Otto Stoessl
Sonjas letzter Name
Otto Stoessl

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Der zweite Name

Ernst Roszkowski unternahm seine große Palästinareise zu Schiffe in der ausgewählten Gesellschaft, der er sich, wie schon erwähnt, nützlich und unentbehrlich zu machen wußte. Er besichtigte die berühmten Stätten des heiligen Landes als interessierter Pilgrim. Was ihm hierbei an Abenteuern und Zufällen begegnete, bleibe jetzt unerzählt, nur von seiner Rückkehr möchte in Kürze einiges berichtet werden.

Er landete nämlich in Neapel und saß an einem Tischchen einer Trattoria am Hafen, mit Bedauern der arg zusammengeschmolzenen Barschaft gedenkend, die seinen Urlaub auf unfreiwillige Art bedeutend zu verkürzen drohte. Der Anblick des Vesuv, des heiteren Meeres, der mitten durch die Straßen getriebenen Schaf- und Ziegenherden, die dem Durstigen ohne weiteres einen Trunk boten, indem man ein Tier, wie 110 es dastand, molk und den Becher mit schäumender warmer Milch verkaufte, das klare, helle Licht des südlichen Himmels, alle diese Wunder sind dem nordischen Fremdling um so teurer und im herrlichsten Dasein zugleich um so sehnsuchterweckender, je näher die schlimmste Drohung winkt, sie bald verlassen zu müssen, und selbst ein nüchterner Geist, wie unser Freund, empfindet eine selige Angst vor dem Abschied. Jeder neapolitanische Bub, der auf dem Molo an einem schmalen Mäuerlein liegt, den Kopf in die Arme gedrückt, den Rücken der warmen Sonne zugewandt und inmitten des Lärmes schlummert, hat Anteil an diesem gemeinsamen Glück des Daseins, welches im Grunde ein einziges Gebet ist: hier recht lang leben zu dürfen, in der lichten Heimat. An einem Nebentische saßen drei Leute, Deutsche, vor sich eine große bauchige Flasche roten Weins, sie spielten Karten, lachten, schwatzten und warfen mit ihren Geldstücken herum, als wären diese wild gewachsen. Einer seufzte ingrimmig auf: »Just morgen soll ich Unglücksmensch nach Palermo reisen und Schmetterlinge sammeln, als hätte ich nichts Gescheiteres zu tun, als wäre es nicht gerade hier bei euch, meine Lieben, in Neapel am allerschönsten.«

111 »Aber bedenke doch: Der Jupitertempel und die Schmetterlinge und die deutsche Wissenschaft, die durch dein Stipendium gefördert wird, Pflichtvergessener. Das Reisen ist eine schöne Sache, besonders auf Staatskosten!«

»Mir soll der Staat und die Wissenschaft bei Nacht begegnen. Dann können sie bei Gelegenheit meine Geliebte treffen, die ohnedies auf die Wissenschaft schlecht zu sprechen ist. Verschwinde ich aber morgen, wie ich soll und muß, dann gnade mir Gott. Warum bricht der Vesuv gerade heut nicht aus? Morgen geht mein Schiff! O, ich armer Narr, der ich doch, in aller Welt gerade ich, wegfahren muß, nach Schmetterlingen! Einen gescheiteren Reisezweck konnten sich die guten Gönner gar nicht ausdenken, als die Schmetterlinge von Sizilien.«

Mit einer freundlichen Verbeugung näherte sich Roszkowski den Fremden und sprach sie mit treuherzigen deutschen Worten an, die ihm gar bald ihr Vertrauen erwarben, so daß sie ihm einen Becher Wein einschenkten und ihn an ihrer Heiterkeit und ihrem Kummer teilnehmen ließen. Der blonde Forscher erzählte ihm gleich seinen Schmerz. Er war von einer Hochschule Deutschlands, von einer der vielen 112 heimischen Betriebsstätten der zärtlichsten wissenschaftlichen Zwecklosigkeit mit einem ansehnlichen Stipendium nach Italien geschickt worden, um Schmetterlingsforschungen zu treiben und insbesondere eine Sammlung der sizilianischen Falter anzulegen. Aber, nachdem er ein halbes Jahr lang durch Mittelitalien gewandert war und nun in Neapel sich in ganz andere, bessere Unternehmungen eingelassen hatte, verursachte ihm der Zweck seiner Reise peinlichen Verdruß, und er fand, daß ein Mann wie er, schließlich Besseres zu tun habe, als Schmetterlingen nachzujagen. War denn nicht ein schönes, schwarzes Frauenzimmer ein edlerer Falter, als das farbigste Nachtpfauenauge, und war nicht jeder glühende Tag Neapels und seines jungen Lebens ein entflatternder Schmetterling, dessen Flügel das unwiederbringliche Gold der herrlichsten Zeit schwebend vor dem heißen Blick zittern ließen?

Roszkowski machte einen ernsten Vorschlag. Er sei gegen einen bescheidenen Anteil der ausgeworfenen und verfügbaren Reisesumme, der ihm eben den Aufenthalt ermöglichte, bereit, an Stelle des hoffnungsvollen, aber verzweifelten jungen Gelehrten nach Palermo zu fahren; Schmetterlinge zu fangen, auszuspannen und in Korkbüchsen ordentlich zu verwahren, wisse er von 113 seiner Knabenzeit her, wo er mit ungemeiner Sorgfalt einst das Wappen Podoliens aus verschiedenfarbenen Schmetterlingen: Bläulingen, Weißlingen, Trauermänteln, Distelfaltern, Pfauenaugen, Eulen, Seglern, Zitronenfaltern, Auroren, Blutstropfen, Spannern, Schwärmern, Apollofaltern aufs kunstreichste dargestellt habe, welches noch heute in der Kadettenschule zur allgemeinen Bewunderung ausgestellt sei, er habe sich gerade für diesen Zweig der zoologischen Wissenschaft seit jeher aufs lebhafteste interessiert. Wenn er auch freilich die nötigen Spezialkenntnisse auf diesem Gebiete sich anzueignen später leider keine Gelegenheit mehr gehabt, sei er doch bereit, das Versäumte bei so günstigem Anlaß nachzuholen und schätze sich glücklich, auf diese Weise sowohl einem sympathischen Manne, als auch seinem eigenen Wunsche dienen zu können. Der Herr werde ihm doch sicherlich die erforderlichen Werke zur Verfügung halten können. Und dann käme es ja zunächst nur auf die Zusammenstellung des Materials an, dessen wissenschaftliche Verarbeitung der junge Gelehrte ganz wohl hier in Neapel vorzunehmen in der Lage sei.

Genug, der abenteuerliche Vorschlag wurde von der abenteuerlichen Laune als der selbstverständlichste und 114 großartigste Ausweg angenommen. Gegen eine ehrenwörtliche Zusicherung des fleißigsten Schmetterlingsammelns in Syrakus und Palermo erhielt der rettende Geist eine hübsche, nach seinen Begriffen und Bedürfnissen reichliche Summe Geldes, ein paar große, grüne Netze, etliche geeignete Büchsen, ein Mikroskop, drei notwendig orientierende Bücher eingehändigt und reiste an Stelle des gelehrten Stipendiaten am nächsten Morgen für einen Monat nach Palermo auf Schmetterlingsjagd und ließ sich sowohl das neue Studium, als auch die Kunde von Land und Leuten angelegen sein, durchstreifte Ebenen und Höhen, bestieg den Ätna, wanderte unter Tempeltrümmern, begleitete Hirten mit ihren Herden, schoß mit jungen Jägern nach den kleinen Singvögeln, die er sich unter den glänzenden Sternen am einsamen Feuer briet, schlief zur Nacht auf den warmen Steinen; kam er bei Tag mit Schmetterlingsnetz und Büchse durch strotzende Obstgärten, so erwarb er sich die herrlichste Nahrung, duftende Pfirsiche, herbe Trauben, saftige Feigen aufs wohlfeilste in Abwesenheit des Besitzers, kurz er lebte eine wunderbare Zeit, die er um so seliger genoß, als es ihn nichts kostete, wodurch jeder Gewinn in der Welt recht eigentlich vervielfacht wird, denn es ist nicht zu 115 leugnen, ein gefundener Kreuzer freut inniger, als ein erarbeiteter Gulden.

Nach Neapel zurückgekehrt, übergab er die ansehnlichste Schmetterlingssammlung der vollständig durchforschten sizilianischen Arten seinem Gönner zur weiteren wissenschaftlichen Bearbeitung und gedachte über Marseille schließlich heimzureisen.

In dieser Stadt erwog er, wie schade es eigentlich wäre, bei dieser Gelegenheit die Riviera zu versäumen. Aber seine Barschaft war nur mehr sehr knapp. Er berechnete, daß er zwar Geld genug besitze, um von Genua nach Hause zu fahren und dabei, sparsam wie immer, für Essen, Trinken und Quartier, soweit er eines nötig hatte, aufzukommen, aber für die Strecke von Marseille bis Nizza, die er doch nicht wohl zu Fuß durchgehen mochte, blieb ihm nur wenig übrig. Von Nizza bis Genua gedachte er die herrlichste Wanderung anzutreten, aber wie würde er nach Nizza kommen? Nach seiner genauen Rechnung durfte er sich diese Fahrt vierundzwanzig Franken kosten lassen, nicht einen Rappen mehr. Der Schnellzug aber, den er benützen mußte, um die seinem Vermögen angepaßte strenge Reisezeit zu wahren, erforderte gerade fünfundzwanzig Franken.

116 Seine Erfahrung lehrte ihn, eben aus der größten Eile den möglichsten Vorteil zu ziehen. Er wartete daher den Abgang des Schnellzuges bis zur letzten Minute ab, stürzte voll Hast an den Schalter, verlangte ein Billett nach Nizza, warf seine vierundzwanzig Franken, gänzlich in Kleingeld umgewechselt, als einen wüsten Haufen vor den Kassierer und stürmte zum Zug. Leider aber hatte der Kassierer, noch bevor sich der Fahrgast auf den Waggon schwingen konnte, die Summe abgezählt und zu gering befunden. Schon pfiff die Lokomotive, schon stand Roszkowski auf dem Trittbrett, schon wollte sich die stampfende Masse ins Rollen setzen, als ein Schaffner dem letzten Passagier mit atemlosen Gebärden winkte und ihm in französischer Sprache zurief, er möge einen noch fehlenden Franken nachzahlen. Trotzdem Roszkowski auf deutsch und polnisch diesen frechen Burschen nicht zu verstehen versicherte und kühl die Tür zum Wagen öffnen wollte, zog ihn der Schaffner rasch und unnachsichtig wieder die Treppe hinab, und kaum stand er auf dem festen Erdboden, als der schöne Schnellzug brausend aus der Halle das Weite suchte. Dem zur Kasse zurückgeleiteten fremden Herrn wurde dort auf das eifrigste bedeutet, daß er zu wenig gezahlt habe, da die Karte 117 fünfundzwanzig Franken koste. Roszkowski seinerseits erklärte auf deutsch und polnisch, er habe den richtigen Betrag hingelegt, es sei seine Schuld nicht, wenn man hier den Reisenden so übervorteile und hindere. Aber um ernsteren Konflikten auszuweichen, gab er schließlich das durch den Abgang des Zuges ohnedies für ihn entwertete Billett zurück, strich seine vierundzwanzig Franken ein und stand betrübt im Bahnhofe, den er vor wenig Minuten auf das sinnreichste zu verlassen gedacht hatte.

Doch belehrte ihn der Fahrplan, daß er nicht alle Hoffnung aufgeben müsse. In drei Stunden ging nämlich abermals ein Schnellzug, wenn er diesen in der nächsten Station erreichte, langten seine vierundzwanzig Franken zur Fahrt nach Nizza, und er hatte keinen Tag versäumt. Aber er mußte sich sputen und unbedingt längs der Bahn gehen. Die Fahrstraße führte, wie er wußte, in zahlreichen, zwecklosen und zeitraubenden Windungen weit über den Schienen, in die Höhe der Uferberge empor. Schlug er diese Chaussee ein, so konnte er keinesfalls zurecht kommen. Eilends machte er sich also auf, hatte bald die unangenehme Stadt im Rücken und ging längs der Schienen weiter. Diese boten aber nun gar keinen Fußweg mehr, sondern 118 fielen an einer Seite in raschen Haldendämmen ab, während an der andern eine steinige Lehne steil emporstieg, die hoch oben die verpönte Straße zeigte. Er hielt sich nun zwischen dem Geleise in der Fahrtrichtung. So oft ein Bahnwächter kam und ihn von dem gefährlichen Pfade verscheuchte, tat er dankbar und höflich, wie ein Verirrter, der den richtigen Weg verloren, kroch die Lehne, die zur Straße führte, scheinbar gehorsam empor, bis der Wächter außer Sicht war, um dann hurtig wieder den Schienenweg zu gewinnen.

Nun ist aber diese schöne Uferbahn durch ein mannigfaltiges Felsterrain gelegt, wobei die stärksten Bergvorsprünge unterirdisch von Tunnels geradewegs bezwungen werden. Er mußte also seine Straße durch solche dunkle Schächte nehmen. Das war freilich nicht ganz ungefährlich. Aber auch hier half er sich auf ebenso einfache, wie sinnreiche Art. Er mußte nur trachten, in der Finsternis nicht die Schienen zu verlieren, längs deren er sich vorwärts bewegte. Einen entgegenkommenden Zug mußte er wahrnehmen und konnte sich durch einen Seitensprung retten, nur einen, der ihn rücklings überraschte, brauchte er zu fürchten. Daher hielt er sich an die Schiene der Gegenrichtung, streckte die Krücke seines bewährten Regenschirmes an den 119 leitenden Stahl und wanderte wie ein Blinder, von dem festen ehernen Pfad, an den er seinen Schirm hielt, geführt, durch die Finsternis. Kam ein Zug entgegen, so sprang er auf die andere Schiene, ließ ihn passieren, um dann ungehindert wieder das verlassene Geleise aufzusuchen, auf dem er schließlich genau nach seiner unfehlbaren Berechnung zur nächsten Station gelangte, wo er unangefochten das mühsam erkaufte, um einen Franken billigere Billett lösen und den Schnellzug besteigen konnte, der ihn nach Nizza brachte.

Endlich muß auch die sinnvollste, sparsamste und genaueste Reise mit dem letzten Gulden ihren letzten Seufzer tun und aus sein. Er fand sich daher eines Tages, an Erinnerungen und Aufzeichnungen reicher als an Barschaft, neuerlich in seiner Festung.

Hier war es höchste Zeit, wieder an seinen Schützling zu denken, von dem er eine Anzahl nicht gerade froher Briefe vorfand. Wenn Sonja auch zu stolz und zu vorsichtig war, geradeaus um Erlösung aus ihrer Klostergefangenschaft zu bitten, konnte er doch zwischen den Zeilen von ihrer argen Not lesen. Sie schrieb, daß ihr die Frömmigkeit große Mühen bereite, um so mehr, als sie ein Übermaß davon aufbieten müssen, die Mängel ihrer Kenntnisse und ihres Fortganges 120 vergessen zu machen. Durch ihren unzulänglichen Bildungsweg bedenklich zurückgesetzt, konnte sie offenbar die in geordneten Verhältnissen herangewachsenen Gefährtinnen in den Schulgegenständen leider nicht erreichen und sich die Nachsicht der frommen Schwestern nur durch bittere Werke des Glaubens erwerben, um in der heiligen Anstalt mühselig Duldung zu finden. So mußte sie morgens mit dem Frühesten auf den kalten Fliesen der Kirche betend knien und in Andacht versunken sein, tagsüber außer den Aufgaben, in denen sie sich nicht zurechtfand, köstliche Altardecken und Meßgewänder anfertigen, wobei sie ihre Augen so anstrengte, daß sie von der Arbeit und den vielen Tränen, die sie weinte, bereits trüb und blöde geworden. Es sei für ein ungläubiges verlassenes Geschöpf wie sie, doppelt schwer, stündlich der Frömmigkeit zu opfern, und eben diese angestrengte Gläubigkeit verleide ihr umso tiefer alles, was der Umgebung so teuer und selbstverständlich scheine. Der heilige Name des Erlösers werde ihr jeden Tag wie der bitterste Hohn vorgehalten, indem sie statt erlöst, recht eigentlich gefesselt sei und durch eine Art frommer Folter ihr armseliges bißchen Leben auf dem Altar des Glaubens kreuzigen müsse. Freilich drückte sie diese Gedanken, deren 121 Aufruhr sie als das wilde Naturwesen, das sie bei allem Anschein von ehrbarer Gesittung blieb, nur in den kindischsten und hilflosesten stammelnden Andeutungen aus, aber ihr Beschützer kannte sie gut genug, um sie völlig zu durchschauen. Ihre kindliche Bedrängnis stand ihm deutlich vor Augen. Zudem war er jetzt jeder überflüssigen Barschaft entledigt und konnte das Monatsgeldchen, das er ihr zu schicken hatte, nicht mehr entbehren. Er wollte sie daher unbedingt aus ihrer jetzigen Gefangenschaft abziehen und dadurch auch sich eine gewisse Erleichterung verschaffen. In einem halben Jahre mußte er nach seinen Berechnungen ohnedies nach Wien zur Kriegsschule kommandiert werden. Es galt also, bis dahin sie anderswo unterzubringen, wo es billiger und leichter geschehen könne.

Von dem deutschen frommen Bildungswesen war er wohl endgültig abgekommen. Was sie in dieser Schule versäumt hatte, würde sein eigener Unterricht leicht ergänzen können. Vorerst tat ihr körperliche Freiheit, ja Anstrengung not, um sie aus dem geistlichen Eifer wieder tüchtig herauszuholen. Sollte er sie aber nach Wien mitnehmen und dort weiter für sie sorgen, so mußte er sich endlich auch in seinem Staate irgendeine Art von bürgerlicher Legitimation dazu verschaffen. 122 Als vermögensloser Offizier, der zudem an seinem Stande hing, ehrgeizig war und eine höhere Stufe erreichen wollte, durfte er nicht daran denken, sie zu heiraten, sondern nur, sie mit der geeignetsten Bildung zu irgendeiner Art von Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu erziehen, so daß sie sich in der Welt behaupten konnte. Vor der Gesellschaft mußte also das Verhältnis, um ihr wie ihm nicht zu schaden, dauernd als eine Vormundschaft aufrecht erhalten und jeder Verdacht einer zärtlichen Gemeinschaft vermieden werden. Um vor möglichen, ja wahrscheinlichen Nachforschungen gesichert zu sein, galt es, diese Vormundschaft auch dokumentarisch zu erweisen. Die in Breslau so leicht erwirkte Bescheinigung von Sonjas angeblicher Herkunft konnte in Österreich leider keineswegs genügen.

Auf einem Manöver unweit von Lemberg war er einmal in ein kümmerliches Dörfchen geraten, wo er sich den Starosten, einen schlauen und zugleich kläglich armseligen Bauern, verpflichtet hatte, indem er ihm bei der Einquartierung allerhand Vorteile zugewendet. Diesen, einen gewissen Kobierski, suchte er jetzt auf, erzählte ihm, wie seinerzeit den Nonnen zu Breslau, die merkwürdige Geschichte von Sonjas Herkunft und seinem Treuschwure und bat ihn um 123 Ausstellung eines Scheines, durch welchen er zum Vormunde des Kindes ernannt werde. Er fand bei ihm selbstverständlich als der vornehme Offizier, dem sich der schmutzige Bauer nur mit unterwürfigen Küssen des Mantelsaumes zu nähern gewohnt ist, nicht so sehr Glauben, als unbedingte Bereitwilligkeit, die unter Umständen nützlicher ist, als alle Überzeugung. Bei dem nächsten Bezirksgerichte wurde auf Grund der Aussage des Gemeindevorstehers und des Oberleutnants ohne genauere Erhebungen die Ernennung vollzogen, und hiedurch Roszkowski in die Lage gesetzt, für die Zukunft vor aller Welt auf seine Verpflichtung dem Mündel gegenüber hinzuweisen. Zugleich erklärte sich der Starost bereit, für eine Zeit Sonja zu beherbergen, die auch in seiner Wirtschaft mithelfen sollte. Er erwarb derart eine Magd, ohne für Lohn aufkommen zu müssen, während der Oberleutnant sie solange, bis er sie nach Wien nehmen konnte, in aller Vorsicht bei ihm unterbringen durfte. Gleich begab er sich nach Breslau, stellte sich im Kloster wieder in aller Stattlichkeit vor und verlangte Sonja zurück, die ihm zwar unter lebhaften Beteuerungen des Bedauerns, aber doch bereitwillig ausgefolgt wurde. Man betonte ihre unermüdliche Frömmigkeit und stete 124 Glaubensbereitschaft, zeigte ihm die schönen Meßgewänder, die sie während ihres Aufenthaltes gestickt und überging die geringe Tüchtigkeit in den Lehrgegenständen mit zartfühlendem Stillschweigen, doch war aus der Leichtigkeit, mit der man sie freiließ, zu erkennen, daß sich alle Teile aus einer gewissen Verlegenheit erlöst fühlten. Sonja war in der Zeit nicht sonderlich gewachsen, wohl aber abgemagert und erschien recht blaß und verhärmt, ja ihre Züge hatten sich in der Umgebung den gemeinsamen Ausdruck der vertieften, fast verstörten Gläubigkeit und inneren Seligkeit angeeignet, der ihrem sonstigen lebhaften, raschen, wilden Wesen so entgegengesetzt schien, daß er sie gar nicht mehr recht wiedererkannte. Es war die höchste Zeit, sie endlich sich selbst zurückzugeben. Als er mit ihr allein war, wagte sie nur leise und allmählich ihre frühere Heiterkeit und Ungebundenheit zu äußern und bekannte sich endlich glücklich, erlöst zu sein. So fand Roszkowski keine besondere Schwierigkeit, sie zu überreden, für kurze Zeit bei dem Starosten in eine Art von Dienst zu treten. Er schilderte ihr die Zustände der ländlichen Freiheit und dörflichen Zwanglosigkeit mit den heitersten Farben und stellte ihr überdies die bevorstehende Vereinigung und die Reise nach Wien in 125 nahe Aussicht. Dankbar und bereitwillig folgte sie ihm in das dürftige Nest und wenn sie sich auch in der schmutzigen Bauernhütte, wohin sie schließlich geführt wurde, um dort einige Zeit zu verweilen, ein bißchen enttäuscht und erstaunt umsah, ließ sie doch die unterwürfige und kriecherische Freundlichkeit des Starosten mit Behagen über sich ergehen, da sie zum erstenmal wieder nach langer Zeit das Gefühl der Herrschaft und Vornehmheit an Roszkowskis Seite genießen durfte und gar nicht ahnte, daß der knechtische Bauer etwa sein Betragen wandeln könne, wenn der gefürchtete Offizier ihm den Rücken gekehrt.

Beruhigt reiste dieser nun in seine Festung zurück und ließ Sonja in der neuen Umgebung.

Da mußte sie nun gleich auf das schmerzhafteste die Veränderlichkeit der Menschen erfahren. Kaum war sie von der Bahn in die Hütte ihres neuen Herrn zurückgekehrt, als dieser sie mit unsanften Worten aufforderte, zur Arbeit zu greifen. Gleich mußte sie ihre Kleider ablegen, deretwegen er sie bitter höhnte, ob sie denn glaube, in diesem Staat herumgehen und die Schweine hüten zu können. Als sie ihn zweifelnd ansah, näherte er sich drohend und machte Miene, ihr das Gewand mit eigenen Händen vom Leibe zu ziehen.

126 Empört wies sie ihn mit einer stolzen Gebärde zurück, was er sich unterstehe, ob er denn nicht wisse, wer sie sei und wie er sich ihr gegenüber zu benehmen habe.

Grinsend schrie er sie an, er wisse nur allzugut, daß sie ein Offiziersbankert, der jedem Menschen zur Last falle, ihm ins Haus gesteckt worden sei, um endlich zu arbeiten und zu irgend etwas zu taugen.

Sonja fauchte und drohte zornig, sie werde unverzüglich dem Oberleutnant schreiben und ihn um Hilfe anrufen. Das könne sie ja tun, er werde sich glücklich schätzen, einen solchen Mitesser wieder los zu werden, der vom Brote der Armen zehren wolle, ohne es sich zu verdienen, er habe sich nicht um eine solche Bettelfürstin beworben, sondern sei nur gezwungen worden, sie aufzunehmen; fort mit Schaden, wenn sie ihr Vormund, der edle Herr wieder hole, aber bis dahin habe sie ihm, dem Starosten zu gehorchen und er rate ihr in aller Güte, dies rasch und unbedingt zu tun, da er sonst eine gute Hand und seinen Stock anwenden werde.

Damit stieß er sie an die Arbeit. Sie bekam ein zerrissenes Kittelchen, das kaum ihre Glieder bedeckte und schlief schlechter als jemals in ihrer Kindheit, wo sie doch auch kein Bett gehabt.

127 Die Hütte bestand aus zwei Verschlägen, in dem einen hausten die Schweine, deren Grunzen durch die Reiserwände drohend in den zweiten drang, wo der offene Herd seinen Rauch emporsandte, der durch eine runde Öffnung im Dach seinen Ausweg suchte. Vorher schlug er sich an die Wände, beizte die Augen und verunreinigte alles. In der Mitte des Raumes befand sich eine Grube, wo aller menschliche Unrat, alle Abfälle gehäuft waren und die Luft verpesteten, an der Wand lag Streu aufgeschichtet, auf welchem der Starost, sein Weib, eine stumpfe, einfältige, boshafte, magere, gierige, dreiste und schamlose alte Vettel, und sie selbst schliefen. Warm war es freilich in dieser aus Lehm und Reisig, aus Kot und Ästen mehr zusammengekneteten, als gebauten Behausung, aber diese Luft schien ihr immerhin noch fragwürdiger, als der Weihrauch der schönen großen Kirche, und wenn auch ungläubig, so doch inständig zu beten und zu knien ein geringeres Opfer, als mit Tagesanbruch sich zu erheben, gepufft, geschmäht, bedroht, sich in den anstoßenden Koben zu schleppen, die Schweine zu füttern, dann den Unrat aus der Grube aufs Feld zu führen, den Boden zu harken, mit Spaten und Pflug zu arbeiten wie ein Knecht, ein Brot zu essen, 128 das halb aus Hafer, halb aus Spreu zusammengebacken war und als beste Speise Kartoffeln in allen Gestalten, gesotten, gebraten oder als Brei. Abends fiel sie erschöpft und steif wie ein Stück Holz auf ihre Streu und hörte weder die unflätigen Reden ihres Herrn, noch spürte sie die Rippenstöße der Frau, die neben ihr lag. Sonntag ging sie mit dem Starosten und seinem Weibe in die Kirche, wobei sie den schmutzigen Kittel trug, während ihre eigenen armen Habseligkeiten der Alten zum Schmucke dienten, die damit einherprunkte. Von Schreiben war wohl keine Rede und es war nicht zu denken, daß sie ihrem Beschützer auch nur eine Zeile hätte zugehen lassen können, denn Tinte und Feder fand sie beim Starosten nicht. Wozu auch? So mußte sie tagaus und -ein das elende Dasein fortschleppen, hatte sie der Geliebte vergessen und preisgegeben, so würde sie wie ein räudiger Hund auf dem Stroh verrecken, ohne daß irgendwer auf der Welt nach ihr auch nur den Kopf wandte. Niemand wußte, wer sie war, sie hatte keine Eltern, keine Stätte der Heimat, keine schützende Herkunft, dem schlimmsten Geschick war sie entkommen, ohne Recht und Anspruch zu besseren Zuständen emporgehoben, um jetzt desto tiefer und rettungsloser hinabgestürzt zu sein in die 129 äußerste Verkommenheit. Wer sollte sich ihrer annehmen, wer sie befreien? Wen konnte sie anrufen, wen zum Zeugen des Unrechts machen, das ihr geschah? Und war es denn ein Unrecht? Warum sollte gerade sie aus tausenden elenden Geschöpfen auserlesen sein, auf Glück, Ordnung und Behagen Anspruch zu erheben? Da lag sie denn im Dreck und hätte Zeit gehabt, nachzudenken, warum die Irdischen einen Gott erfunden haben, Zeit, bitterlich zu fühlen, wie schön es wäre, einen Gott über dem Haupte zu wissen, das kein Mensch beschützt, einen Gott, der über dem Verlassensten wacht und die Sorge um den Elendsten nicht vergißt, der nicht nach Eltern und Beziehungen, nach Herkunft und Ausweispapieren fragt, sondern was er geschehen läßt, nach einem Plane fügt, den kein Unglücklicher ergründet. Aber sie glaubte nicht. Zu spät war Name und Begriff der Frömmigkeit und von fremden Worten ihr beigebracht worden, um besser als ein lauter Sehall in ihren Ohren zu tönen, den sie vergaß, sobald er verstummte. Sie war auf sich allein gestellt, recht wie ein kleines Tier, ohne Frage, ohne Bedenken, gewohnt, bei allem, was geschah, sich vor dem sinnlosen Zufall zu ducken, oder sich in ihm zu sonnen, der heute mürrisch, morgen freundlich ein 130 verlassenes Wesen unterwirft, heute in eine fremde Höhe emporzerrt, morgen in eine ungeahnte Tiefe hinunterstößt, kalt wie der windige Tag der Ebene, sternenlos wie die öde Nacht und unerbittlich wie nur die Unvernunft. Sie war aber nicht danach geschaffen, sich über alle Begebenheiten, in die sie gezogen wurde, viel Gedanken zu machen. Sie litt nur oder jubelte, wälzte sich in Seufzern oder hüpfte vor Freude, je nachdem sie getreten oder geliebkost wurde und hatte nur einen Wunsch, aus dem Elend wegzukommen, wie sie in guten Zeiten nur einen hatte, sich das Fell in der schönen Sonne so lang wie möglich wärmen zu dürfen.

So lebte sie eine geraume Zeit, wußte kaum, ob Wochen oder Monate; kein Zeichen verriet ihr den Fortgang, die Dauer, den Wechsel der einförmigen Zustände, ein Tag kam und ging wie der andere; morgens spürte sie beim Aufstehen nicht einmal, ob und wie lange sie geschlafen, denn es schien ihr, sie habe eben erst das von Ungeziefer starrende Lager aufgesucht, abends fühlte sie nicht, ob sie hungrig oder satt sei, noch weniger merkte sie, welcher Wochentag hingegangen, konnte sie doch nur gerade hinfallen vor Müdigkeit, denn sie stand bei der steten Anstrengung in Schweiß und hatte keine Zeit, sich umzuschauen. Es 131 war ihr auch einerlei, dem Unglücklichen steht bloß das Unglück vor den Augen und er sieht nichts als seinen Jammer. Aber für den Elendsten kommt einmal der Augenblick, wo er, vom Schicksal unterjocht, in ungeheuerem Entschlüsse, seiner Herr wird und sich auf irgendeine Weise dem Zwang entzieht, sei es, daß das Ungemach den Lebenswillen gänzlich übermochte, so daß er selbst dem Dasein ein Ende macht, oder hingerafft wird, sei es, daß seine verhaltene Kraft im letzten Ansturm ihrer inne wird und ihn über sich selbst hinausreißt, daß er nicht einmal weiß, was er und wie er es überwunden.

So stand sie eines Nachts wie im Traume auf, kroch wie damals vor zwei Jahren, als sie zu ihrem Beschützer floh, über den Körper der Frau, die neben ihr schlief, zog ihren schmutzigen Kittel an, schnitt einen Mugel Brot ab und steckte ihn zu sich, stahl aus der Tischlade ein paar Kreuzer, die das Barvermögen ihres Herrn ausmachten, gewann durch die unversperrte Tür der Hütte das Freie und ging davon. Wohin? Zu ihrem Beschützer wollte sie. Sie wußte nur, daß er in der Festung C. wohne, dorthin mußte sie kommen. Wie weit der Weg sei, und wie sie alle Schwierigkeiten der Wanderung überstehen könne, bedachte sie gar nicht. 132 Nur, daß in all ihrer Not ihre einzige Zuflucht bei ihrem einzigen Beschützer sei, war ihr selbstverständlich, sowie, daß die Eisenbahn, die er zur Heimfahrt benützt hatte, zu ihm führen müsse. Ohne daher weiter über den Weg nachzusinnen, begann sie längs der Bahnschienen über das ebene Land zu laufen. Es tagte, da war sie schon manche Stunde gerannt, damit sie der Starost nicht etwa einhole. Jetzt war wohl nicht mehr zu fürchten, daß sie erreicht und zurückgebracht würde. Darum setzte sie sich eine Weile auf einen Stein und erholte sich von ihrem atemlosen Rennen und von der ausgestandenen Angst. Mutiger erhob sie sich und ging nun langsam ihrer Wege weiter. Die Sonne brannte, aber sie spürte es nicht, die Sonne ging unter, aber sie sah es nicht, Wolken zogen herauf und die Nacht war da und es wurde plötzlich kalt, aber sie merkte es nicht, sie wanderte stumm und ohne anderen Gedanken, als an ihr Ziel dahin, sie ging und ging wie im Taumel, so daß sie gar oft an einen Stein oder Baum stieß und hinfiel und sich die Knie blutig schund, bis sie vor Müdigkeit umsank und mitten im Felde einschlief, in sich zusammengekauert und die Arme über den Kopf zusammengelegt, wie um sich vor Schlägen zu schützen.

133 So lag sie, bis wieder die Sonne schien und sie aufweckte. Darauf erhob sie sich gestärkt, verzehrte ihr Brot und ging weiter, bis es wieder Mittag wurde. Auf einem Felde fand sie Hirten, die an einem Feuer Kartoffeln brieten. Sie blieb ein paar Schritte vor ihnen stehen und fürchtete sich, den fremden Menschen nahezukommen. Aber der Hunger trieb sie schließlich näher. Die Leute taten ihr nichts zuleide und glotzten sie nur an, wie ein Tier das andere. Und als sie endlich unwillkürlich die Hand nach einer gebratenen Kartoffel ausstreckte, die gar zu verlockend in die Nase duftete, wehrte ihr keiner, so faßte sie sie und schlang sie hinab, eine zweite, eine dritte. Die Buben lachten.

Endlich fragte sie einer, wohin sie gehe. Sie antwortete: nach der Festung C. Der grinste, das sei weit; sie fragte wie weit; zwei Tage vielleicht, oder drei. Sie nickte.

Als sie satt war, machte sie sich wieder auf, ohne sich umzusehen, während die Burschen ihr nachblickten und murmelten.

Am Abend brach ein Unwetter aus, sie lief im strömenden Regen immer längs der Bahn, bei jedem Blitz und Donner erschreckend, wie vor einer bösen Stimme, die sie anrief. Sie fand ein Gehöft, das unter dem 134 Sturm geduckt dalag. Sie hörte eine Kuh im Stall ängstlich muhen und brüllen und tastete sich diesen Lauten nach durch die niedrige Tür in den dumpfen, warmen, feuchten Raum, wo gerade noch ein Eckchen frei war, in das sie sich schmiegen konnte. Hockend schlief sie ein.

Als sie erwachte, wußte sie erst nicht, wo sie war, dann roch sie den guten freundlichen Stallgeruch und sah in der Dämmerung die schmutzige weiße Kuh vor der Raufe stehen und hörte sie malmen. Sie schlich sich näher an das Tier heran, da sie Durst hatte. Unwillkürlich langte sie nach dem vollen Euter und beugte ihren Kopf darunter, molk ein bißchen und ließ sich die warme süße Milch in den Mund und über ihr Gesicht laufen und trank sich satt. Das gutmütige Tier, als geduldige Milchmutter daran gewöhnt, ließ es geschehen. Dann seufzte Sonja befriedigt auf und schlich wieder davon, ohne daß sie von irgendwem gesehen worden.

So ging sie den zweiten Tag hindurch und kaufte in einem Dorfe ein Stück Brot und wanderte weiter, schlief abermals im Felde. Am dritten Morgen spürte sie plötzlich etwas Warmes, Feuchtes auf ihrem Gesichte und wachte erschrocken auf. Da stand ein zottiger, 135 schwarzer Hund, der sie beleckt hatte und als sie ihn bestürzt ansah, leise bellte. Sie erhob sich eilig, aber niemand war in der Nähe. Der Hund lief mit schweren, klatschenden Tritten davon, und sie ging weiter, bis sie gegen Mittag auf einem Platze Soldaten exerzieren sah. Da freute sie sich und hoffte, in der Nähe der ersehnten Festungsstadt zu sein. In der Tat kam sie bald zu den ersten Gebäuden und ging längs der dürftigen Straße eines Vorortes.

Sie sah auf die Inschriften der Häuser und Tafeln und erkannte den Namen der Festungsstadt.

Plötzlich merkte sie an einer Kirche große schwarzgeränderte Zettel. Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß in Polen die Todesanzeigen an die Mauern allenthalben angeschlagen zu werden pflegen, damit die Nachricht allgemein kund wird. So finden sie sich in jedem größeren Ort und an allen besuchten Plätzen.

Unwillkürlich las sie, endlich auf dem Hauptplatz angelangt, einen solchen Anschlag. Sie kannte zwar die polnische Sprache nicht aus dem Grunde, aber immerhin genug, um den Inhalt einer solchen Anzeige zu erfassen. Und da fand sie unter einem großen schwarzen Kreuze den Namen: Ernst Roszkowski. Mit einem furchtbaren Aufschrei fiel sie hin. Das war ja ihr Beschützer, 136 ihr Gebieter, der einzige Mensch, den sie hatte! Wie lange ihre Ohnmacht gedauert, wußte sie nicht. Doch erhob sie sich endlich wieder und fragte jemand schluchzend nach der Wohnung des Verstorbenen, indem sie auf den unheilvollen Zettel deutete. Man wies ihr den Weg. Weinend schleppte sie sich eine ansteigende Straße zu einem einsam gelegenen Hause empor. Sie mußte den Toten wenigstens sehen, seine kalte Hand noch einmal ergreifen. Es konnte nicht sein, daß er schon begraben sei und unter der Erde liege, nachdem sie drei Tage zu ihm gewandert war. Und hätte sie ihn auf dem Friedhofe ausscharren müssen, noch einmal mußte sie ihn sehen. Und der Tote müßte noch einmal seine Lippen öffnen und ein Wort sprechen. Denn wie sollte sie lebend wenn er ihr nicht sagte, was sie zu tun habe. Um ihretwillen mußte ein Wunder geschehen.

Da war sie nun vor dem Trauerhause, hörte von drinnen die Gebete und murmelnden Stimmen vieler Leute, wagte doch nicht einzutreten und überlegte in Tränen, was sie tun solle, als plötzlich die Tür sich öffnete und der Sarg herausgetragen wurde, dem ein geordneter Zug leidtragender Paare folgte.

Mit einem wilden Lachen jauchzte sie plötzlich auf, das wie der inbrünstige Schrei eines befreiten Tieres 137 aus ihrer Brust hervorbrach, als sie den Geliebten lebend, in voller Uniform, eine schwarzgekleidete, schwergebeugte alte Frau am Arme führend, unmittelbar hinter dem Sarge einherschreiten sah.

Alle Blicke waren auf dieses armselige Geschöpf gerichtet, das wie eine Wahnsinnige gebrüllt hatte. Sie aber schaute mit einem Ausdruck wunderbarer Seligkeit auf den ihr Wiedergegebenen.

Der Oberleutnant lächelte ihr nur einen Augenblick lang freundlich und wieder gebietend zu, er hatte sie erkannt, sie senkte fast bestürzt den Kopf und stand still da, ließ den Trauerzug vorbei, der sich die Gasse entlang, gemessen nach der Kirche bewegte und folgte in weiter Entfernung wie ein furchtsamer, treuer Hund, erwartete dann vor der Kirche die Einsegnung, bis der Zug neuerdings hervorkam und zum Friedhofe wanderte. Immer wieder blickte sie nach dem schlanken Offizier, der an der Spitze schritt, und ob er es auch wahrhaftig sei, der da lebte und sie erkannt hatte.

Es war sein Vater, dessen Vornamen auch er führte, der gestorben war und heute bestattet wurde.

Beim Kirchhofe blieb sie vor der Gitterpforte stehen und sah, wie man den Sarg ins Grab senkte, wie der Geistliche das Räucherfaß schwang, wie die 138 Leidtragenden beteten und weinten und aus einem Schäufelchen die ersten Schollen warfen, bis die Zeremonie beendet war und die Schar in gelöster Ordnung wieder zurückkam.

In weitem Abstande folgte sie den Trauergästen, die sich in das Haus des Verblichenen zurückbegaben, um den Leichenschmaus zu genießen, der hier im Lande mit besonderer Reichlichkeit bereitet und gefeiert wird.

Sie duckte sich hinter einen Baum und war fröhlich in ihrem Herzen, wo in dieser einen Stunde unversehens der große Gott der Ewigkeit erwachte und sprach: Siehe, hier lebe ich und bin.

Nie hatte sie von ihm gewußt, nie an ihn gedacht, alle Lehren vergessen, die ihn ihr in gleichgültigen Zeiten eingeredet: der Gott, dem sie verdrossen und gequält bittere, prunkende Meßgewänder gestickt, den sie auf schwachen Knien in einer kalten Kirche mit plapperndem Munde, unmutigen Herzens angebetet, wachte in dieser Stunde auf, er schien seine mächtigen Arme auszubreiten und sie gütig zu umfassen, ein gepeinigtes, verlassenes, aufs tiefste bedrücktes Wesen, das vor dem schwersten Ende stand. Er war da, er mußte da sein, wo es solches Glück und solche Rettung gab. Hier war ein Mensch zu erlösen, da war auch ein 139 Erlöser. Und in der schwersten Not war er gut genug, erfunden, gefühlt, mit blöden Worten gepriesen zu werden, er, der Gott, im Zufall, im Glück, in der endlichen Zuflucht.

Sie schluchzte und lachte und freute sich, bis allmählich das Wunder hinabsank in die Tiefe ihrer befreiten Brust und ihres kindlichen Vergessens, bis sie das Unerwartete wieder als selbstverständlich, den köstlichen Gewinn als natürliche Lösung eines peinlichen Mißverständnisses und ihre Rettung als Notwendigkeit empfand, da sie zu gut, im Unrat zu ersticken und besserer Tage würdig sei. So ging mit einem wehmütigen Glanz und in schweigsamer Güte, wie es dem alten Gott der Menschen gemäß ist, der Ewige unter in die Vergangenheit und hinter den hohen Berg des gemeinen irdischen Daseins, wie seine Sonne, die ihr Tagewerk getan hat.

Im Hause ward es laut und lauter, mannigfache männliche und weibliche Stimmen ließen sich vernehmen, jeweilen sogar ein schüchternes Lachen, welches verstohlen erst, dann zuversichtlicher erscholl, der Lärm klirrender Geschirre, angeklungener Becher, von Reden und Antworten.

Plötzlich trat, verstohlen um sich blickend, der 140 Oberleutnant aus der Türe, ein Päckchen in der Hand. Er entdeckte gleich die hinter dem Gebüsche verborgene Sonja und eilte zu ihr. Sie küßte ihn lachend und erzählte ihm mit fliegender Hast ihre Schicksale. Er beruhigte sie, hieß sie auf ihn bis zum Ende des Mahles warten und sich indessen an den mitgebrachten Speisen sättigen. Die Mutter habe sie ihm selbst zugerichtet für das arme Bettelkind, das sie mit dem eigenen scharfen Blick der Frauen dem Zuge folgen und sich so wunderlich betragen gesehen habe. Vielleicht ahnte sie irgendwie, daß dieses fremde Wesen mit ihrem Sohne in einer eigentümlichen, dunklen Verbindung stehe. –

An dem nächsten Abend brachte sie der Oberleutnant in ein Haus zu einer Witwe, welche an Offiziere Zimmer vermietete. Er wagte es doch nicht mehr, sie bei sich selbst einzuquartieren. Bei dieser Frau bekam sie ein Stübchen, dessen einziges Fenster auf die dunkle Treppe hinausging, so daß sie weder Luft, noch Licht genug hatte. Aber ihr Geliebter und Vormund kam doch täglich, nach ihr zu sehen. Um sich aber keinen weiteren Fragen und Nachforschungen auszusetzen, besuchte er sie nicht etwa in ihrer Kammer, sondern schloß Freundschaft mit einem völlig gleichgültigen Kameraden, der im oberen Stockwerke hauste, um ihn immer 141 gegen Abend auf eine Viertelstunde zu besuchen, eine Tasse Tee mit ihm zu trinken und dummes Zeug zu schwatzen, oder anzuhören, dann sich zu verabschieden, über die finstere Stiege hinabzutasten und vor Sonjas Fenster stehen zu bleiben, wo sie ihn schon erwartete. Sie küßten sich, er steckte ihr ein bißchen Futter zu von dem Essen, das seine Mutter ihm für den Dienst mitgegeben hatte, und nach ein paar Minuten ging er eilends fort, wenn ihn irgendein verdächtiges Geräusch nicht schon früher von seinem gefährlichen Stelldichein verscheucht hatte.

So vergingen wieder zwei Monate, oder drei, bis endlich seine Versetzung nach Wien an die Kriegsschule zustandegekommen war. Nun packte er seine Habseligkeiten und sie selbst zusammen und fuhr hierher.

Da war er nun. Heute hatte er seine vorläufige Wohnung besichtigt und mir die Geschichte seiner Abenteuer als die Erlebnisse eines befreundeten Offiziers anvertraut.

Ich wußte in der Tat bis zu diesem Augenblicke auch nicht im mindesten, daß dies seine eigenen Angelegenheiten waren. Als er geendigt hatte, fragte er mich: »Nun, was hältst du von einem solchen Kerl! Was würdest du zu ihm sagen?«

142 Ohne mich zu besinnen, antwortete ich: »Das ist ein prächtiger Mensch und er hat recht getan. Mich freut dies alles als Beweis, daß das Leben doch nicht so öde und gewöhnlich ist, wie es die Armseligen alle ausschreien, um ihren faulen Frieden und ihr dummes Behagen zu rechtfertigen. Auch das Mädchen muß solcher Geschicke und Teilnahme würdig sein. Der Mann hat an ihr brav gehandelt, zuerst, daß er sich ihrer in der bitteren Not annahm, dann, als er der Versuchung nicht mehr widerstand, sie nicht wegwarf, sondern erst recht beschützte und seine Pflicht auf sich lud, für sie zu sorgen, trotzdem es ihm nicht leicht fallen konnte. Er darf jedem Vorurteilslosen getrost ins Gesicht sehen.«

Da lächelte der Oberleutnant freundlich und mit seinem Blick sagte er: »Nun also, die beiden sind zusammen nach Wien gereist, er verließ sie in der ersten schlesischen Station, fuhr mit dem Schnellzug voraus, während sie mit dem Personenzuge nachkommt, der jetzt auf dem Nordbahnhof eintrifft. Ich erwarte sie eben. Willst du auf den Perron mitkommen? Sie kennt dich schon; als du damals in unserem Zimmer warst und die Reiseerinnerungen aus München betrachtetest, hat sie dich aus dem Kasten gehört.«

143 Ich machte wohl ein recht verdutztes Gesicht bei dieser Eröffnung, entschuldigte mich aber, Sonja müßte doch wohl zuerst in der fremden Stadt sich einleben, habe auch bei der Ankunft zunächst das Wichtigste mit ihm abzureden und bedürfe der Ruhe. Also wollte ich sie beide lieber einmal besuchen, wenn sie in der neuen Heimat bereits ein bißchen eingewöhnt seien. Dann würde ich mich freuen, sie näher kennen zu lernen und bei ihnen angenehme Stunden zu verbringen.

Er billigte diese Absicht und drückte mir herzlich die Hand. Wir waren vor dem Nordbahnhofe angelangt. Ich ging fort, während er die Stiege zum Perron hinaneilte, um seinen Schützling abzuholen, der Zug mußte gleich in die Halle einfahren.

Sie können sich denken, daß ich sehr neugierig war, diese kleine Wilde zu sehen und insbesondere den Haushalt zu beobachten, der von dem Paare geführt wurde.

Daher war ich recht erfreut, schon nach kurzer Zeit eine Einladung in die Kaserne des Oberleutnants zu bekommen.

Er hatte bereits eine vollständige Wohnung, aus Vorzimmer, Küche und Zimmer bestehend, eingeräumt erhalten. Als ich sie betrat, erwarteten mich drei 144 Leute bei der Tür, um mich zu begrüßen: Antipas, der öffnete und feierlich, die Hand an der Hosennaht, in Habtachtstellung dastand, Roszkowski und einen Schritt hinter ihm – Sonja.

Wenn ich sie jetzt schildern, oder vielmehr mir deutlich machen soll, ob und wie der erste Anblick des jungen Wesens sich von der Vorstellung unterschied, die ich mir aus den Erzählungen ihres Schicksals selbst im Geiste gebildet, weiß ich nur das eine, daß ich immerhin erwartet hatte, ein sehr junges, aber doch voll bewußtes, reifes Weib zu sehen und eine entschiedene, obschon eigentümliche Schönheit. Wie war ich erstaunt, ein kleines, zierlich gewachsenes, und zwar weiblich entwickeltes aber zugleich überaus kindliches Geschöpf zu finden. Sie hatte ein volles rundes braunes Gesicht. Ihr starkes, veränderliches Mienenspiel ging von Ernst, Feierlichkeit und Würde sofort in ausgelassene Heiterkeit über. Sie trug kurze Kleider und eine gestickte Schürze, aus dem Röckchen sahen nette zierliche Füße hervor, ein langer schwarzer, glänzender Zopf baumelte ihr im Rücken. Ich verneigte mich stumm und förmlich, sie machte einen vollendeten Kurknix wie eine Hofdame, indem sie mit jeder Hand ihren Rock sorgsam zwischen die Fingerspitzen nahm, 145 sich in das rechte Knie niederließ und mit einem Schritt nach rückwärts aufrichtete, wobei ihre Miene einen gewissen strengen und ärgerlichen und zugleich wieder schlauen Ausdruck annahm, wie ihn oft kluge Kinder haben, die sich beobachtet wissen.

Roszkowski sagte: »Das ist also mein lieber Dieter, von dem ich dir schon so viel Gutes erzählt habe und den du ja bereits vom Kasten aus C. her kennst. Ich hoffe, er wird unser Freund bleiben und soll mir helfen, dich in manchen Dingen zu unterrichten.«

Ich weiß nicht, wie ich auf den Einfall kam, das gute Kind aus seiner damenhaften Haltung zu befreien. Ich sagte nicht viel, sondern nahm meinen Hut ab und schlug damit heftig an die kahle Wand, wo bei anderen Leuten sonst ein Haken die Kleidungsstücke aufzunehmen pflegt, während hier natürlich kein solches Möbel zu finden war, tat äußerst erstaunt, daß der Hut nicht hängen blieb und sah mich ratlos um, bis ich ihn ohne weiteres auf den Kopf des verdutzten Burschen stülpte.

Dieser Antipas grinste – der Treffliche kannte mich bereits von der Waffenübung her – und begann aus der tiefsten Brust zu lachen, Sonja aber verlor über diesem recht bescheidenen Scherz ihre ganze Fassung, 146 brach in einen hellen Jubel aus, und als ich sagte: »Habt ihr aber einen schönen Hutständer!« tanzte sie wie besessen von einem Bein auf das andere, Antipas ahmte sie mit meinem Hut auf dem Schädel nach, so daß eine tiefe und eine helle Stimme, ein zierliches und ein plumpes Tier in Uniform mit einem steifen Zivildeckel auf dem Kopfe, in dem Vorzimmer solange wieherten und stampften, bis Sonja atemlos niedersank und seufzend, schluchzend vor Lachen liegen blieb.

Roszkowski sah achselzuckend auf die Kleine. Ich wunderte mich über die großartige Wirkung meines mäßigen Witzes und wartete, bis Sonja sich etwa fassen und erheben würde. Sie aber tat nichts dergleichen, sondern klagte nur: »ich kann nicht, ich kann nicht,« bis der Oberleutnant sagte: »Ich bitte dich, Dieter, faß an, wir müssen sie ins Zimmer tragen. Gutwillig steht sie nicht auf.«

So packte ich sie bei den Schultern, Roszkowski bei den Füßen, wir trugen die leichte Last ins Zimmer auf einen Stuhl, wo sie zufrieden sitzen blieb und vor Vergnügen keuchte.

Auf solche Weise war unsere Bekanntschaft und Freundschaft beschlossen und in dieser Art einer Hanswurst-Komödie spielte sich von nun an immer mein 147 Verkehr mit Sonja ab, da ich sehr bald erkannte hatte, daß ich zu einem ernsthaften Lehrer für sie nicht taugte. Sie war leider schlau genug, auch wenn ich ihr nach Roszkowskis Wunsch ernsthafte Kenntnisse in der Geographie beibringen wollte, hinter jedem Satze einen Spaß zu vermuten und die Lehre, daß es fünf Weltteile gebe, für einen köstlichen Witz zu nehmen. Sie trug nämlich gar kein Verlangen nach Bildung, sondern litt unter solcher Belästigung wie unter einer ungerechten Quälerei und trachtete, sich derartigen Zumutungen, so gut es ging, zu entziehen. Bei ihrem strengen Herrn war dies freilich nicht möglich, denn der setzte jedem Versuche, zu lachen und zu scherzen, die finsterste Miene und den bösesten Zorn entgegen, so daß sie sich seufzend ins Unvermeidliche schickte, sittsam neben ihm saß und aufmerksam tat. Seinen Vorträgen hörte sie scheinbar mit gespannter Geduld zu und antwortete mit verständnisvollem Jasagen und Kopfnicken, als gäbe es in aller Wissenschaft nichts, was sie nicht sofort begriffen hätte. Er aber freute sich ihrer großartigen Fassungskraft und hoffte, sie für das weite Reich der Bildung durchaus zu gewinnen. Als ich aber auch noch mit gelehrten Zumutungen kommen wollte, half sie sich entschlossen und 148 störte durch die gewandtesten Einfälle den Unterricht. Da ich weder Lust hatte, mich mit der Ungebärdigen zu plagen, noch mir ihre freundliche Gesinnung durch Pedanterie zu verscherzen, gab ich es bald auf, sie zu belehren und seither vertrugen wir uns als zwei spaßhafte Kameraden recht angenehm.

Roszkowski hatte einen vollständigen Unterrichtsplan für Sonja entworfen, mit der peinlichsten Sorgfalt aus allen Wissensgebieten das Nötigste zusammengestellt und einen großen Folianten angelegt, in welchen er alle Lehrgegenstände der Reihe nach eintrug. Da standen die schönsten geometrischen Figuren, die Formeln für den Flächeninhalt der verschiedenen Gebilde, die Beweise für den pythagoreischen Lehrsatz, die ludolfische Zahl auf fünfzehn Stellen entwickelt, die Grundsätze des Quadrierens und Kubierens und Wurzelziehens, Zinseszinsrechnung und Gleichungen mit einer, zwei und drei Unbekannten, mathematische Geographie mit den Argumenten für die Kugelgestalt der Erde, Nachrichten über die Bewegungen der Himmelskörper, die Entstehung der Jahreszeiten, das Verhältnis von Sonne und Mond zur Erde, Bevölkerungszahlen aller Weltteile und Länder, aller Staaten und bewohnten Orte, die Regierungszeiten sämtlicher 149 Monarchen von Numa Pompilius bis auf Franz Josef den Ersten, die unregelmäßigen Verba der französischen Sprache, Grundsätze der deutschen Rechtschreibung und Grammatik, Literaturgeschichte mit den Namen aller Klassiker von Horaz bis Mickiewicz.

Es war grausam schön. Dieses mit der tadellosesten Kalligraphie geschriebene und geordnete Buch nannte er das »goldene« und Sonja blickte mit geheimem Entsetzen in dessen unendliche Wirrsale, für sie gab es nur eine Hilfe, sie mußte gewisse Stunden wirklich dem Lernen opfern, bei ihrer leichten Auffassung kannte sie, wenn er sie prüfte, tatsächlich ihr Pensum, brachte es aber fertig, alles sofort wieder zuverlässig zu vergessen, so daß die Wissenschaft für sie so unergründlich blieb, wie nur für einen Bekenner der Nichtigkeit aller menschlichen Einsicht. Dafür betätigte sie aber in allen wirtschaftlichen Angelegenheiten die tüchtigste Begabung und Geschicklichkeit und wußte so recht nach Roszkowskis Neigung, Geschmack und Plan von wenig mehr als nichts zu leben und Mähler zu richten.

Gelegentlich gaben sie ein sogenanntes Fest; mit meiner Hilfe wurde das Wohnzimmer auf höchst bunte Weise ausstaffiert, indem etwa ein alter Faßreifen mit rotem Papier überhängt in der Mitte des Raumes als 150 Kronleuchter angebracht wurde. Auf ihm saßen Kerzchen, die unter dem farbigen Papier prächtig glühten. Antipas in seiner Uniform trug mit feierlicher Würde die Speisen auf; einen alten Fez aus meinem Besitze hatte er stolz auf dem Kopfe, es gab zwar nur drei Teller und Eßbestecke, aber sie wurden nach jedem Gange abgeräumt und in der Küche geschwind gewaschen, so daß sie beim nächsten Gericht wieder tadellos auf den Tisch kamen. Was gab es da für eine ungeheure polnische Mahlzeit, endlos, mit einer Reihe von Speisen, beängstigend abwechslungsreich! An der Spitze der berühmte Barez, den sie meisterlich zubereitete, in einer roten Rübenbrühe schwammen fette Fleischstücke und Kohl, dann kam ein Huhn in einer rätselhaften Sauce mit Kartoffeln und so weiter, bis zu merkwürdigen Mehlspeisen und als Krone ein grauer, wie verwittertes Felsgestein gefärbter Käse, dem sie den stolzen Namen »Fromage de Kanczuga« beilegten, angeblich nach dem geheimnisvollen heimatlichen Erzeugungsorte. Später kam ich darauf, daß dieser Magenzerfresser nichts weiter war, als Milch, die vierzehn Tage lang stehen gelassen, dann mit allerhand Gewürz versetzt und verrührt worden, bis sie würdig erschien, eine Mahlzeit zu beschließen.

151 Roszkowski erzählte voll Stolz, wie Sonja sich das Beste um das billigste Geld zu verschaffen wisse. Vor einem solchen Feste ging sie, von Antipas begleitet, der ihren Korb trug, als Offiziersdame auf den Naschmarkt und war bei allen Weibern verrufen. Kam sie etwa zu einem Geflügelstande, so suchte sie sich geschickt die zwei schönsten Hühner aus und faßte jedes in eine Hand, wobei sie sich nach dem Preise erkundigte. Dann hieß es, das eine koste sechzig, das andere siebzig Kreuzer. Nun wog sie beide sorgsam rechts und links, zählte die Knochen, griff an das Fett, zerrte die Haut, befühlte die Eingeweide der gelblichen, gerupften Vögel und erklärte schließlich, das billigere Stück zu nehmen, wobei sie auf die Hand wies, die es eben hielt. Das Marktweib, froh, daß sich die wählerische Dame endlich entschlossen hatte, richtete ein Papier her, den Kauf darein zu wickeln, während Sonja mit einem kühnen unbemerkten Griff die Hühner vertauschte, so daß sie das bessere, teuere in die bezeichnete Hand hinüberbekam und damit zum geringeren Preise erwarb. Stolz gab sie es Antipas in den Korb und ging mit seinem Neigen des Kopfes grüßend davon, während die Händlerin nachher auf den kleinen Betrug kam.

Roszkowski erzählte solche Stücklein der gewandten 152 Schelmin voll Genugtuung, denn nur so gelinge es, den ungeheuren Zwischengewinn der Einzelverschleißer, der eine schonungslose Ausbeutung des Publikums darstelle, ein wenig zu verringern. Hörte man ihn, so war ein solches Verfahren nicht nur etwa fromm und erlaubt und selbstverständlich, sondern geradezu sittlich erhaben als freie, menschliche Gerechtigkeit, wie denn seine Lebensanschauung überhaupt ein erbarmungsloses System der Selbsthilfe bedeutete. An den Tagen aber, wo keine Feste gefeiert wurden, lebte man von dem Wenigsten, von Kartoffeln in allen Gestalten, oder von Antipas' Menage, die ihm abgekauft wurde, oder von einem Stücklein Rindfleisch, das Sonja bei ihrem Lieferanten eingehandelt hatte. Auch hier erfand sie eine gute Art, sich etwas Besonderes zu verschaffen. Sie ging nämlich zum Fleischhauer nicht in Begleitung des Offiziersburschen als große Dame wie sonst auf den Markt, sondern recht schäbig und dürftig mit einem kümmerlichen Umhängetuche und traurigem Gesichte und bat den behäbigen Zuschrotter um ein schönes Stückchen Fleisch für ihre kranke Mutter, die gar so arm und elend zu Hause liege und ihrer Pflege und Kost sehnlich gewärtig sei. Aus Mitleid und um Gottes Willen wog ihr der gute Mann reichlich zu, warf auch 153 einen bedeutenden Knochen, ein schönes Stück Leber oder Milz oder Fett für eine kräftige Suppe auf die Wage und in ihr Körbchen und bildete sich ein, einem kümmerlichen treuen Kinde etwas Rechtes um Gotteslohn gegönnt zu haben. Die Portion reichte dann für die beiden gesunden Leute aus und wurde mit allem Behagen genossen.

Roszkowski war aber unablässig um Sonjas weitere Ausbildung besorgt. Das wichtigste schien ihm zunächst: Kleidernähen und Tanzen. Das Nützliche und Angenehme, Gewandtheit in allen häuslichen und gesellschaftlichen Tugenden sollte sich in der Erziehung seines Schützlings harmonisch vereinigen, um sie des hohen Schicksals würdig zu machen, das ihr zuteil werden mußte. Er mochte mit ihr große Pläne vorhaben, über die er sich nicht deutlicher und genauer äußerte, welche er aber von dem gerechten Schicksal voraussetzte, das über ihren Häuptern stand.

Erriet ich seine Absichten, so zielten sie wohl darauf, daß Sonja etwa von einer hohen Persönlichkeit adoptiert und zur Erbin eines nur auf sie wartenden, vorläufig in irgendeiner Ecke der Welt und in der feuersicheren Kasse eines kinderlosen Millionärs harrenden Riesenvermögens gemacht werden sollte, oder es konnte 154 sich auch ein Fürst in sie verlieben und ihr eine Krone aufsetzen. Er war vorurteilslos genug, sich und ihr auch diese und sei es nur eine morganatische Zukunft zu vergönnen. Oder sie mochte in der Gesellschaft eine solche Rolle spielen, daß man sie nicht anders, als mit den höchsten Ehren belohnte. Kurz, der Möglichkeiten des Glücks gab es genug. Sonja war wie ein starker Schößling, der selbst durch einen Felsen zu wachsen und seinen grünen Trieb ans Licht zu bringen versteht und müßte er in den schwierigsten Windungen Luft und Sonne suchen. Sie konnten beide nicht untergehen.

Einstweilen galt es aber, das Mündel durch Erziehung zu fördern, muß man doch selbst das großartigste Schicksal gewissermaßen zurichten, denn wenn es allein gehen und kommen soll, lahmt es und schlägt aus, schwingt sich aber einer beschickt auf seinen Rücken, so wachsen dem Wundertier Flügel und es trägt seinen Meister zu den Sternen.

Daher schickte er Sonja in eine Näh- und in eine Tanzschule zur harmonischen Ausbildung ihrer Persönlichkeit.

Bei einem gelegentlichen Besuche fand ich ihn über den großen Tisch seines Zimmers gebeugt, der mit 155 Pappendeckelschichten, Zirkeln, Linealen, mit verschieden gewundenen Flachhölzern, mit Scheren, zackigen Schneiderrädern und sonstigen Geräten aller Art bedeckt vor. Er entwarf auf braunem Papier mit farbigen Stiften merkwürdige Figuren, erklärte mir, daß er eben das Schnittzeichnen studiere und seine Kenntnisse des menschlichen, insonderheit des weiblichen Körpers zu erweitern trachte, um Sonja die Teilnahme an dem Näherinnenkursus zu erleichtern. Wie immer, wenn es etwas zu lernen galt, saß sie nämlich dort beim Unterricht und tat, als ob sie alles aufs rascheste und beste verstünde, während sie von den unzähligen Schnitten und Mustern betäubt, nur ein paar dunkle technische Ausdrücke behielt, mit denen sie vor ihm überlegen herumwarf, ohne klaren Bescheid zu wissen. Deshalb beschloß er, die Sache gleich selbst zu lernen und Sonjas Garderobe zu Hause mit ihrer Hilfe anzufertigen.

Die Frucht dieser Übungen waren einige ausführliche Niederschriften in dem »goldenen Buche« und ein kühnes Ballkleid, in welchem Sonja die bevorstehende Abendunterhaltung der Tanzschule zieren sollte.

Dieses Ballkleid hatte auch sonst eine hübsche 156 Geschichte. Es war ein kleiner Teil eines ausnahmsweise rechtmäßig erworbenen Gewinnes.

Bekanntlich sind die Galawagen, worin Österreichs Erzherzoginnen, die Palast- und Hofdamen zu Festen fahren, mit schönen, zartfarbigen Seidenstoffen ausgeschlagen, die jedoch unter der Sonne leiden und, wenn sie auch nur ganz leise verblaßt sind, sofort abgenommen werden.

Desgleichen werden die Courkleider nach kürzestem Gebrauch zertrennt und weggegeben.

Nun besteht die Sitte, daß man alle diese Vorräte an kostbaren Zeugen um einen lächerlichen Geldbetrag an Bevorzugte abgibt, die davon wissen. So können insbesondere Offiziere solche Reste aufs wohlfeilste erwerben und ihre Damen mit Kleidern, die daraus gefertigt sind, wieder in ihren Kreisen die prächtigsten Figuren machen. Es ist gleichsam ein zweiter Rundlauf der Herrlichkeit.

Wie wäre Roszkowski, der alle Wege der Vorsehung kannte, gerade dieser entgangen!

Um ein paar Gulden erstand er einen ganzen Stoß von Seidenstoffen. Den größten Teil davon schickte er seiner Mutter, welche damit in der Festung C. einen schwunghaften Handel trieb, indem sie den 157 putzsüchtigen, doch nicht genügend reichen Offiziersfrauen diese königlichen Reste um einen Preis verkaufte, der zwar bedeutend die Kosten der Erstehung überschritt, doch natürlich sich wieder weit niedriger belief, als wenn die Seiden neu im Modemagazin erworben worden wären. Zudem hätte man sie in der Kleinstadt draußen nicht einmal um das teuerste Geld bekommen können, sondern nach Wien oder Paris fahren müssen, um derlei Pracht zu finden. Es war daher das reine Geschenk des Schicksals, daß diese brave Witwe solche Schätze anbot, die nach bestem Wissen verarbeitet, auf den Garnisonsbällen als großartige Pariser Kostüme die Damen der Offiziere schmückten.

Der Erlös fiel dem Sohne zu, der damit einen willkommenen Beitrag zu seinem bescheidenen Einkommen fand und ihn wieder sowohl für seine Reiseersparnisse, als für Sonjas Ausbildung benützte.

Der Ball der Tanzschule winkte als das erste Fest des Wiener Aufenthaltes, wo Sonja in die Welt eingeführt werden sollte. Freilich war es nicht gerade die Gesellschaft, die ihr gemäß schien und wozu sie nach Roszkowskis Vorstellungen gehörte, lernten doch weder der Hochadel, noch die Geldaristokratie in dieser Fußausbildungsstätte Tanz und Zeremonie. Die 158 sogenannten oberen Zehntausend hielten sich leider fern. Das Publikum setzte sich vielmehr zusammen aus jungen Bürgermädchen und Handlungsbeflissenen, kleinen Nähfräulein, Kontoristinnen und dergleichen Damen und Herren des unteren Mittelstandes, aber Sonja fand sich doch immerhin in einem weiteren Kreise als in der bisherigen engbegrenzten Abgeschiedenheit. Und irgendwie konnte sogar von hier aus der Faden des Schicksals sich hinauf zu höheren Sphären anspinnen.

Auch freute sich das Kind königlich der erwarteten Unterhaltung. Allerdings konnte Roszkowski als Offizier nicht daran teilnehmen, denn solche Tanzschulen waren nicht eben standesgemäß. Aber er mußte doch Sonja hinbegleiten als ihr Beschützer, Vormund und Ballvater. Wie sollte dies nun bewerkstelligt werden? Als Zivilperson dabei zu sein, behagte ihm nicht. Erstens war seine Garderobe für solche Fälle nicht eingerichtet. Er besaß keinen Frack. Zweitens mochte er doch auch des Glanzes und der Überlegenheit nicht entbehren, welche die Uniform einem jungen Mann verleiht. Anders als mit dem Nimbus von Rang und Würde aufzutreten, widerstrebte der Gewohnheit des Angehörigen einer privilegierten Kaste.

159 Als er mir die schwierige Angelegenheit unterbreitete, fand ich einen Ausweg. Wie wäre es, wenn er in Beamtenuniform erschiene? Auch sie kleidet die unscheinbarsten Schlucker und verhüllt die Dürftigkeit verschuldeter Schreiberlein mit Standespracht und Ansehn. Ferner ist der Beamte nicht wie der Offizier an eine strenge Wahl der Gesellschaft gebunden, sondern mag sich zeigen, wo er will. Er paßt überall hin und der Paradedegen, der Waffenrock, die Aufschläge und Rosetten machen ihn inmitten des gewöhnlichen Pöbels zu einem begehrenswerten Würdenträger.

Wie beschafft man sich aber diese Zaubertracht? Ich hatte einen Bureaukollegen, der außer den sonstigen Beamtentorheiten auch nebst reichlichen Schulden eine Uniform besaß, in welcher er gelegentlich bei Festen und sonstigen heiteren oder ernsten Anlässen sich sehen ließ. Ein armer Narr übrigens, der, glattrasiert, eine hohe zurückweichende Stirne und rollende Augen, eine umflorte Stimme, allerhand Zitate und gelesene oder gehörte Rollenfragmente überall spazierenführte als Anzeichen einer verkannten, höheren schauspielerischen Begabung, die in der Schreibstube verkümmerte und verstaubte.

An diese Uniform dachte ich. Freilich war der Arme 160 klein gewachsen, Roszkowski hoch und schlank, aber die Uniform paßt schließlich jedem, der sie tragen will. Wir wollten sehen, ob sie dem Unglücklichen zu entlocken wäre. Ich weihte Roszkowski in die Eigentümlichkeiten des Besitzers ein. Und eines Tages schickte es sich scheinbar von ungefähr, daß ich mit dem verkannten Genius das Bureau verließ, vor dem Hause den Oberleutnant traf und die Herren bekannt machte. Der Inhaber der Uniform war stolz und glücklich mit einem wirklichen und wahrhaftigen Offizier sprechen zu können und auf der Straße gesehen zu werden. Roszkowski betörte ihn vollends durch die schmeichlerischeste Liebenswürdigkeit.

Am andern Tage konnte der Gute nicht genug Worte finden, die neue Bekanntschaft zu preisen.

»Ja, du hast ihn sehr interessiert, er fragte mich, in welchem Theater und für welches Fach du engagiert seist und war ganz entsetzt, zu hören, du wärest gar nicht Schauspieler, sondern Beamter und mein Kollege. Er meinte, man sehe dir die tragische Begabung schon auf hundert, oder sagen wir auf zehn Schritte an. Er konnte sich gar nicht fassen vor Enttäuschung. Möchtest du ihm übrigens deine Uniform für ein paar Tage leihen?«

161 Nicht bloß diese, sein ganzes, leider nur negatives Vermögen hätte er ihm überlassen, seiner Seele Seligkeit, wenn er sich ihrer hätte entäußern können, alles für die Anerkennung seines tragischen Aussehens. So bekam Roszkowski die Uniform. Der Rock und die Kappe paßten zur Not, nur die Hosen waren viel zu kurz. Aber sie wurden sorgfältig gebügelt und ließen glanzvoll gewichste Schuhe hervorsehen, so daß ihre Kürze etwa als Modetorheit eines eleganten Mannes gelten konnte.

Selbdritt ging ich mit Sonja, die in ihrem Courkostüm beiläufig wie eine siamesische Prinzessin in europäischer Tracht recht abenteuerlich erschien und mit dem als Beamten verkleideten Roszkowski zur Tanzunterhaltung, wo der Oberleutnant als Vormund einer interessanten jungen Polin und selbst als junger, ansehnlicher Mann seine Rolle spielte, eifrig tanzte, sich um die anwesenden Damen bemühte und auch den Eltern wohlgefiel. Der Zufall wollte es, daß der Vater einer seiner Tänzerinnen ein älterer Bahnbeamter war, der Roszkowski in ein eingehendes Gespräch über Bureauverhältnisse zog, welches mehrmals drohende Wendungen nahm, sobald die genaueren Eigentümlichkeiten des Berufes zur Sprache kamen. Aber der 162 Oberleutnant, von seinen Reisen in manchen Einzelheiten unterrichtet, wand sich mit seiner auserlesenen, von nichtssagenden Floskeln verbrämten Ausdrucksweise immerhin auch aus diesen Fährlichkeiten und konnte von weitem für einen strebsamen Bediensteten gelten.

Ferner wurde Sonja zur Verbesserung ihrer Schrift – sie bediente sich ihres merkwürdig polnisch-deutschen Idioms mit kläglicher Pfote – zu einem Kalligraphen gegeben. Die Folge war, daß sie eine Zeitlang zwar sehr tintenbeschmutzte Finger hatte, aber äußerst sorgfältige Zeilen schrieb, mit den schönsten Haar- und Schattenstrichen und dem beliebigen Wechsel aller künstlichen Schriftarten. Kaum aber hatte sie den Kurs beendigt, so kamen die angestammten Krähenzüge im hübschesten Durcheinander, nur durch gelegentliche blasse Erinnerungen an das Gelernte wunderlich unterbrochen, wieder zum Vorschein. Dafür aber wies das goldene Buch neuerdings mehrere Seiten exaktester Kalligraphie auf und der Oberleutnant hatte von Sonjas Schönschreibkurs dauernd profitiert.

Unversehens war es Sommer geworden und in Wien blühte und glänzte die heiterste Jahreszeit. Für Roszkowski galt es nun, die Landschaft kennen zu lernen 163 und sich auch in dieser Stadt alles Sehenswerte nach seiner Weise anzueignen.

Als Soldat konnte er sich Wanderungen über Land nur an militärische Probleme geknüpft vorstellen. Es hieß also einmal: »Interessant wäre es, das sollte man einmal untersuchen, ob man längs der Donau von Tulln nach Wien an der Hand der Generalstabskarte 1:75000, gehen kann und zwar so, daß man immer den Strom im Auge behält. Antreten um vier Uhr nach Beendigung des Dienstes in Tulln, am rechtsseitigen Brückenkopfe! Uhr richten!«

Gehorsam trat ich nach meinem Amt in Tulln um vier Uhr am rechtsseitigen Brückenkopfe an, wo mich Roszkowski und Sonja, gefolgt von Antipas, der seinen Brotsack auf der Schulter trug, bereits erwarteten.

Die Wanderung begann. Wir bestiegen die nächste Anhöhe und gingen längs des Kammes der Uferberge durch Dick und Dünn, ohne Weg und Steg, ja mit Verachtung aller ausgetretenen Pfade, die ins schöne kühle Waldinnere führten, sich aber freilich um die ständige Aussicht auf die Donau nicht kümmerten. Das Problem, den Strom nicht aus dem Auge zu verlieren, blieb die Hauptsache und es schien höchst strafbar, wenn 164 es nur eine Minute lang vergessen wurde. Was war alle Schönheit der Wiesen und Hügel gegen das treue Bewußtsein der erfüllten Aufgabe, sich in Schweiß und Mühe durch das dichteste Gehölz, über bebaute Felder und steinige Halden durchzuwinden, aber dafür die Donau immer zu sehen, die sich unten im Tale durch das weite Land in mächtig gewundenem Wege glänzend hinzog. Kein Weinberg, keine Wiese, keine sorgfältige Schonung blieb unbetreten. Kam ein Zaun, so hieß es: »Hindernis nur für Infanterie gültig.« Wir aber stellten eine gedachte Kavallerie vor und mußten selbstverständlich das Hindernis nehmen, Roszkowski an der Spitze, ich todesmutig der zweite, Sonja, wie es gehen mochte, die dritte. Als kleine gewandte Katze kam sie überall durch und zeigte das geduldigste, entschlossene Gesicht. Antipas stampfte unverdrossen hinterdrein.

Auf dem höchsten Punkte wurde Rast gemacht, immer im Angesicht der Donau. Kein schattiger Baum durfte die Aussicht verstellen und wäre nicht der Wind auf der Höhe kühl genug gewesen, so hätte auch die erwünschte Ruhe wenig Erholung geboten, denn die Sonne brannte tüchtig, und wir hatten uns ordentlich Bewegung gemacht als rüstige Kavallerie. Zur 165 Belohnung öffnete Sonja feierlich den Brotsack des Antipas, aus welchem ein Dutzend Kartoffeln auf die Steine rollen. Man sammelte Reisig, machte ein Feuer an und briet sie im Freien, Roszkowski spendete die Würze aus einem mitgebrachten Salzbüchschen, ein Kommißbrot wurde aufgeschnitten und des weiteren gab es noch eine Kostbarkeit als besondere Belohnung, einen alten Kuchen, den die Mutter aus C. geschickt hatte, steinhart und ranzig, dessen Fülle aus Eingesottenem längst verdorrt und eingetrocknet war, so daß ich meinen Teil in aller Stille ins Gebüsch warf, während Sonja und Ernst sich dabei gütlich taten und gebärdeten, als genössen sie eine Auserlesenheit der vornehmsten Küche. Schließlich kam der weltberühmte und unvermeidliche »Fromage de Kanczuga« zum Vorschein. Auch er wurde gebührend gewürdigt. Dann durfte man sich ein Weilchen erholen, ins Gras legen und in die blaue Luft schauen.

Ich hatte mich bequem ausgestreckt, eine Pfeife gestopft, blies eben den schönsten Rauch in die Luft und freute mich dieses zarten halbwachen Zustandes, der die Rast nach einer heißen Anstrengung so gedankenlos glücklich empfinden läßt, als Roszkowski mich anredete:

166 »Nun, wie gefällt dir ein solches Wanderproblem?«

»Laß mich in Frieden, ich brauche zum Wandern kein Problem!«

»Eben deshalb wirst du auch im Leben niemals weiterkommen, du solltest schon wissen, daß man, wo immer man geht, ein Ziel haben muß, denn sonst ist man eines schönen Tages am Ende und hat nichts gefunden und erreicht, als das bittere Nichts.«

»Aber man kann auf dem Wege auch etwas versäumen, mein Lieber: das süße Nichts.«

»Nun, lassen wir das, es ist schade um dich. Aber ich wollte dir etwas anderes sagen. Du weißt, auch Sonja geht ihren Weg.«

»Was, Sonja geht auch ihren Weg?« Unwillkürlich sah ich mich nach ihr um. Ich wollte sie anschauen, ob sie zu dieser Behauptung etwas zu sagen habe, denn daß sie mit strategischem Bewußtsein durchs Leben wandere, schien mir doch eine kühne Annahme. Sie lag mit eingezogenen Füßen ein paar Schritte neben uns und schlief, ihr Gesicht hatte den sorglosen Ausdruck eines ruhenden Kindes, die trotzigen Lippen waren halb geöffnet und atmeten tief die gute, warme Luft und schienen gleichsam hungrig, sich mit Schlummer und Ruhe gierig zu erfüllen. Antipas aber hockte 167 ihr in der angestrengtesten Stellung zu Häupten und beschirmte ihren Kopf mit einem ausgebreiteten Stück Zeitungspapier vor der Sonne. Als ich ihn ansah, grinste er zugleich freundlich und besorgt, man möchte die ihm Anvertraute stören.

Lächelnd wandte ich mich zu Roszkowski zurück, der aber den sichtbaren Widerspruch seiner Behauptung nicht zu beachten schien und streng wiederholte:

»Auch Sonja geht ihren Weg!«

»Immer die Donau im Auge nach der Karte 1 zu 75000 laut Vorschrift?«

»Kurz, es ist Zeit, daß sie ihre Kenntnisse verwertet. Sie hat jetzt den vielseitigsten Unterricht genossen!«

»Das war aber ein Genuß!«

»Einerlei, sie ist allen gerechten Ansprüchen gewachsen. Ich will, daß sie jetzt ihre Fähigkeiten verwerte. Wenigstens bis sie ihre eigentlichen Ziele erreicht, muß auch sie trachten, sich das Leben zu verdienen. Sie wünscht nichts anderes, als selbständig zu werden und sich durch eigene Arbeit zu erhalten.«

Ich verzichtete darauf, diese angebliche Sehnsucht der Schlafenden zu bezweifeln und blickte ihn wortlos an.

Er fuhr fort: »Es ist daher an mir, ihren Wunsch 168 zu erfüllen und ihr eine Stellung zu verschaffen. Nun habe ich gedacht, dir bei deinen guten Verbindungen würde es sicherlich leicht fallen, ihr und mir behilflich zu sein und das Geeignete ausfindig zu machen.«

»Was phantasierst du von meinen Verbindungen! Ich bin ja nur ein armer Hund. Oder: ich geh selber betteln, wenn's finster ist.«

»Laß diese Floskeln. Ich weiß, du hast die besten Beziehungen hier in Wien. Ich bin fremd im Lande und muß dich daher in Anspruch nehmen. Du wirst mir deine Unterstützung nicht versagen. Mich hat dieses Halbjahr in Wien sehr viel gekostet, ich bin am Ende meiner Hilfsmittel angelangt, meine Ersparnisse sind zur Hälfte aufgezehrt, die andere Hälfte gehört für meine Reise und ich will nächstens nach Paris zur Weltausstellung, bis dahin muß Sonja versorgt sein.«

Es gab keinen Widerspruch, ich fragte daher bescheiden, an welche Stellung er für seinen Schützling etwa gedacht habe.

Er blickte mit nachdenklichen Augen in die Ferne, über den Strom hinaus ins Unbestimmte und sagte:

»Es gibt so vielerlei. Vielleicht als Vorleserin und Gesellschafterin, das schickt sich doch für ihren Stand am besten.«

169 Sonja hatte eine heisere Stimme, mit einem seltsamen Urlaut von Unbändigkeit; wenn sie heiter oder zornig war, fauchte sie wie eine gereizte Katze, was ihrem ungebändigten Wesen immerhin gemäß war, aber doch nicht der für eine Vorleserin und Gesellschafterin nötige Wohllaut. Auch pflegte sie beim Lesen nach Art der ungewandten Kinder sorgfältig, aber fehlerhaft zu buchstabieren, so daß der Hörer ebenso Mühe hatte, wie sie selber, das Gelesene langsam zu verstehen.

Ich schüttelte lächelnd den Kopf, Roszkowski schlug ferner vor: »Lehrerin der Elementargegenstände, Stütze der Hausfrau, Repräsentantin, kurz womöglich ein anständiger, das heißt ein dauernder Posten mit Pensionsberechtigung, wenn's angeht, damit sie unter Umständen dabei bleiben kann.«

Wie Sonja sagte auch ich geduldig, jeden Einwand als zwecklos unterdrückend: »Ja, ja,« und ließ ihn seine Pläne ausführlich weiterentwickeln. Nachdem er eine Weile gesprochen hatte, sah er mich erwartungsvoll an, als müßte ich nun sogleich mit der passenden Stellung herausrücken. Ich konnte aber nur mit ängstlicher Dienstwilligkeit beteuern:

»Du überschätzt meine Macht, ich bin der 170 Niemand, kenne niemand, habe niemand. Aber ich will daran denken. Jedenfalls rate ich dir, sieh dich selber um, du wirst sicherlich etwas Geeigneteres für sie finden.«

»Also es bleibt dabei: du suchst etwas Ordentliches für das Kind.«

Schweigend nahm ich den Befehl entgegen, ähnlich dem heutigen: »Antreten um vier Uhr beim Brückenkopf in Tulln!«

Damit war das Gespräch beendigt, der Zweck der Rast erreicht, Roszkowski sprang auf, kommandierte Abmarsch. Sonja schlug die Augen auf, sah seufzend um sich, holte tief Atem und klagte lachend:

»Ach, so schön habe ich geschlafen.«

Roszkowski war reisefertig, es blieb ihr nichts übrig, als sich zu erheben, sie räkelte sich, gab Antipas einen Nasenstüber, worauf auch dieser gutmütig aufstand und den leeren Brotsack umhing. Schließlich klaubte auch ich meine Knochen zusammen und wir marschierten weiter, die Donau im Auge behaltend nach der Vorschrift. Die Sonne neigte sich immer näher zu den westlichen Höhen, schien goldener und milder und brannte weniger, allmählich wurde es Abend, alle Täler und Wiesen und Wälder färbten sich höher, es 171 fielen längere Schatten, der Himmel ging aus heißem Blau in lichtes Gelb und feuriges Rot über, das unablässige Geigen der schrillen Zikaden und die hohen Lerchenrufe spannen ein silbernes Netz über das weite Rund, wir wanderten durch hohes Gras, das von Insekten durchsummt, vom Wind durchwallt, wie der Atem einer lebenden Brust sich hin und wieder hob, unten floß der Strom, jetzt stand die Sonne zum letztenmal, eine rote Laterne, im Dunst vor dem Berg, der sie bald aufnahm. Eine mahnende Kühle, dann der merkliche Tau der Uferlandschaft zeigte ihren Untergang an, der Himmel glühte mählich ab, die wachen Farben verstummten und versöhnten sich im Schein der wachsenden Dämmerung zu großen einförmigen Flächen, die Hügel dunkelten und traten mächtiger hervor. Weit unten glommen die ersten Lichter auf. Wir aber trabten weiter. Wir hatten, immer die Donau vor Augen, mancherlei geschwätzt, gelacht, jetzt aber legte uns die Stille des Abends unwillkürlich Schweigen auf, auch spürten wir wohl die Müdigkeit des langen Marsches. Roszkowski und Antipas gingen noch recht rüstig, ich etwas bescheidener, Sonja blieb als letzte hinter uns zurück, ließ sich aber nichts merken und wanderte mit verbissenen Zähnen 172 weiter. Jetzt wurde die leuchtende Riesenstadt sichtbar, der Weg senkte sich und längst standen die Sterne am Himmel, als wir den anwachsenden Lärm der bewohnten Gegenden, die Pfiffe der Eisenbahn vernahmen und schließlich von der letzten Höhe des Leopoldsberges in einem plötzlichen Laufschritt hinabstürmten. Sonja fiel dabei mehrmals nieder. Auf meine teilnehmenden Fragen, ob sie recht müde sei, wies sie mich zornig zurück, erhob sich mühsam, aber entschlossen und hinkte ohne jede Hilfe schweigend mit. So kamen wir schließlich eben zum letzten Zuge zurecht, der uns nach Wien zurückbrachte. Wir saßen im Waggon, Sonja lehnte an Roszkowskis Schulter und schlief, Antipas schnarchte, ich war auch recht erschöpft, aber der Oberleutnant schien seelenvergnügt und erklärte, die Übung sei wohl gelungen und das Problem anständig gelöst worden. Beim Abschied ermahnte er mich, das Versprechen nicht zu vergessen.

»Welches Versprechen?« fragte Sonja, die kaum noch stehen konnte und wie eine kleine Trunkene hin- und herwankte.

»Liebe Sonja, du gehst einen weiten Weg, immer mit einem Problem, den Strom vor Augen, verstehst du endlich?«

173 »Du bist ein Narr, Dieter. Wann wirst du einmal vernünftig, du dummer Bub?«

»Ich warte nur auf dich, du mußt damit anfangen, aber bald, denn sonst ist es zu spät.«

Sie lachte heiser und hing sich schwer in Roszkowskis Arm.

»Laß sie wenigstens mit der Tramway nach Hause fahren, sie kann ja kaum mehr stehen.«

»Ach, du bist doch nicht müde, Sonja, es ist ja auch nicht mehr weit, höchstens dreiviertel Stunden!«

Sonja nickte stumm. Sie wäre gern gefahren, aber da Ernst eine solche überflüssige Ausgabe verachtete, wagte sie nicht, etwas zu sagen und grüßte mich traurig.

Wir nahmen Abschied, ich stieg in einen Stellwagen, um nach meiner Wohnung zu gelangen, während sich die anderen, Roszkowski aufrecht und stattlich, Sonja an seinem Arm bedenklich hinkend, Antipas mit Bauernschritten hinterdrein noch den letzten Teil des Problems: »Heimkehr in die Kaserne« zu beendigen anschickten.

Zuerst hatte ich versucht, in der angeregten Frage meiner Verbindungen nichts weiter zu tun und hoffte, Roszkowski würde die Sache entweder vergessen oder als aussichtslos fallen lassen, denn ich wußte 174 wirklich nicht, wie ich seinen Wunsch erfüllen sollte. Zudem hätte ich seine Ansprüche nach einer standesgemäßen Stellung für Sonja keinesfalls befriedigen können, da ich sein übergroßes Zutrauen in ihre Gaben nicht eben teilte. Aber in seiner unnachsichtigen Verfolgung jedes einmal gefaßten Planes war er von seinem Willen, mich für Sonjas Laufbahn dienstbar zu machen, nicht abzubringen. Er vergaß das aufgestellte Problem wahrlich nicht und behielt auch diese Aussicht unverwandt im Auge. Auch waren vielleicht andere Bemühungen, etwas Geeignetes zu finden, gescheitert und seine Hilfsmittel arg gelichtet. Kurz, er lag mir, so oft er mich sah, immer dringender in den Ohren, meine Verbindungen endlich spielen zu lassen.

Es blieb mir daher nichts übrig, als zu versuchen, Sonja irgendwo unterzubringen. Ich machte somit meine »Verbindungen« geltend, indem ich meinen Vater aufsuchte, der meine ganzen Beziehungen zur großen Welt der Stellungen, Würdenträger, einflußreichen Kreise in seiner Person darstellte und vereinigte. Ich erzählte ihm wahrheitsgetreu den Stand der Sache, schilderte ihm, was Sonja ungefähr sei und könne, verschwieg auch nicht meine eigene Meinung über ihre Begabung und Beschaffenheit und bat 175 ihn, sich für sie umzutun. Der Vater kraute sich hinter dem Ohr und sagte verlegen: »Ja, etwas besonders Feines wird für sie wohl nicht herausschauen. Ein Kamel geht nun einmal nicht durch ein Nadelöhr. Aber mir scheint, gerade sie will besonders hoch hinaus. Das kann ich ihr nicht versorgen. Sie muß eben nehmen, was es gibt.« Gutmütig und hilfbereit wie er war, rannte er gleich zu allen seinen Bekannten und fragte in seinen Wirtshäusern und bei seinen Freunden gelegentlich herum, ob man nirgends ein kleines Frauenzimmer brauchen könne, sie sei zwar nichts und wisse nichts, aber schließlich nehme sie nicht viel Raum weg und habe auch zwei ganze Hände, mit denen ja schließlich doch das Meiste gemacht werden könne. Kurz, er hätte wen und wisse wen. Und wenn der und jener auch was hätte und was wisse, so könnte man auf ein Loch einen Deckel setzen, und wie seine Redensarten eben waren, die auf die unscheinbarste und treuherzigste Weise den schwachen, guten Willen stärkten und am Ende gefügig machten.

Am Ende war ein Buchdrucker, der ihm manchen lohnenden Auftrag verdankte, unwillig bereit, eine Hilfsarbeiterin aufzunehmen, nicht weil er sie brauchte, aber weil mein Vater ihn halb zornig, halb freundlich 176 nötigte. Sonja sollte mit einer Schar anderer Frauenzimmer Papier falzen und zusammenlegen und die Blätter zurichten helfen, ehe sie auf die Presse kamen.

Schon am nächsten Tage durfte sie ihren Dienst um sieben Uhr früh antreten. War sie anstellig, so konnte man sie vielleicht besser verwenden und entlohnen. Einstweilen aber sollte sie einen Taglohn von anderthalb Gulden bekommen. Da ich wußte, für die beiden bedeuteten bei allem Hochmut vierzig Gulden im Monat eine Art Himmelsleiter zur irdischen Seligkeit, hoffte ich, Roszkowski werde sich darein finden, daß die Beschäftigung nicht so standesgemäß sei, wie er wünschte. Ich stellte mich so weit unwissend, daß ich ihm nur diese Summe und ganz beiläufig die Art schilderte, wie sie zu erwerben sei, beschränkte mich auf eine umfassende Gebärde, Sonja habe eben in der großen Druckerei, einer der schönsten Firmen der Stadt, die verschiedenartigsten Hilfsdienste zu tun, ehe sie in den Betrieb vollends eingeführt, zu feineren und höheren Leistungen herangezogen werde. Bei ihrer Tüchtigkeit, Begabung und Gewandtheit könne es ihr nicht fehlen, binnen kurzem die rechte Hand des Chefs zu werden, und dann sei ja alles gewonnen.

Bis dahin müsse sie sich allerdings eine Zeitlang 177 bescheiden, die linke Hand des Chefs zu sein. Nachdem ich die bevorstehende Angelegenheit möglichst allgemein, aber verlockend geschildert hatte und die beiden, von der märchenhaften Summe geblendet, bereit waren, sich mit dieser zwar in Wirklichkeit nicht unbedeutenden, aber für Sonjas Wesen, Ansehen und Bildung keineswegs angemessenen Entlohnung vorläufig zufrieden zu geben, verließ ich sie schleunig und war gespannt, wie sich die Kleine mit der Sache abfinden werde.

Daß sie sich besonders glücklich fühlen würde, hoffte ich freilich nicht, wohl aber erwartete ich, sie würde sich mit ihrer Zähigkeit standhaft durchbeißen.

Darin hatte ich mich aber arg getäuscht, denn als ich am nächsten Abend Roszkowski aufsuchte, um zu erfahren, wie es gegangen sei, empfingen mich die beiden sehr kühl und wortlos. Ich witterte sofort Unrat und sprach allerhand Gleichgültiges, bis schließlich Sonja losfuhr: »Eine saubere Stellung hast du mir verschafft. Sie kann mich gern haben, mein Lieber. Morgen geh ich nicht mehr hin!«

Ich sah sie fragend und bedauernd an und Roszkowski bekräftigte: »Das kann man wirklich nicht von ihr verlangen. Es ist zu viel.«

178 Sonja übersprudelte: »Ich stehe um sechs Uhr früh auf und zieh mich anständig an und bin richtig Punkt sieben im Geschäft. Sie haben mich ja ausgelacht, wie sie mich nur sahen, die ordinären Weibsbilder! Lauter Fabriksmädel mit bloßen Armen und Kopftüchern! Man gibt mir einen Stoß Papier. Da hast du was! Ich weiß nicht, was ich mit dem Zeug anfangen soll. In einem Zimmer, das nach Öl gestunken hat, knotzen zwanzig Frauenzimmer, daneben stampft es, daß man sein eigenes Wort nicht hört. Und da habe ich den ganzen Tag stehen müssen, daß mir der Rücken weh getan hat, und Papier falzen. Ich war mit meinem Ballen noch nicht fertig, als die andern schon zehn zugerichtet hatten. Dabei haben sie mich von oben angesehen und sich immerfort zugetuschelt und Witze gemacht. Zu Mittag hat jede ein Essen, in fettes Papier gewickelt, hervorgezogen, und auf dem schmutzigen Tisch haben sie den Fraß ausgebreitet, mich ging ein Grausen an. Solchen Hunger hatte ich und nichts mitgebracht. Eine schenkte mir aus Barmherzigkeit ein Stück Brot, sonst hätte ich keinen einzigen Bissen in den Magen bekommen. Bis sechs Uhr abends! Dann bin ich nach Haus gekrochen. Einmal und nicht wieder, mein lieber Dieter. Beim Weggehen war der Herr da 179 und hat mich angeschaut, aber ich habe ihn nicht begrüßt. Er soll nur wissen, was er mir zugemutet hat! So ein Kerl!«

Beschämt blickte ich zu Boden und wagte gar nicht, diesen Unglücksbetrieb weiter zu verteidigen, oder die beiden daran zu erinnern, daß sie ja selbst gewohnt seien, von einem Stück Brot zu leben, oder sich von Kraut und Wurst zu nähren, die sie in einem fetten Papier bei sich trugen. Denn das war natürlich etwas anderes, als freier Mensch sparsam, aber vornehm sein Leben nach eigenem Ermessen so zu führen, daß es niemand etwas anging. Aber sich in eine fremde Ordnung zu fügen, mit allerhand Menschen zusammenzustehen und ein Stück demütigende Arbeit mit geduldiger Hand aufrecht und unverdrossen hinter sich zu bringen, war freilich eine fertige Beleidigung. Ich dachte im stillen: »sie wird's schon noch billiger geben« und bedauerte lebhaft, daß man ihr so schlimm mitgespielt. Vielleicht hätte sich, wenn sie geduldig gewesen, die Sache doch besser entwickelt, aber da sie den Anfang nicht ertragen, müsse ich das Ende eben hinnehmen. So war ich meiner unfreiwilligen Verpflichtung ledig und konnte nunmehr unbeteiligt beobachten, was Roszkowski für seinen Schützling ausfindig machen werde.

180 Ich empfahl mich bald und wurde mit einiger Kälte verabschiedet, so daß ich mich entschloß, eine Weile vergehen zu lassen, ohne das Paar zu besuchen.

Ich vermied es auch eine Zeitlang, meinen Vater wiederzusehen, der sich um meinetwillen durch diese peinliche Angelegenheit gewiß Verdruß auf den Hals geladen hatte.

Da ich um diese Zeit nach längerem Brautstande heiratete und mit meiner bescheidenen Einrichtung, den ganz neuen Verhältnissen, die immerhin Mühe, Geduld, Eifer erforderten, mehr als genug zu tun hatte, kümmerte ich mich nicht weiter um das Paar, sondern zeigte Roszkowski bloß in einem freundschaftlichen Briefe meine Vermählung an und sprach den Wunsch aus, ihn und Sonja, wenn es ihm passe, einmal bei uns begrüßen zu können.

Ich erhielt eine recht herzliche, vier Seiten lange Gratulation, der auch ein paar Krähenfüße Sonjas angeschlossen waren, und wieder vergingen etliche Wochen.

Unversehens trat eines Abends Roszkowski in meine Wohnung, benahm sich äußerst verbindlich gegen meine Frau, überaus herzlich gegen mich und teilte mir mit, er werde seine Reise nach Paris mit zwei Freunden 181 demnächst antreten. Zwei Kollegen aus der Kriegsschule, die schon lange sein großartiges Reisesystem bewundert, hätten ihn gebeten, sie mitzunehmen. Er sei der Verwalter des gemeinsamen Reiseschatzes, zu welchem jeder fünfzig Gulden beigetragen. Die ganze Summe müsse auf zwei Monate verteilt werden und reichlich genügen, die Fahrt, den Aufenthalt, die Eintrittsgelder, Vergnügungen, Passionen, Abenteuer, Sehenswürdigkeiten, hellen und dunklen Genüsse der Weltstadt für drei Personen zu bestreiten, sie wollten einmal das große und vornehme Leben mit vollen Zügen auskosten. Ich zweifelte nicht an dem Gelingen unter so kundiger Führung und fragte nur zögernd: »Nun und Sonja?«

»Eben ihretwegen wollte ich dich eigentlich bitten.«

»Braucht sie eine Stellung?«

»Gott bewahre, sie ist glänzend versorgt. Aber du möchtest dich, namentlich deine verehrte Frau Gemahlin, ihrer ein wenig annehmen.«

Der eine Reisegenosse, Jean Ferdinand Eclair, Freiherr von Bézincourt, Oberleutnant und Sprößling eines alten, französischen Adelshauses, das in den Zeiten der Revolution hier Zuflucht gefunden hatte, war so gütig gewesen, Sonja bei einer Familie seiner 182 Verwandtschaft unterzubringen; diesmal war ihre Stellung wirklich nach Wunsch und fast eine Erfüllung des geheimen Traumes, das Kind eines großartigen Hauses zu werden. Als Waise eines tapferen Offiziers, als merkwürdiges und reizendes Geschöpf hatte er sie seinem Oheim empfohlen, welcher mit einer geborenen Gräfin Weidenberg verheiratet, kinderlos, ohne besondere Tätigkeit, als reicher Aristokrat eine schöne Villa im Cottage bewohnte. Das alternde Ehepaar trug nach einer gewissen freundlichen und lachenden Bewegung des sonst stillen Hauses Verlangen und war daher gerne bereit, einen so eigenartigen Schützling zu beherbergen, Roszkowski hatte mit seiner traditionellen Liebenswürdigkeit beim ersten Besuch das Herz der Dame, Sonja mit ihrer wilden Kindlichkeit und rauhen Grandezza das Gefühl des Herrn erobert. In zwei Tagen war die ganze Sache gemacht. Von irgendwem hatte Ernst einen amerikanischen Reisekoffer von stattlichem Äußern entliehen, in welchem Sonjas Effekten, möglichst sorgfältig gereinigt und ausgeputzt, aufgefrischt und auf den Glanz hergerichtet, nach der Cottagevilla gebracht wurden. Sie selbst fuhr dahin im Dogcart, das der alte Baron selbst lenkte, der es sich nicht nehmen ließ, den neuen 183 kleinen Gast, seinen munteren Finken, wie er Sonja nannte, in den Käfig einzuholen. Da war sie nun wie die Tochter des Hauses. Das feine Ehepaar tat für sie alles nur erdenklich Gute, kaufte ihr Kleider, hüllte sie in Wohlleben, fütterte sie herrlich heraus, kurz, sie lebte in Freuden. Aber Roszkowski wünschte doch, den Herrschaften zu beweisen, daß auch er und sein Mündel sich gewisser angenehmer und feiner Verbindungen erfreuten und im sorgfältigsten Umgange mit der besten Gesellschaft standen. Da Lügen kurze Beine haben, legt ihnen ein besonnener Geist gerne und rechtzeitig Krücken unter, mit deren Stütze sie sich behaglicher und sicherer fortbewegen. Kurz, Roszkowski verlangte, wir beide, namentlich meine Frau sollten Sonja in ihrem neuen Heim besuchen und die vornehmen Freunde spielen.

Ich hatte Bedenken, ob wir eigentlich zu dieser Rolle taugten, aber Roszkowskis unerschütterliche Überzeugung, sein gebieterische Wille machten mich eben vornehm, wie in alter Zeit einer aus einem Bauernburschen über Nacht zum Ritter werden konnte, wenn ein großer Herr ein Schwert zur Hand hatte und eine grobe Schulter damit schlug. So waren wir also zur besten Gesellschaft Wiens rekrutiert. Ich hätte noch immer 184 gezögert, wenn nicht meine Frau, neugierig wie alle Weiber, große Lust gezeigt hätte, Sonja und ihre vornehme Umgebung kennen zu lernen, sich schön und stattlich ausgerüstet in adeligen Wohnzimmern unter Ahnenbildern zu bewegen und sich bei billiger Gelegenheit im eigenen Glanze zu sonnen. Auch beteuerte Roszkowski, die Hand aufs Herz gelegt, wir hätten gar keine weiteren Verpflichtungen, keine Vorspiegelungen zu machen, keine Auslagen, keine Unannehmlichkeiten! Nur ein Besuch, nichts weiter! Er habe eben alle seine Wiener Bekannten darum gebeten. Jeder sei bereit und vom Verlaufe der Zusammenkunft höchst befriedigt gewesen. Denn das gräfliche Paar zeige sich zumeist gar nicht, es genüge, daß Sonja eben Freunde habe und nicht als hergelaufenes Bettlerkind, sondern als das erscheine, was sie sei und wofür sie gelte.

Mit heißen Dankesworten nahm er unsere Bereitwilligkeit auf und erklärte, nunmehr beruhigt seine Reise antreten zu können, wenn er wisse, daß wir uns um Sonja kümmerten und von Zeit zu Zeit nach ihr sähen. So hätte sie denn auch für die fernere Zukunft eine Stätte in unserem Hause, falls ihr irgendwas zustieße, und auch darum wolle er insbesondere meine Frau aufs innigste gebeten haben. Die ließ sich seinen 185 tiefgefühlten Dank wie einen roten Rosenstrauch gerührt zu Füßen legen und war nun so wie ich in das große, unendliche und verwickelte Komplott endgültig einbezogen, als welches sich Roszkowskis Dasein unvermeidlich darstellte und fortspann.

Um meinem Versprechen zu genügen, machten wir uns an einem der nächsten Tage so schön wie möglich. Ich band eine violette Halsbinde vor und legte meinen schwarzen Gehrock an, meine Frau ihr Gesellschaftskleid, welches jede Dame besitzen muß, auch wenn sie gar keine Gesellschaft hat, schwarzer Tafft, der so rauscht wie das Meer und worin die Venus eingehüllt ist, als sei sie darin geboren, sie nahm einen Spitzenkragen, Goldkette, Großmutterbrosche, seidene Handschuhe, weißen Sonnenschirm und so weiter. In dieser Rüstung bestiegen wir beide, nicht wie es mein vornehmer Stand geboten hätte, einen Fiaker, sondern das Fahrzeug des elektrischen Fortschrittes und kamen in das Cottage.

Wir läuteten an einem schmiedeeisernen Gittertor, das sich darauf wie nach einem Zauberworte von selber auftat, gingen einen weißen Kiesweg entlang zum Hauseingange, der gleichfalls bereits offen stand und fanden uns in einer weiten Halle, durch deren 186 Bogenfenster die Bäume eines schönen Gartens sichtbar waren, deren schwankendes Grün in dem hohen Raume die schimmernde Dämmerung eines sonnigen Laubtages verbreitete.

Da standen einladende englische Korbstühle auf weichen samtartigen Teppichen, Vasen mit Blumen auf niederen kachelbelegten Tischen, ein Flügel war aufgeschlagen und ließ seine Klaviatur blinken, wie ein Ungeheuer die Zähne. Hier harrten wir Sonjas. Sie erschien nicht sogleich, denn die erste Sitte der vornehmen Welt gebietet, auf sich warten zu lassen, nur der Pöbel ist immer zur Stelle.

Nach einer kleinen Weile wurden im anstoßenden Raume Schritte, eine bekannte, lachende, heisere Stimme laut und das anspringende Bellen von Hunden.

Sonja trat in die Türe wie ein Bild in einen breiten Rahmen, von zwei weißen, schlanken, russischen Vorstehhunden umspielt, die mit leichten, raschen Tritten um sie hertappten und nach ihren Händen fuhren, während sie mit einer Reitgerte scherzend nach ihnen schlug. Sie war wie ein halberwachsenes Kind gekleidet, sportgemäß, in einen fußfreien Flanellrock, in eine feine, schimmernde Bluse, aus welcher ihr brauner Hals und 187 ihr wildes Gesicht wie ein steter Widerspruch hervorsahen. Als sie uns erblickte, schlug sie die Hände zusammen und rief: »Servus Dieter. Also das ist deine Frau! Willkommen Sie Liebe! Sie sind so schön! Wie ich mich freue, daß Sie da sind! Jetzt geht es mir gut. Sieh nur, wie herrlich alles ist, nicht wahr, Dieter, ich kann zufrieden sein? Und wie man mich verwöhnt! Meine teueren Eltern . . .«

Ich frage staunend: »Deine Eltern?«

»Nun, ich sage nur so, denn sie sind wirklich wie Vater und Mutter zu mir!«

Jetzt schilderte sie uns das vornehme Haus, den herrlichen Glückszustand, worin sie sich wärme. Gleich erklärte sie, wir müßten alles besehen, und auf meine ängstliche Frage, ob wir denn die Herrschaften nicht störten, beruhigte sie uns, niemand sei zu Hause, wir könnten machen, was wir wollten. Damit trat sie an den Flügel und schlug ein paar Tasten greulich an, sie lerne Musik, versicherte sie, wobei sie den beiden Hunden wehrte, die mit den Köpfen fast ebenso schön klavierspielen konnten, wie ihre Herrin. Dann führte sie uns durch die Zimmer und ließ in jedem alle Eigentümlichkeiten des Hausrates bewundern. Im Rauchzimmer öffnete sie den Zigarren- und Likörschrank und 188 wollte mir durchaus ein Gläschen Chartreuse und eine Havanna aufnötigen, im Boudoir warf sie sich auf eine Chaiselongue und ließ sich emporschnellen, um die Elastizität des gepolsterten Sitzes zu zeigen. Im Badezimmer drehte sie alle Hähne auf, damit das Wasser in die weiße Wanne von allen Seiten brause. »Möchtest du baden?« fragte sie mich. »Oder vielleicht die gnädige Frau?« Es bedurfte der lebhaftesten Versicherungen, daß wir kein Bad brauchten, um sie von dem verlockenden Anerbieten abzubringen. So wanderte sie treppauf und -ab, durch alle Räume und brüstete sich ihrer Vertrautheit mit dem ganzen Luxus eines vornehmen Landhauses, im Stalle tätschelte sie die Pferde und zeigte eine schöne braune Stute, auf der sie täglich auszureiten pflege, im Park wies sie uns den Tennisplatz, wo sie die geschickteste Spielerin sei. »Der Graf sagt, ich könnte an einem wirklichen Tournier teilnehmen und einem Engländer ein Game vorgeben.« Auf unserer Reise durch diese Herrlichkeiten trafen wir eine ältliche Miß, die in einem Gartenstuhle saß und las und sich bei unserem Kommen grüßend erhob. Sonja stellte sie vor und sprach sie mit sozusagen englischen Worten an, bei ihr lernte sie die fremde Sprache. Sie habe die schönsten Fortschritte gemacht, 189 wenn Ernst wiederkommen werde, wollte sie ihn so anreden, daß er sie nicht verstehe.

»Warte nur auf das goldene Buch, meine Liebe!«

Sonja lachte. Schließlich landeten wir in der Küche, wo sie mit den Mägden sehr vertraulich tat, die mit dem Souper beschäftigt waren. Sie ging zum Herde, wo allerhand Töpfe brodelten und schmorten und hob von jedem den Deckel, in einem schien ihr etwas besonders Gutes zu kochen und sie griff, hungrig wie sie war, mit dem Finger hinein, um einen Bissen herauszufischen, verbrannte sich, schrie auf. Die Köchin gab ihr ernst und schweigend einen Kochlöffel, worauf Sonja sich da und dort bediente, nicht ohne auch uns leidenschaftlich anzubieten.

Nachdem wir ihr ganzes Reich besichtigt hatten, erklärten wir, schon um dem heimkehrenden gräflichen Paare nicht begegnen zu müssen, daß es an der Zeit sei, aufzubrechen.

Nun wurde sie wieder ganz Dame, versuchte uns mit den schönsten Komplimenten zurückzuhalten und erst, als dies vergeblich blieb, geleitete sie uns ans Gittertor und verabschiedete uns mit einem lächelnden Neigen des Hauptes.

Da wir sie so wohl versorgt wußten und auch mit 190 unserem Hausstande genug zu tun hatten, ließen wir eine Zeit verstreichen, ohne sie neuerlich zu besuchen. Auch fürchteten wir, ihren adeligen Hausgenossen zu begegnen und etwa doch nicht so vornehm befunden zu werden, wie wir von rechtswegen hätten sein müssen. Und siehe da, eines Tages, bereits im Spätherbst trafen wir eine Karte in unserem Briefkasten mit der Nachricht, Roszkowski, von seiner Pariser Reise zurückgekehrt, werde sich freuen, uns bei sich begrüßen zu dürfen. Wir folgten der Einladung und fanden ihn und Sonja in der Wohnung. Ich war allerdings ein wenig enttäuscht, daß sie so rasch aus dem schönen gräflichen Hause ausgeschieden sei, wo sie doch so reizend aufgenommen und als das Kind der Familie gehalten worden. Aber natürlich durfte man nicht eher fragen, als bis sich eine passende Gelegenheit darbot. Daher ließ ich zunächst Roszkowski über die Reise berichten, die denn auch planmäßig und genau nach Wunsch verlaufen sei. Freilich hatten sich seine Gefährten schwer an die Methode gewöhnen können, die er ihnen mit unnachahmlicher Strenge auferlegt, nicht jeder vermag von einer Mahlzeit, bestehend aus Sauerkraut und Brot, zu leben, stundenlang zu Fuß laufen, wo die schnellste Eisenbahn zu Gebot steht. Und in 191 Genf waren einmal seine Gesellen so hungrig und müde gewesen, daß sie gemeinsam einen Aufstand veranstalteten und sich weiterzumarschieren weigerten, wenn er nicht gestatten wolle, eine Wurst zu kaufen und sich endlich einmal nach Wunsch gütlich zu tun. Mitten auf der Straße fielen sie auf die Knie und bettelten um ein fleischliches Abendessen. Roszkowski ließ Gnade für Recht ergehen und gab aus seiner Tasche das Geld für die erbetene Extramahlzeit heraus. In Paris hatten sie im übrigen alles Sehenswerte gesehen und unter seiner Anleitung die Weltausstellung ernsthaft abgearbeitet. Nun waren sie längst schon einen Monat hier und nur gewisse peinliche Begebenheiten hätten ihn bisher gehindert, uns einzuladen. Leider habe Sonja in dem gräflichen Hause arge Enttäuschungen erfahren und es schließlich im Bösen verlassen, was ihm um ihretwillen leid tue. Andererseits freue es ihn aber wieder, weil es ihrem strengen Gefühle Ehre mache, sich gegen jede Ungerechtigkeit zu wehren, was sie dort habe tun müssen.

Als nämlich sein Reisegefährte Jean Ferdinand Eclair, Freiherr von Bézincourt wieder zurückgekommen war, hatte er sich bei seinen gräflichen Verwandten eingefunden, die auch Sonja beherbergten. Wie der 192 Sohn des Hauses gehalten, logierte er sich auch sofort wieder bei ihnen ein und, obgleich selber arm und völlig mittellos, lebte er dort wie der Herr des Gutes, ja, er hatte sich, offenbar von den Entbehrungen der Pariser Reise bis zum äußersten ausgehungert, in die Vergnügungen des Wiener Lebens gestürzt, gespielt, Schulden gemacht und auf den Namen seiner Verwandten Wechsel gezogen, wie er denn überhaupt deren Vermögen in der schnödesten Weise als das seinige behandelte, ungeniert aus der Kasse Geld nahm und jede gute Laune seiner Tante dazu benützte, ihr möglichst große Summen mit einem Kuß oder Liebesworte zu entlocken. Während der Graf, als der Wechsel präsentiert wurde, in größten Zorn geriet und zwar die Summe bezahlte, aber seinem Neffen erklärte, ein zweites Mal unter keinen Umständen solche Schulden berichtigen zu wollen, konnte die Tante in ihrer weiblichen Schwäche oder Güte und in der gewissen Verliebtheit älterer Damen für einen so schönen jungen Offizier sich nicht entschließen, mit dem hübschen Burschen streng zu verfahren. Vielmehr gab sie ihm heimlich Geld und unterstützte ihn auch weiter in seinen Torheiten. Darüber kam es zu Zwistigkeiten unter den Eheleuten, Sonja war empört, daß der junge 193 Mann die Gutmütigkeit seiner Verwandten so unbescheiden ausbeute und nahm während einer Auseinandersetzung der beiden Gatten unverhohlen gegen ihn Partei. Dies führte zu einer peinlichen Szene, in welcher die Gräfin Sonja zu verstehen gab, sie hätte am wenigsten Ursache, sich in solche Angelegenheiten zu mischen, denn wenn der junge Herr als Verwandter ihre Gefühle für sich zu rühren wisse, habe sie als Fremde das Herz ihres Gatten verführt und als eine dreiste kleine Abenteurerin sich in eine Familie eingeschlichen mit allerhand dunklen Absichten, deren Ende vielleicht für das gräfliche Haus bedrohlicher sei, als die harmlosen Streiche eines munteren Jünglings. Kurz, Sonja wurde so deutlich der Friedensstörung angeklagt, daß ihr nichts übrig blieb, als mit dem ganzen gekränkten Stolz der beleidigten Unschuld das Feld zu räumen, den herrschaftlichen Tennisplatz, das schöne braune Reitpferd, das brausende Badezimmer, die englische Miß, das blinkende Klavier und mit ihrem amerikanischen Koffer schleunigst zu Fuß die schöne Stätte ihrer Triumphe zu verlassen und den Käfig, wo sie sich so wohl gefühlt, mit der bitteren Freiheit zu vertauschen, die nun einmal ihre Heimat bleiben sollte.

194 So war sie wieder bei ihrem Beschützer angelangt, um einen Traum und um ein Erwachen reicher.

Nun sollte aber ihres Bleibens in der freien Wohnung auch nicht mehr länger sein, denn Roszkowski mußte nach Ablegung seiner Stabsoffiziersprüfung irgendwohin zur Truppe rückversetzt werden und daher sein Dienstquartier in der Kaserne räumen. Bevor er jedoch einen neuen Garnisonsort zugewiesen bekam, sollte er an einer sogenannten Offiziersreise teilnehmen. Das sind Übungsfahrten, die von berittenen Offizieren in verschiedenen Gegenden abgehalten werden zur Ausbildung, zur praktischen Erprobung, zu Mappierungszwecken. Sie führten ihn zunächst nach Mähren und da hoffte er, zuweilen mehrere Tage frei zu bekommen, wollte gelegentlich seine alte Mutter in der Festung C. besuchen und auch mehrmals nach Wien zurückkehren, um Sonja häufig wiederzusehen. Nachher aber, wenn er in eine bestimmte Garnison einquartiert und einem neuen Regimente zugeteilt worden, galt es, für längere Zeit von Sonja Abschied zu nehmen, denn es war wohl kaum zu ermöglichen, daß sie ihm dorthin folgen und seinen neuen Aufenthalt so unbefangen wie bisher teilen könne.

Als davon gesprochen wurde, hatte Sonja Tränen 195 in den Augen und sagte, sie fürchte sich recht sehr vor der neuerlichen Trennung, Roszkowski aber beruhigte sich und sie. Bei ihrer erworbenen Bildung werde sie leicht einen passenden Beruf ergreifen und sich einer angenehmen Selbständigkeit so lange erfreuen, bis sich eine Wiedervereinigung leichter und besser bewerkstelligen lasse. Kommt Zeit, kommt Rat.

Mit verschiedenen ziemlich deutlichen Anspielungen suchte er mich und meine Frau zu bewegen, Sonja, bis sie etwas Geeignetes gefunden habe, bei uns aufzunehmen. Aber unsere beschränkten und bescheidenen Verhältnisse, die Enge unserer Wohnung und das unwillkürliche Bedürfnis zweier Menschen, ihr Leben ungestört ohne das Beisein eines Dritten nach eigenem Ermessen zu führen, verboten uns, solche Wünsche zu berücksichtigen, um so mehr als wir fürchten mußten, auf diese Weise Sonja monatelang beherbergen zu sollen. Wir taten daher wie auf Verabredung recht schnöde, als verstünden wir nicht.

So blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Hausstand aufzulösen. Seine Möbel verkaufte er zum Teile mit Gewinn, den Rest stellte er irgendwo unter, nur sein lebendiges Hausgerät, sein Sklave Antipas, blieb ihm übrig. Wie sollte er den, bis er seine neue 196 Garnison bezog, versorgen? Der treue, ergebene Bursche hatte ihm die wichtigsten Dienste geleistet, jede Arbeit verrichtet, sich zu allem möglichen und denkbaren bereit erwiesen, namentlich pflegte er seine Soldatenkost dem Herrn gegen eine Entschädigung von fünf Kreuzern abzutreten, was besonders wichtig und schätzbar war. Die Menage der österreichischen Soldaten ist nämlich für einen anspruchslosen Geschmack recht gut. In den blechernen Eßschüsselchen schwimmt täglich in einer kräftigen Suppe ein fettes saftiges Stück Rindfleisch, auf dem zugehörigen Teller aber liegt ein Häufchen Gemüse mit einer derben Mehlspeise, einem Knödel oder dergleichen. Das Gemüse ist freilich grob eingebrannt: alte Erbsen, Kohl, Linsen, was es eben gibt. Aber man wird satt davon. Dazu das schwarze, wohlschmeckende Kommißbrot. Ein Spartaner wie Ernst Roszkowski kommt bei solcher Mahlzeit immerhin auf seine Rechnung. Billiger konnte er sich nirgends ein Mittagessen verschaffen. Wenn er nicht zu Hause bei der Mutter speiste, war ihm die Offiziersmesse viel zu teuer, ganz abgesehen von dem Verkehr der gleichgültigen Kameraden, die er mied, wo er nur konnte. Und Antipas seinerseits war es auch zufrieden, seine Portion um fünf Kreuzer zu verkaufen, denn 197 diese ruthenischen Bauern sind wahrlich eine solche Fleischkost nicht gewöhnt, leben sie doch zu Hause bei ihren Feldarbeiten von schlechtem Brot und Kartoffeln; Milch, Fleisch, Gemüse bleiben ihnen Leckerbissen, denen sie nicht einmal besonderen Geschmack abgewinnen. Werden sie zu den Soldaten gesteckt, so vertragen manche nicht einmal die reichlichere Nahrung und bekommen allerhand Magenzustände. Für fünf Kreuzer aber konnte sich Antipas zu seinem Kommißbrot einen Käse oder ein Stückchen dürre Wurst kaufen und an anderen Tagen sich mit dem trockenen Brote begnügen, das Geld aber sparen. Denn auch er schätzte, wie sein Herr einen gewonnenen Kreuzer. Übrigens war der Wille des Oberleutnants höchstes Gesetz. Wenn ein Soldat einem Offizier als Bursche zugewiesen wird, hat er außer auf seine Löhnung auch Anspruch auf einen Monatsgehalt von drei Gulden. Diese Summe hatte Roszkowski dem Antipas aber nicht auf die Hand bezahlt, sondern monatlich in ein Sparkassenbuch gelegt. Als er nun seinen Hausstand in Wien auflöste, gedachte er den Antipas zwar zu behalten, aber ihn doch für so lange wegzuschicken, bis er in seiner Garnison eingetroffen wäre: mithin beschloß er, den Burschen zu beurlauben. Auch Antipas sollte wieder einmal seine Eltern, seine Heimat aufsuchen und sich zu Hause erholen, besonders da er ihn jetzt nicht brauchte. Roszkowski rief ihn also vor und sagte ihm:

»Antipas, mein Sohn, ich muß jetzt auf Übungsreise gehn, das Fräulein bleibt hier in Wien, ich komme erst nach Wochen in meine neue Garnison. Dich will ich behalten, denn du bist zwar ein Rindvieh, aber immerhin ein ergebener Mensch. Weil du mir treu gedient, habe ich darum ersucht, daß du mir auch fernerhin als Bursche zugeteilt bleibst und nicht zum Regimente rückversetzt wirst. Ich will mich deiner noch weiter annehmen. Bis ich aber in der neuen Stadt eingekehrt bin, kannst du auf Urlaub gehn und zu deinen Eltern. Siehst du, wie gescheit ich gehandelt habe, dir dein Monatsgehalt nicht auszubezahlen, sondern in die Sparkasse einzulegen! Sonst hättest du es für allerhand Dummheiten vertan, so aber besitzest du ein hübsches Vermögen; davon kannst du die Reise bestreiten, deinen Leuten etwas mitbringen und in den kommenden Wochen wie ein Herr auftreten. Also da sind deine fünfzig Gulden, sieh zu, daß du sie nicht verschleuderst. Du bekommst fünf Wochen Urlaub, dann rückst du wieder zu mir ein. Das Geld aber spare, wenn du wiederkommst, mußt du mir genau 199 verrechnen, was du ausgegeben hast, denn ich will nicht, daß es heißt, der Oberleutnant Roszkowski kümmere sich nicht um seinen Knecht und lasse ihn leer und blank aus dem Dienst treten. Auch wenn deine Kapitulantenjahre um sind, sollst du etwas besitzen und in die Zivilstellung nicht als Bettler treten, sondern mit einem gewissen ersparten Vermögen. Ich will mich dann auch weiter für dich umsehen. Hast du mich verstanden, du Esel?«

Antipas grinste seelenvoll und nahm gerührten Abschied. Namentlich von Sonja, der er von Herzen zugetan war, wie einem Kinde, das unter seinen Augen groß geworden. Wie oft hatte sie ihm eine schallende Ohrfeige gegeben, daß es eine Lust war, manches Mal hatte er sie auf seinen Armen, in einen Kotzen gewickelt, ein gutes Stück weit getragen und ihre Launen waren ihm teuer, wie einem anderen die Wetterwillkür der Heimat. Auch Sonja konnte sich der Tränen nicht erwehren, als der große, derbknochige, etwas krummbeinige Bursche mit der Miene, von welcher man nie wußte, ob sie traurig oder heiter sei, in Habtachtstellung vor ihr stand und stammelte: »Melde gehorsamst, Antipas, Bursch von Pan Oberleutnant Roszkowski rückt ab. Pani Sofia, oh Pani!« 200 Sie winkte ihm zu und gab ihm die Hand und weinte. Dann stieß sie ihn in den Magen und wandte sich ab, denn es war ihr, als gehe mit ihm auch ihre ganze wunderliche, aber schöne Vergangenheit auf Urlaub, dies dunkle ungewisse und wieder geliebte Geheimnis ihres Schicksals und ihre Freiheit selbst. Denn nun würde sie unter fremde Menschen kommen; statt einer treuen Seele, wie diesem Antipas zu befehlen und einen Knecht allen ihrer Wünsche zur Seite zu haben, der ihren Schlaf bewachte, würde sie jetzt selber anderen Leuten dienen müssen, manches böse Wort hören, das sie sonst ausgesprochen, selber Launen ertragen, statt sie haben zu dürfen, selber in Wind und Wetter wie eine Wache, wer weiß für wen und allein stehen, keine Herrin, sondern eine arme Magd. So begann sie laut zu schluchzen, während Antipas sich abgewandt hatte und ebenfalls in seine Mütze hineinheulte, bis der Oberleutnant ihn gutmütig-unwillig zur Türe hinausschob.

Roszkowski quartierte seinen Schützling bei irgendeiner Frau in einem Vorortehause um billiges Geld in einem dürftigen Kämmerlein ein und reiste ab. Nun war Sonja, was die Abnützung der Menschen anlangt, ungleich bescheidener, mäßiger und klüger, als er, und ich muß ihr das Zeugnis ausstellen, daß sie, 201 erging es ihr in der bittersten Einsamkeit und Kümmernis schlecht und litt sie Not, lieber Hunger ertrug, als fremde Hilfe anrief.

Ich hatte ihr wiederholt meine Bereitschaft erklärt, sie zu unterstützen, wenn sie dessen bedürfe, sie möchte mich als ihren zuverlässigsten Freund betrachten, dem sie jede Sorge getrost anvertrauen könne. Aber wenn es mit ihr jämmerlich stand, vergrub sie sich mit ihrem Elend und arbeitete sich, so gut sie konnte, mit verbissenen Zähnen allein durch, übertauchte das Ungemach und kam fröhlich und munter wieder hervor, als sei es ein kräftigendes Bad gewesen, das ihre Seele neu belebt hatte.

So weiß ich alle ihre Abenteuer, die sie nun, in ihres Lebens trübster Zeit bestanden, nur von ungefähr aus ihren konfusen, gelegentlichen, unklaren und scherzhaft verstellten Berichten, kann diese nur durch begründete Vermutungen ergänzen und dartun und bin auf absichtlich dunkle Andeutungen angewiesen, nicht auf meine eigenen unmittelbaren Kenntnisse.

Vor seiner Abreise händigte mir Roszkowski noch einen »Kriegsschatz«, wie er ihn nannte, ein, ungefähr zweihundert Gulden, die er sich wieder, weiß Gott durch welche Sparsamkeit zusammengelegt hatte. 202 Damit er nicht in Versuchung käme, ihn anzugreifen, sollte ich das Geld verwalten, welches für eine Weltreise bestimmt war, die er nach ein paar Jahren vorhatte. Er wollte Indien, Amerika, Japan, Neuseeland besuchen. Falls Sonja davon bedürfte, sollte ich ihr jeweils einen kleinen Betrag einhändigen. Er selbst gedachte ihr zehn Gulden monatlich auszusetzen, womit sie, wenn sie gar nichts anderes verdiente, immerhin sich weiter fristen könne, so daß sie mich wohl kaum bemühen würde. Das Kapital möchte ich für ihn nutzbringend anlegen. Um es aufrichtig zu sagen, ich sollte mit diesen zweihundert Gulden auf seine Rechnung für ihn wuchern. Erschrecken Sie nicht! Ich habe es getan und konnte es bei den eigentümlichen, elenden Verhältnissen des Beamtenwesens, worin ich steckte. Die armen Teufel von Amtsbrüdern, überall verschuldet, auf Wucherer und unanständige Wege teuerster Geldbeschaffung angewiesen, sind froh, von einem Kameraden im Notfall sofort ein Sümmchen auf die Hand zu bekommen. An die ausbeuterischen Zinsen gewöhnt, erstatten sie am Gehaltstage gern auch ein beträchtliches mehr zurück, als sie empfingen und fühlen sich keineswegs überhalten, sondern wissen für die leichte, rasche Aushilfe noch Dank.

203 Wer mit solchen kleinen Beträgen dienen kann, wird geschätzt und geehrt. So übernahm ich es ohne allzu große Bedenken, Roszkowskis Vermögen nutzbringend zu verwerten, diente der Ertrag doch einem höheren Zwecke, einer schönen Reise und der Erfüllung eines Schicksals. Auch schützte ich mich leicht vor jedem Verdacht, indem ich dem Hilfesuchenden immer ausdrücklich sagte, es sei nicht mein Geld, das ich verleihe, nicht mein Gewinn, den er zinse. Und da ich allgemein als aufrichtig bekannt war, hatte die Sache keine andere Schwierigkeit, als daß sie mich mit Sorgen um die Eintreibung, genaue Verrechnung und Buchführung der Außenstände belastete, was ich aber um der Freundschaft willen eben auf mich nahm. So führte ich eine Art von winzigem Bankgeschäft, verlieh auf einen Monat zehn und bekam einen Schuldschein auf elf Gulden, der am Gehaltstage eingelöst wurde. Der Schuldner brauchte keinen Wucherer draußen aufzusuchen, und sich etwa um Bürgen und Lebensversicherungen zu kümmern, zu warten, oder gar abgewiesen zu werden und war es zufrieden. Freilich fiel mir dieser zweideutige Dienst recht beschwerlich, und ich war herzlich froh, ihn später mit gutem Grund abzuschütteln, aber 204 einstweilen verwaltete ich Roszkowskis Kriegsschatz nach bestem Können.

Nachdem ihr Beschützer fort war, mußte Sonja zusehen, wie sie sich allein in der Welt weiterbringe, denn mit dem geringen Monatsgelde ließ sich nicht auskommen.

Sie begab sich daher in ein Gouvernantenheim, das man ihr bezeichnet hatte, und gedachte, eine Stelle als Erzieherin anzustreben, wofür sie sich nach Roszkowskis Überzeugung am besten schickte. Sie selbst machte sich über ihren Beruf keinerlei Gedanken, denn im Grunde war ja jede Arbeit lästig. Ob sie aber auch wirklich zu leisten imstande sei, was man von einer Erzieherin verlange, war ihr gleichgültig, denn sie konnte den Kreis einer Pflicht nicht ermessen und wußte in ihrer angeborenen und fröhlichen Gleichgültigkeit nichts von inneren Zweifeln und Ängsten des Gewissens. Durch Roszkowski zuversichtlich gemacht, hatte sie von allen vielfältigen Lehren nur die eine behalten: »Es geht schon!« Was aber etwaige Bildungslücken betraf, je nun, sie besaß das gefürchtete »goldene Buch«, da würde sie schon im Notfalle Auskunft finden.

Das Gouvernantenheim lag in einer der dunklen 205 Seitengassen des »Grabens«, in einem verdächtigen Hause in einer verdächtigen Gegend und schien selbst ihr, als sie unbefangen eintrat, nicht ganz geheuer.

Die Pensionsinhaberin, eine fette Dame mit gebrannten, pfefferbraunen Haaren und einem abgetragenen, speckglänzenden schwarzen Kleide kam ihr entgegen, musterte sie und ihr kleines Köfferchen und fragte schließlich, was für eine Stelle sie wünsche. Einen Gouvernanten- oder Bonnenposten, und wenn sich kein solcher finde, sogar einen als besseres Kindermädchen.

Was sie für Zeugnisse habe. Sonja antwortete, zur Zeit besitze sie ihre Dokumente nicht, die ihr erst aus der Heimat nachgeschickt werden müßten.

Die Dame nickte: Aha! Es sei eine böse Zeit für solche Stellen und könne immerhin eine Weile dauern, bis sich etwas Geeignetes zeige. Inzwischen müsse Sonja aber bei ihr wohnen, um stets zugegen zu sein, wenn jemand ihre Dienste suche. Hiefür habe sie einen Gulden pro Tag zu entrichten, und da es der Institutsinhaberin natürlich nicht zuzumuten sei, Unterkunft und Stellenvermittlung auf Kredit zu gewähren, müsse sie vorerst so freundlich sein, für zehn Tage vorauszubezahlen.

206 Bekümmert erlegte Sonja aus ihrem schmalen Geldbeutelchen zehn Gulden und behielt nur etwa den gleichen Betrag noch übrig.

Hierauf wurde sie in den »Salon« geführt. Das war ein großer, vierfenstriger, aber düsterer Raum, der auf die dunkle Gasse sah, mit hohen goldgerahmten Spiegeln und verschlissenen Rokokosamtstühlen und Divans, auf denen man recht peinlich saß. Hier wurden die Damen empfangen, welche Gouvernanten oder Bonnen suchten. Eine Glastür, durch einen Vorhang unschädlich gemacht, ging in die Pensionszimmer.

Da sollte sie nun zu Hause sein und sich's bequem machen, lud sie die Herrin des Heims herablassend ein. Weil Sonja für zehn Tage bereitwillig im voraus bezahlt hatte, erfreute sie sich vorläufig eines gewissen Ansehens, das die mangelnden Zeugnisse immerhin er setzen konnte.

Die zwei Pensionszimmer – mehr gab es nicht, die Inhaberin selbst bewohnte die Küche – waren ganz finster und gingen in einen schmalen Lichthof, der nach allerhand Speisen aus allerhand Küchen, nach dem Stall, der unten im Hause war, nach Chemikalien und schlimmeren Dingen roch. Möbel gab es keine, sondern bloß Matratzen mit Leintüchern, Kissen und 207 Decken von zweifelhafter Reinlichkeit und an der Wand Haken zum Aufhängen der Kleider. Auf den Matratzen kauerten fünf oder sechs halbangekleidete Frauenzimmer und begrüßten Sonja mit verheißungsvollem Gelächter und allerhand Anreden die sie freilich nur zum Teil verstand, zum Teile immerhin erriet. Eine kämmte sich vor einem zerbrochenen Wandspiegel, eine andere, Französin und »Bonne supérieure«, wie sie sich brüstete, saß in einem hochroten Seidenhemde mit nackten Armen, die Beine eingezogen und rauchte eine Zigarette, eine dritte war betrunken und sang ungarisch. Eine vierte, dick wie ein Faß, wälzte sich auf dem Lager und schrie, man solle sie schlafen lassen.

Sonja setzte sich seufzend auf ihr Kofferchen und beschloß, die Nacht abzuwarten.

»Hast du einen Geliebten?« wurde sie von einer gutmütigen blonden Person gefragt, die am Fenster stand. Sonja schüttelte schweigend den Kopf.

Sie saß vielleicht zwei Stunden lang auf ihrem kleinen Koffer und wartete. Heute kam wohl niemand mehr, um ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. Schließlich zog sie sich aus, hing ihre Kleider auf den Pflock zu Häupten ihrer Matratze, stellte ihren Koffer 208 unter das Kopfkissen, die Schuhe zu Füßen ihres Lagers und legte sich nieder. Sie wollte wenigstens schlafen. Ein Lämpchen wurde angezündet. Die anwesenden Damen begannen zu nachtmahlen, wobei sich ein beträchtlicher Lärm entwickelte, Würste wurden angeboten und getauscht, Orangen verzehrt, mit deren Schalen man sich bewarf, Sonja aß ein Stück Brot, die letzte Schnitte des guten Kommißbrotes. Zwei Pensionärinnen wurden handgemein, eine dritte spielte dazu auf der Maultrommel, die Französin sang »Au clair de la lune, mon ami Pierrot«. Endlich erschien die Pensionsinhaberin, gebot Ruhe und nahm das Lämpchen wieder fort.

Allmählich trat Ruhe ein, plötzlich wurde aber im »Salon« eine Männerstimme laut. Die Glastür öffnete sich und eine aufgedonnerte Person trat mächtig lachend am Arme eines Kavaliers in das Zimmer. »Schlaft ihr schon, ihr Schlumpen?« rief sie. Die Angerufenen schrien sie an: »Hinaus mit dem Mannsbild!«

»Ruhig, hab ich nicht doppeltes Pensionsgeld bezahlt, ihr Schweine?« antwortete der Bedrohte und stieg mit seiner Dame gelassen über die Schlafenden hinweg. Er beleuchtete mit einer mitgebrachten 209 Wachskerze die Gesichter. Die Drohung der Frauenzimmer war nicht so ernst gemeint, wohl mehr Neid, als beleidigtes Schamgefühl, denn da er ihnen mit dem Licht vor den Augen herumfuhr, lachten sie ihn recht vergnügt und freundlich an, Sonja aber zog die Decke über sich, um seinen Blicken zu entgehen.

»Wer ist denn die hier? Eine Frischgefangene? Nun, zeige dich nur, oder bist du gar zu häßlich?« Die anderen warfen sich über sie und entwanden ihr die Decke, so daß Sonja weinend mit den Händen ihr Gesicht schützen mußte.

»So schaust du aus? Na, beruhige dich, ich bin versorgt, wenn du aber durchaus willst, darfst du mit mir schlafen.«

»Lassen Sie mich in Frieden, mein Herr . . .«

»Ach, eine Sittsame! Nun, du wirst dich schon noch daran gewöhnen, gute Nacht mein Kind. Und wenn du Lust hast, brauchst du mir's bloß zu sagen, du weißt, nur ein Wort.«

Er verschwand mit seiner Dame vergnügt ins zweite Zimmer. Es dauerte lange, bis Stille einkehrte und Sonja schließlich in einen schweren, von argen Träumen gehetzten Schlummer fiel, um müde zu 210 erwachen und sich an einem finsteren Morgen in diesem dumpfen Raume bei den merkwürdigen Erzieherinnen wiederzufinden.

Zwei Tage verbrachte sie in diesem Heim, saß stundenlang in dem Schlafzimmer und bemühte sich, mit ihren Genossinnen freundlich zu sprechen, um sie nicht gegen sich aufzubringen. Hie und da ging sie auf ein Viertelstündchen spazieren, in die freie Luft unter die wohlgekleideten stattlichen Menschen, die auf dem »Graben« im schönen Frühling einherspazierten. Dies war der zweite Lenz, den sie in Wien erlebte. Im ersten Sommer hatte sie als das Kind des gräflichen Paares Tennis gespielt und reiten gelernt und sich auf die höchste Zukunft gefreut. Welche niedrige würde nun der zweite Frühling bringen? Gar oft erwog sie, sich aus dem Staube zu machen und die Pension ohne Abschied zu verlassen. Was aber sollte sie in der großen Stadt allein und ohne Geld anfangen, wie sonst sich helfen und ihr Brot verdienen? Hier hatte sie ja im Voraus bezahlt und war sparsam genug, der niederträchtigen Stellenvermittlerin zehn Gulden nicht ohne weiteres schenken zu wollen. So kehrte sie immer wieder in das schlimme Haus zurück und wurde schließlich doch belohnt. An einem Vormittag rief man sie in 211 den »Salon«, wo eine Dame wartete, der sie sich vorstellen sollte.

Eine Ungarin sprach Sonja in gebrochenem Deutsch an, sie sei von ihrer Schwester beauftragt, für deren zwei Kinder eine deutsche Lehrerin zu suchen, welche im Unterricht der Elementargegenstände bewandert, auf der Sommerfrische am Plattensee die beiden weiblichen Zöglinge von acht und elf Jahren überwachen müßte. Verlangt werde vor allem eine schöne deutsche Aussprache. Sonja antwortete auf die gestellten Fragen bescheiden und höflich, wie sie es verstand und auch ihre Aussprache wurde für recht hübsch befunden. Ein wahres Glück, daß eine Ungarin dies beurteilte, denn Sonja redete zwar geläufig deutsch, aber mit der wunderlichsten Wort- und Satzbildung, mit polnischen Floskeln und Wendungen und einem weichen slavischen Anklang. Ebenso hätte sie wegen ihres trefflichen polnischen Ausdrucks belobt werden können, denn auch in dieser Sprache bewegte sie sich wieder mit deutschen Phrasen und Gedanken, wie sie eben als das heimatlose Wesen, das sie war, überall und nirgends zu Hause, sogar die Worte und Einfälle ihres unmittelbaren Gefühls wie eine Fremde suchen und sich daran mühselig forttasten mußte. Ihr selbst schien freilich 212 das erteilte Lob durchaus verdient, sie nahm es mit Würde und Bescheidenheit an. Schließlich wurde ein Vertrag für zwei Monate abgeschlossen. Länger benötigte man ihre Dienste nicht. So war sie wenigstens bis Anfang Juli versorgt. Am nächsten Tage sollte sie bereits nach ihrem neuen Ort fahren und die Stelle antreten, eine Fahrkarte wurde ihr eingehändigt.

Sie reiste also hin und wurde in einem netten Landhause von ihrer neuen Herrschaft freundlich aufgenommen. Die Dame verständigte sich mit ihr in einem herzlichen Kauderwälsch von Ungarisch, von deutlichen Gebärden und ein paar deutschen Brocken, die Kinder aber, zwei aufgeweckte Mädchen, sprachen recht gut deutsch, führten sie im Garten umher und waren zufrieden mit ihr, da sie sich augenblicklich zum Spielen hergab, mit ihnen um die Wette lief und lachte. Auf den Befehl der Mutter brachten sie endlich ihre Hefte und Bücher herbei und zeigten ihre Schulaufgaben. Sonja setzte ein ernstes Gesicht auf und betrachtete äußerst interessiert diese fremden Dinge. Das war nun eine höchst gefährliche und drohende Sache. Da gab es merkwürdige Rechenexempel, schwierige französische Exerzitien, deutsche Sprachbeispiele, sogar ein Aufsatz sollte geschrieben werden, mit dem Titel: 213 Beschreibung unseres Sommeraufenthaltes, denn die Kinder besuchten in Budapest ein vornehmes Institut, welches auf allgemeine Bildung eingerichtet war.

Da wurde Sonja übel zumute, sie klagte, nachdem das Abendessen vorbeigegangen, über Kopfschmerzen und Müdigkeit und bat, sich zeitig zur Ruhe begeben zu dürfen, was man ihr nach der Fahrt in der großen Hitze des wolkenlosen Maitages gern und unter Ausdrücken herzlichen Bedauerns zugestand.

In ihrem Mansardenstübchen, endlich wieder in einem reinen anständigen Zimmer, setzte sie sich an den Tisch und überlegte, wie sie diese schwierigen Aufgaben der Erziehung werde bewältigen können, denn sie zeigten sich doch nicht eben als selbstverständlich. Das beste schien ihr, an Ernst zu schreiben, da das »goldene Buch« begreiflicherweise nur die allgemeinen Grundsätze der Wissenschaften verriet, ohne auf die unvorhergesehenen Zufälle ihrer praktischen Anwendung Bedacht zu nehmen.

Mit einer kurzen Nachricht über ihre verschiedenen Erlebnisse verband sie daher eine genaue und ausführliche Auseinandersetzung dieser Themen und erbat eine umgehende Beantwortung.

Darauf legte sie sich beruhigt schlafen und stand am 214 nächsten Morgen gar nicht auf, sondern band sich einen Umschlag über den Kopf. Als man ihr das Frühstück brachte, seufzte sie bitterlich und stöhnte wie eine Schwerkranke, sie habe wahnsinnige Kopfschmerzen und fiebere wohl auch. Mitleidig fragte man, ob sie eines Arztes bedürfe, doch wehrte sie ab, leider seien ihr diese Zustände vertraut, die nach zwei Tagen regelmäßig vorübergingen, und für diese kurze Zeit erbitte sie die gnädige Nachsicht.

Am ersten Tage lag sie also im Bette und ruhte aus und legte sich nur im Essen eine, freilich unangenehme Beschränkung auf, da es einer Unpäßlichen doch nicht geziemt, hungrig zu erscheinen und mit Appetit zu speisen. Immerhin genoß sie eine seine leichte Krankenkost mit Vergnügen, verzehrte süße Bisquits, kräftige Suppen, Milch und Rotwein. Am zweiten Tage erhob sie sich, trug eine leidende, aber etwas erleichterte Miene zur Schau, ging wie eine mühsam Genesende mit bedächtigen Schritten an der Seite der braven teilnahmsvollen Kinder spazieren und schien sich unter den Bäumen des schattigen Gartens, am schilfigen Seeufer in der angenehmen Luft zusehends zu erholen. Die Dame des Hauses, eine gutmütige Frau ließ ihr jede Schonung augedeihen.

215 Am dritten Tage langte endlich der ersehnte Brief an, Roszkowski hatte den ihrigen bekommen, sich sofort hingesetzt und alle Aufgaben bis in die Nacht hinein sorgfältig und mit der ausführlichsten Erklärung, mit den genauesten Weisungen für den mündlichen Unterricht, gelöst. Nun hatte sie Stoff für ein paar Lehrstunden und konnte mit Geschick und pädagogischer Ausdauer, Gründlichkeit und Genauigkeit ungefähr eine Woche getrost ausfüllen.

Jetzt war sie ganz wieder hergestellt, zeigte sich munter aufgelegt zur geliebten Tätigkeit, setzte sich mit ihren Zöglingen in eine schattige Laube und begann den Unterricht, den sie dank den erhaltenen genauen Fingerzeigen recht schön abwickelte, nicht ohne die bevorstehenden neuen Themen zu bedenken und aufzuschreiben, so daß sie mit der Antwort auf einen zweiten Brief wieder neues unerläßliches Material für ihre weiteren Lektionen gewärtigen durfte, welches denn auch rechtzeitig mit aller wünschenswerten Ausführlichkeit eintraf.

Wie aber Kinder scharfblickend und auf ihren Vorteil bedacht sind, merkten ihre beiden Schülerinnen gar bald, daß Sonja die Aufgaben fertig zur Stunde mitbrachte und durch unwillkommene Zwischenfragen in Verlegenheit besetzt wurde. Sie schlugen ihr daher 216 rundweg vor, anstatt, daß sie sich mit den Arbeiten in ihrer freien Zeit plagen sollten, möge ihnen das Fräulein doch die Themen lieber gleich geben, sie würden sie einfach recht schön abschreiben und rascher fertig werden und alles käme in Ordnung, ohne daß sich beide Teile sonderlich bemühen müßten. Gutwillig ergab sich Sonja in diese notgedrungene, aber keineswegs unkluge Fügung der Dinge. Ernst plagte sich in seiner siebenbürgischen Garnison mit den Aufgaben, schickte sie pünktlich ein, Sonja lieferte sie ihren Zöglingen aus und diese schrieben sie ab. So war der einfachste, praktischste Vorgang hergestellt, in den Unterrichtsstunden aber spielte man allerhand kleine Spiele, die beim Kommen der Mutter oder anderer Uneingeweihter unterbrochen und von den ernsthaftesten Fragen und Antworten abgelöst wurden.

Auf diese Weise verstrichen die zwei Monate in allseitigem Einvernehmen und schönster Ruhe. Dann reiste die ungarische Dame mit ihren Kleinen in ein Seebad und mußte zu ihrem Bedauern die tüchtige kleine Lehrerin mit der schönen deutschen Aussprache entlassen. Da der Sommer angebrochen war, konnte Sonja nichts besseres tun, als in dem bewährten Gouvernantenheim einen zweiten Posten erwarten.

217 Als sie dort die gleichen zweifelhaften Zustände vorfand, wobei nur einige frühere Kolleginnen fehlten, die sich nunmehr als würdige Erzieherinnen betätigten, während neue die alten Matratzen mit der gleichen Ungezwungenheit besetzt hatten, fühlte sie sich bereits besser zu Hause, als das erstemal, gewöhnte sich an die frechen Sitten und die offenen Zweideutigkeiten und wartete mit mehr Geduld auf eine neue Erlösung, die sich tatsächlich nach ein paar Tagen einstellte, indem sie in den Salon gerufen, einen Hauptmann antraf, der ihre Dienste begehrte. Sie wußte eigentlich nicht, warum sie schon beim Anblick der bekannten Uniform ein gewisses Mißtrauen spürte und den kommenden Dingen mit Beunruhigung entgegensah. Aber sie hatte wahrlich nicht die Wahl, jetzt vorsichtig oder launenhaft einen Posten auszuschlagen. Auch duldete der energische Mann von vornherein keinen Widerspruch, sondern behandelte sie gleich wie seine willenlose Sklavin, wie einen weiblichen Offiziersburschen. Er fragte sie, wie sie heiße, um ihr Alter und ob sie stark genug sei, einen Säugling zu tragen, fähig, mit Kindern umzugehen und die sonstigen Dienste einer Magd zu tun: Wäschewaschen, Nähen, Kochen und dergleichen. »Du erhältst also acht Gulden für den 218 Monat und fährst morgen mit mir und den Meinigen aufs Land. Du bist um sechs Uhr früh beim Westbahnhof mit deinen Sachen und bekommst deine Fahrkarte. Adieu.« Ohne Gegenrede war sie angeworben und fand sich gefaßt und gehorsam beim Westbahnhofe zur angegebenen Stunde ein.

Im Wartesaal stand die Reisegesellschaft schon in Bereitschaft, der Hauptmann neben einer starken, üppigen Blondine mit recht gemeinen Zügen, zwei verwahrloste Kinder, ein Knabe und ein Mädchen in abgetragenen unordentlichen Kleidern, jedes mit einem Ranzen, der Hauptmann selbst trug das Jüngste, das ihrer besonderen Obhut anvertraut bleiben sollte, in Windeln eingeschnürt war und bitterlich weinte. Der Offiziersbursche aber schleppte zwei Koffer mit den Habseligkeiten der Herrschaft.

»Also, da bist du, nimm mir das Kind ab und dem Burschen den einen Koffer, du fährst in der dritten Klasse, gib acht, daß der Kleinen nichts passiert, laß sie nicht schreien und lege sie trocken, da hast du die Milchflasche, wenn's notwendig ist. Wir fahren zweiter.«

Damit stiegen er, die Frau und die beiden andern Kinder in den Zug und Sonja mußte einen Wagen 219 der dritten Klasse aufsuchen, wobei sie Mühe genug hatte, den Koffer, ihr eigenes Gepäck und das schreiende, lebendige Bündel so zu tragen, daß sie nichts fallen ließ.

Eine gewisse Menschenkenntnis, die abenteuernde Leute immerhin gewinnen, sagte ihr, daß diese Familie nicht eben eine ordentliche militärisch-bürgerliche Ehe darstellte, sondern eine wilde Gemeinschaft, denn die blonde Frau schien keineswegs vornehm und standesgemäß, sondern verwahrlost und gleichgültig, wie eine schlecht bezahlte Geliebte, die so gut es gehen mag, mit ihrem Anhang ausgehalten wird. Trug sie doch weder einen Ehering am Finger noch bekümmerte sie sich sonderlich um eine ehrbare Haltung und anständiges Aussehen. Wohl eine ehemalige Köchin vom Lande, stieg sie äußerst protzig in die zweite Klasse ein, als gebühre ihr dieser Platz im Leben und sah verächtlich auf die kleine Magd herab, welche in die dritte gehörte. Ein verdrossener und bei der Unterdrückung doppelt empfindlicher Stolz quälte Sonja in ihrer neuen Lage. Dies also war ihr Schicksal, daß sie einer gemeinen Offiziersmätresse Magddienste tun und deren uneheliches Kind pflegen sollte. Die Madame durfte in allem Ansehen den schönen Platz einnehmen, während sie sich 220 abschleppen und placken mußte. Und niemand ahnte, wer sie, Sonja, eigentlich sei und was ihr von rechtswegen gebühre.

Der Zug fuhr ab, sie saß unter vielen fremden Menschen eingepfercht, mit einem schreienden Bündel am Arm und hatte Hunger, Zorn und Angst. Der Säugling brüllte unverwandt. Sie wiegte ihn erst geduldig, dann verzweifelt, endlich unwillig, sie sang ihm etwas vor, er schrie und schrie, sie reichte ihm die Milchflasche, er schrie, trank und schrie weiter. Die übrigen Fahrgäste beschwerten sich über den Lärm, Sonja entschuldigte sich voll Scham, das Weinen war ihr näher, sie wußte sich in keiner Weise zu helfen. Das Kind sei das Fahren eben nicht gewöhnt, das komme davon, wenn man Säuglinge auf die Eisenbahn mitnehme, meinte ein Menschenfreund. Sonja wiegte das neuerlich kreischende Päckchen mächtig hin und her.

Eine ältere Dame, die ihr gegenübersaß, sagte endlich:

»Aber liebes Fräulein, halten Sie das Kind doch ruhig, denken Sie nur, wenn Ihnen etwas fehlte und man würde Sie so rütteln und schütteln, meinen Sie, es täte Ihnen wohl?«

221 Sonja sah erstaunt auf und hielt ihre Last ruhig. Das Kind aber schrie gottsjämmerlich weiter.

»Sie werden es eben aufmachen müssen und trocken legen, deshalb schreit es so sehr,« erklärte die Dame.

Gehorsam öffnete Sonja das Paket und sah, was sie sehen mußte. Ingrimmig und vom Gelächter, wie von den unwilligen Ausrufen der Mitreisenden verhöhnt, bemühte sie sich, das verhaßte kleine Wesen möglichst unauffällig und rasch zu reinigen und neu einzuwickeln, wobei sie sich manche mißbilligende Worte und Winke der erfahrenen alten Dame gefallen lassen mußte.

Die hatte freilich gut reden. Sie war sicher eine brave Mutter erwachsener Kinder und empfand beim Anblick eines solchen hilflosen Würmchens das alte, sehnsüchtige Gefühl der fernen Zeit, da sie selbst ihre Kleinen geboren und gepflegt hatte.

Sonja aber entbehrte durchaus unschwer diesen sonst den Frauen eigentlich eingeborenen Trieb der Mutterschaft und Zärtlichkeit, der Treue und Fürsorge für ein Kind.

Zu sehr war sie Zeit ihres Lebens gezwungen gewesen, an sich selbst und die eigene Erhaltung zu denken, sich listenreich und gewandt durch alle Fährlichkeiten durchzuwinden, als daß sie die sanfte 222 Sicherheit und Klarheit des Gefühls hätte gewinnen können, welche notwendig ist, um ein fremdes Kind, wenn auch nicht wie ein eigenes zu lieben, so doch eben als das armselige Wesen, das es ist, zu beschützen.

Sonja würde, wie so viele ihresgleichen die bittersüße Pflicht der Mutterschaft und die weitere, weibliche Treue für alles, was Kind und hilflos ist, wohl auch eben erst gelernt haben, wenn sie, grausam genug, in der Pein der Selbsterhaltung noch der Nötigung ausgesetzt worden wäre, ein solches Wesen zu gebären, in Schmerzen zur Welt zu bringen und auf der mühevollen Erde zu bewahren. Vielleicht stand ihr auch dies noch einmal bevor, jetzt aber empfand sie nur Wut und Haß, diese schreiende, unsinnige, ungeduldige, zappelnde, schmutzige, boshafte Kreatur in ihren Armen zu sehen, der sie, weiß Gott warum, ihre Kraft und Jugend, Zeit und Geduld, ihren Stolz und ihre Freiheit opfern mußte. Erleichtert seufzte sie auf, als der Zug endlich in der bezeichneten Haltestelle anlangte. Sie lud sich mit Beschwerde ihre dreifachen Lasten auf und verließ, gefolgt von allerhand peinlichen Zurufen, den Waggon. Auf dem Bahnsteig warteten bereits die übrigen. Nun galt es noch zwei Stunden Weges zu wandern, denn das Dorf, wo der 223 Erholungsaufenthalt angetreten werden sollte, lag weit drinnen im Lande. Es war wirklich keine vornehme Sommerfrischgegend, sondern die schlichte, einförmige niederösterreichische Hügellandschaft, die sich nahe dem Wienerwalde weit gegen Westen und Norden hinstreckt. Eine tüchtige Bauernsommersonne brannte nieder und das Trüpplein setzte sich verdrossen in Bewegung. Voran ging der Herr Hauptmann mit seiner Kebse, eingehängt und mit einem widerlichen Gebaren von Stattlichkeit und ungebührlichem Ansehen. Dahinter schleppte sich Sonja mit ihrem Gepäck, während die beiden älteren Kinder zwischendrein liefen, bald wie zudringliche Hunde um sie kläffend, zankend und stoßend, bald zu den Eltern voraneilend. Der Weg ging schmal und uneben durch Wiesen und Felder ohne Schatten, nur selten kam ein Baum, hie und da wurde ein Bach durchschritten, wobei sie doppelt achthaben mußte, nicht zu Fall zu kommen oder auch nur zu straucheln, um den Säugling nicht zu beunruhigen. Denn wenn er zu schreien begann, wandten sich der Hauptmann und sein Weib entrüstet nach ihr um, schalten sie wegen ihrer Ungeschicklichkeit, und das Frauenzimmer riß ihr das Kind aus den Armen, küßte es leidenschaftlich schmatzend, belegte es mit den 224 dümmsten Kosenamen, trug es aber nicht selbst weiter, sondern überließ es ihr wieder mit einem gemeinen Schimpfwort.

So mußte sie immerzu das verhaßte Paar vor sich herstolzieren sehen und war in ihrem innersten Herzen über die Zuchtlosigkeit der Welt empört, welche derartige Verhältnisse zuläßt und ruhig solche gesetzlose Familien duldet, die ungehörig alle Ordnung einer ehrbaren Gesellschaft in Frage stellen. Daß sie selber ähnlicher Schonung ihr Glück und ihre ungestörte Existenz verdanke, kam ihr nicht im mindesten bei, wie denn jeder Mensch leichthin bereit ist, sich als einzig berechtigte Ausnahme von der Regel gelten zu lassen.

Sonja empfand nichts als Haß und Verachtung dieser unehelichen Gemeinschaft und bedauernswerten Unsittlichkeit, welche ihr das Ehrenkleid des Soldaten so recht zu schänden und zu verunzieren schien.

Aber wehrlos knirschte sie ihre Empörung zusammen und würgte all den Ingrimm hinab, denn der Muß ist ein harter Herr, wie ein polnisches Sprichwort sagt, und sie spürte seinen Griff an allen Gliedern. Zerschlagen und zum Umfallen müde langte sie endlich in dem Bauernhause an, wo sie die kommenden Wochen zubringen sollte. Hier, offenbar in der Heimat der 225 Frau, fand die Sippe das Sommerquartier. Man schritt durch einen schmutzigen Hof, wo Hühner gackerten, ein Hund an der Kette belferte, ein schmutziger Wagen mit langer Deichsel den Raum versperrte, zu einem geweißten niedrigen Hause, an welches eine hölzerne Scheune stieß, in deren Untergeschoß ein Stall lag, worin zwei Kühe und ein Ackergaul futterten, während oben der Heuboden untergebracht war. Die Frau und der Hauptmann wurden vom Bauern und seiner Gattin begrüßt, barfüßige, blondschopfige, ungewaschene Kinder standen mit offenen Mäulern und glotzenden wasserblauen Augen da, man trat in eine feuchte niedrige Stube, wo ein breites Doppelbett das sogenannte Ehepaar erwartete, während für die beiden größeren Kinder ein Sofa bereitstand. Das vergitterte Fenster sah auf Felder weithin ins sonnige, staubige, öde Sommerland.

Ihr aber wies man einen Verschlag in der Scheune an, neben dem Stall, aus welchem das unablässige, dumpfe Malmen und Wiehern der Tiere drang, ähnlich wie seinerzeit in dem Unglücksdorf beim Starosten. Auch ein Strohsack sollte wie damals ihr Lager werden, indes für den Säugling eine hölzerne Wiege neben ihrem »Bette« hergerichtet wurde, damit sie das Kind 226 gleich höre und zur Hand hätte, wenn es schrie. So war sie nun einquartiert und versah ihren Dienst vier endlose Wochen lang. Bei Nacht konnte sie kaum eine Stunde ungestört schlafen, denn der Säugling begann mit unerhörter Bosheit gerade dann zu heulen, wenn sie eben die Augen geschlossen hatte und im ersten Schlummer das Elend des Tages zu vergessen anfing. Auch der Stallgeruch, Mücken, Würmer, Ungeziefer aller Art bedrängten sie, früh morgens aber mußte sie aufstehen, Holz spalten und das Frühstück bereiten, denn die mitgebrachte Magd sollte ja auch dem Bauern die Wirtschaft erleichtern und die Gastfreundschaft durch ihre Hilfe bezahlen. Ferner mußte sie die Windeln waschen, die Kleider und Schuhe putzen, das Zimmer der Herrenleute aufräumen, die größeren Kinder reinigen und anziehen, und war dies alles geschehen, mit ihrem Säugling dem Paare ins Freie folgen, wo man sich eben des Sommers und der Erholung freute.

Für die stille, geduldige Schönheit dieser Bauernlandschaft und der warmen, sonnenglänzenden Felder voll gelben Korns und bunter Blumen, duftenden Heues und heißen Wohlgeruchs, für das behagliche Murmeln des Baches, für die sanften Weiden an 227 seinem Ufer, für den ruhigen, gleichmäßigen blauen Himmel und die gelassen vorüberziehenden Abendwolken oder für die brausende Schönheit der plötzlich einbrechenden Gewitter, für alle diese Reize der schlichten Natur hatte Sonja in ihrem Zorn und ihrer bitteren Mühsal wahrlich kein Verständnis, sondern nur Abscheu, sie haßte diese ganze Gegend, das armselige Bauernhaus, die einförmige Hitze und schattenlose Erntewelt, das Gackern der Hühner stach ihr wie ein erbarmungsloser Hohn in die Ohren, überall erblickte sie nur ihre Knechtschaft, ihre Schmach, ihre gezwungene Unterwürfigkeit, das war ihre Sommerfrische!

Sie hatte bloß einen Gedanken: ob ihr dieser Schurke von Hauptmann am Monatsschluß auch ihren Lohn ausbezahlen würde, dann sollte natürlich die Stunde ihrer Befreiung schlagen, dann wollte sie sich unbedingt und unverzüglich davonmachen. Dann mochte sich der jämmerliche Wickelbalg in seiner Wiege zu Tode schreien und die fette blonde Kebse alle die Dienste tun, die sie ihr, dem stolzen Polenmädchen zugemutet. Aber, ob der Hauptmann wohl mit den acht Gulden herausrücken werde! Und wie sie ihn dann zwingen könne, wenn er etwa Miene machte, sie um den verdienten Lohn zu prellen!

228 Die Tage schlichen mühselig dahin, von Hitze und Sorge beschwert, daß es ihr immer schien, als wollte es gar nicht Abend werden und in den schlaflosen Nächten, als wolle die Sonne nicht wieder aufgehen, und wenn endlich die Hähne schrien, als zögere der Morgen heraufzuziehen, um sie nur länger noch zu peinigen.

Aber nichts ist sicherer, als daß dem Menschen die Zeit über seinem Scheitel vergeht, der Monat war um, und der Hauptmann zahlte ihr knurrend den Lohn aus, den sie unterwürfig empfing, dabei reichte er ihr die Hand zum Kusse hin, und sie tat so, wie es einer Magd geziemt.

Das geschah zu Mittag, nach dem Essen. Die Frau schlief mit den Kindern in der Stube, die Bauern waren draußen auf dem Felde, der Hauptmann zog sich gähnend zu den Seinen zurück, Sonja suchte ihren Verschlag auf und begann mit wahnsinniger Eile ihre Habseligkeiten zusammenzusuchen und in das Kofferchen zu packen, wobei zudringliche Schmeißfliegen sie umsummten und peinigten, als wollten sie sie noch im letzten Augenblicke hindern.

Kaum war sie fertig, so fing das Wickelkind schrecklich zu brüllen an. Da nahm sie es zum letzten Male 229 aus der Wiege und schüttelte es in furchtbarem Ingrimm, als wollte sie ihm die Seele aus dem Leibe beuteln und siehe da, dieser Zorn setzte das kleine Wesen offenbar in solches Staunen, daß es demütig verstummte und zu weinen abließ, worauf sie es mit ihrem vertrauten Schimpf: »Psiakrew«, den sie, damit der Wurm doch die Anrede zu würdigen wisse, noch deutsch wiederholte: »Hundsblut verfluchtes«, in die Wiege zurückwarf.

Das Kind begann augenblicklich von neuem zu schreien, sie aber lachte höhnisch und lief davon, ohne sich umzusehen und erreichte die Haltestelle und fuhr mit dem nächsten Zuge nach Wien zurück.

Mit den zehn Gulden, die ihr Ernst geschickt und den Ersparnissen ihrer Löhne aus den beiden Stellungen hoffte sie sich immerhin eine Weile in der Stadt zu halten, bis sie wieder etwas anderes fand, sich fortzubringen, bis das Schicksal einen günstigeren Fahrwind schickte, Roszkowski sie zu sich nahm, der erwartete Millionär sie adoptierte, oder sonst was immer für ein Zufall ihr das gebührende Glück in den Schoß würfe.

Also mietete sie sich bei einer armen Quartierfrau in der Vorstadt ein und lebte von der Hand in den 230 Mund, wobei freilich kaum mehr als ein trockenes Stück Brot diesen Weg zurücklegte.

Aber sie verhehlte ihre traurige Lage, um ihn nicht in übergroße Sorge zu versetzen, da sie zuversichtlich genug auf die Wendung der Dinge rechnete, die ohne Zweifel eintreten mußte, denn immer war es ihr nach einer bösen Zeit plötzlich wieder gut ergangen, Reden und Schreiben half nichts, es galt nur den Augenblick wahrzunehmen und da sie sonst nichts zu tun hatte, konnte er ihr doch nicht unbemerkt vorübergehen.

Sie wartete also auf den Augenblick, wobei ihre Barmittel immer mehr zusammenschmolzen. Der Quartierfrau war sie bereits das Bettgeld für einen vollen Monat schuldig, zwar half sie ihr, einer Wäscherin, bei der Arbeit, aber das wurde nicht als Geldeswert veranschlagt, so daß die arme Person ihr bereits in den Ohren lag, sie möchte endlich etwas zahlen. Sonja vertröstete sie, ihr Vormund werde schon Geld schicken, oder sie erwarte demnächst eine beträchtliche Anweisung und was dergleichen wirksame Ausreden mehr waren. Schließlich wurde sie vom Hunger und den Entbehrungen noch krank und lag gerade im Bette, als unversehens ein Postbote eintrat, er habe 231 eine Sendung für das Fräulein Sofia Podchmielska zu bestellen, ob diese hier wohne. Das tat sie freilich. Ja, da sei aber eine Schwierigkeit. Das Paket erscheine auf den hohen Wert von zwölfhundert Gulden versichert, könne daher nur gegen eine genaue Legitimation der Empfängerin ausgefolgt werden, sie möchte daher ihre Papiere vorweisen und ihre Identität dartun.

Das war nun allerdings eine mißliche Forderung, denn sie besaß bekanntlich keine Dokumente. Außer der Bescheinigung des schlimmen Starosten, daß sie Roszkowskis Mündel sei und der Erklärung des Breslauer Domherrn über ihre adelige, durch Ehrenwort bekräftigte Herkunft bestanden überhaupt keine amtlichen Bescheinigungen ihres Daseins. Und diese ohnedies recht fragwürdigen Urkunden befanden sich in Ernsts Händen.

Sie fuhr daher den Briefträger streng an, was er denn glaube, sie sei die gesuchte Sofia Podchmielska, die adelige Offizierswaise und so weiter und ob er sie für irgendeine hergelaufene Betrügerin halte.

Das sei fern von ihm, aber die Vorschriften verlangten nun einmal unbedingt eine genaue Legitimation und er dürfe die Sendung zu seinem Bedauern nicht ausfolgen. Damit empfahl er sich höflich.

232 Auf dem Postamte, wohin sie sich am nächsten Morgen recht mühselig schleppte, verweigerte man ihr gleichfalls die Ausfolgung. So glaubte sie das gelobte Land des reichlichen guten Geldes vor sich zu sehen und konnte es doch nicht betreten dank den unerhörten Schikanen des Amtsgebrauches.

Doppelt elend kroch sie in ihr Bett zurück und überlegte lange, was sie tun sollte, um die verheißene Gabe endlich doch in die Hand zu bekommen und dem schlimmen Schuldenwesen mit einem Schlage ein Ende zu bereiten. Aber wenigstens war ihre Wirtin durch die Aussicht auf die Sendung für eine Weile beschwichtigt und gab ihr Ruhe. Doch ist die kaiserlich königliche Post in ihrer Pflichttreue nicht saumselig und läßt keine Sendung vergeblich in ihrem Schalter liegen. Es trat daher eines Morgens, wenige Tage nach ihrem erfolglosen Einschreiten beim Postamte, ein Wachmann säbelklirrend, den Helm auf dem Haupte, in ihre Kammer und fragte barsch, ob hier eine gewisse Sofia Podchmielska wohne.

Auf ihre mit matter Stimme gegebene Bejahung, sagte er kurz angebunden, sie habe ihm ungesäumt auf das Kommissariat zu folgen.

Da regten sich unversehens alle Geister des 233 beleidigten Adelsstolzes und der alten Kraft in der Kranken, sie richtete sich im Bette auf und schrie den arglosen Diener des Gesetzes an:

»Was unterstehen Sie sich, was glauben Sie denn? Zuerst nehmen Sie den Helm ab, wenn Sie zu einer Dame ins Zimmer treten, verstanden, sonst werde ich über Sie Beschwerde führen und kostete es Ihre Stellung! Das fehlte noch, daß man sich ein solches Benehmen gefallen lassen müßte!« Der Wachmann war über diese Belehrung so verdutzt, daß er in der Tat den Helm abnahm und barhaupt mit möglichster Höflichkeit seine Aufforderung wiederholte, Sonja möge ihn zur Ausweisleistung ins Kommissariat begleiten.

Da ein weiterer Widerstand nur gefährlich erschien, beschloß sie, ihm zu folgen, hieß ihn in der anstoßenden Küche warten, bis sie Toilette gemacht habe, stand auf, kleidete sich an und ging, von den argwöhnischen Blicken und höhnischem Flüstern der Hausinsassen verfolgt, mit dem Polizeimanne fort. Dieser hüllte sich in das ernste und feierliche Stillschweigen, welches untergeordneten Dienern des Staates am besten zur Wahrung ihres Ansehens verhilft. Etliche Versuche Sonjas, aus dem eingeschüchterten Amtsorgan 234 näheres über das ihr zur Last gelegte Verbrechen zu erfahren, blieben erfolglos. Er schwieg und murmelte höchstens etwas Unverständliches.

Dagegen war der Polizeikommissär, in dessen Bureau sie geführt wurde, weit gesprächiger, empfing sie mit einem ganz niederträchtigen Lächeln, sah sie von oben bis unten mit einem erfahrenen Blicke an, setzte behaglich eine Zigarette in Brand und fragte sie um ihre Lebensverhältnisse. Wieder erzählte sie ihre Schicksale, nannte ihren Namen, ihren Waisenstand, sagte, daß der Herr Oberleutnant Roszkowski ihr Vormund sei, der ihr offenbar eine wertvolle Sendung zugedacht habe, die man ihr jedoch nicht ausfolge.

»Schön, schön, aber wovon leben Sie hier?«

»Von meinen Ersparnissen. Übrigens was geht das irgendwen an, wovon ich lebe.«

»Doch, mein geschätztes Fräulein. Die Polizei muß leider so neugierig sein, sich nach den Verhältnissen gewisser Verhältnisse zu erkundigen. Sie sind hier allein, ohne nähere Ausweise über Ihr Vermögen, ohne merkbare Beschäftigung, bei einer Waschfrau in einer Kammer, Sie können über Ihre Lebensumstände nichts anderes vorbringen, als eine Geschichte von einem Vormund, die ja wahr, aber ebensogut auch schön erfunden 235 sein kann. Wir kennen solche Märchen gerade genug. Der Herr Oberleutnant unterstützt Sie. Er lebte früher in Wien, nun da war Ihre Lage vielleicht klarer, aber jetzt müssen Sie doch irgendwie anders Ihre Existenz fristen. Nicht wahr? Und es macht sich nun der begründete Verdacht geltend . . . Nun, Sie verstehen mich doch, also vielleicht machen wir es kurz, ersparen Sie mir weitere Erörterungen, reden Sie die Wahrheit! Haben Sie vielleicht andere Herrenbekanntschaften oder dergleichen? Oder bleiben Sie bei Ihren Angaben?«

Wieder empörte sich Sonja mit allem Stolz ihres beleidigten Gefühles und ihrer gekränkten Ehre und erklärte, sie lasse sich solche unverschämte Zumutungen nicht gefallen, sie werde seinerzeit dafür Genugtuung verlangen, vorläufig aber möge man unverzüglich beim genannten Oberleutnant die nötigen Erkundigungen einziehen, das Weitere werde sich dann finden.

Der Kommissär zuckte mit einiger Verlegenheit die Achseln und meinte, wenn sich ihre Angaben nicht genau bewahrheiteten, stünden ihr Unannehmlichkeiten bevor und nur, um ihr solche zu ersparen, habe er ihr gütlich zugeredet, von einer Beleidigung könne nicht wohl die Rede sein, man werde also durch das Korpskommando ungesäumt den genannten Offizier befragen 236 und bis zum Einlangen der Auskunft sie nicht weiter behelligen. Träfen ihre Äußerungen zu, so würde man ihr das eingelangte Paket ausfolgen, wo nicht, so müsse sie sich auf weitere Schritte der Polizeibehörde in der angedeuteten Richtung immerhin gefaßt machen. Sie habe es nur seiner, des Kommissärs bewährter Menschenfreundlichkeit zuzuschreiben, daß sie nicht schon jetzt in den Arrest gesetzt werde. Tief bekümmert verließ Sonja das Amt und verbrachte einige angstvolle Tage bis zum Einlangen der ersehnten Aufklärungen. Sie schrieb die ganze widrige Geschichte dem Oberleutnant, der ihren Bericht zugleich mit der amtlichen, militärbehördlichen Anfrage erhielt, welche er mit einigen, dank seiner Geschicklichkeit leicht gehandhabten Formalitäten zur Zufriedenheit beantwortete, indem er sich als Vormund des gedachten Fräuleins bekannte, das zum Teile vom Ertrag ihrer verschiedenen Stellungen als Gesellschafterin und Erzieherin, zum Teile von seinen gelegentlichen Unterstützungen lebe. Er legte das einzige brauchbare Dokument seiner Bestellung als Vormund vor und damit war die Sache abgetan.

Sonja aber bekam endlich das leidige Postpaket ausgehändigt. Und siehe, es enthielt eine rotgestickte 237 rumänische Bauernschürze, höchstens einen Gulden wert, die Roszkowski ihr zum Geschenk machen wollte. Da er aber ihr Ansehen in ihrer gedrückten Lage zu erhöhen gewünscht, hatte er die so geringfügige Sendung durch die großartige Wertangabe versichert und war dergestalt selbst an all der Verlegenheit und Not schuld, die über Sonja hereingebrochen waren. Als diese das Paket öffnete und statt der erwarteten Kostbarkeiten die arme Schürze fand, schrie sie weinend vor Zorn auf und zerriß die Gabe in Fetzen.

Roszkowski aber, der ihre Not und Hilflosigkeit nunmehr bis zur unmittelbaren Gefahr gesteigert sah, konnte nicht umhin, sie wieder zu sich zu nehmen. Das will eigentlich heißen, nicht zu sich, aber wenigstens in seine neue Heimat. Er hatte ihre Ankunft geschickt genug vorbereitet, von seinem vornehmen Schützling die nötige Kunde mit einigen vorsichtigen romantischen Details vorbereitet und den gutmütigen Obersten seines Regiments dazu gebracht, Sonja in sein Haus zu seinen eigenen, erwachsenen Töchtern einzuladen und als Gast zu beherbergen.

Roszkowski schickte seinem Mündel das nötigste Geld. Sonja traf mit ihrer Quartiergeberin einen billigen Ausgleich, indem sie ihr die Hälfte der Summe 238 gab, die sie schuldig war und die zweite Hälfte unter tausend Eiden nachzuschicken versprach, bis sie in ihrem neuen Wohnort angelangt sei. Hiermit hatte sie sich losgekauft und es braucht nicht versichert zu werden, daß sie diese Eide mit dem stillen Vorbehalt schwur, sie als erzwungen und unbillig nicht zu halten. An Ort und Stelle vergaß sie sie auch pünktlich und wäre nur höchlich erstaunt gewesen, wenn irgend jemand zu sagen gewagt, in Wien habe die Bettfrau noch für den Unterstand etwas von ihr zu fordern. Hätte sie doch sogar die bloße Behauptung, daß sie bei einer Wäscherin Quartier genommen, als die gemeinste Verleumdung betrachtet, denn alles Schlimme, was ihr unterlief, schüttelte sie so glücklich und leichten Mutes ab, daß sogar seine Tatsächlichkeit selbst von ihr wie ein Wassertropfen vom Gefieder eines Vogels ablief. 239


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