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Bruchstücke einer eignen Lebensgeschichte

Aus der Jugendzeit

Zu meinem siebzigsten Geburtstage wurde mir von meinem Verleger, Herrn Elwin Paetel, auf kunstreichem Blumenkissen ein Gedenkbuch überreicht, das als Titel meinen Namen trug; darunter: »Sein Leben und seine Dichtung von Dr. Paul Schütze«. Der Verfasser, mein junger Freund, konnte nicht dabei sein; ein Blutsturz hatte ihn wenige Tage vorher aufs Krankenbett geworfen, und zwei Tage nach meinem Feste starb er an einer Wiederholung dieses Übels. Ein tiefer Schatten ist über den frohen Tag gefallen, und die Hoffnungen, die wir an dies zu früh geschlossene Leben knüpften, sind erloschen; sein liebenswürdiges Buch aber, das er uns gelassen, hat – wenigstens unter den Meinigen – schon jetzt seine Freunde gefunden; nur gegen den Titel erhob mein, den Jahren nach, ältester Freund einen bescheidenen Protest: »Th. St. in seiner Dichtung«, schrieb er mir, »hätte es heißen müssen; denn von Deinem Leben hätte ich daraus doch gern mehr erfahren.«

Dies Wort ist für mich Veranlassung geworden, die bereits seit einigen Jahren von mir begonnenen Aufzeichnungen über meine Jugendzeit wieder aufzunehmen, von denen ich den ersten Teil hier folgen lasse; denn meinem Freunde wie mir dürfte das Ziel nicht mehr zu ferne stehen.

1. Von Mutters Seite

Im siebzehnten Jahrhundert kam auf einem Halligenschiff einer ans Festland nach der Stadt Husum an der Westküste Schleswigs geschwommen; der hieß Wold. Er wurde später herzoglicher Verwalter auf dem ein und eine viertel Meile von der Stadt im gleichnamigen Amte belegenen, im Jahre 1772 jedoch parzellierten adligen Gute Arlewatt und der Stammvater der Familie Woldsen, welche noch bis über die Hälfte unseres Jahrhunderts hinaus in Hamburg, Amsterdam, sowie in Husum selbst geblüht hat.

Der Bedeutendste dieses Geschlechtes war mein Urgroßvater mütterlicherseits, Senator Friedrich Woldsen in Husum, der vor meiner Geburt verstorben ist; der letzte große Kaufherr, den die Stadt gehabt hat, der seine Schiffe in See hatte und zu Weihnachten einen Marschochsen für die Armen schlachten ließ. Unter den Miniatur-Familienbildern, die in silbervergoldeten Medaillons jetzt an meiner Wand hängen, sieht auch sein Antlitz unter gepudertem Haar, mit dem strengen Zug um den Mund, noch heute auf den Urenkel; aber auch die freundlichen blauen Augen, die ihm von Großmutter und Mutter zugeschrieben wurden, glaubt dieser in dem Bildchen zu erkennen.

Aus dem daneben hängenden Medaillon schaut das Antlitz der Urgroßmutter unter dem halbmondförmigen hohen Spitzengewebe ruhig und ernst in die Welt hinaus; das kluge, jugendliche Köpfchen aber in dem amarantfarbenen Mieder, mit dem roten Röschen auf der mäßig hohen Puderfrisur, das seinen Platz über dem Medaillon des Urgroßvaters hat, ist dessen und der Urgroßmutter Tochter, Mamsell Fritzchen, die gern dem Vater in seinen kaufmännischen Rechnungen half, deren Liebe zu dem braven Major aber an dessen hartem Willen sich verbluten mußte. Zwei Liebeslocken, weiß gepudert wie das Haupthaar, hängen ihr vom Nacken aus je zu einer Seite um den Hals; an einer einfachen dunklen Litze liegt ein schwarzes Medaillon auf ihrer Brust. Ich hatte, schon als Knabe, es oft auf ihrem Bilde angeschaut; was mochte wohl darin enthalten sein? – Mir ahnte damals nicht, daß ich als Mann vielleicht der einzige sein würde, der außer ihr selbst es jemals würde geöffnet haben. Und doch – es mag gegen das Jahr 1848 gewesen sein, als unsere von dem genannten Urgroßvater einst auf dem Klosterkirchhof für sich und seine, Friedrich Woldsens, Erben erbaute Gruft einer Reparatur bedurfte, und die Maurer mit diesem Werk unter den Särgen, welche auf eisernen Stangen in der Tiefe standen, beschäftigt waren. Da, eines sonnigen Nachmittags, während ich mit meiner Mutter in dem Wohnzimmer des elterlichen Hauses am behaglichen Teetisch saß, wurde an die Tür gepocht, und auf unser »Herein!« trat ein Maurergesell ins Zimmer und überreichte uns ein kleines Medaillon, das, wie er berichtete, bei der Arbeit in der Gruft in einem eingestürzten Sarge gefunden war. Durch näheres Befragen wußte meine Mutter, daß der eingestürzte Sarg der Tante Fritzchens sei; sie sah nach ihrem Bilde hinüber, das damals mit dem anderen dort über dem Sofa hing, und auf dem das dunkle Medaillon sich deutlich abzeichnete. »Hier ist es,« sagte ich zu meiner Mutter; »sie hat es mit ins Grab genommen.« Als ich es dann öffnete, lag eine dunkle Haarlocke darin; von wem, darüber waren wir nicht zweifelhaft. »Laß es in die Gruft zurückbringen,« sagte meine Mutter; und so geschah es, nachdem ich die Kapsel wiederum geschlossen hatte.

Nach dieser posthumen und doch fast persönlichen Berührung mit meiner jungen, längst vor meiner Geburt gestorbenen Großtante schrieb ich bald nachher, während meines unfreiwilligen Exils in Potsdam, ihr mein Erinnerungsblatt »Im Sonnenschein«.

Noch ein Medaillon ist zurück: der stattliche Mann mit dem liebenswürdigen jungen Antlitz im braunen aufschlaglosen Rock, mit weißem Halstuch und weißgepudertem Haar, eine Lockenrolle an jeder Schläfenseite – es ist ein Sohn meines Urgroßvaters, mein Großvater mütterlicherseits, der nachherige Senator Simon Woldsen in Husum, von dem – wie ich schon irgendwo erzählt habe – als er gestorben war, einer seiner Schwiegersöhne, sein weinendes Kind zum Sarge emporhebend, sagte: »Heule nicht, Junge! So sieht ein braver Mann aus, wenn er gestorben ist!« – über dessen mit schwarzem Tuch bezogenen Sarg, da wir uns einst bei einem Familienbegräbnisse unten in der Gruft befanden, der alte Totengräber, welcher in der Jugend sein Kutscher gewesen war, liebkosend mit der rauhen Hand hinstrich und dabei sagte: »Dat is min ol' Herr; dat weer een guden Mann!« – von dem einst seine jüngste Tochter, meine Mutter, inmitten ihrer Familie, von heftiger Erinnerung ergriffen, ausrief: »So wie du hat keiner mich doch geliebt!«

Ich weiß nur diese Nachreden auf ihn; ein eigenes lebendiges Wort von ihm selbst ist nicht auf mich gekommen. Wenn ich das liebe Antlitz auf dem schon verblaßten Bilde ansehe, so ist mir, als würde er auch wohl mich gleich meiner Mutter geliebt haben; aber schon in meinem vierten Jahre starb er.

Er hatte mit seiner Frau, Magdalena, Tochter des Senator Feddersen in Husum, vier Söhne, die sämtlich in früher Jugend hingerafft wurden; ich entsinne mich nur noch aus meiner Knabenzeit, wie von alten Dienstboten, vielleicht von der Großmutter selbst, mir von ihrem herrlichen Fuhrwerk mit zwei schneeweißen Ziegenböcken erzählt wurde, mit denen sie lustig durch die Straßen kutschiert wären; aber auch, wie diese unregiersamen Haustiere mitunter in die an der Schiffbrücke vor den Wohnkellern zum Verkauf ausgestellte Töpferware geraten seien und dem nachsichtigen Vater wiederholte Entschädigungspflichten auferlegt hätten. – Ich selber hatte die kleinen frohen Herren nicht mehr sehen können; nur einer Szene noch – wiederum unten in unserer Gruft – entsinne ich mich: nach einem Begräbnisse in der Familie war ich allein mit meiner fast achtzigjährigen Großmutter hier hinabgestiegen; ich suchte zwischen all den großen Särgen den kleinen einer früh verstorbenen, geliebten Schwester, da hörte ich hinter mir ein auffallendes Geräusch, und als ich mich wandte, sah ich, wie die Großmutter einen kleinen Schädel aus einem zertrümmerten Sarge hob und ihn weinend an ihre Lippen drückte: »Das war mein kleiner Simon!« sagte sie zitternd, während sie sacht den Schädel wieder in die halbvergangene Kiste legte.

Glücklicher gestaltete sich das Leben der Töchter in diesem, großväterlichen Hause: drei Mädchen, Magdalena, Elsabe und Lucie, blühten in besonderer Anmut darin auf, so daß ich noch mitunter als Mann von alten Leuten ihre einstige Schönheit preisen hörte, und der Großvater, trotz seines zu frühen Todes, hat sie alle noch als Bräute, die älteste und die jüngste auch noch als Frauen in ihrer eigenen Wirtschaft sehen dürfen. – Die jüngste, Lucie, die anmutigste von ihnen, mit ihrem braunen Haar und dunkelgrauen Augen, wurde meine junge Mutter. Eine Zeitlang vor ihrer Konfirmation war sie in Altona in Erziehung und liebevoller Pflege ihrer Patin und Vaterschwester, welche früher an den dortigen Kaufmann Matthiessen, derzeit an einen Kanzleirat Alsen, verheiratet war. Aus dieser Zeit besitze ich ein französisches Themenbuch von ihr, auf dessen Einbanddeckel, jedenfalls von Schulkameradinnen, in zwei verschiedenen Handschriften, teils mit Bleistift, teils mit Tinte die Worte geschrieben sind: »Zartgefühl, Sanftmut, Liebreiz sind die Tugenden Luciens.« Erst nach ihrem Tode ist das Buch in meine Hand gekommen. Aber auch Eduard Mörike, da ich mit ihm und meinen Eltern im Sommer 1855 in den Stuttgarter Umgebungen spazieren ging, riß mich gelegentlich beiseite und flüsterte mir zu: »Sie haben prächtige, prächtige Eltern; Ihre Frau Mutter hat so etwas Klares, Leuchtendes, Liebe Erweckendes!« Und, um noch eins zu sagen, was mich derzeit besonders stolz machte, ein Jugendbekannter, der einst aus der Fremde heimkehrte, erzählte mir von schönen Frauen, die er draußen in der Welt gesehen hatte, und schloß damit: »Aber die schönsten Augen, die ich je in meinem Leben sah, die hat doch deine Mutter!«

Seit acht Jahren sind auch sie geschlossen und zerfallen.

2. Westermühlen

Bei diesem Worte steigt ein ganzes Wald- und Mühlenidyll in mir auf; das kleine in Busch und Baum begrabene Dorf war die Geburts- und Heimstätte meines Vaters; hier lebten und wirtschafteten in meinen ersten Lebensjahren noch die beiden Eltern meines Vaters.

Fünf Meilen etwa, durch meist kahle Gegend, führte aus meiner Vaterstadt der Weg dahin; dann aber ist mir, als habe plötzlich warmer Baumschatten mich umfangen, ein paar niedrige Strohdächer sahen seitwärts aus dem Laube heraus, zur Linken hörte ich das Rauschen und Klappern einer Wassermühle, und der Wagen, auf dem ich saß, fuhr über knirschenden Kies in eine dämmerige Tiefe. Wasser spritzte von den Rädern: wir fuhren durch ein kleines Gewässer, in dessen dunkle Flut Erlen und größere Waldbäume ihre Zweige von beiden höheren Ufern herabsenkten. Aber schon nach kaum hundert Schritten ging es wieder aufwärts, dann links herum, und auf einem freien Platze und festem Boden rasselte der Wagen vor das zur Rechten liegende Müllerhaus, und mir ist noch, als sähe ich als etwa zweijähriges Bürschlein wie Schattengestalten meine Großeltern, den kleinen strengen Großvater und die kleine runde Großmutter, aus der etwas höher belegenen und von zwei Seitenbänken flankierten Haustür uns entgegentreten, die wie die zu beiden Seiten gelegenen hohen Fenster des langgestreckten schwarzen Hauses von den Kronen der davor stehenden Linden umdunkelt waren. Es ist das einzige Mal, daß ich die Eltern meines Vaters mit kaum bewußten Augen sah; es ist lange her, fast siebzig Jahre. Von dem durch Lindengrün umdüsterten Hause sah man über den davor liegenden freien Platz, von der linken Seite beginnend, zunächst auf einen Baum- und Obstgarten, welcher sich nach dem soeben von uns durchfahrenen schwarzen Wasser hinabsenkte; daran schlossen sich in gleicher Linie Ställe und Wirtschaftsgebäude; dann das alte schütternde Fachwerkgebäu der Wassermühle, und hinter dieser eine Holzbrücke, unter welcher der Mühlstrom sich hindurch und rauschend in die Speichen der großen Räder stürzte; aber Obstgarten, Stallungen, Mühle und Brücke, alles – wenn meine Erinnerung mich nicht trügt – lag unter den Wipfeln ungeheurer Eichbäume, wie ich sie nie zuvor zu Hause bei uns gesehen hatte.

Hinter dem Wohnhause war ein großer Garten, voll von Obstbäumen, Zentifolien und Lavendel; er hatte seine größte Breite nach rechts vom Hause aus; der von dorther durch Wiesen kommende Mühlstrom bildete in breiterer Ausdehnung hier seine Grenze; in der äußeren Ecke des Gartens, der auch dort noch einige Schritte über die Linie des Hauses hinausragte, stand ich eines Tages verwundert vor einem mit hohem Buchenzaune abgegrenzten viereckigen Raume; hinübergucken konnte ich nicht; aber während ich stand, kam stetes melodisches Summen aus dem Inneren. Ich hatte dergleichen nie gesehen und schlich neugierig an den Seiten herum, bis ich eine im Zaune halbversteckte schmale Brettertür fand, über welcher ich mit meinem Kopfe mir bald freie Einschau in den inneren Raum verschaffte; denn hereindringen konnte ich nicht; sie war verschlossen. Eine Reihe von Bienenkörben stand auf zwei Seiten neben und über einander auf hölzernen Gestellen; eine Drahtmaske, ein Sack lagen daneben im Grase; das tönende Geziefer summte von allen Körben. Das war ein »Immenhof«, wie ich späterhin erfuhr, wie man sie dort zum Schutz der Bienen anpflanzte. Ich habe während meiner Knabenzeit diese Plätze, auch später an der Hand meines Onkels oder eines älteren Vetters, stets mit einem Gefühl von Andacht betreten, als näherte ich mich einem lieblichen Naturgeheimnis.

Treten wir über die paar steinernen Treppenstufen an der Frontseite in das Wohnhaus! Auf dem geräumigen Flur, an den Seiten unter zweien Fenstern befinden sich große Kisten mit abgeschrägtem Klappdeckel; sie bergen das dem Müller von dem vermahlenen Korne zukommende Mehl, von dem im Hause verkauft wird; eine große Treppe führt nach dem Boden hinauf; links und rechts nach vorn heraus zwei geräumige Zimmer; das zur Linken das Wohnzimmer, in einer Ecke zwei Flügeltüren mit Glasscheiben, die zu einem Alkoven führten, dem Schlafraume des alten Ehepaares. Eine Tür in derselben Wand ging in die gleichfalls große nach dem Garten hinaussehende Küche, wo ich später oftmals staunend neben dem alten Herde stand und staunend zusah, wie Möddely Marieken den in der Pfanne prasselnden Pfannkuchen plötzlich in die Höhe schleuderte, wie er in der Luft sich wandte und dann jedesmal genau mit der noch ungebackenen Seite wieder in die Pfanne klatschte. Ich höre noch das Lachen der Genugtuung, wenn ich der Alten meine Bewunderung über dies Kunststück aussprach; und der nächste Pfannkuchen pflegte dann meist noch um einen Fuß höher zu fliegen.

Während es in der Wohnstube an den Wänden, und wohin man blickte, düster und verbraucht aussah, trat man links vom Flur aus in ein großes, helles Gemach mit untadelhaft geweißten Wänden; ein großes Fenster nach einem freien Seitenraum des Gartens gab das Licht, was die Linden den Fenstern an der Frontseite verwehrten. Unzweifelhaft wurden meine Eltern bei ihrem ersten Besuche als junge Leute hier mit mir hineingeführt; ein altmodisches Kanapee, das aus drei zusammengewachsenen Stühlen zu bestehen schien, und ein weißes Teegeschirr, mit roten Blumen bemalt, das auf einem Tischchen an der Wand stand, wurden schon damals oder später genau von mir in acht genommen.

Von vorstehenden Beobachtungen habe ich gewiß nur wenige in meinem damaligen zweiten Jahre gemacht; aber ich bin später, in den Michaelisferien, oft dahin auf Einladung meines Onkels Hans, der dann als ältester Sohn der Müller war, zurückgekehrt.

Bei jenem ersten Besuche waren um die Großeltern außer jenem ältesten, gescheiten und liebenswürdigen Bruder meines Vaters, der mit ihm ein durchgeistetes Antlitz gemein hatte, noch die jüngste, derzeit recht junge Schwester, meine geliebte Tante Lene mit ihrem stillen Madonnengesichte und die nicht hübsche, aber kluge und energische Tante Gretchen, die später den Bauervogt Hans Carstens in dem damals gleichfalls zu Hohn eingepfarrten Dorfe Hamdorf heiratete. Mein Vater, der Jurist, hielt diese Schwester zeitlebens in besonderer Achtung; ihr ganzes Wesen war von beruhigender Sicherheit. Sie hatte aber auch schon in ihrer Jugend über ihn gewacht; wie oft hat mein Vater, wenn er, wie so oft, auf seine Jugend kam, es uns erzählt! In Westermühlen war keine Schule; die Kinder mußten etwa eine halbe Meile weit nach dem benachbarten Elsdorf gehen. Besonders im Winter scharten sie sich dann an einem bestimmten Platze ihres Heimatdorfes und traten gemeinsam den Schulweg an. Zu Mittag blieben die Westermühlener in Elsdorf; ein Stück Butterbrot wurde aus der Tasche gezogen und in Gesundheit verzehrt. »Was bekamt ihr dann zu trinken? Milch oder Bier?« frug ich meinen Vater. Er lachte: »Ein großer kupferner Kessel mit frischem Brunnenwasser wurde zwischen uns auf den Tisch gestellt, da konnte jeder so viel trinken, als er Lust hatte.«

Der Lehrer war ein alter Soldat gewesen; trotzdem meinte mein Vater noch in seinem hohen Alter, er habe seine Sache wohl verstanden, und erzählte gern, wie er am Weihnachtsabend herkömmlicher Gast in seinem elterlichen Hause gewesen, und wie gern er dann den Gesprächen zwischen ihm und seinem Vater gelauscht habe.

Erinnerungen an die Lübecker Gymnasiastenzeit und an Ferdinand Röse

Etwa achtzehn Jahre alt, trat ich nach dem Willen meines Vaters aus der Gelehrtenschule meiner Vaterstadt Husum in die Prima des Lübecker Gymnasiums, wo damals Friedrich Jacob Direktor und Classen erster Lehrer war. Geibel war eben zur Universität abgegangen, hinterließ mir aber seinen nächsten Freund unter den Zurückgebliebenen, Ferdinand Röse, von uns »Wanst«, auch wohl »Magister Wanst« genannt.

Seine äußere Erscheinung war nicht eben einnehmend, wenn man nicht die kleinen freundlichen, wie mitredenden Augen dafür nehmen wollte; er machte den Eindruck eines Mannes, der in kränkelnder Kindheit aufgewachsen ist, und hatte nichts Jugendliches. Sein Antlitz war gelblich fahl, sein dürftiges Haar von mattem Dunkelblond. Dazu paßte der lange, etwas abgetragene schwarze Rock mit zwei Reihen Knöpfen, der um die mittelgroße Gestalt schlotterte.

In seinem Wesen, besonders auf seinem Zimmer, wo die Schriften alter und neuer Philosophen ihn umgaben, hatte er etwas Feierliches, wie der Meister eines Geheimbundes; er hörte gern, wenn ein anderer zu ihm sprach, aber meist mit einem freundlichen, etwas überlegenen Lächeln auf den Lippen; doch konnte dies Wesen auch mitunter von einer etwas forcierten Karnevalslustigkeit abgelöst werden; mir klingt noch das: »hei, hei!« in den Ohren, das er dann wohl ausstieß.

Die Husumer Schule wußte so wenig von neuerer deutscher Literatur, daß mir Uhland, dessen Namen ich einmal gehört hatte, derzeit als ein alter Minnesänger vorschwebte; hier aber hatten Röse und Geibel, letzterer als L. Horst, schon im Chamissoschen Musenalmanach 1834 ihren Beitrag geliefert; an den alten Fouqué hatten sie Huldigungsgedichte geschickt und eine Antwort erhalten; Röses Gedicht, das mir von ihm vorgelesen wurde, hieß: »Die Bleichen« (die Toten auf dem Schlachtfelde) und machte einen großen Eindruck. Sie wollten auch später Fouqués gesunkenen Ruhm wieder zu seinem Rechte verhelfen. Der Zurückgebliebene erschien mir von einem Dunst geheimnisvollen Wissens und Könnens umgeben, aus dem ihm nur mitunter in geweihter Stunde beliebte, einen Brocken an Auserwählte mitzuteilen. So munkelte es, daß er ein großes Drama »Ahasver« begonnen habe; aber es verging eine lange Zeit, bis er es endlich aus dem Schranke, worin das Manuskript verschlossen war, hervorholte und mir eine oder einige Szenen daraus vorlas. Ich hatte dabei die Empfindung, als wenn ich einer ganz ausnahmsweisen Gunst gewürdigt wurde. Es gefiel mir sehr und schien mir unter dem Einflusse von Goethes »Faust« abgefaßt, den ich damals zuerst kennen gelernt hatte.

Zu Röses inneren Schätzen schien mir besonders ein vertrautes Verhältnis zu seiner Vaterstadt, dem alten heiligen Lübeck zu gehören. Wenn er aus der Vergangenheit der alten Hansa-Hauptstadt berichtete, nahm seine Stimme eine Würde an, als ob er etwas Heiliges zu verkünden habe, und der Ausdruck des Gesichtes entsprach dem.

Zu dem alten Lübeck gehörte auch sein Vaterhaus an der Trave, das mir unvergeßlich geblieben ist. Das kleine Zimmer, das ich damals allein besuchte, lag nach der Trave hinaus hinter der Haustreppe; ein Tages- oder Kerzenschimmer, der durch das grüne Vorhängsel des Türfensters schimmerte, zeigte den Besuchenden den Weg. Ich habe es auf das oft mit einer Art Mutwillen, oder mit ermunterndem Klang gerufene »herein!« stets mit dem Gefühl betreten, ich komme als ein Jüngerer und Werdender zu einem wesentlich schon Gewordenen, wenn auch freundlich mir Geneigten. Soviel ich mich entsinne, war kein Sofa in dem Stübchen; und doch war es mit seinen breiten Fensterbänken, mit dem alten Hausrat und den allerlei Büchern der behaglichste Raum. Nie werde ich den Spätherbstabend vergessen, an dem er mich in Heines mir noch unbekanntes »Buch der Lieder« einweihte. Aus dem verschlossenen Glasschrank, der den Oberteil einer Schatulle bildete, nahm er das Exemplar auf schlechtem Druckpapier, und während wir am warmen Ofen saßen und draußen der Wind durch die Schiffstaue sauste, begann er mit gedämpfter Stimme zu lesen: »Am fernen Horizonte«, »Nach Frankreich zogen zwei Grenadier«, »Über die Berge steigt schon die Sonne«, und so eines nach dem andern; zuletzt: »Wir saßen am Fischerhause, und schauten nach der See.« Ich war wie verzaubert von diesen stimmungsvollen Liedern, es ward Morgen, und es nachtete um mich, und als er endlich, fast heimlich das Buch fortlegend, schloß: »Das Schiff war nicht mehr sichtbar, es dunkelte gar zu sehr«, da war mir, als seien die Tore einer neuen Welt vor mir aufgerissen worden. Gleich am andern Morgen kaufte ich mir – es war der erste Druck noch – das »Buch der Lieder«, und zwar auf Velin-Papier. – Röse gehörte zu denen, welchen ich es verdanke, Kritik ertragen zu können und sie an mir selbst zu üben; er schrieb quer über meine Gedichte sein: » Denique sit, quid sit, simplex duntaxat et unum« und sagte mir mehr als einmal: »Du bist geistig tot«; ob letzteres mit Recht, ist mir später zweifelhaft geworden. In der Poesie freilich war es bei mir nur noch ein Flügelprüfen; über meine zuerst 1852 erschienenen Gedichte hat er mir später mit Begeisterung geschrieben, daß er sie morgens und abends lese.

In den Ferien kam Geibel, und wir gingen dann zusammen ins Theater, in den Weinkeller, oder machten Ausflüge auf die Dörfer. Röse klagte, daß ihm das Talent der schönen Formgebung fehle, das, nach seiner Ansicht, Geibel im vollen Maße besaß; daher denn auch, wo er in seiner Prosa Lieder bedurfte, seinen Mangel gern aus dessen Reichtum deckte, wie in seinem Märchen »Das Sonnenkind«, das im »Pilger durch die Welt« 1845 erschien. Einmal trafen wir Geibel in seinem Zimmer, ein Gedicht niederschreibend; »seht!« sagte Röse und hielt mich an der Tür zurück, und wir warteten ruhig, bis Geibel fertig war und uns begrüßte.

Vor seinem Abgang zur Universität schenkte Röse mir ein Exemplar der Uhlandschen Gedichte, in das er hineinschrieb: »Meinem Confident, obgleichs ein – ist, zur freundlichen Erinnerung.« Der Gedankenstrich sollte »Schuckelmeyer« bedeuten, ein politischer Schimpfname für die Dänen, von denen wir Schleswiger derzeit nicht unterschieden wurden. Die vergriffenen Exemplare jenes »Liederbuchs« und der »Uhland« stehen noch in meinem Bücherschrank.

Eine Episode aus dem Berliner Studienjahr 1839

Es ist Sonntag nachmittag vier Uhr; der Direktor in Hemdsärmeln und furchtbarem Amtseifer hammert, klebt, kommandiert, schilt und flucht. Der Komiker Dircks steigt schwärmend zwischen Stühlen und Latten herum, memoriert seine Rolle, zitiert Stellen aus dem »Don Carlos« und beglückt dabei bald diese, bald jene Schauspielerin mit einer halben Umarmung. Der Maler klebt eifrig mit, damit seine Dekorationen ins gehörige Licht gesetzt werden, streitet sich mit dem Direktor über das Decken der Setzstücke und streicht sich behäglich den angeklebten Knebelbart. Die Damen gehen ab und zu, lachen noch mitunter über die Witze des Komikers, fassen sich an ihr kleines Herz, memorieren ihre Rollen und sagen: »O Gott, o Gott!« – Der Tenorist übt mit dem Musikdirektor noch seine Lieder; beide können sich in dem Spektakel oft gegenseitig nicht verstehen. Rosenberg ist als Theatermeister sehr emsig; aber da er gar nicht durchfinden kann und allenthalben Widerspruch findet, so wird ihm die Sache am Ende verdrießlich. Die andern sind vom Direktor kommandiert und stehen sich mit dem größten Amtseifer gegenseitig im Wege. Niebuhr hat bereits sein Müllerkostüm angezogen, besieht die blanken Stahlknöpfe in seinem weißen Kamisol und freut sich über die allgemeine Verwirrung. Zu allem diesem spielt Scheby brillante Variationen, nachdem der Tenorist sich heiser gesungen.

 

Direktor: Kuhn, wo sind Sie?

Kuhn: Herr Rehse!

Direktor: Ach, möchten Sie nicht so freundlich sein, den Komödienzettel abzuschreiben.

Kuhn: Na – wo so denn – –?

Direktor: Ich hab ihn in Eiseners Stube hingelegt.

Alle: Aber unterstehn Sie sich nicht, die Namen dabei zu schreiben!

Kuhn: Na, aber hären Se mal – na, ich will's schon recht machen. (Ab.)

Maler (für sich): Schaafskopp!

Direktor (Kuhn nachrufend): Wollen Sie denn wohl so freundlich sein! – (indem er den Hammer gegen die Wand wirft) Verfluchtes, verdammtes Lumpenflickwerk! Nun will der knotige Schund nicht festhalten! – Wo stecken Sie denn alle, Eisener! – – Ach!

Schlichtmann tritt herein und wird sogleich als Lampenmeister angestellt. Die andern beschäftigen sich auf die obenerwähnte Weise. Darauf tritt Kuhn herein und bringt den Zettel:

 

Heute Sonntag, den 23. Februar:

Theatr. alla scala.

Der Stellvertreter, Lustspiel in einem Akt.

Uhrmacher Hippel Herr Schlichtmann, mit dem Beinamen Gillis.
Luise, seine Tochter Dem. Kuhn, ein Backfisch. –
Weiter nichts? – Weiter nichts!
Amanda, seine Nichte Dem. Völkner, ein Mädchen ohne Furcht und Tadel.
Wolfgang Trollberg  Herr Storm, ein unverbesserlicher Liebhaber. 
Alexander Trollberg Herr Dircks, Theaterarzt und Besitzer mehrerer Edelhöfe im Monde.
Ein Bedienter Herr Kuhn, verfehlter Tenorist, derzeit für das Bedientenfach engagiert.

Hierauf:

Der reisende Student, Vaudeville in zwei Akten.

Jakob, ein Müller Herr Niebuhr, der Müller vom vergangenen Jahr.
Tollberg, gräflicher Verwalter  Herr Dircks, verbrauchter Liebhaber, jetzt groß als komischer Mime. 
Brandheim, Ingenieurlieutenant Herr Storm, erster Tenorist.
Hannchen, Jakobs Tochter Mad. Röse, Frau Direktorin.
Margarethe, Wirtschafterin Dem. Völkner, ein handfestes Mädchen.
Mauser, ein Student Herr Wagner, Tenor Buffo und Theatermaler, ein junger Mann, über den sich manches sagen ließe.

Das Gewitter hinter den Kulissen wird ausgeführt von
Herrn Direktor Röse, der Feuerlärm von mehreren
Mitgliedern des Theaters alla scala.

Die Dekorationen im ersten Akt und die Setzstücke im zweiten
sind vom Herrn Dekorationsmaler Wagner.

Das Lied »Der Vater sagt usw.« im ersten Akt
ist vom Opernregisseur Herrn Storm.

Wegen Mangel an Platz ist der Zutritt auf der Bühne ernstlich untersagt.

Musik dazu macht der Kapellmeister Herr Scheby.

Meine Erinnerungen an Eduard Mörike.

Auf der alten Gelehrtenschule meiner Vaterstadt wußten wir wenig von deutscher Poesie, außer etwa den Brocken, welche uns durch die Hildburghausensche »Miniaturbibliothek der deutschen Klassiker« zugeführt wurden, deren Dichter aber fast sämtlich der Zopf- und Puderzeit angehörten. Zwar lasen wir auch unseren Schiller, dessen Dramen in der Stille eines Heubodens oder Dachwinkels von mir verschlungen wurden, und selbst ein altes Exemplar von Goethes Gedichten kursierte einmal unter uns; daß es aber lebende deutsche Dichter gebe, und gar solche, welche noch ganz anders auf mich wirken würden als selbst Bürger und Hölty, davon hatte mein siebzehnjähriges Primanerherz keine Ahnung.

Erst auf dem Lübecker Gymnasium, das ich vor dem Abgang zur Universität noch eine Zeitlang besuchte, las ich Goethes Faust und Heines Buch der Lieder, und mir war dabei, als seien durch diese beiden Zauberbücher doch erst die Pforten der deutschen Dichtung vor mir aufgesprungen. Von den neueren schwäbischen Dichtern kam nur Uhland in meine Hände; aber trotz der schönen frühlingsklaren Lyrik blieb dessen dichterische Persönlichkeit mir ferner, vielleicht weil in der Sammlung der Gedichte die Balladenpoesie einen so breiten Raum einnimmt, die man damals ganz in den Vordergrund geschoben hatte, zu der, mit wenigen Ausnahmen, ich aber niemals ein Verhältnis finden konnte.

Die Gedichte Eduard Mörikes, des letzten Lyrikers von zugleich ursprünglicher und durchstehender Bedeutung, der während meines Lebens in die deutsche Literatur eingetreten ist, lernte ich erst mehrere Jahre nach ihrem ersten Erscheinen (1838) während meiner letzten Studentenzeit in Kiel kennen. Wir waren dort derzeit eine kleine übermütige und zersetzungslustige Schar beisammen, die geneigt war, möglichst wenig gelten zu lassen; aber vor diesem Buche machten wir unwillkürlich Halt. Da war Tiefe und Grazie, deutsche Innigkeit verschmolzen oft mit antiker Plastik, der rhythmisch bewegte Zug des Liedes und doch ein klar umrissenes Bild darin; die idyllischen, vom anmutigsten Humor getragenen Stücke der Sammlung von farbigster Gegenständlichkeit und doch vom Erdboden losgelöst und in die reine Luft der Poesie hinaufgehoben. »Mich kann nichts so gefangen nehmen als solche Ergüsse, die uns jählings umwogen und aus jedem Fleck der Erde eine Insel machen, von der man ungern wieder scheidet,« schreibt, kurz vor dem Erscheinen der Gedichte, Mörikes vertrautester Jugendfreund Ludwig Bauer in seinen unten zu erwähnenden Briefen; und wir waren in ähnlicher Weise von diesen Dichtungen getroffen. In dem später (Kiel, 1843) von uns herausgegebenen jugendlichen »Liederbuche dreier Freunde« findet sich aus jener Zeit unter der Überschrift »Eduard Mörike« ein Sonett von Th. Mommsen:

Vorüber fluten stolz des Elbstroms Wellen,
Die Schiffe tragend mit dem goldnen Horte –
Der Reichtum wohnt hier wohl am weiten Porte,
Allein der Friede weilet bei den Quellen.

So will der Strom der Dichtung auch sich schwellen
Und weiter strebt er von der stillen Pforte,
Wo Blumen wuchsen am verborgnen Orte
Und wo am Waldsaum gaukelten Libellen.

Ach! Wir sind oft anmutig, oft erhaben,
Allein Gervinus stellt uns zu der Prose,
Und recht behält er, sind wir erst begraben.

Da fand ich in dem eignen Bett von Moose
Erblühend im geheimsten Tal von Schwaben
Des reichen Liedersommers letzte Rose.

Man sah durch diese Gedichte wie durch Zaubergläser in das Leben des Dichters selbst hinein, das zwar auf einen kleinen Erdenfleck beschränkt, aber dafür mit diesem auch desto inniger vertraut und überdies mit einem phantastischen Märchenduft umgeben war, der bei aller anmutigen Fremdheit dennoch dem Boden der Heimat zu entsteigen schien, und aus dem die bald zarten, bald grotesken Gestalten,

Die sel'gen Feeen, die im Sternensaal
Beim Sphärenklang
Und fleißig mit Gesang
Die goldnen Spindeln hin und wider drehen

wie der gespenstische Feuerreiter mit seiner roten Mütze bis zur sinnlichen Deutlichkeit hervortreten. Diese Poesie erregte, wie von E. Kuh in seinem schönen »Gedenkblatt« treffend bemerkt ist, ganz von selber den Wunsch, die besonnten Rebhügel, die heimlichen Waldplätze oder stillen Dorfseiten aufzusuchen, denen sie entstammt ist; noch lieber, in des Dichters Pfarrgarten einzutreten und bei ihm selber anzusprechen. Aber freilich dazu fehlte mir derzeit auch das bescheidenste Legitimationspapier.

Nach den Gedichten lasen wir auch die Novelle »Maler Nolten«, und trotz der mystischen Zwiespältigkeit der Dichtung und des Mangels befriedigender Lösung der darin angeregten Konflikte, welches beides auch einem jugendlichen Leser nicht leicht entgehen kann, waren wir doch darüber einig, daß der Dichter, wie sein Freund Bauer gleich nach dem Erscheinen des Buches schreibt, »seinen Nolten aus dem dämmernden Brunnenstübchen hervorgeholt habe, wo Kunst und Natur als nachbarliche Quellen rauschen«; ja, daß in einzelnen Partien vielleicht das Höchste geleistet sei, was überall der Kunst erreichbar ist. Noch entsinne ich mich, wie ich eines Tages beim Eintritt in mein Zimmer einen unserer Genossen, einen eifrigen Juristen, mit feuchten Augen vor meinem Klavier auf einem Stuhle hängend fand; in der einen Hand hatte er das Heft der von Mörike selbst geschätzten Kompositionen von Hetsch, welche damals dem Buche beigegeben waren, mit der anderen suchte er unter Heraufbeschwörung seiner vergessenen Notenkenntnis auf den Tasten sich Agnesens Lied zusammen:

Rosenzeit, wie schnell vorbei
Bist du doch gegangen!

Leider verfiel ich, da ich nach abgelegtem Staatsexamen in meiner Vaterstadt seßhaft geworden war, in den seltsamen Irrtum, meine Begeisterung auch bei allen anderen Menschen vorauszusetzen, derart, daß ich den »Nolten« der Lesegesellschaft unserer »Harmonie« höchst dringend anempfahl. Das Buch wurde auch angeschafft; aber – ich konnte mich bald kaum noch irgendwo sehen lassen, ohne ein mitleidiges Kopfschütteln der rüstigen Geschäftsleute dafür einzukassieren. Ich hatte mich von vornherein um allen Kredit gebracht. – Setzte es doch sogar einen Schriftsteller, wie A. v. Sternberg, mit dem ich in den fünfziger Jahren zusammentraf, in Erstaunen, daß ich Mörike überhaupt eine Bedeutung einräumen wollte. Er hatte zur Zeit, da dieser an seinem »Nolten« arbeitete, ihn persönlich kennen gelernt, wußte von ihm aber nur mit herablassendem Lächeln zu erzählen, wie Mörike ihn eines Tages gefragt habe, ob er wohl auch eine Gräfin könne Staub wischen lassen, worauf er ihn dann beschieden, ja wenn es grad nicht nötig sei, da könne auch wohl einmal eine Gräfin zum Staubtuch greifen. – Die Stelle findet sich übrigens Bd. I, S. 225 im »Nolten« und wird von Vischer in seinen »Kritischen Gängen« gegen einen Rezensenten verteidigt, da der Vorgang als ein ungewöhnlicher psychologisch motiviert sei.

Und hier stehen wir vor der Frage: Woher kommt es, daß Mörike selbst in Betreff der Gedichte noch heute ein so kleines Publikum hat? – Der gänzliche Mangel der flüssigen Phrase und jener aus der Alltäglichkeit der Anschauungen hervorgehenden bequemen Verständlichkeit schließt allerdings bei unserem Dichter den größten Teil der Jugend, insbesondere der jugendlichen Frauenwelt, von vornherein aus, abgesehen davon, daß die Stoffe vielfach jenseits des gewöhnlichen Gesichtskreises dieses Alters und Geschlechtes liegen. Aber auch reifere Frauen oder Männer, denen man sonst wohl etwas zumuten kann, wissen oft sich nicht hinein zu finden.

Ich möchte nachstehendes hervorheben. Einmal hat das Phantastische, das bei Mörike überall hindurchspielt, gegenwärtig überhaupt wenige Liebhaber; hier aber hat es noch dazu in mehreren Gedichten – so in der, allerdings köstlichen, 16 Seiten einnehmenden Erzählung vom »sicheren Mann« – eine mythische Welt zur Voraussetzung, die nur dem Dichter selbst und seinem engeren Kreise bekannt war. Als Tübinger Studenten auf einsamen Spaziergängen oder in einem fremden Gartenhause auf dem Österberge, wo sie sich heimlicher und nächtlicher Weise einnisteten, erschufen Mörike und Bauer diese Welt, die irgendwo im Stillen Ozean liegende Insel Orplid mit der Hauptstadt gleiches Namens und ihrer Schutzgöttin Weyla, deren auf und über der Erde spielende Geschichte bis ins Einzelne von ihnen aufgebaut wurde. Bauer schrieb später auf Grund dieser Erfindungen seine Dramen »Der heimliche Maluff« und »Orplids letzte Tage«; Mörike die in den »Nolten« aufgenommene Szene »Der letzte König von Orplid«. Die in letzterer enthaltenen und dieser Mythenwelt entsprungenen kleineren Gedichte: »Gesang Weylas«, »Gesang zu Zweien in der Nacht«, »Elfenlied«, »Die Geister am Mummelsee«, sind dann auch, und freilich mit vollem Rechte, in die Sammlung der Gedichte übergegangen, aber sie beruhen sämtlich auf unbekannten oder ungewohnten Voraussetzungen. Weniger noch als mit diesen und dem »sicheren Mann« werden manche Leser mit dem gleichfalls dem »Nolten« entnommenen Zyklus »Peregrina« anzustellen wissen; die reizende Gestalt des Wundermädchens ist wie ein Irrlicht, von dem wir nicht wissen, ob wir es wirklich sehen oder ob es nur ein Bild der eigenen Phantasie vor unseren Augen spielt.

Es kommt noch ein anderes hinzu. Insbesondere die Idyllen, die einen großen und köstlichen Teil der Sammlung ausmachen, haben in ihrer Vortragsweise, in Ausdruck und Redewendung etwas, das der antiken Dichtung abgelauscht und das, so fein und anmutig es sich der heimischen Weise einfügt, denen, die keine klassische Schulbildung hinter sich haben, nicht sofort geläufig sein mag. Wie es bei der Persönlichkeit dieses Dichters nicht anders sein konnte, die Welt seiner Studien verschmilzt sich mit seiner eigenen; der Verfasser schnupft zwar nicht, aber unleugbar ist es, daß er Lateinisch und vortrefflich Griechisch kann; und das von ihm verspottete »Schulschmäcklein« kommt hie und da, wenn auch in stets graziöser oder bewußt humoristischer Weise, in seinen eigenen Gedichten zur Erscheinung.

Das alles sollte freilich die ernsteren Leser nicht veranlassen, das unvergleichliche Buch nach dem ersten Einblick ungelesen zur Seite zu legen; gleichwohl vermag ich nach eigener Erfahrung, trotz meiner vielfachen Bemühungen dafür, eine Vergrößerung der Mörike-Gemeinde nicht zu verzeichnen. Scheint doch auch, nach dem eingeklebten Titelblatt, die letzte, sechste Auflage der Gedichte nur eine maskierte fünfte zu sein.

Nachdem von Mörike bereits 1846 die »Idylle vom Bodensee« und 1848 die zweite Auflage der »Gedichte« erschienen war, ließ auch ich ein wenig bemerktes Buch »Sommergeschichten und Lieder« in die Welt gehen, worin eine Auswahl meiner Gedichte und meine ersten Prosadichtungen zusammengestellt waren. Mit diesem in der Hand wagte ich es, bei Mörike, wenigstens aus der Ferne, anzuklopfen; im November 1850 schickte ich es ihm und schrieb ihm dabei von seinen norddeutschen Freunden und meiner dauernden Liebe zu seiner Dichtung, den Ausspruch eines heiteren Genossen nicht verschweigend:

Die echten Lieder halten aus in Sommern und in Wintern;
Sie haben aber Kopf und Fuß, dazu auch einen H–.

Es vergingen ein paar Jahre, ohne daß ich über die Aufnahme meiner Sendung etwas erfahren hätte. – Dann im Mai 1853 erhielt ich aus Stuttgart das eben erschienene »Hutzelmännlein«, das die Perle der von dem Dichter erfundenen Sage von der schönen Lau enthält, zugleich mit dem herzlichsten Schreiben, das mir diesen Frühlingstag zu einem der schönsten meines Lebens machte. Was mir später von Österreich aus entgegengekommen ist, schrieb mir schon derzeit Mörike: »Höchst angenehm frappiert hat mich die Ähnlichkeit Ihres Nordens mit unserer süddeutschen Gefühls- und Anschauungsweise«; und näher dann auf den Inhalt meines Büchleins eingehend: »Ihre Neigung zum Stilleben tut gegenüber dem verwürzten Wesen der Modeliteratur außerordentlich wohl. Der alte Gartensaal, der Marthe Stube und so fort sind mir wie altvertraute Orte, nach denen man sich manche Stunde sehnen kann.« – – – »Das (Gedicht) von den Katzen wußte ich bald auswendig und habe manchen schon damit ergötzt. Von wem ist das? frug ich unlängst einen Freund. Nu, sagte er lächelnd, als wenn es sich von selbst verstünde – von dir! Die Zuversichtlichkeit des schmeichelhaften Urteils hat mich natürlich nicht wenig gaudiert.« – Mörike wird sich bei dieser freundlichen Äußerung freilich wohl bewußt gewesen sein, daß dies Gedicht, wenn es auch nicht von ihm herrührt, schwerlich so entstanden sein würde, wenn der Verfasser nicht fleißig bei ihm in die Schule gegangen wäre. Schließlich wünschte er eine Andeutung meiner äußerlichen Existenz; das eine wolle mich zum Arzt, das andere zum Prediger machen.

Ich ließ mich selbstverständlich nicht vergebens bitten.

Später, in den Jahren, die ich während der Dänenherrschaft in dem großen Militärkasino Potsdam verlebte, sandte ich ihm das aus unserem Berliner Kreise hervorgegangene belletristische Jahrbuch »Argo«. Ich sammelte damals für ein Album zum Geburtstage meiner Frau Erinnerungsblätter aus der Heimat und handschriftliche Gedichte von mir bekannten Verfassern. Kugler hatte mir sein »An der Saale hellem Strande« schreiben müssen; von Eichendorff, mit dem ich in des letzteren gastfreiem Hause – »am ewigen Herd« – im Freundes- und Frauenkranze einen heiteren Tag verlebt hatte, erhielt ich das: »Möcht wissen, was sie schlagen, so tief in der Nacht«; nun bat ich auch Mörike um sein »Früh, wann die Hähne krähn«.

Und rechtzeitig im April 1854 langte zur Antwort eine reiche Sendung bei mir an; dem ausführlichen Briefe war außer dem gewünschten Autograph und einem desgleichen von Kerner mit dem charakteristischen Datum »Weinsberg im unglücklichen April 1854« – er hatte damals eben sein »Rickele« verloren – eine wertvolle Gabe beigeschlossen: »Ludwig Bauers Schriften, nach seinem Tode in einer Auswahl herausgegeben von seinen Freunden.« Das Buch ist ohne Angabe eines Verlegers 1847 zu Stuttgart erschienen. Mörikes Frau, Gretchen, geb. v. Speth, auf welche, wie der Dichter mir verraten und ich wohl weiter ausplaudern darf, sich die in seiner Sammlung befindlichen Gedichte »Ach, muß der Gram«, »O Vogel, ist es aus mit dir«, »An Elise«, »Weht, o wehet, liebe Morgenwinde« beziehen, hatte es mit einer Widmung an die »Freunde in Schleswig« begleitet. Er selbst schrieb dazu: »Sie werden den herrlichen Menschen bald darin erkennen. Was die vorangedruckten Briefe betrifft (an deren Auswahl ich natürlich einen Anteil habe) – wenn Sie imstande wären, alles gehörig abzurechnen, was jugendliche Freundschaft nach der ihr eigenen Übertreibung Gutes an ihrem Gegenstände findet, so könnte es mir schon lieb sein, daß Ihnen ein Stück Leben von mir und meinem Kreis damit vorgelegt wird.«

Und in der Tat sind diese Briefe allen zu empfehlen, denen daran liegt, den Jugendspuren unseres Dichters nachzugehen. Man sieht die beiden Freunde in die Sommernacht hinausschwärmen und sich auf einsamen Berghöhen und Waldplätzen zu künftigen Werken begeistern; von Mörike erfahren wir, daß er (1824) ein Trauerspiel vollendet, aber dann verbrannt habe, weil es nicht die ganze Höhe seiner Idee erreichte. Überall aber zeigt sich die beiden Freunden gemeinsame Neigung zum Phantastischen und Geheimnisvollen; noch als Pfarrer zu Ernsbach macht Bauer den Vorschlag, sich für Tag' und Nächte in dem verödeten Schloß zu Ingelfingen einzuquartieren, »in einem Zimmer, wo, wenn man allein ist, man sich zu Tode bängeln kann.« Es ist, als ob die jungen Dichter aus der Einsamkeit in der Natur, aus der Stille der Nacht die Offenbarung der Poesie erwarteten; und die »Felsenglocke Orplids, von welcher nur die Gazellen geweckt werden, seitdem die Gassen der heiligen Stadt verödet sind«, klingt überall hindurch. Hie und da in diesen Briefen wird uns, als läsen wir ein Gedicht von Mörike selbst.

Zwischen den Blättern dieses so willkommenen Buches fand sich überdies die Nummer einer württembergischen Kirchenzeitung mit dem ersten Abdruck des trefflichen »Turmhahns«, worüber Mörike mitteilte, daß er als Pfarrer zu Cleversulzbach aus Anlaß einer Kirchenreparatur solch ein altes Inventarienstück zu sich genommen habe, während das Ganze unter Sehnsucht nach dem ländlich pfarrlichen Leben entstanden sei.

Auch die Silhouetten des Dichters, seiner Frau und seiner Schwester Clara, der beständigen Genossin seines Lebens, waren beigefügt.

In seiner liebenswürdigen und bescheidenen Weise gab Mörike dem jüngeren Freunde über die Entstehung einzelner seiner größeren Dichtungen Auskunft: in Betreff seines »Nolten« schrieb er: »Verschiedene Partien im ersten Teil desselben sind mir selbst widerwärtig und fordern eine Umarbeitung. Was denken Sie deshalb für den Fall einer zweiten Auflage? Ich möchte Sie nicht gern zum zweitenmal als Korrektor unzufrieden machen.«

 

Im August 1855 wurde mir die Freude, mit meinen Eltern eine Reise in den deutschen Süden zu machen. Das Endziel war Heidelberg, wo mein Vater einst als Student der Rechte zu des alten Thibaut Füßen gesessen hatte, auch mit ihm befreundeten Söhnen eines Hainbundgenossen mitunter von dem alten Johann Heinrich Voß in dem Rebgange seines Gartens war empfangen worden. Ich aber dachte noch ein paar Meilen weiter zu einem lebenden Dichter, nach Stuttgart, wo Mörike derzeit mit seiner jungen Frau und seiner Schwester sein bewegliches Wanderzelt aufgeschlagen hatte. Während nun mein Vater, nur von seinem spanischen Rohre begleitet, in Heidelberg die Stätten seiner Jugend aufsuchte, setzte ich mich auf die Eisenbahn und fuhr nach Stuttgart.

Mörike war nicht im Wartesaal, wie er mir geschrieben hatte. Meine Ankunft war mit einer Literaturstunde zusammengefallen, die er derzeit als Professor am Catharineum zu geben hatte. Als die Menge sich verlaufen hatte, blieb ich mit einem schwarzen Herrn auf dem Perron zurück, der nach dem mir bekannten lithographierten Bilde von Weiß jedenfalls nicht Mörike sein konnte, der aber bald auf mich suchend Umherblickenden zutrat und mir ein mit Bleistift geschriebenes Billett überreichte. » Salve Theodore!« schrieb Mörike, » Negotio publico distentus amicum, ut meo loco te excipiat, mitto carissimum.«

Dieser Freund war Wilhelm Hartlaub, dem die erste Auflage der Gedichte gewidmet ist und der jetzt von seiner Dorfpfarre bei dem Dichter auf Besuch war. »Sie kommen zur glücklichen Stunde,« sagte dieser, als wir durch die Straßen schritten; »der Eduard hat grade etwas fertig, was von überwältigender Schönheit ist.« – Die Dichtung, welche er meinte, war die Novelle »Mozart auf der Reise nach Prag«.

In der einfach aber nett eingerichteten Wohnung, freilich mehrere Treppen hoch, wurde ich von Frau und Schwester empfangen. Mörike selbst war noch nicht da; aber während ich mich an einem Glase jungen Weins, noch aus dem Garten zu Mergentheim, nach der heißen Fahrt erquickte, trat auch er herein. Er war damals erst einundfunfzig Jahre alt; in seinen Zügen aber war etwas Erschlafftes, um nicht zu sagen Verfallenes, das bei seinem lichtblonden Haar nur um so mehr hervortrat; zugleich ein fast kindlich zarter Ausdruck, als sei das Innerste dieses Mannes von dem Treiben der Welt noch unberührt geblieben.

Er faßte mich an beiden Händen und betrachtete mich mit großer Herzlichkeit. »Gelt, Alte!« sagte er dann zu seiner Frau, »so habe wir ihn uns ungefähr vorgestellt. Als ich eben da heraufgegangen bin, da hab ich mir die Stufe angesehen und gedacht, ob wohl der Storm da herübergestiegen ist?«

Bei den Gesprächen, in die wir bald vertieft waren, offenbarte sich überall der ihm inwohnende Drang, sich alles, auch das Abstrakteste, gegenständlich auszuprägen; die Monaden des Leibniz erschienen ihm wie Froschlaich; von den kleinen Naturbildern des ihm befreundeten Dichters Karl Mayer sagte er: »Er kann nichts passieren lassen, ohne es auf diese Art gespießt zu haben.« – Über dem Sofa zwischen den Lichtbildern von mir und meiner Frau, die wir als Erwiderung der Silhouetten gesandt hatten, hing eine in Öl gemalte Mondscheinlandschaft; Mörike meinte, es stecke ein Gedicht darin. »Eine Nachtuhr!« sagte er und zeigte aus einen Felsblock im Vordergrunde des Bildes, über den, vom Mond beleuchtet, ein rieselndes Wasser tropfenweise herabfiel. Aber soviel ich weiß, ist dies schon keimende Gedicht nicht zur Entfaltung gediehen. Wir kamen auf Heine zu sprechen. »Er ist ein Dichter ganz und gar,« sagte Mörike; »aber nit eine Viertelstund könnt ich mit ihm leben wegen der Lüge seines ganzen Wesens.« Dagegen fühlte er sich zu Geibel und Heyse, dessen eben erschienene »L'Arrabbiata« er »eine ganz einzige Perle« nannte, hingezogen und wünschte sich nur Jugend und Gesundheit, um ihnen recht feurig entgegenkommen zu können; auch von unserer persönlichen Begegnung wünschte er, daß sie in eine frühere Zeit seines Lebens gefallen sei.

Von mir, der ich damals erst im Beginn meiner Prosadichtung stand, hatte Mörike kurz zuvor die kleine Idylle »Im Sonnenschein« zugesandt erhalten. »Als ich das gelesen,« sagte er, »da habe ich gleich gesehen, das ist so mit einem feinen Pinsel ausgeführt; das mußt du Satz für Satz lesen. – Wisse Sie was?« fuhr er dann fort; »drei Stellen daraus möchte ich auf Porzellan gemalt haben.« – Er hatte eben nicht unrecht mit dieser freundlichen Kritik. Dann aber meinte er wieder: »Sie habe das an sich, so leise zu überraschen: Es war eine andere Zeit!«

Ich hatte ihm erzählt, daß mein Vater, ein Müllersohn vom Dorfe, von seiner Jugend her eine Liebhaberei für Vögel habe und noch jetzt mit Behagen dem Treiben der Stare um die ausgehängten Brutkästen zuschaue. Als wir später bei der Besichtigung der Wohnräume in das Zimmer kamen, wo sein erst einige Monate altes Töchterlein in einer Wiege schlief, sagte er mir, daß er diese Liebhaberei meines Vaters teile, und zeigte auf zwei Rotkehlchen, die im Bauer vor dem Fenster standen. »Richtige Gold- und Silberfäde ziehe sie heraus; sie singe so leise, sie wollen das Kind nit wecke.«

In meiner Heimat, wo das Plattdeutsche der Volkssprache sich schärfer von der Schriftsprache scheidet, ist man nicht gewöhnt, einen derartigen Anflug von Dialekt in der Unterhaltung zu hören; auch Mörikes Gedichte, hatte ich sie nun laut oder leise gelesen, waren mir stets nur in meiner eigenen Sprache dagewesen. Nun hörte ich den Dichter selber in behaglichster Weise sich in der Sprache seiner schwäbischen Heimat ergehen, insbesondere beim Mittagstische im Gespräch mit seinem Jugendfreunde Hartlaub. Als ich ihm meine Gedanken darüber kund tat, legte er zutraulich die Hand auf meinen Arm und sagte lächelnd: »Wisse Sie was? Ich möcht's doch nit misse.« – Noch ein anderes hatte mich stutzen gemacht, ohne daß ich gleicherweise einen traulichen Bescheid darauf bekommen hätte. Es war dies das Tischgebet, das Mörike kurz vor Beginn der Mahlzeit sprach. Ich mußte schweigend darüber nachsinnen, ob das ein Rest des früheren Pfarrlebens sei oder vielleicht nur einer allgemein schwäbischen Haussitte angehöre; ein solche formulierte Kundgebung wollte mir zu dem Dichter Mörike nicht passen, wenngleich in seinen Gedichten sich nichts findet, das dem Glauben an eine persönliche, dem Herzensdrange des Menschen erreichbare Gottheit widerspräche. Die Verse aber:

... Aus Finsternissen hell in mir aufzückt ein Freudenschein:

Sollt ich mit Gott nicht können sein,
So wie ich möchte, Mein und Dein?
Was hielte mich, daß ich's nicht heute werde?

Ein süßes Schrecken geht durch mein Gebein!
Mich wundert, daß es mir ein Wunder wollte sein,
Gott selbst zu eigen haben auf der Erde!

sind erst in der Ausgabe von 1867 veröffentlicht.

Als das Gespräch sich auf das poetische Schaffen überhaupt wandte, meinte Mörike, es müsse nur so viel sein, daß man eine Spur von sich zurücklasse; die Hauptsache aber sei das Leben selbst, das man darüber nicht vergessen dürfe. Er sagte dies fast so, als wolle er damit den jüngeren Genossen warnen. Und daß es nicht ein bloß hingeworfenes Wort gewesen, beurkunden seine Gedichte, in denen der Inhalt eines reichen, wenn auch noch so stillen Lebens wie von selber ausgeprägt ist.

Am Nachmittag wurde mir zu Ehren auf nordische Weise der Teetisch hergerichtet; Mörike meinte, oh, sie kennten das hier auch. Dann schleppte er mir selbst aus seinem Studierstübchen seinen großen Lehnstuhl herbei, und als ich mich hineingesetzt hatte, begann er seinen »Mozart« vorzulesen. Die noch jugendliche Frau des Dichters ging indessen, wie ein freundlicher Hausgeist, ab und zu; die wirtschaftliche Sorge für die Gäste hatte sie genötigt, sich dem pantomimisch kundgegebenen Wunsche ihres Mannes, sich mit in unseren Kreis zu setzen, mit dem liebenswürdigsten Ausdruck des Bedauerns zu entziehen. – Mörike las, wie mir damals schien, vortrefflich; jeder Anflug von Dialekt war dabei verschwunden. Auch hier aber hatte ich Gelegenheit zu bemerken, welch hohe Stellung der Dichter bei seinen Jugendgenossen einnahm, und wie sie überall nur das Schönste und Beste von ihm erwarteten. Schon 1823 schreibt Bauer in den erwähnten Briefen an ihn: »Aber dies ist mir lieb, daß nur dann Dein ganzes wunderbares Selbst vor mir steht, wenn sich die gemeinen Gedanken wie müde Arbeiter schlafen legen und die Wünschelrute meines Herzens sich zitternd nach den verborgenen Urmetallen hinabsenkt. Die Poesie des Lebens hat sich mir in Dir verkörpert, und alles, was noch gut an mir ist, sehe ich als ein Geschenk von Dir an«; und an einer anderen Stelle: »Du bist mir schon so heilig, wie ein Verstorbener.« – Der jetzt gegenwärtige Hartlaub folgte der Vorlesung mit einer verehrenden Begeisterung, die er augenscheinlich kaum zurückzuhalten vermochte. Als eine Pause eintrat, rief er mir zu: »Aber, i bitt Sie, ist das nun zum Aushalte!« – Ich selbst freilich war von dieser Meisterdichtung, in der mir nur eine Partie, die mit den Wasserspielen, weder damals noch später hat lebendig werden wollen, nicht weniger freudig ergriffen. Daß außer einzelnen Gedichten, wie »Erinna an Sappho« oder »Besuch in der Karthause«, diesem Werke kein weiteres mehr von ähnlicher Bedeutung folgen sollte, ahnten wir damals nicht.

Nach beendeter Vorlesung wandte das Gespräch sich auf den »Maler Nolten«, dessen erste Auflage vergriffen war. Der Verleger beabsichtigte eine neue, aber Mörike wollte den unveränderten Abdruck nicht gestatten; er hatte schon damals eine Umarbeitung desselben begonnen, welche er trotz der ihm noch vergönnten zwei Dezennien nicht vollenden sollte. Es wolle ihm nicht gelingen, bekannte er; er habe sogar das Buch schon einmal vor Ungeduld an die Wand geworfen. – Als wir anderen ihm dann zuredeten, er möge sich doch lieber neuen Schöpfungen zuwenden, meinte er, es werde doch kein Maler, dem Gelegenheit gegeben sei, ein Bild zu wiederholen, mit Bewußtsein dieselben Verzeichnungen wiederhineinmalen. – Und so ist er denn fortgefahren, Zeit und Kräfte an dem ihm fremd gewordenen Werke zu erschöpfen.

Durch die Erwähnung Kerners, den aufzusuchen mir leider, trotz Mörikes dringender Empfehlung, der einmal festgestellte Reiseplan verwehrte, gerieten wir in das nicht nur in Schwaben leicht aufzuritzende Reich der Geister. Mörike, der die Sache ernst nahm, behielt sich vor, mir bei besserer Gelegenheit brieflich desfallsige Mitteilungen aus seinem eigenen Leben zu machen. Aber bekanntlich war er kein zu starker Briefschreiber; erst viele Jahre nachher durch einen meiner Söhne, der ihn als Tübinger Student mehrfach in seinem derzeitigen Wohnorte Nürtingen besuchte, habe ich etwas von diesen Vorgängen erfahren, welche nach dessen Aussage Mörike ihm mit einer die Nachtruhe gefährdenden Meisterschaft erzählt hatte.

Eine Reihe derselben steht in unmittelbarer Beziehung zu Kerners seltsamem Buche »Die Seherin von Prevorst«. Nachdem nämlich der Dichter nicht lange zuvor mit Mutter und Schwester von seinem Pfarrhause zu Cleversulzbach Besitz genommen, geht er eines Sommernachmittags in sein Weinbergshäuschen hinauf, um dort, wie es komme, ein bißchen zu lesen oder zu schlafen. Zufällig hat er unter seinen Büchern die erwähnte »Seherin« gegriffen und liest darin – die Geschichte steht S. 274 –, was einem Pfarrer H. zu C. und dessen Nachfolger S. im Pfarrhause mit einem spukenden Amtsvorgänger Namens R–sch begegnet ist. Eben am Eindämmern, fährt es ihm durch den Kopf: »Ganz dieselben Wahrnehmungen hast du ja auch gemacht!« Die Anfangsbuchstaben des Pfarrers und seines nächsten Nachfolgers passen ebenfalls; nur der Name des Spukenden ist ihm nicht bekannt. Eiligst begibt er sich auf sein Studierzimmer und schlägt im Kirchenregister nach; und da steht es! »Rabausch« hatte der Pfarrer geheißen, der hier vor längerer Zeit gelebt und über den noch allerlei finstere Erzählungen im Schwange gingen. – Von der Zeit an hätten er und seine Hausgenossen die Äußerungen des Geistes mit Aufmerksamkeit beobachtet.

Diese Hinneigung des Dichters zu einer von der Wirklichkeit getrennten, geheimnisvoll in sich abgeschlossenen Welt ist ein bezeichnender Zug seines Wesens, das überall dahin drängt, sich von der in flutender Bewegung tosenden Welt des Tages zurückzuziehen.

Bei einem Abendspaziergange durch die Stadt wurde mir die Steinfigur des Hutzelmännleins gezeigt, welche oben an der Ecke eines Hauses huckte; weiterhin trat Mörike in einen Laden und kaufte mir ein paar weiße Kreidestifte, deren ich mich, wie er zu tun pflege, zum bequemen Niederschreiben poetischer Produktionen auf eine Schiefertafel bedienen möchte.

Am anderen Vormittage kramte unser Gastfreund allerlei, besonders handschriftliche Raritäten aus: so, trotz seiner Abneigung gegen dessen Persönlichkeit, ein sehr durchkorrigiertes Gedicht von Heine; mehrere von Hölderlin, darunter eines aus der Zeit seines Irrsinns, aber auch ein Konzept des schönen Gedichtes »An Heidelberg«; endlich kam ein Blatt mit allerhand kolorierten Zeichnungen. So viel ich mich entsinne, sollte es von einem alten Zeichenlehrer aus dem vorigen Jahrhundert stammen; Mörike, der eine mir entfallene Klassenbenennung für diese Art von Künstlern gebrauchte, hatte selbstverständlich den Mann nicht gekannt; aber während er auf die verschiedenen altfränkischen Dinge aufmerksam machte, mit denen der Bogen bedeckt war, begann er, leise und behaglich redend, mit dramatischer Lebendigkeit die Figur des alten Herrn in immer deutlicheren Zügen vor uns hinzustellen, so daß ich es zuletzt mit Augen vor mir sah, wie das fettige Zöpflein sich auf dem blanken Rockaufschlage hin und wider rieb. – Nach einem Gemälde von Orplid, das nach Bauers Angabe in Mörikes Besitz sein sollte, erkundigte ich mich vergebens; es schien nicht mehr vorhanden. Dagegen sah ich eine Zeichnung, welche den Dichter in seiner früheren Jugend als einen besonders schönen Knaben zeigte. Das lithographierte Bild von Weiß, so viel mir bekannt das einzige aus den kräftigeren Mannesjahren des Dichters, schien mir nicht ganz ähnlich; auch Mörike selbst meinte das.

Gegen Mittag kamen meine Eltern, mit denen ich am Nachmittag nach Heilbronn und dann anderen Tags den Neckar hinab nach Heidelberg zurückfahren sollte. – Die nordischen Leute schienen Mörike zu gefallen; als wir mit ihm und seiner Schwester einen Spaziergang durch die Stadt und die umliegenden Anlagen machten, faßte Mörike mitten aus der Unterhaltung heraus mich unter den Arm und raunte mir zu: »Aber, en passant, Sie habe recht liebe, liebe Eltern!« Und noch mehrmals kam er darauf zurück: »Ich komme noch nit aus mei Staunen und mei Freud; Sie habe wirklich prächtige Eltern!«

Noch sehe ich ihn mit meinem Vater, den alten Poeten und den alten Advokaten, in aufmerksamer Betrachtung vor der Schillerstatue stehen; beide die Hüte in den Nacken gerückt, der eine mit seinem Regenschirm, der andere mit seinem spanischen Rohr unter dem Arm. Plötzlich wendet Mörike sich zu mir und sagt mit großer Herzlichkeit: »Wisse Sie was? Ihr Herr Vater hat so was von einem alte Schweizer!« Dies Kompliment, wofür er es ansehen mußte, da ihm die Schweizer nur als ideale Gestalten aus Schillers Tell bekannt waren, konnte mein Vater unmöglich annehmen. »Ach wat,« rief er lachend in unserem Plattdeutsch, »ick bün man en Westermöhlner Burjung!« Möglich, daß das nun wieder Mörike nicht verstanden hat. – Auch meine Mutter zu charakterisieren schien dieser ein freundliches Bedürfnis zu empfinden; sie habe »so etwas Klares, Leuchtendes, Liebe Erweckendes«, meinte er.

Aber der Tag verging. Beim Abschiede empfing ich als Gastgeschenk von Frau Gretchen aus der Garderobe des Haustöchterchens ein Paar gestrickte Schühchen für meine gleichaltrige kleine Tochter, von Mörike für meine Frau eine Art schelmischen Schönheitsdiploms, ein zierlich, jedoch verkehrt auf Glanzkarton gedrucktes Gedicht, wodurch die Adressatin genötigt wird, damit vor den Spiegel hinzutreten:

Und was kein Schmeichler ungestraft gewagt,
Ihr eigen Bild hat es ihr nun gesagt.

Er habe, bemerkte Mörike, das Blatt für Agnes Schebest machen lassen, pflege es aber auch wohl an andere würdige Personen zu verabreichen. – In seine Sammlung ist übrigens dies Gedicht nicht aufgenommen.

Dann verließen wir Stuttgart, und ich habe Mörike nicht wiedergesehen; auch geschrieben hat er mir, außer einem Gruß auf seinem »Mozart«, nur noch einmal, da mich ein großes Leid betroffen hatte. Grüße und kleine Sendungen sind noch einzeln hin und wider gegangen, bis dann der Tod auch dem ein Ende machte.


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