache nennt:

Dar kunn he Morgens, sän de Knechtens, stan,
Un smök sin kalken Pip und kiken rop,
As keek he na sin Duben, na »mein Hexters«,
Wa se dar schracheln in die hogen Böm,
As snacken se en Sprak, de he verstunn,
De wull torügg reck in en anner Tid,
Wo't nich so eensam weer, wo lewe Minschen
Noch Stimm un Ton harr'n, Modersprok noch schall,
As nu de Hexters op den Heisterkrog.

Die Worte lassen ahnen, daß sich ein verhängnisvolles Stück Menschenleben – unerwarteterweise nicht dieses Alten, sondern seines Sohnes Jan van Haarlem – vor uns abspielen soll, und schon im ersten Gesange, wo dieser mit seinen schwarzen Rassepferden über den Jahrmarkt fährt, fällt ein Schatten auf das heitere Bild.

Auf den »Heisterkrog« folgt die Novelle »Um de Heid«. – Wie der beliebte Spaziergang, dem dieser Titel entlehnt ist, die alte Dithmarsische Stadt umfaßt, so enthält auch die Novelle in ihrem Rahmen ein ausgeführtes Lebensbild derselben zur Zeit der alten Napoleonischen Invasion. Erquicklich erhebt sich aus dem Kleinleben der Stadt, sowohl durch die Großartigkeit des Geschäftsbetriebes als durch den Sinn für schönere Gestaltung des Lebens, das Heimwesen eines Mannes, der mit dem Fernblick des Genies über die engen Grenzen seiner Heimat hinaussieht. Zu ihm stellen sich zwei jugendliche Gestalten, seine Tochter und sein Zögling, an Geist und Sinn zu ihm gehörig. Die hereinbrechenden Weltereignisse zerstören zwar den mit so kühner Hand errichteten Bau, dem die kleine Stadt schon längst mit Verwunderung und Mißtrauen zugeschaut; aber der unabwendbare Einsturz zersprengt zugleich die Hülle, in der ein junges Glück mit Schmerz zu Tage rang, und, während Haus und Garten in gespenstischen Verfall geraten, wissen wir die Menschen, denen unsere Teilnahme angehört, in der Ferne durch ihre sittliche Kraft gerettet.

Sowohl in dieser Novelle, wie in dem »Heisterkrog«, tritt der Dichter, und zwar gerade in Bezug auf die Hauptperson, nur selten aus seiner berichtenden Weise heraus, aber die Erzählung läßt trotzdem im wesentlichen nichts an Frische und Lebendigkeit vermissen. Was beide Dichtungen überdies auszeichnet, ist, ich möchte sagen: eine sittliche Schönheit und eine Fülle der feinsten Beobachtung. Allerdings ist in denselben eine hochdeutsche Bildung, und die plattdeutsche Sprache muß daher mitunter bei ihrer geschulteren Schwester borgen gehen – vielleicht tut sie es hier mitunter ohne Not –; aber einerseits dürfte durch den geistigen Gewinn, der uns dadurch zufällt, der kleine sprachliche Verlust mehr als ausgeglichen werden, andererseits konnten diese Dichtungen, wie sie da sind, nur plattdeutsch geschrieben werden, denn der Boden, auf dem sie erwachsen und auf dem des Dichters Anschauung sie erfaßt hat, gehört dieser Sprache an. Denn wir sehen nicht etwa nur die Existenz einzelner Menschen, sondern das Menschenleben überhaupt, ja, auch das Naturleben, Luft und Wetter, auf einem bestimmten Fleckchen Erde an uns vorübergehen.

Die Gedichte, welche das letzte, kleinere Drittel des Bandes ausmachen, bringen uns einen Nachsommer zum ersten Teil des »Quickborn«, und es sind einzelne darunter, wie »He much ni mehr«, »Fru Nachdigal«, aus den Kinderliedern: »Na'n buten!« und das allerliebste »Versteken«, welche den besten dort kaum etwas nachgeben dürften.

Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, eine eingehende Kritik des Buches zu geben; sie wollen zunächst nur auf das Erscheinen desselben aufmerksam machen und den wohlbegründeten Wunsch aussprechen, daß es bald nirgends fehlen möge, wo der erste Teil des »Quickborn« eine Stätte gefunden hat.

M. Solitaire

Die schon 1847 erschienenen »Bilder der Nacht«, denen die erste der mitgeteilten Dichtungen [Micha] angehört, sind so wenig bekannt geworden, daß sie selbst in der Geschichte der deutschen Literatur von Heinrich Kurz, welche sonst auch dem Unbedeutendsten Rechnung trägt (gleich den Dichtern S. 307, 384, 426, 465, 488, 540, 580, 636 u. a.), keine Erwähnung gefunden haben. Das hier Gegebene wird genügen, um auf die eigentümliche Bedeutung der Sammlung aufmerksam zu machen.

 

Ich möchte alle, die das Faustische Element nicht nur als Stoff, sondern auch als Faktor der Dichtung gelten lassen – und es gehört doch wohl zum vollen Menschenleben und kann daher auch in der Lyrik seinen Platz beanspruchen –, auf die so wenig bekannten »Bilder der Nacht« hinweisen. Es dürfte unter den deutschen Dichtern kaum einen zweiten geben, in welchem es mit so ergreifender Innerlichkeit und in so lebensvollen, farbensatten, wenn auch von düsterer Glut bestrahlten Gebilden zur Erscheinung gekommen wäre. Mag man immerhin die Anschauungen und den oft schneidenden Pessimismus des Dichters nicht teilen, jedenfalls wird man zugeben müssen, daß die Fackel seiner Poesie von der alltäglichen Oberfläche in Tiefen und Abgründe der Menschenbrust und des Menschenlebens hinableuchtet, vor denen ein ernster Mensch die Augen nicht verschließen soll. Daß wir es hier außerdem mit einem Dichter von einer selten kräftigen Eigenart zu tun haben, werden schon die mitgeteilten Proben beurkunden.

Eine zurückgezogene Vorrede aus dem Jahre 1881

Nach einer Zeitungsnotiz hat neuerdings einer unserer gelesensten Romanschriftsteller bei Gelegenheit einer kürzeren, von ihm als »Novelle« bezeichneten Prosadichtung die Novelle als ein Ding bezeichnet, welches ein Verfasser dreibändiger Romane sich wohl einmal am Feierabend und gleichsam zur Erholung erlauben könne, an das man aber ernstere Ansprüche eigentlich nicht stellen dürfe.

Ob die so eingeleitete Arbeit einer solchen Herabsetzung ihrer Gattung bedurfte, vermag ich nicht zu sagen. Indessen sei es mir gestattet, wie vordem bei Gelegenheit meines »Hausbuches aus deutschen Dichtern« zur Lyrik, so hier zur Novellistik, als der Dichtungsart, welche die spätere Hälfte meines Lebens begleitet hat, auch meinerseits ein Wort zu sagen.

Die Novelle, wie sie sich in neuerer Zeit, besonders in den letzten Jahrzehnten, ausgebildet hat und jetzt in einzelnen Dichtungen in mehr oder minder vollendeter Durchführung vorliegt, eignet sich zur Aufnahme auch des bedeutendsten Inhalts, und es wird nur auf den Dichter ankommen, auch in dieser Form das Höchste der Poesie zu leisten. Sie ist nicht mehr, wie einst, »die kurzgehaltene Darstellung einer durch ihre Ungewöhnlichkeit fesselnden und einen überraschenden Wendepunkt darbietenden Begebenheit«; die heutige Novelle ist die Schwester des Dramas und die strengste Form der Prosadichtung. Gleich dem Drama behandelt sie die tiefsten Probleme des Menschenlebens; gleich diesem verlangt sie zu ihrer Vollendung einen im Mittelpunkte stehenden Konflikt, von welchem aus das Ganze sich organisiert, und demzufolge die geschlossenste Form und die Ausscheidung alles Unwesentlichen; sie duldet nicht nur, sie stellt auch die höchsten Forderungen der Kunst.

Daß die epische Prosadichtung sich in dieser Weise gegipfelt und gleichsam die Aufgabe des Dramas übernommen hat, ist nicht eben schwer erklärlich. Der Bruchteil der Nation, welchem die Darstellung der Bühne zugute kommt, wird mit jedem Tage kleiner, hinter dem wachsenden Bedürfnis bleibt die Befriedigung immer mehr zurück; dazu kommt, daß gerade die poetisch wertvollen neueren Dramen nur selten die Bühne erreichen oder nach dem ersten Versuche wieder davon verschwinden, sei es wegen der Unzulänglichkeit unserer deutschen Schauspieler oder weil, vielleicht im Zusammenhange mit dem ersterwähnten Umstande, den Dichtern ein gewisses praktisches Verständnis für die Darstellbarkeit abging. So haben sich denn andere Leute der Bühne bemächtigt, und man begnügt sich dort lieber mit Sachen, welche den besten der Iffland-Kotzebue-Periode nicht einmal das Wasser reichen; aber was solcherweise der dramatischen Schwester entzogen wurde, ist der epischen zugute gekommen.

Im übrigen geht es mit der Novellistik wie mit der Lyrik; alle meinen es zu können, und nur bei wenigen ist das Gelingen, und auch dort nur in glücklicher Stunde.

– – Wenn ich mit Vorstehendem diese neuen Bände der Gesamtausgabe meiner Schriften einleite, so habe ich damit nur die Ziele bezeichnen wollen, welche in der Novellistik zu erreichen sind; inwiefern von mir selber in dieser Richtung hie und da etwas erreicht worden, will ich denen, die nach uns kommen, zur Entscheidung überlassen; denn so viel ist gewiß, der einzige Probierstein des poetischen Werkes ist die Dauer.

Hademarschen, im Juni 1881.
Th. Storm.

 

Anmerkungen aus technischen Gründen nicht aufgenommen. Re


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