Otto Stoessl
Sonjas letzter Name
Otto Stoessl

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5 Der erste Name

In freundlicher Stimmung saß eine kleine wohlvertraute Gesellschaft um den Tisch meines Wohnzimmers. Die gute Abendlaune war vorzüglich dem Herrn Dieter zu verdanken, der, so oft er kommt, irgendeine Munterkeit und ein Abenteuer, Schnurren und sinnreiche Berichte mitbringt, als ein Gastgeschenk, wie etwa ein anderer einen Blütenstrauß auf den Tisch stellt.

Er ist der Sohn eines schlichten Mannes, der als einfacher Amtsdiener sich seiner Herrschaft, einer wissenschaftlichen Korporation, durch Anstelligkeit, Lebensgewandtheit und praktische Überlegenheit so unentbehrlich zu machen wußte, daß er, scheinbar untergeordneten Standes, seine Dienstgeber recht eigentlich beherrschte, indem er durch Geschicklichkeit und Eifer mehr zu ihrem Gedeihen beitrug, als ihre 6 wissenschaftliche Bedeutung bei der gelehrten Unbeholfenheit es vermocht hätte. Dabei verschaffte er seinen Kindern, vor allem Dieter dem Sohne eine gute Erziehung und bürgerliche Lebensstellung, so daß unser Freund schließlich zwar nicht allen Wünschen und der besseren geistigen Begabung gemäß, aber doch im Vergleich mit der Lage des Vaters höher in den Bereich der bürgerlichen Standeswelt aufgerückt, als Eisenbahnbeamter sich immerhin einer bescheidenen Ansprüchen genügenden Unabhängigkeit erfreut, deren ein innerlicher Mensch wie er bedarf, um Leute und Dinge teilnehmend und voll Verständnis zu betrachten, die gröbste Sorge um das tägliche Brot durch eine zwar langweilige und unersprießliche, aber mäßig verantwortungsvolle und untergeordnete Tagesarbeit abzuwehren und sich im übrigen selbst zu leben.

Dies versteht unser Dieter nun im höchsten Maße. Dabei weiß er besser, als mancher Reiche seine Schätze, das Schönste der eigenen Lebensfreude und Treue mitzuteilen: Anschauung und Einsicht in die merkwürdigen menschlichen Zustände. Hier ist ihm sicherlich seine Herkunft von Nutzen, indem er, aus unsicheren, auf schlaue Wahrnehmung des Augenblicks angewiesenen Verhältnissen erwachsen, sich sozusagen im 7 Abenteuer und in der Ungewißheit zu Hause fühlte Die bürgerliche und laue Gleichgültigkeit der sogenannten »besseren Stände« entfremdet deren Kinder in der Großstadt jenem glücklichen und unbesorgten Herumtreiben unter dunkeln und oft nicht ungefährlichen Leuten und Verhältnissen, welche erst das eigentliche schwanke, geheimnisvolle und wieder großartige Wesen der Gesellschaft spüren lassen, die gleichsam über einem brodelnden, wühlenden und finsteren, von starken Trieben und bedeutungsvollen Leidenschaften durchschotterten Grunde errichtet, sich bei oberflächlicher Betrachtung nur allzu leicht als etwas Selbstverständliches darstellt mit allen ihren Rangstufen, geordneten Gliederungen, angemaßten und anerkannten Würden und Persönlichkeiten.

Wer aber wie Dieter als Knabe schon, oft und gern eben in ihrer Tiefe sich bewegte, dem ist, was der hochmütige Alltagsverstand als »Romantik« mit einer leichten Verachtung, als mehr oder minder unbegreiflichen Hang zum unvernünftig Abenteuerlichen abtut, recht eigentlich eingeboren. Einem solchen Menschen bleibt denn auch der liebevolle und unstillbare Trieb nach Anschauung und Erkenntnis dieser menschlichen und Lebensunendlichkeit gemäß, der sich niemals 8 beschwichtigt und erst mit dem Augenblick erlischt, wo der Blick des Auges vom Lichte selbst für immer Abschied nimmt. Von allen Seiten her strömt ihm der Überfluß der Welt zu und vertraulich eröffnen sich ihm in Menschen und Begebenheiten ihre weiten Ausblicke. So bleibt Dieter scheinbar einer der vielen passiven, gelassen und behaglich für sich hinlebenden Beamten, ein rechter Abenteurer von ganz besonderer Art. Er bewegt sich zwar in einem einfachen, wohlgeordneten, sparsamen, überlegten und bescheidenen Hauswesen, aber in seinem Innern weilt er in der wahren Welt der Zufälle, merkwürdigen Begebenheiten, gefährlichen Zustände, wunderbaren Gesellschaften und ist geistig in der richtigen Romantik daheim, nach deren Lebensführung er eine unstillbare Sehnsucht oft genug eingesteht. Die schweifende und wanderhafte Abenteuerlichkeit seiner einsamen glücklichen Knabenjahre gilt ihm eigentlich als Traum und Wunsch seines Mannesalters und kann er nicht im wirklichen Dasein mit Vagabunden auf den Landstraßen irren, Prinzessinnen rauben, Obst plündern, Verkleidungen umtun, so bleibt es sein Liebstes, bei allen Leuten, die er trifft, jenen Kern von Rätsel und Wunder aufzuspüren, der in jedem menschlichen Geschick irgendwie auf dem Grunde 9 der Existenz, oder doch der Vergangenheit und Herkunft ruht. Unter seinem aufmerksamen Blicke wächst dann unversehens wie unter einer gütigen Sonne aus diesem dunkeln Keim die ganze Form eines Daseins ans Licht.

Und eben weil jeder in ihm einen teilnehmenden, gutherzigen, verstehenden und niemals kleinlichen und splitterrichtenden Geist spürt, erweckt er auch, wohin er kommt, Vertrauen, so daß ihm, wunderbar genug, gerade das Abenteuerliche und Seltsame, das sich sonst schamvoll und vorsichtig verbirgt, von allen Seiten her zufließt und die merkwürdigsten Geheimnisse sich ihm gleichsam auf Schulter und Hand setzen, wie Vögel einem, der ihnen Futter streut, denn auch den armen Vögeln unter den menschlichen Seelen tut es wohl, in der bitteren Winterkälte der gemeinen Unduldsamkeit und frostigen Wohlanständigkeit einen Treuen zu finden, der keine Fallen stellt und keine Listen ausspannt, sondern mit freundlichem Blick die goldenen Körner des Verständnisses ausstreut, die ein solcher hungernder Vogel gar begierig aufliest, um nach einer Weile recht gewärmt und getröstet wieder in die Weite hinauszufliegen.

Bei Gelegenheit erzählt Dieter vom 10 Wahrgenommenen auf die munterste Weise, wobei er das Schwere und Schlimme, das ewig Traurige und Schmerzvolle, das allem Dasein mitgegeben ist, durch eine freie Heiterkeit und Launenlust des Gemüts eben als das Abenteuer wiederzugeben weiß, das es bleibt. So war auch an diesem ausklingenden Märzsonntage das Gespräch auf die mannigfaltigen Zustände der Gesellschaft geraten und davon die Rede gewesen, wie sich die scheinbare Ordnung, Moral und Selbstgerechtigkeit der sogenannten besten Stände oft genug auf Zufälle gründet, wie schwere, listenreiche und geschickte Kämpfe, die sich im Dunkel abspielen, dann die schönste, bürgerliche Gesetztheit erobern, sich vor der Welt ehrbar und stolz mit allen Zeugnissen guten Verhaltens und mit allen üblichen und unerläßlichen Ausweisen sehen lassen, als sei alles von jeher in bester Ordnung. Die Gesellschaft gibt sich am Ende mit dem äußeren Anschein zufrieden und segnet schließlich mit ihrer Anerkennung schlau und duldsam, was ohne solche Weitherzigkeit, bei strengerer Durchforschung am Ende ihr ganzes lockeres Gefüge in die Luft sprengen würde. Denn ein Pulverkorn von Leidenschaft, von Betrug, von schwerem Irrtum und Vergehen, von List und Sünde ruht selbst in der scheinbar unanfechtbaren 11 Lage der meisten Leute, und es bedarf nur eines unglücklichen Zufalls, der seinen Funken in die geheimste Kammer eines Herzens wirft, und das ganze Gebäude der Wohlanständigkeit fliegt in Trümmer.

Mit einem heiteren Lächeln der Erinnerung sagte Dieter, sich in seinem Stuhl zurücklehnend: »Ich will Ihnen, lieber Doktor, weil wir gerade nichts besseres vorhaben, eine Geschichte erzählen, wie inmitten unserer geordneten Gemeinschaft, unter der bevorzugten Klasse, ja unter der herrschenden Kaste unserer Offiziere, denen eine besondere Strenge aller Sitten durch die unnachsichtigste Kontrolle der Oberen und ihrer eigenen Genossen auferlegt wird, ein merkwürdiges Geschöpf aufgewachsen ist, das infolge der eigentümlichsten Zufälle und Begebenheiten nacheinander drei Namen trug, sich mit jedem zu seiner Zeit auswies und solange wirtschaftete, bis es damit nicht weiter sein Auslangen fand und sich darum einen neuen beilegte und aneignete.

Erst unlängst habe ich einen Brief bekommen, der mir freudig ankündigte, daß das namenlose Ding zuguterletzt einen vierten Namen rechtens erwarb, den es nun fortan hoffentlich mit Ruhe tragen darf, wenn es das Schicksal erlaubt, das sich endlich einmal 12 vielleicht auf eine andere Seite schlagen und seinen bisherigen Opfern nunmehr den verdienten Frieden gönnen wird.«

Mit erwartungsvollem Lächeln sahen wir übrigen auf Dieter, der nun zu erzählen begann:

»Nachdem ich den Einjährigendienst hier in Wien mit größtem Eifer und bestem Erfolg beendigt hatte, bekam ich auf Grunde von Empfehlungen, die mir der Vater durch seine Gönner zu verschaffen gewußt, eine Stelle als Eisenbahnbeamter und sah mich in eine der schmutzigen, luftlosen und gottverlassenen Schreibstuben gesteckt, die Sie ja selber, lieber Doktor, nur zu gut kennen, wo ich Rechnungen und Frachtkarten mit roten Strichen bedeckte und beim Kalkulieren von Sendungen, die etwa vom innersten Osten des Reiches nach den schönsten Alpentälern, oder gar weiter bis ans Meer und darüber hinaus fahren durften, der verlorenen Zeit der Wanderfreiheit schmerzlich gedachte, die hinter mir versunken war und wohl niemals so schön wiederkommen würde. Ja, ich war bitter unglücklich und, ein rechtes Kind mit meinen zwanzig Jahren, so ungeberdig, daß ich meinem Vater erklärte, ich würde nur eine Woche im Amt verbleiben und mich dann nach etwas anderem umtun, sei es was immer. 13 Aber Sie wissen ja, hat man sich an einem solchen Schreibtisch niedergelassen und den ersten Gulden des mageren Gehalts auf die Hand bekommen, so ist man dem Amtsschimmel auf den Rücken gestiegen, der einen nie mehr abwirft, sondern mit seinem verzweifelten Trott durch die Trübsal des Schreiberdaseins trägt, nur zuzeiten tückisch bockend und den Reiter schüttelnd, damit er auf dem dürren Klepper nicht allzu üppig ins Träumen gerate.

Kurz, es verging eine Woche über der anderen, ich bekam nach einem Jahr mein Anstellungsdekret und war nun übelbestallt genug.

So brachte mir eines Frühlingstages erst die Einberufung zur Waffenübung wieder die Möglichkeit, wenigstens für ein paar Wochen hinaus zu kommen und mich im Freien zu tummeln und zu plagen, was von den meisten Reservesoldaten sonst wenig genug geschätzt, sogar oft gehaßt und geschmäht wird. Zudem war mein Regiment im äußersten Osten der Monarchie, weit draußen in einer galizischen Festung exponiert und ich hatte die angenehme Aussicht, ein unbekanntes fremdes Land, Menschen mit fremder Sprache und neuen Gebräuchen kennen zu lernen. So zog ich denn vergnügt meine leuchtende neue 14 Leutnantsuniform an, schnallte den glänzenden Säbel um, fuhr stolz davon und erreichte nach vier Reisetagen die Festung C.

Diese lag in einem waldigen Talkessel, von verstreuten, einsamen, fast ganz in den Boden eingegrabenen Artillerieforts umgeben, im Süden sah man ferne die zarte Linie der Karpathen, während im Norden die weite Ebene bis in die Unendlichkeit zu reichen schien. Hinter den Forts, von der beherrschenden Festung zwei gute Wegstunden entfernt, aber mit ihr durch wohlgehaltene Kunststraßen verbunden, waren da und dort Lager auf größeren Lichtungen erbaut, wohin gewisse Bataillone einzelner Infanterie-Regimenter, darunter auch das meinige, zur Übung beordert wurden. Diese Lager bestanden aus niedrigen, überaus einfachen, nur zum Teile gemauerten, zum größeren Teile jedoch aus Holz gezimmerten Baracken, wo in großen Pferchen die Mannschaft, in einzelnen, reinlich geweißten Zimmern die Offiziere untergebracht waren.

In einem dieser Lager war auch ich für die Dauer der Übung zu Hause. Von der Welt so ziemlich abgeschieden, bot es eine wunderliche Gemeinschaft, die wohl oder übel an sich selbst Genügen finden mußte, 15 was einem Zugereisten wie mir, für ein paar Wochen immerhin neu und reizvoll sein, den armen Truppenoffizieren aber, die dort eingeschlossen, schöne Lebensjahre verloren, wohl kein besonderes Vergnügen bieten mochte. Auf die vierhundert Mann des Bataillons, die in meinem Lager versammelt waren, kamen dreizehn Offiziere unter einem Major, dem König dieser Ansiedlung, mit Gewalt über die ganze untergebene Herde. Diese Menschenstallung war von einem mannshohen Zaune umgeben, der nur zwei Ausgänge hatte. Der eine, ein großes rotes Holztor, führt in den Wald zu den Übungsstätten der Truppe hinaus, wird nur bei Tag von einem Korporal bewacht, bleibt bei Nacht gänzlich verschlossen und nicht weiter beachtet, weil es in die völlige Wildnis schaut, aus der in Friedenszeiten niemand erwartet wird, und nach der man nur während der Übungen hinauskommen will. Der andere gemauerte dagegen, ein hoch und breit gewölbter Einlaß eines einstöckigen Gebäudes, der sogenannten Lagerwache, stellt die eigentliche Verbindung mit der Außenwelt her, mit der gepflegten Straße, die nach der Festung geht. Bei diesem Tor hält ein Leutnant mit einem Feldwebel und ein paar Gemeinen den Dienst, in der Lagerwache ist auch der Arrest, weiter 16 die ganze Verwaltung und Kontrolle des Lagers untergebracht, und hier befindet sich auch der Eingang für einzelne Besucher, die in dem Pferch irgendwas zu schaffen haben.

Der Dienst war einfach und wie dazu angetan, allerhand Träumen und kleinen Beobachtungen nachzuhängen. Man führt die Kompagnie morgens hinaus in den Wald, macht ein paar Gewehrübungen, hetzt sie ein bißchen durcheinander, dann stellt man Wachen aus gegen den Feind. Das ist irgendein Vorgesetzter, dem es etwa einfallen könnte, sich vom Eifer der Übung zu überzeugen. Dann läßt man die Leute ruhen, das Gewehr zur Seite. Sie liegen bäuchlings im Gras und rauchen, kauen, murmeln, um, wenn der Posten irgend etwas Verdächtiges meldet, als behende Schwarmlinie eifrig nach einem Feind zu laden und zu schießen, als hätten sie die ganze liebe Zeit über nichts anderes getan. Aber nur höchst selten störte uns eine solche Meldung, denn der Major war ein Gartenfreund, der die anvertraute Wildnis des Lagers mit zierlichen Wegen, schönen Hecken, blühenden Rabatten, einer wohlgeratenen Rosen- und Zwergobstkultur verschönt und bei all dem reichlichen und der eifrigsten Pflege bedürftigen Wuchs übergenug zu 17 tun hatte, so daß er seinen Offizieren die angenehme Freiheit ließ, je nach ihrer Auffassung der Mannschaft gegenüber ihre Pflicht zu erfüllen. Mag sein, daß einer und der andere sie derart auffaßte, als müsse er die armen tierischen ruthenischen Bauern tüchtig plagen und zu willenlosen, doch präzisen Waffenmaschinen in atemloser Übung heranziehen, ich aber ließ die kleine Herde soviel ich konnte, sich in Frieden ihres kümmerlichen Lebens erfreuen. So lagen wir denn getrost im Grase. Zuzeiten rauchte ich meine Pfeife und sah in Gedanken nach dem blauen Himmel, zuzeiten nahm ich meine Leute vor, fragte sie nach ihrem Leben und ihrer Zivilbeschäftigung aus und gewann bald einen Einblick in die mannigfachen Verhältnisse, die hier in gemeinsamer Einförmigkeit des Soldatendienstes für ein paar Jahre verhalten und eingeschlossen, sich doch leicht und gerne eröffneten.

Während die Ruthenen als beherrschte, gedrückte Landbevölkerung die Hauptmasse der Soldaten darstellten, eine demütige, überaus einfältige, fast tierische Schar, die manchmal geradezu an gutmütige Wiederkäuer erinnerte, wenn sie so stumpf dalagen und einander ausdruckslos anglotzten oder grinsend zuflüsterten, boten die zahlreichen Juden größeres Interesse.

18 Dieser gerade in Galizien mehr als sonst unauflöslich aneinandergekettete Stamm sondert sich dort merkbar von der übrigen Bevölkerung und gibt ein Mittelglied zwischen Herrschenden und Beherrschten ab, von beiden verachtet, verhöhnt und gefürchtet und von beiden doch wieder nicht leicht entbehrt. Die herrschende polnische Nation, in der Truppe vorzüglich durch die Offiziere vertreten, benützt die findigen, schlauen, selbst den widrigsten Verhältnissen angepaßten jüdischen Soldaten zu allen größeren und kleineren Geschäften, die Geschicklichkeit, Scharfsinn und sogar einen gewissen Mut zur Übertretung, wenn auch keinen zur leiblichen Gefahr verlangen, die Juden besorgen Einkäufe, vermitteln Anleihen und dienen, obgleich nicht eben zuverlässig, verhältnismäßig leicht, indem sie selbst bei Anstrengungen des Körpers dank einer eingeborenen Zähigkeit standhalten und mehr Unbilden überdauern, als der anscheinend rüstigere Bauer. Andererseits aber wissen sie, indem sie sich zu privaten Besorgungen skrupellos bereit finden lassen, allerhand Erleichterungen zu ergattern, machen sich auch dadurch angenehm, daß sie sich willig als Zielscheibe handgreiflicher Späße und rücksichtslosen Spottes darbieten, grinsen am Ende sogar dem strengsten 19 Offizier mit geduldeter Freimütigkeit ins Gesicht und denken sich selbst bei bösem Ungewitter ihr Teil. Eine Art von innerer Freiheit billigen sie sich eben in solcher Knechtschaft als Vorrecht ihrer Pfiffigkeit und Geduld zu und erwirken dafür auch eine gewisse Anerkennung.

Bei der Menage traf man dann in der sogenannten Offiziersmesse wieder die Gleichgestellten, tauschte die üblichen Gespräche und lernte einander bald kennen. Besonders ein Reserveoffizier wie ich, der von der großen, westlichen Welt draußen kam und bald wieder in die herrliche Wienerstadt zurückkehren sollte, war der Gegenstand des allgemeinen Neides und Zutrauens. Am Abend, wo lange Stunden des Kartenspieles den armen Teufeln von unverheirateten Offizieren die Zeit verkürzen mußten, kam es, schon einen Tag nach meinem Einrücken dazu, daß mich etwa einer bat: »Lieber Dieter, du kommst ja in dein Zimmer hinauf, ich bitte dich, geh in meines und hole mir aus meinem Kasten Geld. Es liegen dort bei der Wäsche fünf Zehner, nimm zwei davon und bringe sie mir her.« So offenbarten sie einem wildfremden Menschen ihre ganze unverwahrte Kasse.

Ich erzähle dies nur, um Ihnen einen Begriff von 20 der schrankenlosen Aufrichtigkeit und dem selbstverständlichen Vertrauen zu geben, das sich vielleicht unter den Offizieren überhaupt, insonderheit aber in einem solchen weltverlorenen Winkel ohne weiteres einstellt. Dieser Stand ist vielleicht der einzige, der unter einem Ideal von Ritterlichkeit, männlichem Mut und treuherziger Unbekümmertheit erzogen, die Vorsicht und Wahrung des geheimsten persönlichen Lebens sogar der zufälligen Kameradschaft preisgibt. Gleichviel, ob einer solche Offenherzigkeit verdient und besonders sympathisch oder sogar fremdgeartet ist, zunächst besteht die Voraussetzung, als Gleicher unter Gleichen teile er das gemeinsame Schicksal und müsse selbstverständlich in alles eingeweiht sein, was alle angeht. Bei dieser fast als Pflicht angesehenen Vertraulichkeit entwickelt sich, während nach außen die strengste Absonderung der bevorzugten Kaste eifersüchtig gewahrt wird, nach innen notwendig eine gewisse Freiheit und Duldsamkeit. Je mehr vor der übrigen Welt die Würde des Standes beobachtet wird, desto bereitwilliger findet unter den Kameraden, eben um des Standes willen, mancherlei ungehöriges Geschehen Nachsicht. Eine oft genug materiell gedrückte Lage, der Zwang der Ehelosigkeit, der alle von Hause nicht mit 21 Glücksgütern Gesegneten zu einer gewissen Abenteuerlichkeit in Liebesangelegenheiten nötigt, das Bedürfnis nach Abwechslung in den eintönigen Dienstverhältnissen verursachen auf höchst natürliche Weise allerhand Seitensprünge ins Dunkle und Fragwürdige, zwingen zum Einschlagen mancher Wege, die jezuweilen ins Unerlaubte führen, aus denen aber Geschicklichkeit und Geistesgegenwart einerseits, Nachsicht und bereitwillige Hilfe andrerseits wieder meist zur rechten Zeit Ausgänge finden lassen, die zurückmünden in die gemeinsame Sphäre des Möglichen und Gerechten.

Die Geschichte, die ich hier erzählen will, gibt davon ein sprechendes Beispiel.

Ich hatte also meine Waffenübung ohne besondere Vorfälle nahezu abgeleistet und bereitete mich schon wieder mählich darauf vor, den schönen Waffenrock mit dem schäbigen Zivilgewand zu vertauschen. Bevor ich frei wurde, sollte noch eine große Übung das ganze Bataillon, das bisher in seine Kompagnien zerteilt gewesen war, vereinigen, wobei sowohl die Tüchtigkeit der Mannschaft auf eine letzte entscheidende Probe gestellt, als auch diejenigen Offiziere einer Art von Prüfung unterzogen werden sollten, welche für besonders befähigt galten, seinerzeit die Kriegsschule in Wien 22 besuchen zu dürfen, was nur einer geringen, streng gesiebten Auslese als das schönste Ziel des Ehrgeizes und ferneren Fortkommens vorgesetzt ist.

Bei dieser Übung nun sah ich zum ersten Male einen Oberleutnant, der bisher den Zusammenkünften der Offiziere ferngeblieben war, weshalb ich ihn nicht einmal dem Namen nach kannte, einen hochgewachsenen, schlanken Mann mit hellblondem Haar und Schnurrbart und einem scharfen, klaren, gescheiten Blick. Er saß nachlässig und gewandt auf dem Pferde und kommandierte das ganze Bataillon mit einer überraschenden Selbstverständlichkeit und Sicherheit, wobei er Bewegungen veranlaßte und Manöver ausführen ließ, die ungewöhnlich, Geist und Besonnenheit, unerwartetes Erdenken und zugleich zwingende Lösung von militärischen Schwierigkeiten verrieten und sich vom sonstigen Einerlei der Übungen vorteilhaft unterschieden.

Unwillkürlich zog er meine Aufmerksamkeit auf sich, so daß ich meinen Nachbar um ihn fragte. Das sei der Oberleutnant Roszkowski, hieß es, der von den übrigen Offizieren ziemlich zurückgezogen lebe, sehr sparsam und menschenscheu, vielleicht ein Sonderling, er habe seine Eltern in der Festung unten und fahre 23 jeden Tag nach dem Dienst zu Mittag auf dem Zweirad heim, um bei der Mutter zu essen. Darum hätte ich ihn auf der Messe niemals angetroffen und kennen gelernt.

Sowohl Anstand, als Neugierde geboten mir, nach der Übung mich ihm vorzustellen und zugleich auch von ihm zu verabschieden, da ich nun meine Entlassung aus dem Lager gewärtigen durfte. Die Truppe rückte verstaubt und ermüdet heim, der Oberleutnant an der Spitze. Er war vom Pferde abgestiegen, führte es am Zügel nach und ging, nicht eben stramm, sondern wie einer, der viel liest und schreibt, etwas vornübergebeugt seines Weges.

Ich eilte an der Seite der Züge entlang nach vorn, bis ich neben ihn kam, schlug die Hacken zusammen, grüßte, stellte mich vor und sagte, daß ich mich zugleich auch beurlaube.

Er reichte mir die Hand und meinte, es sei wohl für mich eine Erlösung, aus der dienstlichen Langeweile wieder in den gewohnten Beruf zurückzukehren, der mir jedenfalls mehr zu bieten habe. Seine ruhige Sprechart verriet deutlich, daß er sich mit den Dingen der Welt beschäftigt und vertraut gemacht hatte und darin mehr Bescheid wußte, als sonst einer seinesgleichen.

24 Er wünschte mir eine angenehme Reise und bedauerte, mich erst jetzt kennen gelernt zu haben. Nach einem freundlichen Händedruck, einer tiefen, förmlichen Verbeugung von meiner Seite, einer gelassenen und leichten von der seinen, schien die Unterredung beendigt, als er noch ganz zufällig die Frage hinwarf: »Was bist du in Zivil?«

»Eisenbahnbeamter!«

»Ei das interessiert mich! Ich reise nämlich viel und gern und studiere an dem Plane einer Orientwanderung, da könntest du mir vielleicht helfen.«

Ich dachte schon: »natürlich will er Freikarten haben« und rüstete mich zur Antwort, daß ich damit nichts zu tun habe, sondern beim Rechnungsdienst weder Gelegenheit noch Ansehen genug besitze, ihm hierin dienlich zu sein.

Er aber fragte mich nur, ob ich ihm etwa Fahrpläne auswärtiger Bahnen und Schiffahrtsgesellschaften verschaffen könnte, aus welchen er die geeignetsten, billigsten Routen und dergleichen entnehmen möchte. Das bejahte ich und gab ihm meine Wiener Adresse an, indem ich mich zu jeder Hilfe in dieser Hinsicht bereit erklärte.

Dies erweckte wieder offenbar in ihm den Gedanken, 25 ich würde ihm auch sonst teilnehmendes Verständnis entgegenbringen, und so begann er gleich zu berichten, daß er sein unstillbares Verlangen, die Welt kennen zu lernen, durch Eifer und Sparsamkeit halbwegs zu befriedigen vermöge. Freilich müsse die Reise wohlfeil sein, er wisse sich aber aufs beste einzurichten und derart von seinem Gehalte, der für alles aufzukommen habe, sich das jeweils nötige Geld zusammenzusparen. So gedenke er demnächst die Orientreise zu veranstalten. Wie hoch ich etwa die Kosten einer solchen Fahrt veranschlagen würde. Ich blickte ihn, ohne die Frage zu beantworten, neugierig an, worauf er die Summe von zweihundert Gulden nannte. Ich fragte: »Für den Monat?« Lächelnd erwiderte er: »Nein, für die ganze Dauer der Wanderung, ich denke für mindestens sechs Monate, alle erdenklichen Spesen inbegriffen.« Wie er das bewerkstelligen könne? Das sei gar nicht besonders schwierig, er lebe ohnedies am liebsten von Gemüse und Brot, wisse Freikarten und sonstige Benefizien zu erlangen, die angenehmsten Wohngelegenheiten und passendsten Fahrtanschlüsse an die reichlichen und interessanten Fußwege zu ermitteln und fühle sich nur bei der äußersten Zwanglosigkeit und Unabhängigkeit wohl. Als er nun meine 26 lebhaf teste Teilnahme und das neugierigste Erstaunen bemerkte, erzählte er weiter, eben im vergangenen Frühjahr habe er einen kleinen Ausflug nach München unternommen und dort alles gesehen, was nur irgend berühmt sei: alte und neue Pinakothek, die Antikensammlung, Theater, Ausstellungen, Kirchen, Bierhallen und so weiter und dabei nicht mehr als zehn Gulden in einem Monat für den Aufenthalt gebraucht.

Wo er denn logiert habe? Er antwortete: »In den Maximiliansanlagen.«

»Das ist ja das teuerste Viertel, ich kenne München,« sagte ich. »Wo, in welchem Hotel hast du genächtigt?«

»Hotel? In den Anlagen!«

»Ja wo denn, in welchem Hause?«

»In gar keinem Hause, auf den Bänken, es wäre doch zu schade gewesen, sich in die dumpfe Luft eines Zimmers einzusperren, bei diesen schönen, wolkenlosen, warmen Frühlingstagen. Alles hat geblüht und gerauscht. Der schöne Strom, die Vögel in den Büschen, die schattigen Bäume! Wenn ich mich erhob und die Sonne aufging, sah ich den großen Brunnen, den mit den weißen Götterpferden. Jedesmal, so oft ich vor ihn trat, hat er mein Herz ordentlich gestärkt. An 27 einem solchen Brunnen trinkt wirklich ein durstiger Mensch Mut und Zuversicht und Lust zu leben.«

»Wo hast du denn gespeist?«

»Man ißt ja so wunderbar gut und billig in München. Diese herrlichen Rettiche, das saftige Kraut, die weißen Würste, die frischen, eben erst angesäuerten Gurken vom Fasse, das wohlgeratene, schwarze Brot und das herrliche Bier überall! Für ein paar Pfennige speist man wie ein Fürst, wenn man sich nicht gerade einbildet, daß ein fürstlicher Magen anders, als ein gewöhnlicher Magen satt ist.«

Er habe auch von dieser Reise, wie von jeder, die ausführlichsten Tagebücher, Aufzeichnungen aller Art, Ansichten mitgebracht und gesammelt, vielleicht finde sich noch einmal Gelegenheit, mir alles zu zeigen. Unter diesem Gespräch waren wir unvermerkt vor das Lager gekommen, er sah auf die Uhr, es war zwölf, bestürzt erklärte er, nach Hause eilen zu müssen, um bei der Mutter das Essen nicht zu versäumen, nahm dabei freundlich, doch unvermittelt Abschied und ließ mich recht erstaunt und durch seine Mitteilung neugierig angeregt zurück. Mit einem stillen Bedauern, den merkwürdigen Mann nunmehr wahrscheinlich für immer aus den Augen zu verlieren, ging 28 ich zum letztenmal in die Offiziersmesse, verzehrte mein Mittagmahl in der Gesellschaft der übrigen, suchte dann mein Zimmer auf, packte meinen Koffer und war eben daran, wieder meine Uniform mit dem bürgerlichen Gewand zu vertauschen und als schäbiger Zivilist die letzten Stunden vor der Heimfahrt zu verbringen, als eine Ordonnanz eintrat und meldete, der Herr Oberleutnant Roszkowski lasse den Herrn Leutnant Dieter höflich um seinen Besuch bitten.

Ich ging denn augenblicklich hin und fand ihn in einem etwas größeren, doch häuslich eingerichteten, geweißten Zimmer, das ihm im ersten Stockwerk der Lagerwache angewiesen war.

Er ging mir freundlich entgegen und begrüßte mich wie einen alten Bekannten. Er habe mir – vor Tische unterbrochen – doch ausführlicher von seinen Fahrten berichten und namentlich seine Bilder und Aufzeichnungen vorlegen wollen, um für seine frühere Erzählung die sichtbaren Zeugnisse beizubringen. Damit ging er nach seinem Schreibtische und holte aus dessen Lade das Nötige hervor. Unterdessen blickte ich mich im Raume um, der recht vollgepfercht war; zwei hohe Schränke bedeckten die eine Wand. Obenauf lehnte eine Badewanne, gegenüber sah man das eiserne Cavalet, 29 worauf er schlief, sauber gebettet, ich stand in der Mitte des Zimmers vor einem wackeligen, braunen, mit Papieren bedeckten Tische. Davor prunkten zwei schadhafte, aber samtgepolsterte Stühle, auf deren einem ich mich niederließ.

Er brachte nun das Material herbei und begann es zu zeigen und zu erläutern. Einmal die Karten, welche den ganzen Weg vergegenwärtigten, auf äußerst sorgfältig und nettbeschriebenen Blättern waren die Routen aufgezeichnet, Bahn-, Post- und Fußwege geordnet und tage-, ja stundenweise angeführt, ein Diarium, das fast über jede Minute der Reise Rechenschaft ablegte, Zeichnungen der wichtigsten Gegenden, zunächst nach militärischen Gesichtspunkten angelegt, Terrain, Bewässerung, Kultur, Bevölkerung, aber auch bürgerliche Verhältnisse und politische Ordnung betreffend, Grundrisse der bemerkenswerten Gebäude, Verzeichnisse der interessantesten Objekte, ein Album dann mit Ansichtskarten, ferner Hotelrechnungen, die mich in Erstaunen setzten, da er doch angeblich keinen Gasthof aufsuchte. Auf meine Frage, warum und auf welche Weise er diese Zettel zustandegebracht, antwortete er, die beschaffe er sich von gelegentlichen Reisebekanntschaften, lese sie wohl auch von der Straße auf, um sich vor 30 seinen Standesgenossen hier im Lande gebührlich auszuweisen, denn er schulde der besseren Gesellschaft gewisse Rücksichten. Er müsse ihren Vorurteilen Rechnung tragen, um nicht als eine Art von Vagabund zu gelten. So wisse er immer auch von den Gepflogenheiten der üblichen Reisenden, kenne jedes Hotel in jedem Orte, die feinsten Speisen, die elegantesten Wirtschaften, die teuersten Preise, um sich auch diese immerhin wünschenswerte und unerläßliche Kunde von Land und Leuten zu verschaffen, aber auch um in den Salons seiner höheren Vorgesetzten und Gönner vorgeben zu können, sich überall aufgehalten zu haben, wo eben die Standesgenossen einzukehren pflegen. Dies erzählte er als so selbstverständlich, ohne daß auch nur das leiseste Lächeln entschuldigender Befangenheit über sein Gesicht gezogen wäre, daß auch ich jeden Gedanken an die sonderbare Lüge vergaß und von der Notwendigkeit gerade dieser Art zu reisen und zu täuschen ganz durchdrungen war. Ich habe im Leben oft genug bemerkt, wie ein sicherer und überzeugter, aber naiver Betrug, ein gelassener sittlicher Übergriff glattweg als gerecht, billig und selbstverständlich hingenommen wird und jedes Bedenken entwaffnet, solange die persönliche Kraft des Gegenüberstehenden den 31 Anwesenden einfach zwingt, alles so und nicht anders zu betrachten, wie es eben der andere tut und will. Ich glaube, daß auf diese Weise manche gefährliche Mitschuld, manche sträfliche Anteilnahme eines in ein ganzes Netz von bösen Unternehmungen geradezu zierlich verlockten Harmlosen begründet worden ist, bloß weil er eines schönen Tages ohne Arg einem sicheren Herrn gegenübersaß und sich was erzählen ließ.

Gerade als Roszkowski ein Album mit Ansichtskarten öffnen wollte, wurden draußen auf dem Gange Schritte schwerer Soldatenstiefel vernehmlich und plötzlich steckte eine Ordonnanz grinsend den Kopf ins Zimmer.

Roszkowski sagte: »Entschuldige!« legte das Album nieder, ging zur Tür und gab dem Soldaten, der noch nicht eingetreten war, sondern mit dem tschakobedeckten Schädel hereinsah, eine leichte, aber entschiedene Ohrfeige, worauf sich der Schädel rasch zurückzog und die Türe von außen sacht geschlossen wurde. Ohne weiter ein Wort zu verlieren, kehrte mein Gastfreund zu mir zurück, nahm das Buch wieder auf und wollte seine Erläuterungen fortsetzen, als er meine erstaunte Miene wahrnahm. Er sagte achselzuckend: »Hundertmal habe ich den Kerlen schon zugeredet, daß 32 es keine Art ist, so in ein Zimmer zu fallen, aber das Pack ist doch auf keine Weise zu einem menschenwürdigen Betragen zu erziehen.«

Wir begannen nun das Album durchzusehen. Nach ein paar Minuten klopfte es bescheiden an der Türe. Roszkowski rief: »Herein« und dieselbe Ordonnanz trat zugleich schüchtern, doch festen Schrittes vor den Offizier, stellte sich in Positur, erstattete die Meldung, überreichte den Befehl, der unterschrieben wurde, gewärtigte die durch ein Augenzwinkern ausgesprochene Entlassung, machte Kehrt und verließ das Zimmer.

Ich hatte etwa eine Stunde bei meinem neuen Freunde verweilt und dachte gar nicht ans Fortgehen, als er scheinbar unvermittelt aufstand, wie von einem plötzlichen Gedanken oder einem unsichtbaren Dritten gemahnt, das lebhafte Gespräch unterbrach: ich müsse wohl meine Vorbereitungen zur Rückreise treffen, er wolle mich nicht länger aufhalten, hoffe nunmehr eine Bekanntschaft angebahnt zu haben, die zu interessanten Mitteilungen und zu weiteren gemeinsamen Erlebnissen führen dürfte, er werde mir schreiben, sich anmelden, wohl über kurz oder lang auch nach Wien kommen und mich besuchen. Obgleich mein Zug erst spät abends abging, mochte ich doch einem so 33 entschiedenen Abschied keinen Widerstand entgegensetzen, wenngleich ich gerne noch mehr von ihm vernommen und ihn über manches ausgeholt hätte. So schüttelten wir einander die Hand und ich verließ ihn. Zur Zeit der nächsten Waffenübung, nach zwei Jahren war sicherlich mein Regiment anderswo, er zu einem neuen Dienst kommandiert oder auf Reisen. Kurz die Bekanntschaft mochte ein Abenteuer sein, dessen Beginn auch schon ein Abschluß ist und das man darum ohne Bedenken am angenehmsten würdigt und in Erinnerung behält.

Ich war längst wieder daheim im Getriebe meiner langweiligen Beamtenarbeit versunken und dachte gar nicht mehr an diese Begegnung, als ich unversehens eine Ansichtskarte aus Triest erhielt, worin mir der Oberleutnant Roszkowski mit herzlichstem Gruße meldete: »Steche soeben in See«. Schön! Er tritt also wirklich seine Orientreise an und läßt von sich hören! In der Tat bekam ich von da und dort, von Athen und Konstantinopel, von Smyrna und schließlich von Palästina Ansichtskarten. Ich muß sagen, nicht grade besonders geschmackvolle, wie denn auch seine damaligen Sammlungen ohne jedes künstlerische Interesse, gleichsam typisch, exakt, zuverlässig, aber ohne den leisesten Hauch eines Gefühles, mich wie Pflichterfüllungen 34 eines gewissenhaften Verstandes angemutet hatten. Auch die Worte, die jeweils auf den Karten standen, entbehrten völlig jeder Laune und Eingebung, die doch sonst selbst gewöhnliche Leute mit dem Rausch des Reisens und der Fremde befällt und in Feuer setzt. Vielmehr benützte er stets, wie das erstemal den Satz vom Indieseestechen, die abgebrauchtesten, seellosesten Phrasen, als ob er auch von der Sprache stets nur das Wohlfeilste in Anspruch nehme und sich schlecht und recht vom billigsten Worte ernähre, das eben die Einsicht gerade zu sättigen vermag, ohne sie zu erfreuen. Zugleich fiel mir auf, daß die Ansichtskarten meist unfrankiert eintrafen und ein beträchtliches Strafporto kosteten, so daß die arg kolorierten und gepfuschten Bilder, die Meldung: »Ich habe das gelobte Land betreten,« und die Kunde, der Oberleutnant Roszkowski befinde sich im Orient, mir eine Steuer auferlegten, die ich das erstemal seiner Vergeßlichkeit, später aber seinem Reisesystem zuschrieb, welches ja auf die Vermeidung jeder überflüssigen Ausgabe gegründet war.

Wieder nach manchen Monaten des Stillschweigens bekam ich – diesmal genügend frankiert – eine vierundzwanzig Seiten lange Nachricht. Er war nach C. 35 längst zurückgekehrt, berichtete ausführlicher von seiner Reise, teilte mit, daß er in Kürze nach Wien zur Kriegsschule kommandiert werde und erkundigte sich aufs einläßlichste nach den hiesigen Erziehungsanstalten für junge Mädchen, nach den niederen und mittleren Schulen, nach den Pensionaten, namentlich nach geistlichen, charitativen, wo Pfleglinge kostenlos oder doch halb umsonst aufgenommen würden, nach Freiplätzen, nach derartigen Handelsschulen, Fortbildungskursen, Näharbeitsstätten, Musiklehranstalten, Tanz- und Kochschulen. Ich nahm alle meine Kenntnisse zusammen und beantwortete diesen Brief höchst sorgfältig, legte ihm allerhand Drucksachen bei, die über seine Fragen, deren Grund mir freilich unbekannt war, Auskunft bieten konnten und sandte ihm ein dem seinen ebenbürtiges Schreiben.

Ich war nicht wenig erstaunt, als dieses nach drei Tagen zurückkam, die Adresse des Empfängers ausgestrichen, und mit dem Vermerk: »Wird nicht angenommen« versehen. Dem Umstande, daß ich Namen und Wohnung des Absenders auf der Rückseite des Umschlages angeschrieben, hatte ich es zu verdanken, daß mir der umfängliche, mit dem doppelten Porto für schwerere Sendungen aufgegebene Brief wieder 36 rückgestellt wurde. Verblüfft und erstaunt betrachtete ich ihn. Was mochte den wunderbaren Menschen veranlaßt haben, so genaue Mitteilungen zuerst zu erbitten und dann zu verschmähen? Unwillkürlich erbrach ich das Kuvert und siehe da, ich fand statt meinem Schreibens und der Beilagen vierundzwanzig eng besetzte Seiten von seiner Hand, eine ausführliche Antwort und neuerliche weitergehende Fragen. Ich begriff nun mit einiger Heiterkeit, daß er, um die überflüssige und hohe Beförderungsgebühr zu ersparen und sich die zugleich wohlfeilste und sicherste Zustellung des Briefes zu verschaffen, ihn mit sauberer Geschicklichkeit spoliiert, seines Inhaltes entleert, die Antwort eingelegt, das Ganze wieder hübsch verschlossen und als nicht angenommen der aufmerksamen Rücksendung anheimgegeben hatte.

Ich müßte kein Gassenbub und Schlingel gewesen, nicht von meinem Vater in allen notwendigen und praktischen Kenntnissen unterwiesen worden sein, um nicht zu wissen, wie man das macht.

Haben Sie davon eine Ahnung, lieber Doktor? Man braucht nur eine Stricknadel in die oberste Lücke der verschlossenen Rückseite eines Briefumschlages zu praktizieren, dann sacht den gummierten Rand entlang zu 37 führen, und selbst ein dickes Siegel, jedenfalls aber der eingetrocknete Klebeverschluß öffnet sich, ohne auch nur einzureißen, wenn man genügend langsam, vorsichtig und genau verfährt. Ich habe denn auch späterhin seinen ernstgemeinten Spaß erwidert, und etliche Mitteilungen machten auf diese Weise eine wohlfeile Hin- und Rückfahrt, wobei er es immer so einzurichten verstand, daß ich zuverlässig derjenige war, welcher schließlich mit dem Frankieren wieder beginnen mußte. Um einen Brief blieb er immer im Vorteil.

Eines Tages fand ich eine Postkarte, die mich für drei Uhr nachmittags, nach Schluß des Amtes, vor das naturhistorische Hofmuseum bestellte, wo er mich treffen wolle.

Pünktlich fand ich mich vor dem Maria-Theresiendenkmal ein, dessen Anlagen mit den kleinen Blumenbeeten im Vorfrühling eben in zartem erstem Grün standen.

An Wochentagen ist es dort, inmitten der Stadt doch ziemlich einsam, nur Liebespaare spazieren in ungestörtem Frieden.

Kaum hatte ich mich auf dem weiten Gartenplatze umgesehen, als mir auch schon mein Oberleutnant Roszkowski von der Rampe des Museums 38 entgegentrat, recht verändert, denn er ging in Zivilkleidung. Aber in welcher! Er trug einen gelbbraunen zerknitterten Überzieher von äußerst hergenommenem Ansehen und einem so zuverlässigen Schnitte, daß er zwar keineswegs jemals modern gewesen sein, aber sicherlich auch nie aus der Mode kommen konnte, schwarze Hosen, die offenbar einem bejahrten Salonanzug zugehörten, gelbe Schuhe und einen grünen Lodenhut, dem man ansah, wie er oft genug mit einem Griff zusammengeschlagen und in die Tasche gesteckt wurde, so recht, was man in unserer Mundart »ein geschwindes Hütel« nennt.

Nach der ersten Begrüßung fragte ich ihn, wohin er jetzt zu gehen gedenke.

In die Kaserne, wo er eine vorläufige Dienstwohnung eingeräumt erhalten habe.

Er bezeichnete mir eine gewisse Kaserne, die mitten in einem Geschäftsviertel gelegen, nur zum Teil von Soldaten und militärischen Schulen, zum andern von Geschäften und Mietparteien besetzt war. Schon wandte ich mich nach der angedeuteten Gegend, als er mich bat, einen Augenblick noch zu verweilen, er müsse erst seinen Schirm holen. Ich dachte, er hätte ihn in der Garderobe des Museums gelassen, aus dem er gekommen war. 39 Indes stieg er eilends in die sorgfältig umsäumten Rabatten des nächstgelegenen Gartenstückes bei einem der kleinen Rokokobrunnen über das gepflegte Rasenwinkelchen und zog zu meinem Erstaunen aus einem stattlichen Taxusgebüsch seinen alten Regenschirm hervor, trat, so gerüstet, in aller Ruhe über die Anlage den Rückweg an und ging nun mit mir in die Richtung seiner neuen Wohnung. Dabei erläuterte er mir, er sei nicht der Narr, einem kaiserlich königlichen Hofmuseum für die Aufbewahrung eines Regenschirmes ein Geldstück zu opfern; nur der grenzenlosen Dummheit und Geduld des Pöbels habe man es zu verdanken, daß eine Anstalt, welche der allgemeinen Bildung und Anschauung gewidmet sei, anstandslos eine so erniedrigende und überflüssige Summe ohne Widerspruch einhebe. Er sei nicht gesonnen, sich einem solchen Brauch zu fügen, zumal die hübsche Sitte, derartige Gebäude mit einer zierlichen Anlage zu umgeben, die beste Gelegenheit biete, in der freien Natur, die den Menschen von altersher den wirklich gastfreundlichen unentgeltlichen Schutz biete, auch eine sichere Aufbewahrungsstätte für solche unerläßliche Kleinigkeiten zu finden, die man in die Museumsräume nicht mitnehmen dürfe. Auf meinen Einwand, daß er sich bei 40 dieser Art von Garderobe doch der Gefahr aussetze, entweder von einem Wächter betreten, oder von einem Dieb bemerkt zu werden und entweder einen behördlichen Anstand, oder den Verlust seines Schirmes zu gewärtigen, erwiderte er trocken, von einem Polizisten lasse sich nur die Kanaille einschüchtern, er würde, obgleich ihm noch nie ein solcher Zwischenfall begegnet, nach ein paar Worten die Sache aufzuklären wissen. Was aber die Gauner betreffe, so fänden sie sich nur in Gegenden, wo ein starker Verkehr und reiche Leute sich bewegten. Hier aber seien doch nur harmlose Pärchen oder Menschen, die sich für Kunst und Wissenschaft interessieren, weil sie sich eben für den Mangel an Schätzen durch die Bereicherungen der Bildung entschädigen müßten. Auch sei seine Sitte eben bei der allgemeinen Blödigkeit in praktischen Dingen so unbekannt, daß wohl kein Halunke die Gebüsche nach Regenschirmen absuchen werde.

Beschämt unterdrückte ich jede weitere Widerrede, als er mir auf letzte schüchterne Frage, wie er sich im Winter bei den kahlen Bäumen und beim dichten Schnee behelfe, mit einem gewissen Hohn erklärte, daß eben der Schnee das noch viel bessere Verbergen des schmalen Schirmes ermögliche.

41 Auf dem Wege erzählte er dann, er sei zur Kriegsschule kommandiert und gedenke nun, sich in Wien für eine geraume Zeit häuslich niederzulassen, berichtete von seiner Reise, die er ganz seinem Plane gemäß durchgemacht habe und wobei er billiger gefahren, als er vermutet. Zu Schiff habe er sich nämlich einer organisierten Reisegesellschaft angeschlossen, die von einem besoldeten Cicerone geleitet, die gleiche Route einzuhalten beabsichtigte. Dieser Führer habe in Athen plötzlich inständig davor gewarnt, Konstantinopel aufzusuchen, weil dort unvermutete politische Wirren einen Aufenthalt gefährlich machten. Der Schurke strebte nämlich durch eine Abkürzung der Reise, sich seinen vorausbezahlten Lohn infolge der ersparten Zeit zu erhöhen. Schon seien alle mit langen Gesichtern bereit gewesen, auf die türkische Hauptstadt zu verzichten, als er, Roszkowski, auftrat, die Angaben des betrügerischen Reisemarschalls entkräftete, auf die internationalen Sicherheiten des Verkehrs hinwies, sich selbst zur Leitung der weiteren Fahrt erbötig machte und mit seiner Person für das volle und schadlose Gelingen bürgen zu wollen erklärte. Auf diese Weise brachte er die genaue Einhaltung des Planes zustande, beschwichtigte die Bedenken, warf sich zum neuen Leiter der 42 Gesellschaft auf und wurde einerseits vom betrügerischen Reisemarschall durch die Zahlung eines ansehnlichen Geldbetrages gewonnen, von weiteren feindseligen Schritten gegen ihn, der um seinen Lohn fürchten mußte, abzustehen, andererseits von den freundlichen und dankbaren Genossen in jeder Weise regaliert und freigehalten, wofür er dann durch seine genauen Erfahrungen den werktätigsten Dank erstattete, indem er das mangelhafte Wissen des Führers ergänzte und überall einsprang, wo dieser versagte. Hatte er doch die ganze Reise so genau vorher studiert, daß er jeden Winkel der fremden Gegenden, ohne sie vorher besehen zu haben, wie seine eigene Tasche kannte. So bot ihm die schöne Fahrt allen nur wünschenswerten Gewinn, ohne seinen Sparpfennig aufzuzehren.

Unter solchen Gesprächen waren wir in die Kaserne gekommen und suchten sein im dritten Stockwerke gelegenes Zimmer auf, das noch jeder Einrichtung entbehrte. Wie er mir mitteilte, war es nur eine vorläufige Unterkunft, da er auf eine größere und selbständige Wohnung Anrecht hatte, welche demnächst frei und ihm eingeräumt werden würde. In dem kahlen Gemach stand nur ein eisernes Bett mit einem Strohsack aus dem ärarischen Magazin, einem militärischen 43 Kotzen und einem unüberzogenen bunten Kissen, das er mitgebracht hatte.

Bei näherem Umsehen bemerkte er, daß außer seiner Eingangstür das Zimmer eine zweite hatte, die in einen Nebenraum führen mußte und verschlossen war. Er schüttelte verdrießlich den Kopf. Daneben sollte ein Hauptmann wohnen. Wie ärgerlich, hier nicht ganz ungestört zu sein!

Er versuchte die Türe zu öffnen, doch gab die Klinke nicht nach. So griff er denn in die Tasche und zog einen Coupéschlüssel hervor, der in einen Dietrich endigte. Solche Schlüssel werden meist von Handlungsreisenden benützt, um versperrte Waggonabteile zu öffnen und auch gegen den Willen der Schaffner und die Bahnvorschriften sich einen ungestörten Aufenthalt im Zuge zu sichern. Den Dietrich aber hatte er sich wohl für alle Fälle daranlöten lassen. Ohne weiteres steckte er ihn in das Schloß der versperrten Türe, öffnete sie unschwer mit einem erfahrenen Griff und einer leichten Drehung und betrat das Nebenzimmer.

Unwillkürlich folgte ich ihm. Dort saßen in einem sehr nachlässigen und leichten Kostüm zwei Dämchen, die beim unerwarteten Eintritt der Fremden aufschrieen und zu flüchten Miene machten. Mit der höflichsten 44 Verbeugung und einer Gebärde reuigster Zerknirschung wandte sich Roszkowski den Erschrockenen zu:

»Bitte tausendmal um Vergebung, meine Gnädigsten, ist der Herr Hauptmann nicht zu Hause?«

Eine der beiden Damen antwortete stammelnd, er sei ausgegangen und werde erst am Abend zurückkommen.

»Wie schade, ich wollte ihm eben meinen Antrittsbesuch machen und muß meine Absicht nun wohl verschieben. Ich bitte nochmals untertänigst, meine Kühnheit zu verzeihen und meine Huldigung Ihnen zu Füßen legen zu dürfen.«

Mit einer tadellosen Verbeugung, die ich weniger sicher nachahmte, ließ er diese Huldigung zu diesen Füßen liegen, zog sich in sein Zimmer zurück, ich folgte betreten, und von daneben vernahm man nunmehr ein befreites freundliches Kichern, wie einen Nachgenuß des ausgestandenen und in unerwartetes Wohlgefallen aufgelösten Schreckens.

»Um Gotteswillen, was stellst du an? Wie kann man denn in eine fremde Wohnung einbrechen? Was wird dieser Hauptmann von dir denken?«

»Ich werde ihm morgen den angekündigten Besuch abstatten, die Türe war natürlich unverschlossen, ich 45 beabsichtigte, mich ihm vorzustellen und die direkte Verbindung meiner Wohnung mit der seinigen zu benützen. Das ist doch selbstverständlich.«

»Aber, wenn die Frauenzimmer dich verraten! Du bist doch eingebrochen! Eine ist vielleicht seine Frau!«

»Er ist unverheiratet, das sind zwei Damen, die es, vielleicht weniger keusch als du, sicherlich bedauern, daß wir nicht weiter zu ihrer Unterhaltung beigetragen haben. Weiber verraten niemals einen mutigen Mann. Selbst wenn sie den Einbruch in ihrem Schrecken überhaupt bemerkt haben würden, was kaum zu vermuten ist. Und sollten die Elenden einen Einbruch meinerseits erdichten und dem Hauptmann erzählen, wem meinst du, möchte er glauben, einem Kameraden oder einem leichten Frauenzimmer? Es ist doch, glaube ich, wahrscheinlicher, daß ein Weib einem Mann einen Bären aufbindet, als daß ein Offizier bei einem anderen einbricht. Nicht wahr? Also! . . .«

Ich senkte überzeugt den Kopf und schwieg, behielt aber keine Zeit zu weiteren Überlegungen, denn er erklärte, nachdem er mir jetzt seine Wohnung gezeigt, müsse er zur Nordbahn gehen, wo er jemand zu erwarten habe, der Abends mit dem Personenzug eintreffe, er bitte mich, ihn dahin zu begleiten.

46 Auch dazu war ich bereit und schloß mich ihm an. Auf dem langen Weg begann er mit einer Art von Entschuldigung. Er habe mein Erstaunen über seine Weise zu leben und zu handeln wahrgenommen, wüßte ich, was es alles in der Welt gäbe, und was an merkwürdigen und höchst unwahrscheinlichen Ereignissen gerade in seiner Sphäre sich zutrage, so würde ich ihn vielleicht anders, und wenn er sich nicht durchaus in mir täusche, besser verstehen und beurteilen. So wolle er mir denn im Vertrauen von einem Kameraden erzählen, und was dieser in ein paar raschen Jahren erlebt habe, genug, um das Dasein manches Menschen bis zum Rande zu erfüllen. Was er mir nun berichtete, brachte er mit der größten Gelassenheit als ein fremdes Schicksal vor, so daß ich im Verlauf der ganzen Geschichte bis zum Schlusse nicht einen Augenblick vermuten konnte, daß es die seinige sei. Der Inhalt war folgender.

Vor etlichen Jahren war er in einem westlicheren Orte Galiziens, unweit von Krakau garnisoniert, in einem kleinen, schmutzigen Neste, außer von Soldaten fast nur von den ärmlichsten Juden bewohnt. Eine Wein- und Spirituosenschänke gab den einzigen Versammlungs- und Unterhaltungsort für die Offiziere 47 ab. Obgleich selber kein Trinker, wurde er einmal durch einen Kameraden zum Besuche dieses Lokals verleitet, weil dort ein kleines Judenmädel die größte Anziehung ausübte. Da er von ihr soviel gehört, reizte es ihn immerhin, das wunderliche Tierchen kennen zu lernen. In der Tat war es ein eigentümliches Geschöpf, das hinter dem Schanktische zugleich lebhaft, heiter, laut und ungebärdig, aber selbstsicher, bedacht und im Gehaben sogar mit einer gewissen natürlichen Vornehmheit sich bewegte. Lea war erst dreizehnjährig, aber von der häufigen südlichen Frühreife der Jüdinnen und daher, wenn auch keineswegs voll entwickelt, sondern von noch kindlichem Körperbau, doch wissenden Blickes und von verlockendem Wesen. Um ihren braunen Kopf baumelten zwei starke, glänzende, schwarze Zöpfe und ihr Gesicht, jugendlich gerundet, zeigte einen breiten Mund mit den weißesten Zähnen. In der Garnison spielte diese Kleine bei dem fühlbaren Mangel annehmbarer Weiblichkeit eine wichtige Rolle und zog die ausgehungerten armen Offiziere mächtig an, die mit dem größten Ernst und Eifer um sie warben und sich nicht im geringsten ein Gewissen daraus gemacht hätten, sie sich anzueignen und die herbe Frucht vor ihrem Tag zu genießen. Aber die 48 kleine Lea, die neben einer zeitig gealterten Mutter als Dienstbote hier beschäftigt war, hütete sich sehr wohl und wußte zwar auf alle Späße einzugehen, aber sich des zudringlicheren Ernstes eben wie ein sicheres Kind zu erwehren, so daß ihr niemand nahe kam. Gar mancher bot ihr einen kleinen Ring, ein goldenes Herzchen, eine Schmuckkette oder ein seidenes Tüchlein an, um sich in ihre besondere Gunst zu setzen. Sie aber wies derlei Geschenke stets zurück, um sich nicht irgendwie zu verpflichten.

Roszkowski erfuhr ihre ärmliche Lage und damit auch bald die Ursache ihrer frühen Erfahrung und Zurückhaltung. Sie hieß, ja, sie hieß eigentlich gar nicht, denn sie hatte ihren Namen Lea Weinrausch nicht von Rechts wegen und vor der staatlichen Behörde hätte sie das in Galizien übliche »recte Hopfen« hinzufügen müssen. Sie war nämlich in einer sogenannten Judenehe der Hinde Hopfen und des Leiser Weinrausch, eines jungen Handelsmannes, geboren worden.

In diesem Lande sind solche lediglich religiöse Ehen üblich und die schwierigere staatliche Form nicht einmal besonders geachtet, die Kinder dieser geistlichen Bündnisse werden von den Vätern anerkannt und führen unter ihresgleichen auch den Vaternamen, daß 49 sie von den Behörden als unehelich behandelt und nach der Familie der Mutter registriert werden, ficht sie nicht weiter an bei dem allgemeinen Übelwollen und der stetigen Absonderung, die sie ohnedies von der sonstigen staatlichen Gemeinschaft fernhält. So bekannte sie sich vor ihrer Welt keineswegs zu dem Mutternamen »Hopfen«, der ihr eigentlich gebührt hätte. Ihre beiden Eltern hatten sich durch ein kleines Schnittwarengeschäft mit zwei Kindern, einer älteren Schwester und ihr, mühselig fortgebracht und einiges Geld zurückgelegt, als die erste Tochter, zu einem sehr schönen, üppigen Mädchen gediehen, mit sechzehn Jahren sich in einen Leutnant verliebte und von diesem verführt, unter Mitnahme der elterlichen Kostbarkeiten, alles Barvorrates, Silberzeuges und Schmuckes, ja sogar mit der eigentümlichen Kühnheit und Verachtung des Herkommens, wozu ein leidenschaftlich verliebtes Weib immer neigt, sogar etlicher goldener Tempelleuchter, welche ihr Vater verwahrte, das Weite suchte. Gänzlich verarmt begannen die schwergeprüften Eltern nun von neuem den mühseligsten Erwerb und konnten sich von dem argen moralischen und materiellen Schlag nicht mehr erholen, so daß, als zwei Jahre nachher, Leiser Weinrausch, der Vater, eines plötzlichen Todes 50 starb, seine Frau, Hinde Hopfen sich mit ihrer übriggebliebenen jüngeren Tochter bei dem Wein- und Schnapswirt, einem entfernt Verwandten, als Magd verdingen und ihrem Lebensunterhalt in dem gleichen, dem verfluchten und mit Schande bedeckten älteren Kinde so verhängnisvollen Ort nachgehen mußte.

Dieses Beispiel der Schwester stand nun der kleinen Lea warnend im Gedächtnis und sie hütete daher ihr schmales Leben vor den schonungslosen Offizieren wie vor den schönen bösen Engeln des Herrn. Aber wie es dieser dunkle Gott der Rache und Liebe eben will, sollte sie mit offenen Augen in das gleiche Schicksal eingehen.

Roszkowski beobachtete das Naturkind in seinem anmutigen unwillkürlichen und wieder klug vorsichtigen Gebahren und faßte zu ihm eine wahrhaft väterliche Neigung; er ließ sich von der armen, vergrämten und fast um ihr bißchen Verstand gebrachten Mutter des Geschöpfchens in ihrem jüdisch-polnischen Kauderwelsch ihr Unglück immer wieder geduldig erzählen und trieb mit dem Kinde selbst den harmlosesten Scherz, suchte aber auch auf dessen Verstand einzuwirken, es im Spiele über die einfachsten Dinge zu unterrichten, lehrte es mit der Wirtskreide die Ziffern schreiben. 51 Bisher hatte sich Lea nämlich damit beholfen, jedes Gläschen Kontuszowka oder Jerzebinka, das sie verabreichte, mit einem weißen Striche zu vermerken und die Zeichen schließlich zusammenzuzählen, worauf die Mutter die schuldige Geldsumme berechnete.

Nun aber lernte Lea mit den Ziffern auch im Spiel die Rechnungsarten und erfreute sich der hierdurch erworbenen größeren Verantwortung. Die Mutter, die ihr nur zur Not die hebräischen Schriftzeichen hätte vermitteln können, sah es gerne, daß der brave Oberleutnant auf der Tischplatte dem Kinde mit seiner guten Hand das lateinische Alphabet vorschrieb und schließlich die Fibel mitbrachte, aus welcher er selbst die Anfangsgründe des Wissens erworben hatte. Während die anderen Offiziere in dem rauchigen, von einer übelriechenden Petroleumlampe dürftig beleuchteten Schankzimmer mit lautem Lachen und zweifelhaften Reden lärmend bei ihren Schnaps- und Weingläsern standen, beugte sich Roszkowski über den Ladentisch und benützte jede kleinste Pause in der Bedienung der Gäste, die kindliche Kellnerin zu unterrichten, die bei ihm der angeborenen lauernden Furcht vergaß, weil er der einzige war, der von ihr nichts verlangte, sondern gab. Seine Sparsamkeit nützte ihm hier, da er nicht 52 wie die anderen, leicht angeheiterten kühn wurde und sich Unverschämtheiten erlaubte, sondern nüchtern und völlig kalt, eine wunderliche Unterrichtsstunde wie ein Lehrer abhielt, ohne sich durch die Spottreden der übrigen irre machen zu lassen. Antwortete die Schülerin aufmerksam und klug, so zog er zur Belohnung eine Pomeranze aus der Tasche, welches Geschenk dem Sparsamen keine großen Unkosten auferlegte, aber für das ärmste Kind in dem nördlichen Lande eine wunderbare Gabe des Südens bedeutete, die auch getrost angenommen werden durfte. Streichelte er aber dem arglosen Tierlein den glatten Scheitel, so beugte sie willig den runden Kopf und ließ diese seltene Liebkosung gerne über sich ergehen, da sie niemand auf der Welt hatte, der sonst mit ihr so achtsam gewesen wäre, denn die vergrämte und des Verstandes schier beraubte Mutter redete mit ihr in dem schändlichen Judenkauderwelsch nur das Notwendigste, der Wirt konnte bloß schelten, die Gäste bloß zudringlich sein, und so gewöhnte sie sich an den einzigen, klaren, kalten, doch gütigen Gast wie ein gehetztes, getretenes und verkümmertes Hündchen an einen ruhigen Herrn, dem es auf einen Wink folgt und riefe er es in den Tod.

Dieses harmlose Leben ging in sanfter 53 Einförmigkeit etliche Monate hin, bis der Oberleutnant plötzlich nach der Festung C. versetzt wurde, wohin er sich schon lange gewünscht hatte, weil dort seine Eltern zu Hause waren, kleine Landleute, die durch unglaubliche Sparsamkeit und Zähigkeit ein bescheidenes Gütchen erwirtschaftet und dem Sohne unter großen Entbehrungen zu seinem Stande verholfen hatten.

Als Lea davon erfuhr, daß ihr Lehrer fortgehen sollte, brach sie in bitterliches Weinen aus und konnte sich gar nicht beschwichtigen. Ihr war, als ob der erste, kaum erblickte hellere Schein des Daseins nun für immer und so bald mit dem ernsten Mann entschwinde. Vergeblich suchte er die haltlos Jammernde, inmitten der belustigten Gäste vom Schmerz Geschüttelte zu beruhigen, indem er versicherte, er werde bald wiederkommen, vergeblich schmähte die Mutter, schrie der Schankwirt auf das bebende Geschöpf ein, das in seiner ratlosen Qual sich der Länge nach über den Tisch geworfen hatte, so daß die glänzenden schwarzen Haare in den riechenden Weinlachen lagen.

Dem Oberleutnant blieb nichts übrig, als ohne Gruß zu verschwinden, während alle um die Kleine bemüht waren. Als er spät abends in seinem Zimmer den Koffer packte und seine Habseligkeiten zusammensuchte, 54 hörte er plötzlich ein leises Pochen an der Tür, öffnete und sah Lea vor sich, barfuß, im bloßen Hemd, es war Winter, draußen eine mörderische Kälte. Nachdem er die Stube verlassen hatte, war sie scheinbar ruhig auf das Zureden der übrigen eingegangen, so daß man sie schließlich getröstet und zur Vernunft gebracht zu haben glaubte. Als das Lokal geschlossen wurde, war sie mit der Mutter in den Verschlag gekrochen, wo beide in einem Lager schliefen. Und während die Frau von der Tagesarbeit sterbensmüde, nach ein paar Minuten in den schwersten Schlummer gefallen, blieb sie wach und beschloß, ihn um jeden Preis aufzusuchen. Da sie fürchtete, die Mutter aufzuwecken, wenn sie ihre Kleider im Dunkel zusammengeklaubt und angezogen hätte, stieg sie, wie sie war, leicht über den Leib der Mutter, gewann den Hof und rannte zur gegenüberliegenden Kaserne. Wie sie nun dort an der Wache vorbei, durch die langen Gänge und an sein Zimmer gekommen, blieb freilich ein Rätsel. In der Kaserne kannte sie sich wohl wie jedes Kind im Orte aus, da sie manches Mal etwa ein Glas Wein auf eine Stube hatte bringen müssen, und daß sie schließlich die Lage gerade seiner Wohnung wußte, mochte auch noch erklärlich sein, daß aber in dem von 55 mehreren hundert Menschen bewohnten, notwendig und pflichtgemäß bewachten Hause, wo doch selbst bei Nacht das Leben keineswegs völlig entschlummerte, niemand das weiße durchschlüpfende Wesen bemerkt, angerufen, festgehalten und zurückgebracht hatte, blieb eben nur durch den unbeirrbaren Drang eines Schicksals zu erklären, das den Willen eines Menschen gegen alle Bedenken der Wirklichkeit und Möglichkeit durch alle Hemmnisse hindurchführt. Der erstaunte Oberleutnant ließ die Kleine sofort ein, hüllte sie in seinen Mantel, bedeckte ihre nackten Füße mit einem Kotzen und überlegte, was nun zu tun sei. Zunächst schien ihm das Beste, sie sogleich nach Hause zurückzubringen, ihre Leute aus dem Schlaf zu wecken, das Vorgefallene zu berichten und den Flüchtling der besseren Bewachung zu übergeben. Aber dies war grausam, ja undankbar und zugleich auch nicht ungefährlich. Bei den lebhaften Nachstellungen, denen die Kleine ausgesetzt, mußte man nur allzuleicht vermuten, daß er durch seine berechnende Güte sie geschickter, als die übrigen angelockt und schließlich zu diesem Schritte verführt, einerlei ob er ihn ausdrücklich mit ihr verabredet, oder ihn schließlich, wenn auch überrascht, so doch dankbar begrüßt habe. Auf jeden Fall hatte sie ihn 56 zu nachtschlafender Zeit in seinem Zimmer besucht. Wer von all den in den schlimmsten Zuständen der schlimmsten Handlungen sowohl fähigen, als gewärtigen Menschen im Ort würde ihn gerade für gewissenhaft genug halten, eine so wunderbar sich selbst anbietende Stunde nicht auszunützen, ein so begehrtes Geschöpf ohne weiteres abzuweisen. Unbedingt würde jeder vermuten, er habe die Gelegenheit wahrgenommen und sein Opfer dann der doppelten Schande überlassen, sich zuerst preisgegeben zu haben und hernach in das alte Elend zurückgestoßen zu finden. Und dann gnade Gott dem unschuldigen kleinen Wesen! Kein Zweifel, daß binnen kürzestem ein anderer, minder besonnen als er, doppelt frech und skrupellos nachholen werde, was er versäumt, und das ratlose Kind in seinen unwissenden, doch reinen Hoffnungen verraten, nunmehr umso rettungsloser in das volle Verderben stürzen müßte.

Alle diese Gedanken kämpften in ihm, als er die Kleine, in seinem großen Mantel noch von der ausgestandenen Kälte und Angst bebend, unter Tränen doch glücklich zu ihm emporlächeln sah. Er fragte sie, was sie denn nun von ihm wolle und was sie eigentlich bei dieser tollen Flucht gedacht. Ja, hätte sie das nur selbst gewußt! Sie wollte ihn eben sehen, nicht 57 verlieren, wieder bei ihm sein! Als er ihr nun zu erklären versuchte, sie müsse wohl oder übel wieder zurück, zeigte sie eine so angstvolle Verzweiflung, begann so laut aufzuschluchzen, daß er diese Zumutung aufgab. Durch die Anhänglichkeit des Kindes mehr, als er sich selbst eingestand, ergriffen, gewöhnte er sich allmählich an den abenteuerlichen Einfall, es bei sich zu behalten, ohne die schwierigen Folgen besonders zu bedenken. Die Polen sind ein Volk der Abenteuer und fühlen sich in ungewohnten Begebenheiten, Verkleidungen, Verwicklungen erst so recht wohl, bildet doch ihre ganze Geschichte eine Verkettung solcher romantischer Wirrungen. Schon die Phantasie ihrer Kinder ist an derartige Zustände und Sitten so gewöhnt, daß sie selbst in irgendeine ähnliche Lage gebracht, darin gar nichts besonderes erblicken und gerade im Abenteuer als in dem natürlichsten Zustand weiter leben und spielen und sich darin gefallen. Nur so konnte eine sonst kühle, ja berechnende, engherzige und genaue Natur, wie die meines Oberleutnants, sich in dieses waghalsige Unternehmen einlassen, das ihn mit Fährlichkeiten aller Art, mit einer von Stunde zu Stunde verstärkten Last und Verantwortung und am Ende mit Geldopfern bedrohte, die ihm sicherlich 58 am schwersten fielen. Aber ein hilfloses weibliches Geschöpf, das sich in der bittersten Not mit solchem Vertrauen an ihn gewendet, zu verraten und zu enttäuschen und sich feige zu entziehen, wäre ihm schändlich erschienen. Zudem hätte es seinen romantischen Vorstellungen von Ritterlichkeit, die er bei seiner sonstigen Nüchternheit doch wahrte, allzu böse widersprochen. Kein Mensch beleidigt so leicht die eigene Eitelkeit. Er beruhigte Lea und überlegte, was er tun sollte. Als er einen Plan zurecht gedacht hatte, fragte er Lea, ob sie wirklich mit ihm gehen wolle. Sie bejahte entschieden und freudig. Ob sie ihm von nun an wie einem Vater zu gehorchen und in allen Stücken zu folgen bereit sei, denn die ungewöhnliche Lage werde die verschiedensten Schwierigkeiten mit sich bringen, die er, wie sie sich wohl vorstellen dürfte, im Augenblick nicht im geringsten voraussehen könne. Alles wolle sie tun, was er gebiete und für richtig halte, nur möchte er sie bei sich lassen und nicht in ihr Unglück zurückstoßen. Er erwog nun, daß er jedenfalls vor Tagesanbruch, ehe Leas Verschwinden bemerkt und ruchbar worden, mit ihr fort müsse. Wie sollte er aber die Halbnackte aus der Kaserne nach der Eisenbahn schaffen? Er hatte keine weiblichen Kleidungsstücke für sie. Doch fand 59 er Rat. Sein Bursche, ein unendlich gutmütiger, dummpfiffiger, aber unbedingt ergebener ruthenischer Bauer, sollte ihn nach dem neuen Ort begleiten. Bald war die Zeit des Aufbruches gekommen. Er rief also den Diener, der das weiße Kind mitten in der Stube sitzen sah, aber nach einem kurzen Blick die ernsteste Miene der schuldlosen Unwissenheit zeigte. Der Oberleutnant machte ihm ein strenges Zeichen des Schweigens. Antipas grinste voll Demut, legte beteuernd die Hand aufs Herz und erwartete die weiteren Befehle. Der Offizier hatte seine Habseligkeiten bald gepackt. Antipas brachte sein eigenes Kofferchen, den Tornister, das Gewehr, den Brotsack und den eingerollten Mantel mit. Da breitete Roszkowski einen Kotzen, darüber ein Leintuch auf den Boden und hieß Lea sich darauf legen, wobei sie sich so gut es ging, zusammenkauern mußte. Klein, beweglich und gelenkig, wie sie war, wußte sie sich wirklich zu einem armseligen Häuflein zusammenzurollen, er schlug den Kotzen um sie, so daß nirgends ein menschliches Wesen aus dem Bündel hervorsah, verschnürte den Pack mit einem Stricke, trug Sorge, daß das Kind Luft fand und lud dem wartenden Antipas die Last auf die Schultern, während er selbst sowohl sein eigenes 60 Gepäck, als seines Dieners Holzkofferchen, Gewehr, Tornister, Brotsack und Mantel an sich nahm.

So verließen sie die nächtliche Kaserne an der Torwache vorbei und wanderten zum Bahnhof, wo sie bald in den Zug einstiegen, der gegen Osten fuhr. Dem Offizier wurde selbstverständlich ein Coupé angewiesen. Dort schloß er sich mit seinem leblosen und lebenden Gepäck ein, zog die Vorhänge zu und war in Sicherheit.

In C. angelangt, brachte er seine Schutzbefohlene auf die gleiche Weise nach seinem Zimmer draußen im Lager vor der Festung. Er hatte erwartet, daß die Mutter und die übrigen Anverwandten des Mädchens irgendwie nach dessen Verbleib forschen und etwa Verdacht gegen ihn erwecken würden, obgleich es ihm nicht schwer gefallen wäre, jedes Mißtrauen zu zerstreuen. Nichts dergleichen geschah, sei es, daß man die Ärmste ohne weiteres für verloren ansah und darauf gefaßt war, sie habe sich ein Leid angetan, sei es, daß man eine solche Flucht zwar vermutete, aber zugleich aus Furcht vor dem hohen Militär, bei der hilflosen Rechtsunsicherheit der Juden und aus Abscheu vor der Abtrünnigen keinen Schritt in der Sache unternahm. Kurz, niemand machte ihm seinen fragwürdigen Besitz streitig.

61 Hier im Orte fiel es ihm freilich überaus schwer, das Kind unbemerkt und ungefährdet zu verwahren. Seine Eltern lebten in der Festung; ohne sich der peinlichsten Nachfrage auszusetzen und seine ganze Zukunft zu gefährden, konnte er die Kleine unmöglich bei Fremden unterbringen, denn er hätte in diesem Falle sich irgendwie zu ihr bekennen müssen. Er richtete sich daher mit des getreuen Antipas Hilfe in seinem Zimmer so ein, daß Lea bei ihm wohnte. Bei Tag konnte sie sich, allerdings nur mit größter Vorsicht in dem geschlossenen Raume umherbewegen, er hatte ihr alte Kleider seiner Mutter gebracht, dann bessere im Ort gekauft und unter ihrer Mitarbeit eigenhändig zurechtgepaßt. Seine Menschenscheu galt in der Festung als sprichwörtlich, wodurch er jeden Unberufenen von einem Besuche auf seinem Zimmer fernzuhalten verstand, kam aber doch jemand, so mußte Lea rasch in einen Kasten schlüpfen und warten, bis die Luft wieder rein war. Manches Mal wurde freilich unerwartet die Tür geöffnet. Aber in der gefaßten Geistesgegenwart, die sich bei so ungewöhnlichen Lebensverhältnissen leichter, als man glaubt, bewährt, wußte er stets dem Eindringling so gegenüberzutreten, daß die Kleine eben noch Zeit fand, unter das Bett zu kriechen oder sich 62 sonstwie zu verbergen, waren doch die Möbel des Zimmers schon so aufgestellt, daß sie eine solche Zuflucht boten. Nahrung brachte er von zu Hause mit, wo ihm die sorgliche Mutter immer ein Restchen Fleisch, Kuchen und dergleichen als Zwischenmahlzeit für den Dienst mitgab, gelegentlich kaufte er dem Antipas dessen Menage um fünf Kreuzer ab, wobei dieser noch einen kleinen Gewinn hatte. Jede verfügbare Stunde benützte er zu Leas Unterricht und erfreute sich der bedeutenden Fortschritte des Kindes, das nach kurzer Zeit polnisch lesen und deutsch sprechen und, freilich nicht eben ohne Fehler, auch in beiden Sprachen schreiben konnte.

Abends aber, wenn es dunkelte, brachte er sie auf einem stillen abseitigen Weg längs des Zaunes zu dem versperrten rückwärtigen, bei Nacht unbewachten Lagereingang, öffnete ihn mit einem Nachschlüssel und ließ das nach Luft und Bewegung verlangende Kind in den Wald entspringen, wo es sich wie ein Tier in der Freiheit für eine Stunde ergötzte, um sich nach Ablauf der vergönnten Zeit gehorsam wieder vor dem Tore einzufinden. Dort wartete Roszkowski längst schon auf sie, die leise pochte, er tat ihr auf, und wie sie gekommen waren, schlichen sie vorsichtig und ängstlich 63 durch das schlafende Lager nach seinem Zimmer. Hierbei war es ein Glück, daß die Stiege zu den Wohnräumen der Offiziere von dem Aufgange, der von der Lagerwache nach den Arrestlokalen, der Messe, den Dienststuben führte, getrennt und abseits lag. Um diese Zeit waren die Kameraden, welche in den anstoßenden Ubikationen hausten, längst noch beim Kartenspiel und Abendtrunk. Antipas hatte Befehl, ihn am Fußende der Treppe zu erwarten. Kam er mit Lea zurück, so ging der Bursche voraus, und forschte, ob niemand in der Nähe war. Erst wenn er leise, die Finger zwischen den Lippen, pfiff, getrauten sich beide hinauf und schlüpften gerettet in das Zimmer.

Nun war mir freilich die Strenge begreiflich, mit welcher Oberleutnant Roszkowski auf einem höflichen Anklopfen der wachhabenden Ordonnanz bestand, und warum er so sehr um das gute Benehmen der sich anmeldenden Mannschaft Sorge trug.

In dieser Weise lebten die beiden täglich unter dem Schwert des Schicksals, täglich in gleicher Gefahr der Entdeckung, vor aller Welt verborgen, aller Welt entfremdet, doch verhältnismäßig heiter und sogar getrost ein gutes halbes Jahr, wie Geschwister, oder wie Vater und Kind dahin.

64 Als ich den wunderlichen Oberleutnant besuchte, war Lea ohne Zweifel im Kasten untergebracht gewesen und hatte unser ganzes Gespräch belauscht, das nur ihretwegen so unvermittelt abgebrochen worden war, damit sie nicht allzulange in diesem engsten Gefängnis zubringen müßte und am Ende sich irgendwie verrate. Aber zwei junge, lebenskräftige und willige Geschöpfe in so unmittelbarer Nähe und durch ein abenteuerliches Schicksal schier untrennbar aneinandergefügt, müßten aller lebhaften Pulse der Natur entbehren, sollte in einer solchen Gemeinschaft nicht deren Blut und Herzschlag fühlbar und der Ruf der ohnedies in tausend anderen Beziehungen umerdrückten Instinkte laut werden.

Täglich saßen sie stundenlang beisammen, oft genug, wenn er fürchten mußte, jemand zu begegnen, trug er sie wie bei ihrer Flucht, in einem Bündel auf den Schultern nach dem einsamen Tor, um sie in den Wald entspringen zu lassen, jeden Abend entkleidete sich Lea vor ihm und schwatzte dabei flüsternd, halb kindlich, halb weiblich von allen großen und kleinen Geheimnissen ihrer Existenz. Ihr zuliebe hatte er Nadel und Zwirn und Schere handhaben gelernt und richtete ihr die Kleider zurecht, die er ihrem Leibe anpaßte. 65 Die unvermeidliche Nähe entfernte jede Scheu, der kühne Entschluß Leas, sich ihm völlig anzuvertrauen und der seine, sie bei sich zu behalten, hätten eine überbehutsame Scham lächerlich und auch unmöglich gemacht. Aufeinander angewiesen, kannten sie voreinander kein Geheimnis und den ernsten, in harter Arbeit und selbstauferlegter Entbehrung aufgewachsenen jungen Mann überfiel, ohne daß er sich davon Rechenschaft gab, allmählich und unmerklich der wirkende Zauber des anderen Geschlechtes, indem er die Luft mit diesem frühreifen, starkrassigen Wesen teilte, dessen kleinen, braunen, beweglichen und vor ihm oft genug unbekümmert entfalteten Körper täglich vor Augen hatte, und indem er sie gar manches Mal wie ein Kind auf den Schoß nahm und fütterte.

Erst wies er die wachsende Lust, Lea anders als eine Tochter anzusehen, mit Empörung zurück, wie ein Verbrechen gegen das Vertrauen, das sie ihm geschenkt und gegen den eigenen Vorsatz, den er sich zur Pflicht gemacht, dann schien ihm dieses nach der Lage der Dinge doch durchaus ungewöhnliche, ja unbegreifliche Verhältnis fast komisch und überspannt, oft genug fragte er sich in ruhelosen Nächten, wenn er den Atem der Schlafenden von dem Lager, das zu Füßen seines 66 Bettes für sie aufgeschlagen war, ruhig gehen hörte, warum er sich quäle, da dieses Geschöpf ihm doch so ganz gehöre, daß es vielleicht ersehne und verschweige, was er als sein Recht zu nehmen zögere, fragte sich, ob er denn die Kleine eigentlich liebe und wußte darauf ebensowenig eine entscheidende Antwort, wie auf so viele Bedenken, die sein merkwürdiges Dasein ihm entgegenhielt. Jedenfalls schlief zu seinen Füßen ein Wesen, das ihm anders erschien, als einem Vater das Kind, anders als einem Mann das Weib und doch durch eine wunderbare Schickung so völlig in sein innerstes Wesen eingedrungen war, als sei sie Blut von seinem Blute, Seele von seiner Seele, ein Stück seiner selbst, das jede Bewegung, jedes Wort und Lächeln, jeden Atemzug von ihm empfange und zugleich wieder ihm fremd und fern als ein unbegreifliches Stück Leben reizend ausstrahle. War sie frühreif und durch Beobachtung oder Mitteilung, oder kraft der unwillkürlich wissenden Natur des weiblichen Geschlechtes vielleicht selbst in Zweifeln und Erwartung? Freilich verriet ihr Lächeln und ihre kindlich unschuldige Liebkosung nicht im mindesten anderes, als die Gefühle des unverdorbenen, zwanglosen Alters, aber vielleicht regte sich auch in ihr der dunkle Trieb, wie 67 in ihm, doch sicherlich ohne seine Qual, ohne die Bedrückung auferlegter Pflichten und Zweifel. Sie nahm, was war und was kommen konnte, getrost hin, wie eben ein unbekümmertes Naturwesen den wachsenden Tag, die stärker brennende Sonne, das stille Sichaufschließen der leiblichen Organe. Einen Willen zu haben und eben an der Freiheit der Entscheidung zu leiden, bleibt das Schicksal des Mannes, das Opfer der innersten Bestimmung zu sein und sich selbstverständlich und ohne Angst darein zu ergeben, ist dem Weibe gemäß. Darum konnte das zierliche Ding so getrost auf dem Boden zu seinen Füßen schlummern, während er wach sich mit seinen Wünschen quälte.

Dieser Zustand von Sorge, Mißmut, Zweifel, Unsicherheit und Angst, der die Gegenwart vergällte und die Zukunft verdunkelte, machte ihn betrübt, launenhaft und reizbar, so daß er Lea gegenüber nicht das gewohnte Gleichmaß gütiger Heiterkeit und Duldsamkeit einzuhalten vermochte, woran er sie gewöhnt hatte. Aus kleinen Anlässen schalt er sie über Gebühr, um sie ebenso unvermittelt wieder mit heißer Freundlichkeit zu verwöhnen. Und als er eines Tages ihrem munteren Plaudern andauernd die finstere Miene, eine gerunzelte Stirne, den umwölkten, in eine unbestimmte Ferne 68 gerichteten Blick entgegensetzte, fragte sie ihn bekümmert, was ihn denn bedrücke, ob sie ihm vollends lästig und peinlich geworden sei. Sie wisse, daß er sich mit ihr eine arge Bürde aufgeladen habe und sei nicht mehr so töricht, ihn dabei festhalten zu wollen. Er möge sie denn, wenn es sein müsse, fortschicken. Sie werde sich schon auf irgendeine Weise erhalten und in der Welt einen Unterschlupf finden. Freilich wisse sie noch nicht recht, wie, aber wenn er ihr nur im Anfang behilflich sei, würde sich das Weitere schon finden. Und was dergleichen haltlose Angebote eines opferwilligen und dankbaren Geschöpfes mehr waren. Darauf entgegnete er nur, davon könne keine Rede sein, sie solle sich darum nicht weiter sorgen. Als er indes unverwandt schwermütig und in Gedanken bekümmert blieb, setzte sie sich, wie sie es gewohnt war, auf seinen Schoß, streichelte und liebkoste ihn, küßte seine Stirne. Zuerst ließ er dies schweigend und duldend über sich ergehen und lächelte ihr traurig zu, aber indem sie seinen unveränderten Ernst wahrnahm, bemühte sie sich heftiger und leidenschaftlicher, ihn aus seiner finsteren Stimmung zu erwecken, umschlang ihn mit ihren mageren, sehnigen, braunen Armen und drängte sich eng und enger an ihn, wie um seiner Kälte von ihrer 69 Wärme mitzuteilen. Da überwog mit einem Male das ganze verhaltene Ungestüm die bisherige Bedachtsamkeit, er gab ihr schmerzlich und begierig, anders als sonst die Zärtlichkeit zurück, er umfing die schmale, auf seinem Schoß zusammengekauert Gestalt und berührte sie mit scheuen, fragenden Gebärden, wobei sie ohne Arg lächelte, bis er sie endlich nach seinem Bette trug und besaß. Sie schloß die Augen und lächelte. Als er sich dann voll Angst von ihr abwandte und vor Erregung und Reue zitterte, streichelte sie seinen blonden Kopf und richtete sich auf und suchte seinen Blick und bot ihm ihren Mund und sagte demütig zuversichtlich: »Du hast mich doch lieb!« In dieser Nacht teilte sie sein Lager und lachte morgends beim Erwachen: »Es ist doch schön, in einem Bett zu liegen.« Und als er sich über sie beugte, schloß sie wiederum die Augen und um ihren Mund lag ein eigentümlicher, zugleich stolzer und fragender Zug. So hatte sie fortan auch sein Bett erobert und behauptete es als ihr gutes Recht, ohne daß sich ihr Benehmen ihm gegenüber sonderlich geändert hätte, denn sie war nach wie vor sein gehorsames, heiteres Kind und ergebenes Geschöpf, wenngleich sie, begehrt und geliebt, immerhin einer gewissen Herrschaft über ihn und einer Art von 70 Anrecht bewußt, ihr Dasein und ihre Fügsamkeit ihm als willentliche Gabe darbot.

Während er aber seiner mannigfachen Triebe und geistigen Bedürfnisse deutlicher inne wurde, genoß sie, wie es ihrer Natur gemäß war, diese einförmigen Tage als etwas Dauerndes und Selbstverständliches und dachte an gar keine Änderung des so ungewöhnlichen Zustandes, indes er sich längst die Frage vorlegte, wie er nun die Zukunft zugleich für sich und sie tunlich passend ordnen müsse. Eben da er statt bloß zu geben, von dem wehrlosen Geschöpf empfangen, was die Ärmste zu bieten hatte, und derart sich in ihrer Schuld fühlte, machte er sich klar, daß seine Verpflichtungen ihr gegenüber bedeutend gewachsen waren. Sich selbst schuldete er eine gewisse Freiheit, auf Welt und Menschen konnte und durfte er nicht verzichten, und wenn er auch Leas keineswegs überdrüssig, sich des hübschen Besitzes durchaus nicht auf leichte Weise zu entäußern gedachte, mußte er doch, sollte das Leben ihm nicht sinnlos vergehen und ihn um jeden Gewinn betrügen, seinen weiteren Wünschen nachgehen, vor allem wieder hinauskommen und reisen. Wie aber das kleine Geschöpf versorgen und vor weiteren Gefahren schützen? Jedenfalls galt es, wenn er 71 sie aus der Hand gab, sowohl für ihre leibliche Sicherheit und ihr Gedeihen, als auch für eine Art Erziehung und Bildung das Erforderliche vorzukehren.

Sie mußte ihren Anlagen entsprechend Unterricht empfangen, und sollte er, Vater, Mutter und Geliebter in einer Person, vor sich selbst sein Schalten mit dieser anvertrauten Seele rechtfertigen, so war es seine unabweisliche Pflicht, sich fortan um eine bessere Zukunft des Mädchens zu bemühen.

Wenn er wegging, Urlaub nahm und seine Orientreise antrat – daß dies geschehen müsse, stand bei ihm fest –, durfte sie unmöglich sich hier aufhalten, aber selbst, wenn er ihr zuliebe auf diese Pläne hätte verzichten können und wollen, wäre auf die Dauer ihres Bleibens im Lager nicht gewesen. Irgend einmal würde der peinliche Zustand, das sonderbare Verhältnis doch an den Tag kommen und dadurch seine ganze Existenz so erschüttert, daß er auch für die ihrige aufzukommen außerstande wäre. Er durfte sich und sie einer solchen Gefahr nicht weiter unterwerfen. Was bisher als unausweichlich hingenommen worden, erschien ihm nun als unverantwortlicher Leichtsinn, der auch nicht eine Stunde länger als nötig, andauern dürfe.

In seinem Vaterland konnte er sie nirgends mit 72 Beruhigung unterbringen, ohne sich den peinlichsten Fragen nach ihrer Herkunft, nach seinen Beziehungen zu ihr auszusetzen. Jede wenn auch selbstverständlich unwahre Antwort drohte die Gefahr nur zu vergrößern. Seine Stellung als Offizier zur Gesellschaft war immerhin derart, daß irgend welche unregelmäßige Situation im Lande leicht durchschaut und unverziehen bleiben müßte. Auch kannte er keine Anstalt, wo er sie ohne große, unerschwingliche Kosten hätte bergen können. Etwas anderes war es, wenn es ihm gelang, irgendwo außerhalb der Heimat durch List und Geschicklichkeit seine Nähe zu ihr auf eine, wenn auch merkwürdige, so doch einigermaßen glaubhafte Weise zu ordnen, eine Art bürgerlichen Pflichten-Verhältnisses zu begründen, etwa als Vormund eines Mündels von dunkler Herkunft, oder dergleichen. War dieser Zustand durch eine gewisse Dauer bekräftigt und außer Zweifel gestellt, so konnte er selbst hier sich schließlich eher zeigen und etwaige Folgen auf sich nehmen.

Er dachte mithin an einen Aufenthaltsort in Deutschland. In diesem vorwiegend protestantischen Reich, nahe der Grenze, in preußisch Schlesien gab es vielleicht ein Kloster, wo man ein junges, elternloses, katholisches Geschöpf um des Glaubens willen von 73 einem besorgten Vormund gern übernahm und erzog. Daß Lea katholisch werden müsse und als katholisches Polenkind zu gelten habe, war sein erster und unumstößlicher Wille, teilte er doch als Pole und Offizier, wenn auch dank seinem abenteuerlichen Leben natürlich vorurteilsfrei, doch den Haß der herrschenden Klasse gegen die Juden, gegen diese Fremden, nur als Sklaven Geduldeten, gegen eine in ihrer ganzen Führung trotz der Unterdrückung wieder hochmütig abgesonderte Menge. Sollte er Lea, wie es die Dinge mit sich gebracht, als Genossin, als Gleiche, als Mündel oder als Geliebte völlig anerkennen, so mußte er sie als Polin und katholisch, nicht als Judenkind, ansehen. Dieser Wunsch aber galt ihm auch gleich als Erfüllung. Sie mußte katholisch sein, so war sie es. Das sind schließlich einem unabhängigen und in Glaubenssachen gleichgültigen Geiste Fragen, die sich eben von selbst beantworten, wie man sie beantwortet haben will. Zudem war diese Wandlung bei Leas unwissender Unbekümmertheit, ja bei ihrem Haß gegen ihre Herkunft und Vergangenheit und bei ihrer anmutigen Art, sich jedem seiner Wünsche nicht nur äußerlich, sondern im innersten Herzen anzupassen, durchaus möglich. Sie war aber auch notwendig, wenn sein Plan ausgeführt 74 werden sollte. So betrachtete sich Lea als katholisch und glaubte selbst die schöne Erfindung, die er sich ausgedacht hatte. Sie sei die Waise eines verstorbenen Kameraden, der ihm, dem Oberleutnant Roszkowski, das mutterlose Kind auf dem Todeslager anvertraut. Nicht ohne Stolz genoß sie diese verklärte Herkunft und gedachte, ihrer würdig zu leben und sich zu halten. Die Eröffnung ihres Gebieters, daß sie sich für eine Zeit trennen müßten und daß sie in ein schlesisches Kloster zur Erziehung gebracht werden würde, nahm sie ruhig und fast freudig auf, ohne sonderliche Schwierigkeiten zu erheben. Mit ihren vierzehn Jahren war sie Kind genug, sich neuer Begebenheiten zu freuen und gewohnte Zustände leichten Herzens aufzugeben.

Ernst Roszkowski hatte verschiedene Bücher, Karten und Gewährsmänner befragt, ehe er sich für Breslau entschied. Dort sollte ein Frauenkloster bestehen, welches für solche Fälle wie geschaffen war, es nahm Waisen angeblich ganz oder halb umsonst in Kost, Quartier und Unterricht, begnügte sich mit den Gaben, die ihm freiwillig geboten wurden und benützte ein reiches Stiftungsvermögen, um in dem für den Glauben immerhin unsicheren Zustand des großen 75 protestantischen Reiches und der argen Gegenwart katholisch zu wirken und zu sorgen.

Dieses Kloster sollte Leas Zuflucht und neue Heimat werden. Zuvor aber gedachte er in der großen Stadt auch eine adelige polnische Dame für seinen Schützling zu gewinnen, die streng gläubig und überaus reich, sicherlich für die Waise eines Landsmannes und Offiziers sich interessieren lassen werde. Er hatte zufällig von ihr und ihrer Gastfreundschaft und Güte vernommen.

Des weiteren mochte es ihm wohl gelingen, sich draußen in der fremden Welt irgendein Dokument zu beschaffen, welches dem gleichsam neugeborenen Kinde die erfundene Herkunft bürgerlich bescheinigte und begründete. War ein solches feierliches Zeugnis gewonnen, so ließ sich darauf der schönere Bau der Zukunft mit besserer Zuversicht errichten und durch neue Zutaten und Bürgschaften, die sich ihrer Zeit ergeben würden, immer mehr befestigen und ausschmücken. Lea war sicherlich nach Gaben und Benehmen, äußerlich und innerlich danach angetan, sich das schönste Recht auf Ansehen und Rang in der Welt zu erwerben, war nur einmal der Beginn mit Sorgfalt und ohne Fehl gemacht worden.

76 Als er diesen Beschluß gefaßt hatte, schritt er auch gleich an die Ausführung, nahm einen kleinen Urlaub, besorgte eine bescheidene Ausstattung von Wäsche und Kleidern für das Mädchen, packte diese Habseligkeiten in ein Kofferchen, seine eigene Galauniform und was zu einem höchst standesgemäßen Auftreten für ihn selbst als Offizier im fremden Lande notwendig war, in eine zweite Schachtel, dazu seine gewohnte Zivilkleidung, damit er seinen sparsamen Sitten gemäß inkognito reisen könne, ließ sich eine Marschroute ausstellen, die ihm als Standesperson bis zur Grenze die freie Fahrt verschaffte, nahm für Lea eine Karte und benützte wieder einen Nachtzug zur Reise.

Auf dem vertrauten Umwege brachte er Lea zur Bahn, setzte sie in einen Waggon der dritten Klasse, bestieg selbst einen der zweiten, und so fuhren sie dem neuen Schicksal entgegen.

In Oderberg, der Grenzstation, trafen sie sich wieder. In einem abgesonderten Raume legte er rasch seine Uniform ab, vertauschte sie mit den mitgebrachten Zivilkleidern und stieg nun mit seinem Schützling als ärmlicher Reisender in die vierte Klasse ein, um »stehenden Fußes«, wie er sich ausdrückte, nach Breslau zu eilen, denn in der vierten Klasse gibt es 77 kein behagliches Sitzen, sondern man ist mit dem gemeinen Volk in Rauch und Lärm eingepfercht, aber nirgends reist man so ungezwungen als Mensch unter Menschen, wie hier. In der neuen Stadt angelangt, vollzog er wieder die Wandlung zur Standesperson, legte seine Galauniform an und bekümmerte sich nicht im mindesten um das Verbot, in einem fremden Lande als Angehöriger einer fremden Wehrmacht in Waffen aufzutreten. Bekanntlich ist dies nur Offizieren gestattet, die in einer besonderen Mission tätig sind. Aber da eine Beanstandung bei seinem großartigen und sicheren Auftreten wohl kaum erfolgen würde und er sich bestimmt zutraute, jedes etwaige Mißverständnis durch die geistesgegenwärtigste Auskunft zu zerstreuen, und da er ja auf seine Art wirklich auch eine besondere Mission hatte, trug er kein Bedenken, hier als stattlicher österreichischer Offizier seinen Unternehmungen nachzugehen. Bescheiden, sittsam gekleidet und überaus zierlich, wie es einer adeligen jungen Polin geziemt, schritt Lea neben ihm her, sorgfältig Schritt vor Schritt setzend und bei aller Eile seinem großen Gang sich behend anpassend. Es war eben Mittagszeit, die geeignete Besuchsstunde, die er gleich auszunützen gedachte, um die edle Landsmännin 78 aufzusuchen, deren Hilfe ihm und seinem Schützling unentbehrlich war.

In einer der belebtesten Hauptstraßen fand er ihre Wohnung in einem ansehnlichen Hause, schärfte auf der teppichbelegten Stiege noch einmal Lea alle nötigen Vorsichtsmaßregeln ein und ließ sich mit hochmütiger Vornehmheit durch den galonierten Diener bei der Dame des Hauses anmelden. Er betrat mit Lea einen reichgeschmückten Salon und wartete nicht lange, als auch schon die Gräfin eintrat, eine ältliche Dame mit einem Vogelgesichte, aus welchem zwei scharfe, kurzsichtige Augen blickten. Sie war kostbar, aber auch mit jener Achtlosigkeit gekleidet, die namentlich älteren Polinnen eignet, trug einen schönen Spitzenschlafrock, der doch einige Spuren von Unsauberkeit zeigte und an den Ärmeln ein wenig zerrissen war. Aber ihre Haltung ließ diese Mängel völlig vergessen, denn sie benahm sich wie eine Fürstin.

Nicht ohne Erstaunen sah sie die beiden Fremdlinge an, ihre Züge erhellten sich indes aufs angenehmste, als Ernst Roszkowski sie mit einer so tiefen, ehrfurchtsvollen und edeln Verbeugung begrüßte, wie sie nur ein polnischer Edelmann zustandebringt und zugleich auch in den vertrauten und lang entbehrten 79 Worten der geliebten Muttersprache voll schmeichlerischen Wohlklanges anredete. Lea ihrerseits machte den zierlichsten Knix und blickte die Gönnerin mit den großen demütigen Augen der hilflosen und hoffnungsvollen Ehrfurcht an, so daß die Gräfin ihr, ohne sie noch zu kennen, gewogen und gütig zunickte.

Freundlich hieß sie den Landsmann Platz nehmen, der in seiner Rede fortfuhr und zunächst die Angelegenheiten der gemeinsamen Heimat berührte, von allen Personen des Landes sprach, für die er bei der Dame ein Interesse vermutete, die engsten Beziehungen zu diesen exklusiven Kreisen teils durchblicken ließ, teils sich sogar darauf berief. Hiezu gab ihm seine sowohl aus Briefen und Zeitungen, als auch in der Gesellschaft selbst erworbene Kenntnis die beste Gelegenheit. Rasche, unwillkürlich eingeworfene Fragen und Erkundigungen beantwortete er mit den zuverlässigsten Einzelheiten, wodurch die genaueste Vertrautheit mit allen Leuten und Verhältnissen der obersten Schichte des gemeinsamen Vaterlandes sich ungezwungen darstellte. Die Gräfin erkannte mithin zu ihrer großen Freude, daß ihr unerwartet ein Gast ins Haus gekommen war, der mit allen Freunden der lang verlassenen Heimat befreundet, alle jene fürstlichen und 80 gräflichen Männer aus dem engsten Umgang mit ihren großen und kleinen, edeln und fraglichen Zügen, mit ihren zarten Schwächen und merkwürdigen Sitten kannte, unter denen sie sich in der einstigen Mädchenzeit in den alten Ahnensälen der vielen Schlösser des Landes und in den Gemächern der Stadtpaläste bewegt hatte. Sein bewundernder Blick verriet, daß er sehr wohl wußte, wie sie damals im Mittelpunkte der schwärmerischen Huldigungen gestanden, deren sie auch jetzt noch keineswegs unwürdig war. Ihre Erinnerung wurde auf die abenteuerlichen Feste gelenkt, wo sie als Königin gefeiert, mit dem Blicke ihrer dunkeln Augen kühne Adelige zu den verwegensten Taten angespornt, auf die Schlittenfahrten durch die winterlichen Felder, auf die Fuchsjagden, an denen sie hoch zu Roß teilgenommen, auf die sinnlos träumerischen Gelage, deren schönster Trunk aus ihrem weißen Seidenschuh geschlürft worden. Es freute sie, daß die Kunde ihrer einstigen Siege in ihrer Heimat so unvergessen war, wie die unverbrüchliche, gleichsam mit Eisen an jedes polnische Herz geschmiedete Erinnerung an Polens Freiheit, lag doch ein Abglanz ihres Zaubers selbst in den ehrerbietigen Worten des vornehmen Offiziers, der ihr hier gegenübersaß und alle verklungenen Stimmen 81 heraufbeschwor, die in ihrer stolzen Seele die schönste Musik des Triumphes und der glücklichen Jugend erwachen ließen. Schließlich ergab sich denn doch die Notwendigkeit, auch die Anwesenheit des fremden Kindes und den Zweck des unerwarteten Besuches zu erklären.

Die Erinnerung der eigenen mannigfaltigen Abenteuer machte die Erzählung von Leas schöner, trauriger Geschichte doppelt interessant und glaubwürdig. Ergriffen und teilnehmend hörte sie von dem tapferen und hochherzigen Vater des kleinen Mädchens, der vor vielen Jahren Ernsts Vorgesetzter und Gönner, als Major, obgleich einer alten Familie des niederen Landadels angehörig, doch ganz verarmt, seine Frau früh verlor, mit dem einzigen Kinde sich durchs Leben schlug und bald einer schweren Krankheit unterlag, ohne für das kleine Wesen vorsorgen zu können, welches er auf dem Todesbette seinem jungen Freunde empfahl, der es für die heiligste Pflicht hielt, die Sorge für das arme Geschöpf nach besten Kräften auf sich zu nehmen. Er habe sie zunächst bei Verwandten einquartiert, wo sie schlecht und recht zwei Jahre zugebracht. Länger aber glaubte er sie nicht in diesen für die geistige Ausbildung und körperliche Pflege denn doch unzulänglichen Verhältnissen festhalten zu dürfen, 82 sondern habe sich entschlossen, sie hier in dem weltberühmten Kloster unterzubringen, wo sie eine zwar strenge und bescheidene, aber gläubige und zuverlässige Ausbildung erhalten könne. Doch dürfte ihre Aufnahme von einer Fürsprache der vornehmen Gönnerin abhängen, um die er hiermit als Vormund des Kindes kniefällig ersuche. Zugleich habe er zu bemerken, daß in einem Brande die Ausweispapiere der Kleinen zugrunde gegangen seien, weshalb, wohl nur um der Form zu genügen, die erforderlichen Dokumente nachträglich ausgestellt werden müßten. Da die Zeit gedrängt habe und bei der bekannten Langsamkeit der österreichischen Behörden die Ausfertigung gar ein Jahr und mehr in Anspruch genommen hätte, beabsichtige er, mit der Empfehlung der gnädigen Gräfin, die – eben nur der Form halber – unerläßlichen Bescheinigungen auf Grund seiner mündlichen, genauesten und durch das Zeugnis beliebiger vornehmer Landsleute jederzeit erhärtbaren Auskünfte, bei einem hiesigen Geistlichen zu erwerben. Aber wie gesagt, er sei in allem und jedem von der hohen Gnade der angerufenen Gönnerin abhängig, deren Rat er sich durchaus fügen wolle und deren Hilfe allein ihm den nötigen Halt gewähren könne. Gerührt und 83 geschmeichelt erklärte sich die gute Dame zu jeder gewünschten Unterstützung bereit. Daß irgendein schwereres Bedenken bestehe, konnte wohl nicht im geringsten vermutet werden, da keinerlei Geldbeitrag verlangt wurde. Bei einem beabsichtigten Betruge, wäre er nicht schon durch das tadellose Betragen des vornehmen Offiziers vollkommen ausgeschlossen erschienen, hätte eine solche Forderung unzweifelhaft ihre Rolle gespielt. So aber handelte es sich tatsächlich eben um eine freie Tat guten Herzens und hilfreicher Bereitschaft, zu der selbst ein Mann, vorsichtiger und in den Listen und Tücken der Welt erfahrener, sich finden läßt, wenn es weiter kein Opfer gilt, als eine Empfehlung und Rat. Um wieviel mehr mußte das weichere Herz einer alleinstehenden vornehmen Dame berührt und zu den erbetenen Wohltaten bewogen werden. Sie sprach Lea gütig an, fragte sie um verschiedene Dinge und erfreute sich der bescheidenen, klaren, leisen, doch klugen und sittsamen Antworten des Kindes.

Schließlich bot sie den Gästen ein bescheidenes Gabelfrühstück an, das in einem dunklen, hohen Speisesaal serviert wurde, wobei sich der Oberleutnant gewandt benahm und mit der ungezwungensten Unterhaltung zur angenehmen Geselligkeit beitrug, während 84 Lea acht hatte, die Eßgewohnheiten der Herrschaften mit raschem Blicke zu beobachten und nachzuahmen. Als sie sich derart an einem auserlesenen kleinen Mahle erfreut und gestärkt hatten, das ihnen beiden nach der beschwerlichen Reise doppelt wohl tat, gab ihnen die Herrin des Hauses eine herzlich und überaus warm abgefaßte schriftliche Empfehlung an einen befreundeten Domherrn mit, der alles weitere in die besten Wege leiten werde, versprach auch unverzüglich im Kloster persönlich vorzusprechen, um, wenn irgend möglich, für den Schützling die Aufnahme zu erwirken und sich auch fernerhin nach dessen Befinden und Fortgang an dem gedachten Orte zu erkundigen, und wo es not täte, persönlich nach dem Rechten zu sehen.

Damit erhoben sich die beiden, zuversichtlich, erfreut und innig dankbar, nahmen gerührten Abschied von der edlen Gönnerin, welche den Oberleutnant zu nochmaligem Besuche auf das freundlichste einlud, während sie Lea zärtlich wohlwollend auf die mit demütigem Knix dargereichte Stirne küßte.

So verließen sie das Haus. Auf der Stiege brachen sie in das herzlichste, doch gedämpfte Gelächter aus und stürmten wie ausgelassene Kinder die Treppe hinab ins Freie.

85 Aber der besonnene Roszkowski gönnte sich und Lea nur eben diesen einen Augenblick der Selbstvergessenheit und mahnte, jetzt die günstige Gelegenheit sogleich aufs genaueste wahrzunehmen.

Sofort schlugen sie den Weg zu dem Domherrn ein, den sie in einem der alten klösterlichen Häuser in einer schönen, hochgewölbten Wohnung antrafen. Die Empfehlung der gräflichen Dame, des glaubenseifrigsten und reichsten Mitgliedes seines Sprengels genügte dem würdigen Geistlichen, die beiden Ankömmlinge mit bereitwilliger Achtung aufzunehmen. Da es sich um fremde Staatsangehörige handelte, über die er den Behörden des eigenen Landes keine genaue Rechenschaft schuldete, ferner um eine Hilfe für Glaubensgenossen, die mit gutem Willen ohne besondere Verbindlichkeit geleistet werden konnte, hörte er die Erzählung des eleganten Offiziers mit Teilnahme an und interessierte sich insbesondere für die Einzelheiten jenes weltberühmten Brandes der Festung C., der vor zwei Jahren fast die ganze Stadt eingeäschert haben sollte, und wovon er in seiner geistlichen Abgeschiedenheit gar nichts erfahren hatte. Daß aus diesem Brande das junge Mädchen nur mit Mühe und Not das eigene nackte Leben gerettet, erweckte sein herzliches 86 Mitgefühl, ihre Absicht, als Zögling ins Kloster einzutreten, schien ihm durchaus angemessen und hiezu die erbetene Hilfe zu leisten für ihn ohne weiteres tunlich bei der Fürsprache einer so ausgezeichneten Frau und dem Zeugnis eines so angesehenen Beschützers. Auch er erkannte die Notwendigkeit der Beibringung eines Dokumentes aus formalen Rücksichten. Daß die Ausweispapiere in Österreich so schwer und langwierig zu beschaffen seien, glaubte er gerne und lächelte verständnisvoll zu den launigen Schilderungen seines Besuchers, welche Schritte hiezu erforderlich und welche gewaltigen Vorkehrungen für eine so einfache Angelegenheit zu treffen wären. Unwillkürlich gewann er dabei das angenehme Gefühl der Bürgerschaft einer prompteren und bei aller Genauigkeit doch zuverlässigeren Heimat und erfreute sich dieser staatlichen Überlegenheit über ein fremdes, in manchen Dingen so rückständiges Land. Heiter ergänzte er den offenherzigen Bericht Roszkowskis durch Erfahrungen, die er selbst gemacht hatte, da er oft und nicht ohne Bedauern mitansah, wie österreichische Staatsangehörige, katholische Männer und Jungfrauen, die hier lebten und einander zu ehelichen gedachten, ihre Ausweispapiere aus der Heimat erbaten, monatelang warten 87 mußten und schließlich dazu gedrängt würden, einen verwerflichen und traurigen Konkubinat einzugehen, da die zur bürgerlichen Eheschließung unerläßlichen Schriftstücke ihnen vorenthalten blieben. So konnte er oft nur das heilige Sakrament der Ehe unter Einem mit der Taufe eines im Stande der Sünde empfangenen Kindleins vollziehen, wenn die notwendigen Dokumente schließlich nach Jahr und Tag doch noch eingetroffen waren. Glücklicherweise, fügte er mit seinem Lächeln hinzu, stünde die Sache hier nicht so ernst und gefährlich. Er sei gerne bereit, das Notwendige zu bescheinigen. Hiemit zog er ein schönes weißes Urkundenpapier hervor und schrieb gewissenhaft, nach jeder Frage sein Gegenüber höflich anblickend und die weitere Auskunft gewärtigend, nieder, was Roszkowski ihm vorsagte.

So kam eine umständliche und in altertümlicher Redeweise abgefaßte Äußerung zustande, des Inhalts, daß der gefertigte Domherr über Ersuchen des persönlich erschienenen Herrn Oberleutnants Roszkowski und der ihm bekannten hochwohlgeborenen Gräfin nach des Erstgenannten ehrenwörtlicher Aussage hiemit bestätige, das gleichfalls anwesende, vierzehnjährige Mündel des gedachten Herrn sei katholisch getauft, 88 das Kind des weiland Majors Stanislaus Podchmielski und seiner ebenfalls verstorbenen Frau Bronislawa, geborenen Stocka, mit Namen Charlotte, Eleonora, Sofia, welche Bestätigung er darum leiste, weil ihm der genannte Vormund an Eidesstatt mit seinem Offiziersehrenworte bekräftiget habe, daß Geburts- und Taufschein des Mündels anläßlich eines Brandes untergegangen seien. Hierauf folgten die genauen Geburts- und Taufdaten des Kindes und die Erklärung, daß auf Grund dieses durch mündliche Aussagen wohlbelegten Dokumentes der Aufnahme der gedachten Sofie Podchmielska in ein hiesiges Erziehungsinstitut keinerlei Bedenken vom Standpunkte der staatlichen Aufsichtsbehörde entgegenstehen dürften. Das vorliegende Schriftstück sei bis auf weiteres als Ersatz des nach den österreichischen Matrikeln abgefaßten Taufscheines anzusehen. Das Ganze bekräftigte er durch Unterschrift und Insiegel, der Oberleutnant unterfertigte sich als Zeuge und Vormund, und so war auch diese Sache nach Wunsch erledigt.

Mit einem neuen, schönen und gültigen Namen ausgerüstet, verließen Vormund und Mündel unter gemessenen Dankesbezeugungen die geistliche Urkundsperson und erfreuten sich der gewonnenen Zukunft. 89 Hier wird es angebracht sein, die Wahl des Namens der Neophytin kurz zu erklären.

Roszkowski trug nämlich Sorge, hierin die Vergangenheit seines Geschöpfes sowohl völlig zu verbergen, als auch für alle Zeit bedeutsam festzuhalten, indem das Wort Chmiel in seiner polnischen Muttersprache Hopfen, aber durch einen bezeichnenden Zusatz erweitert, auch einen Weinberauschten bedeutet und dergestalt den wahren Namen der wahren Eltern Leas in einem Ausdrucke vereinigte, der nur der allgemeinen Personenendung bedurfte, um einen stattlichen Geschlechtsnamen auszumachen, welcher gar wohl einem verstorbenen Kriegsmann aus alter Familie angehört haben konnte. An Stelle einer kleinen, abenteuerlichen Jüdin Lea setzte er aus eigenem Ermessen Charlotte, Eleonora, Sofia, um das neue Bekenntnis dreifach zu bekräftigen. Beide beschlossen nun, Lea solle in Hinkunft nicht anders als Sofia, oder wie es dem vertrauten, schönen und klangvollen Gebrauch entsprach: Sonja genannt werden und nur darauf hören, wie sie denn ihren traurigen, aber glücklich abgestreiften Familienstand so völlig vergessen hatte, daß sie sicherlich nicht einmal wenn ihre alte Mutter erschienen wäre und sie »Lea« angerufen hätte, auf diesen schlimmen 90 Mädchennamen gehöht, ja sich nicht einmal unwillkürlich dazu bekannt hätte. Vielmehr war sie als Sonja Podchmielska glücklich und zufrieden wie in einem angemessenen und schönen neuen Kleide, worin sie sich wiegte und wohlfühlte.

An die hundert Male sang sie sich den neuen Namen in allen Tonarten, liebkosend, schmeichelnd, warnend, streng, sittsam, bekümmert, mahnend, gehorsam vor, als würde sie ihn für alle Zukunft hegen und bewahren und so wenig ablegen, wie ihren ganzen Leib und ihre ganze neue Seele.

Freilich nahm sie nachmals ebenso willig und mit Freuden einen dritten und vierten an, jeden zu seiner Zeit, denn den Frauen wird es leicht, in einen Namen wie in ein Gewand zu schlüpfen und ihn wieder abzustreifen wie ein Gewand, wie es die Sitte mit sich bringt und verlangt, während ein Mann mit dem Namen seines Geschlechtes verwachsen ist, wie ein Baum mit der Erde. Aber darum sind wieder die Weiber beweglich und fügsam und bereitwillig, mit dem fremden Namen auch ein fremdes Schicksal auf sich zu nehmen und sich dabei vorsichtig nach Sonne, Wind und Regen zu richten, wie es just notwendig ist, so daß sie den Namen wohl auch überdauern 91 können, während ein Mann mit ihm lebt und stirbt. Doch davon genug. Für jetzt hieß Sonja Sonja, war mit diesem neuen Kleide vergnügt und nahm sich vor, seiner würdig zu leben.

Zu diesem Zwecke begaben sich die beiden ins Kloster, wo sie mit Ehrerbietung aufgenommen wurden. Bei der alten Oberin erregte der stattliche Offizier in seinem prachtvollen weltlichen Gewand und Benehmen das Gefühl der zärtlichen Bewunderung. Da sie in den Heeressachen nicht eben bewandert war, hielt sie ihn gar für einen Oberstleutnant, was nach ihren Begriffen bei so jugendlichem Alter eine unerhörte militärische Bedeutung und Würde darstellte, sie sprach ihn auch mit diesem Titel an, was Roszkowski der guten Sache wegen gerne und ohne wahrheitsgemäße Berichtigung über sich ergehen ließ. Auch sie genoß die romantische Schilderung von Sonja Podchmielskas unglücklichen Zeiten, von ihres Vaters Bitte auf dem Todesbette, von des jungen Mannes willigem Gelübde, fand alles durch die feierlich produzierte Urkunde des ehrwürdigen Domherrn aufs genaueste bestätigt, zudem war die edle Gräfin ihrem Versprechen getreu, bereits vor einer Stunde im Kloster erschienen und hatte durch ihre mündliche Empfehlung die jetzige 92 Bitte der armen Waise um Aufnahme wirksam vorbereitet. Auch bat Roszkowski, für die Armen des Klosters eine kleine Spende nach seinen bescheidenen Mitteln beitragen zu dürfen und erlegte, wenngleich schweren Herzens, einen blauen Schein zu ihren Händen.

Sie erklärte sich denn bereit, das fromme Kind, welches ihr demütig die Hände küßte und sich mit rührender Innigkeit ihrem Wohlwollen empfahl, in die Obhut des Klosters aufzunehmen. Konnte dies auch nicht ganz umsonst geschehen, so betrug das Monatsgeld doch eine wirklich geringfügige Summe, kaum ausreichend, nur für die einfachste Ernährung aufzukommen. Zwar leise enttäuscht, aber schließlich seinem Opfermut entsprechend, unterwarf sich Roszkowski dankbar den Bedingungen, erklärte leise, damit sein Mündel es nicht höre, sie sei bei den ungeregelten Verhältnissen ihres bisherigen Aufenthalts leider arg verwahrlost, weder in den Unterrichtsgegenständen, noch im Glauben irgendwie unterwiesen, somit in allen geistigen Angelegenheiten recht eigentlich eine kleine Wilde, für die er im Voraus um jede Nachsicht bitten müsse, doch hoffte er, sie werde, von Natur bescheiden und frommer, demütiger Gemütsart, 93 fügsam und lenkbar, bald den berechtigten Anforderungen zu genügen wissen.

Die Oberin begütigte, es sei doch eben die Aufgabe ihrer Erziehungsanstalt, diese Tugenden und Lehren auszubilden, wären alle Zöglinge an Wissen und Glauben reif und vollendet, so bedürften sie doch einer solchen Stätte nicht, kurz, er konnte Sonja in jeder Hinsicht wohlaufgenommen sehen. Schließlich wurde noch festgesetzt, daß sie am kommenden Tage mit dem Frühesten eintreten solle, heute aber noch mit ihrem Vormund die fremde Stadt betrachten und etwa nötige Einkäufe besorgen möge.

Unter lebhaften Dankesbezeugungen nahmen sie von der Oberin Abschied und gedachten nun den Rest des Tages und die Nacht zum genauen Besuche aller Sehenswürdigkeiten zu verwenden.

Wieder entledigte sich Roszkowski der prachtvollen lästigen Uniform, packte sie sorgfältig ein, zog die mitgebrachten, angenehm schäbigen Zivilkleider an, setzte das geschwinde Hütel auf, nahm die Schachtel, an welcher der Säbel, mit Zeitungspapier umwickelt, angebunden wurde, unter den Arm und so strichen sie durch alle alten und neuen Straßen von Breslau, um das würdige, mit aller Laune eines wohlhabenden 94 Bürgertums heiter ausgezierte Rathaus, durch den Topfmarkt, beschauten den berühmten Gabeljürgen und vergaßen nicht, das alte Haus aufzusuchen, welches als die Stätte von Gustav Freytags »Soll und Haben« in allen Reisebüchern, die der Oberleutnant entlehnt und studiert hatte, eine besondere Stelle einnahm. Er kannte zwar dieses deutsche Werk nicht, wußte aber ungefähr, um was es sich handle, und wenn er gleich selbst den Taten der Poesie keine besondere Neigung entgegenbrachte, hielt er es doch für wichtig, nachdem einmal eine solche Dichtung historisch geworden und mit dem Leben einer Stadt verwachsen war, ihre Stätte mit jener Ehrerbietung zu besichtigen, welche der Fremde aus einer gewissen Selbstachtung derartigen wirklichen oder eingebildeten Würden entgegenbringen muß, um sie, heimgekehrt, in Berichten, in der Erinnerung hoch zu preisen. Sonja, die überdies mit ihrem neuen Namen und Schicksal genug zu tun hatte, erblickte freilich nur ein altes, gleichgültiges Haustor, einen nicht einmal sonderlich geräumigen Speicher und eine Materialwarenhandlung ohne jeden interessanten Gegenstand. Aber wie immer, um sich bereitwillig und gehorsam zu erweisen, antwortete sie auf seine eindringlichen Belehrungen: Ja, 95 ja und tat unter halb entzückten, halb gelangweilten Seufzerchen höchlich angeregt. Sie fand nachher reichlich Zeit, alles zu vergessen, wie denn die Frauenzimmer in ihren mannigfaltigen und einstürmenden Erlebnissen Meisterinnen des Vergessens und Abtuns alles Ungemäßen sind, während der Mann an seinem treuen, zum Gewissen gesteigerten Gedächtnis den zuverlässigsten, aber zuweilen unangenehm mahnenden Freund besitzt.

Mit größerem Vergnügen wanderte sie durch die alten Ohlen, wo sich ein mittelalterliches Stadtbild mit dem eigentümlichen Zauber verwahrlosten Gerümpels und sorglosen Schmutzes behaglich in seiner Enge entfaltet und, wenn auch nur durch sein Gehenlassen, an vertraute Zustände polnischer Unordnung erinnerte.

So vergingen die Stunden des Nachmittags im Fluge und unversehens war es Abend geworden, die Sterne zogen auf und die beiden Leutchen ließen sich, wie Roszkowski es gewohnt war, auf einer Bank in den Anlagen des weiland Stadtgrabens nieder. Es war hier recht einsam, und so konnten sie sich zum letztenmal für eine geraume Zeit herzen und als Geliebte aneinander, als an den einzigen wahren 96 Sehenswürdigkeiten erfreuen. Sonja küßte ihren strengen Vormund recht innig und weinte im Vorgefühle des Abschiedes. Dann faßte sie sich wieder und erweckte, um ihn nicht durch ihren Schmerz allzusehr zu betrüben, die heiteren Erinnerungen an den eben verbrachten Tag mit allen seinen so kühn und leicht überwundenen Schwierigkeiten. So schätzte sie sich glücklich, wie sie sagte, daß Ernst nicht in dieser gefährlichen Stadt bleibe, wo es der verführerischen, wenn auch betagten Gräfin zweifellos gelungen wäre, ihr den besten Mann abwendig zu machen und alle Triumphe der Vergangenheit durch den unvermuteten einer abendlichen Gegenwart zu krönen. Auch an den ehrwürdigen Domherrn erinnerte sie, der die Not der fehlenden Ausweispapiere so gerecht zu würdigen verstand und schließlich an die Oberin, der, wie sie mit dem scharfen Auge der grausamen Jugend bemerkt hatte, während des salbungsvollen Gespräches an der Spitze der langen, kreideweißen Nase ein sanftes braunes Tröpfchen gezittert hatte, das dennoch aus Anstand und Frömmigkeit bei der gerührtesten Ergriffenheit nicht abzufallen gewagt. Auf ihre Frage, warum es denn braun gewesen sei, verwies sie Roszkowski auf den eigentümlich beizenden klösterlichen Geruch, welcher nicht von der 97 Frömmigkeit, sondern von dem Gebrauche des Schnupftabaks stamme. Dies sei aber, meinte Sonja, die wahre Glaubensstärke, welche selbst ein so natürliches Nasenbedürfnis durchaus würdig zu beherrschen wisse, so daß das verständige braune Tröpfchen ehrfürchtig bebe und die heilige Trägerin verherrliche, während sich ihre eigenen, armseligen und vorwitzigen Tränen leider nicht abhalten ließen, über ihre Wangen zu rollen und alle guten Vorsätze zuschanden zu machen.

Es war Roszkowskis Sache nicht, mit so wichtigen Dingen Scherz zu treiben und er hielt es für notwendig, die letzten Stunden ihres Beisammenseins zu benützen, seinem Mündel ernste Lehren und Verhaltungsmaßregeln für die Zukunft ans törichte Herz zu legen.

Sonja fügte sich denn ins Unvermeidliche und war es zufrieden, ihn wenigstens dabei an der Hand zu halten, diese gelegentlich zärtlich an ihre Brust zu drücken, oder, indem sie höchst aufmerksam seine Worte mit den verständnisvollsten Bejahungen begleitete, doch unversehens ihn zu einem Kuß zu verführen, der sie für alle gegenwärtige und weitere in dunkeln Jahren der Klosterhaft etwa auszuübende Geduld im vorhinein leider kümmerlich genug entschädigen mußte.

98 Bei diesen Gesprächen saßen sie auf einer Bank unter einem blühenden Lindenbaume, der leise rauschte, dann spazierten sie wieder umher, so oft sich ein Schutzmann blicken ließ, der Obdachlose davonzujagen die Pflicht und den Beruf hat.

Roszkowski sagte ihr in diesen letzten Stunden etwa folgendes: »Du weißt, liebes Kind, daß ich ein freier Mensch bin und auch dich so recht als freies Geschöpf angetroffen und bewahrt habe. Ich meinerseits glaube nichts und habe bisher keinen Augenblick das Bedürfnis empfunden, einen persönlichen Gott mit meinen Angelegenheiten zu befassen. Ich halte es für unwürdig, gerade wenn es einem schlecht geht und man in der Lage ist, sich selbst die höchste Kraft und Geschicklichkeit einer freien Klugheit und erfinderischen Tüchtigkeit beweisen zu müssen, einen unbeteiligten Dritten anzurufen, den man sonst weder gebraucht noch gekannt hat. Warum soll er gerade in der Not und Gefahr auf einmal der »liebe« Gott sein? Andere mögen es anders halten, ich bin auf mich gestellt und denke, jeder Mensch macht auf irgendeine Weise sich selbst zum Gotte, seine eigene Torheit und Güte, Hilflosigkeit oder Gabe, um sich dann gläubig auf den »lieben« Gott auszureden, wenn es schief oder gut 99 geht. Ich glaube an mich, und da ich keine Hilfe von oben erwarte, bin ich auf mich selbst angewiesen, aber auch gesonnen, alles auszunützen und mich sorgsam aller Möglichkeiten zu bedienen, welche diese Welt demjenigen bietet, der sie richtig zu fassen und zu gebrauchen weiß.

Darum sollst du dich auch nicht wundern, daß ich, ein so ungläubiger Thomas, meine Geliebte in ein Kloster stecke und den Frommen zur Erziehung und Hilfe anvertraue. Eben dieses Kloster, eben die Frömmigkeit der anderen Menschen bietet auch hier einen guten Weg durch die Gefahr, den wir wohl oder übel benützen müssen. Du wirst es immerhin schwer haben bei deiner eigenen selbstverständlichen Gleichgültigkeit einem doppelt fremden Glauben gegenüber, dich den frommen Zuständen zu fügen. Aber auch das ist die Aufgabe jedes klugen Menschen, die Verhältnisse, in die er sich begeben muß, so zu nehmen, wie sie sind, sich ihnen geschickt anzupassen, aus ihnen Nahrung und Gewinn zu ziehen, wie es nur möglich ist und dabei seine eigene Freiheit still in der Brust zu bewahren und zu stärken, um, einmal des Zwanges entledigt, desto besser versehen zu sein.

Nimm also diese umgebende Frömmigkeit nicht nur 100 geduldig an, sondern lerne auch, sie völlig zu verstehen und alle Geheimnisse des Glaubens zu durchdringen, weil das einzige Mittel der Armen, sich in der Welt zu behaupten: die sogenannte Bildung darin besteht, alles, was ringsum von Menschen gewußt wird, alle Übungen, Sitten, Gebräuche durch bereitwillige, eifervolle Erkenntnis zum Besitze zu machen. Was man lernt, ist am Ende bei der Unendlichkeit der vorhandenen Gegenstände fast gleichgültig, denn von überall kann sich der Geist Nahrung verschaffen und davon leben und das Dasein selbst aus dem Widersprechendsten Gewinn ziehen. Verschüttete Grubenarbeiter haben ihr Leben schließlich dadurch gefristet, daß sie am Holz ihrer Wägelchen nagten. Warum solltest du nicht auch deinen Geist ebenso von der Frömmigkeit nähren, selbst wenn sie leider ein dürres Holz ist. Aber du wirst dabei immerhin Gelegenheit finden, deinem Verstande andere Nahrung zuzuführen, hoffentlich werden die frommen Schwestern auch die Gegenstände des weltlichen Wissens nicht ganz außer acht lassen, so daß du dich auch daran wirst halten können.

Vor allem aber sei fleißig, sittsam, unermüdlich. Da man dir immerhin Wohltaten erweist, mache dich durch das gewünschte Benehmen würdig, sie zu 101 empfangen. Gott sei Dank, kann selbst der eifersüchtigste Wohltäter nicht mehr verlangen, als das schönste Betragen, auf die innersten Gedanken darf er nur Anspruch erheben, wenn auch seine Gaben wert sind, aus der tiefsten Seele mit vollem Gefühl erstattet zu werden. Das ist die Gerechtigkeit des freien Menschen, in seinem Herzen Empfangenes ebenso zu erwidern, wie es geschenkt worden: mit genauem Maß, wenn es dürftig war, reichlich und im Überfluß, wenn es aus der Verschwendung der Güte gespendet wurde, was aber nur selten vorkommt.

So wirst du dich den Menschen angenehm machen und doch deine Freiheit wahren, so daß du an jedem beliebigen Tage heraustreten kannst mit heiterer Stirne und unbeschwertem Herzen, wissend, daß du bei allem Trachten der Leute doch nicht geworden, was sie aus dir machen wollten, sondern du selbst geblieben bist. Sollte es aber wider alles Vermuten und alle sicheren Überzeugungen eines geordneten Verstandes einen Gott dennoch geben, ich setze nur den Fall, so könnte er doch bloß solche Menschen achten, die sich derart frei und sicher gehalten haben, daß sie jederzeit dastehen können und sprechen: ich bin immer ich selbst geblieben, mich hat kein Gebet umgestimmt, keine Not verändert, 102 aber ich habe gelernt und gearbeitet und weiß was Rechtes, vor allem habe ich mich behauptet und dich nicht bemüht, lieber Herr.«

Derlei sprach er manches zu der armen Sonja, freilich nicht in so gesetzten Worten, die ich nur nach meiner Weise andeuten und fügen kann, sondern sicherlich um vieles nüchterner, einfacher, ohne jeden Schmuck, wie es eben in seiner durchaus kühlen, klaren Natur lag.

Aber der Sinn war wohl so und es mochte als eine Art Glaubensbekenntnis eines zuversichtlichen Egoisten gelten, der die Welt für sich ausnützt und zum Reich seiner Erfüllungen macht, ohne anderseits einen gewissen guten Kern und Halt zu verleugnen, indem er gar wohl fähig war, auch ein anderes Wesen zu lieben und zu betreuen und durch die Wirrungen des Daseins zu führen.

Bei diesen und ähnlichen Reden war es längst Mitternacht geworden, Wolken waren heraufgezogen, ein starker Wind sauste durch die vollen Bäume und es war merklich kühl. Sonja fröstelte bei den Lehren und bei der Witterung und war so müde nach der langen Reise, den Irrfahrten des Tages und der ruhelosen Nacht, daß sie nach einem stillen warmen Bett Verlangen trug. Aber sie durfte sich eine solche 103 Schwäche nicht merken lassen und schmiegte sich nur enger an ihren Lehrer an, nickte, wenn sie eine Zeitlang auf einer Bank saßen, wohl auch im Halbschlummer ein, um wieder, wenn er lauter sprach, ängstlich zu erwachen und seine Worte durch eifrige Bejahungen und unbedingte Zeichen der Zustimmung zu bekräftigen. Er aber benützte diese Gelegenheit, der jungen Geliebten seine wohlgemeinten Ratschläge zu erteilen und dabei sein eigenes volles Herz vertraulich auszuschütten. Denn er war sicherlich noch einsamer, als sie, längst gewöhnt, vor der Welt sein Inneres sorgfältig zu verschließen und hatte nur dieses halbe Kind, dem er sich getrost eröffnen konnte.

Wenn er auch wußte, daß sie ihn nicht, oder nur halb, oder gar falsch verstand, so hörte sie doch geduldig zu, und er bedurfte dieser liebenden Teilnahme, denn schließlich war er selbst bei all seiner Weisheit ja auch noch jung und nicht selbstsüchtig genug, eben seine Erkenntnis für sich allein behalten zu wollen. Und das macht die Liebe und zärtliche Geduld eines Weibes dem Manne so teuer, daß er, was er im Innersten will und fühlt und weiß, guten Mutes bekennen darf. Ob verstanden oder nicht, schließlich antwortet doch ein sanftes Echo seiner Stimme und er 104 ist glücklich, in der weiten Öde der Welt sich nicht ganz allein fühlen zu müssen.

Allmählich geriet die dunkle Stadt in Bewegung, allerlei Marktfuhrwerk rasselte durch die Straßen, in den Bäumen schien nach dem Schlaf der Nacht ein Leben wieder zu erwachen und mit einem Mal hörte man ringsum Hahnenschreie.

Er war Morgen. Rüstig erhob sich der Oberleutnant, rieb sich die schweren Gedanken seiner Ungläubigkeit und Lebensklugheit aus den Augen, auch Sonja fand sich wieder munterer und sie folgten den Karriolen nach dem Rathause, wo sich der tägliche Markt eben zu seinem lauten Angebote rüstete. Hier gedachten sie, sich ein bescheidenes Frühstück zu verschaffen.

Sie kauften sich also einen tüchtigen Laib Brot und ein stattliches Häuflein gesäuerten Krautes, welche Speise sie vor allen andern bevorzugten und suchten damit einen stillen Winkel auf, um die ersehnte Mahlzeit ruhig zu verzehren, denn nachher mußte Abschied genommen, Sonja in das Kloster eingeliefert werden.

Der gewünschte Platz bot sich wieder auf einer Bank unter Bäumen vor einer alten katholischen Kirche, wo zur Zeit die Frühmesse abgehalten wurde. Man hörte draußen die Orgelklänge und das leise Summen der 105 Andacht. Eben bereiteten sie sich, das Frühstück zu verzehren und Sonja schnitt das schwarze Brot an, als sie plötzlich den Oberleutnant erschrocken anstieß, denn aus dem Kirchentor trat, das Gebetbuch in der Hand, die Gräfin, die als fromme Gläubige in aller Frühe ihre Morgenandacht gerade in diesem Gotteshause verrichtet hatte. Leider waren sie bereits bemerkt worden, rasch schob Roszkowski das Sauerkraut in die Tasche seines gelben Überziehers, das Brot in die andere und erhob sich schleunig, die Gönnerin gebührend zu begrüßen.

Diese musterte nicht ohne merkliches Erstaunen das Paar, denn der stattliche Offizier sah in seinem Wanderinkognito bedeutend reduziert aus und auch Sonja schien verschlafen, ungewaschen und zerzaust, weit weniger sanft, nett und zierlich, als gestern.

Aber die gewinnende, nie versagende Liebenswürdigkeit Roszkowskis machte alles gleich wieder gut.

Auf die fragende Ansprache der Gräfin, daß sie zuerst ihren Augen gar nicht getraut habe, ihn in Zivil zu erblicken, erwiderte er, auf seine eigene Gestalt lächelnd hinabsehend, er komme sich selber in diesen niedrigen Reisekleidern wie verzaubert und als armseliger Bettelmann vor. Doch habe er bei der Eile der 106 Fahrt außer seiner gewohnten Uniform nur eben, was ihm an alten Kleidungsstücken gerade in die Hände gefallen, zusammengerafft, um sich nicht unnütz mit Gepäck zu beschweren. Zugleich erlaube er sich, über den günstigen Ausgang seiner gestrigen Unternehmungen voll Dank Bericht zu erstatten, Sonja sei aufgenommen, habe bereits ihre Habseligkeiten im Kloster untergebracht und hoffe, recht bald solches Wohlwollen durch die tadelloseste Führung zu erwidern. Die vielversprechende angehende Schülerin machte bei diesen Worten den verheißendsten Knix. Nach einer im Hotel verbrachten Nacht hätten sie beide die Morgenfrühe zu einem ersten und letzten Spaziergang in der Stadt benützt, da das Kind doch um acht Uhr im Kloster einzutreten habe und er selbst gleich danach wieder in die Heimat zurückreisen müsse, dabei wies er auf die Schachtel, die er im Arm trug, welche seine militärische Würde verwahrte. Während er dies und anderes auf die verbindlichste Art vorbrachte, bemerkte er plötzlich, daß die Gräfin eigentümlich die Nase rümpfte und zerstreut umherblickend einen peinlichen Geruch einzuatmen schien, dem sie betroffen mitten im Gespräch nachspürte. Da gedachte er des schönen unverspeisten Sauerkrautes und streifte mit verstohlenem und 107 zornigem Blick das vergällte Frühstück, welches, einzelne weißgelbe krause Blätter empordrängend, aus der zu engen Tasche ans Tageslicht strebte und den guten Saft in einer merklichen Spur längs des gelben Überrockes verräterisch niederrinnen ließ. Im Augenblick erwog er, daß für diese eigentümliche Nahrung eine passende Ausrede und Entschuldigung vorzubringen, wohl zu weitläufig sein dürfte und am Ende das Mißtrauen nur verstärken könne, daß zudem die gute Dame alles Nötige ohnedies getan habe, so machte er der Unterredung ein Ende, empfahl sich mit der stattlichsten Verbeugung der weiteren Huld und küßte der Gräfin die Hand, welche kopfschüttelnd mit erstauntem Lächeln dem sonderbaren Paare nachblickte, das eilends davonschritt.

Nachdem die Betretenen endlich ein ungestörtes Plätzchen getroffen hatten, wo sie sich vom ausgestandenen Schrecken erholten und einigermaßen bestürzt das unglückselige Sauerkraut leider allerdings ohne rechte Lust verzehren konnten, suchten sie – Roszkowski hatte wieder in einem abgelegenen Orte die Uniform angetan – das Kloster auf und fanden in der Sorge um den unliebsamen Zwischenfall nicht einmal mehr Zeit und Laune, dem Schmerz des Abschieds nachzuhängen.

108 Freilich, als Sonja im kahlen Sprechzimmer ihrem Vormund Lebewohl sagte, weinte sie heftig und beugte sich bewegt über seine Hand, die sie inständig küßte. Er aber strich ihr sanft über das schwarze Haar, empfahl sie nochmals der Güte der frommen Schwestern, versprach, sich zeitweilig nach ihren Fortschritten zu erkundigen, erbat sich gelegentliche Berichte hierüber und ging dann eilends fort, die Schachtel mit den Zivilkleidern unter dem Arm.

Im Bahnhof wechselte er abermals seine Tracht und fuhr »stehenden Fußes« nach Österreich zurück, während Sonja sich ihrem neuen Schicksal ergab. 109


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