Adalbert Stifter
Wirkungen eines weißen Mantels / Der arme Wohltäter / Der Pförtner im Herrenhause
Adalbert Stifter

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Der Pförtner im Herrenhause

Wir erzählen folgende Geschichte aus dem Munde einer Freundin, die sie uns mitgeteilt hat, und die selber ein kleiner Teil vor ihr gewesen ist. Wir getrauen uns nicht, etwas daran zu verändern oder auszuschmücken, weil wir einerseits der geschichtlichen Treue nicht zu nahe treten wollen, indem sich die Begebenheit wirklich zugetragen hat, und weil wir andrerseits eine große Ehrfurcht vor der Seelenlage und den Seelenleiden anderer Menschen haben, welche Ehrfurcht wir verletzen würden, wenn wir etwas aus unserem Eigenen hinzu gäben, in der Meinung, es hätte sich so besser zutragen können. Lassen wir die Sache stehen, wie sie steht, wenn wir sie auch nicht begreifen können, und wenn wir auch denken, daß wir in dem gegebenen Falle anders gehandelt hätten.

Auch wollen wir, so weit es unsere Erinnerung zuläßt, die eigenen Worte unserer Freundin in Schilderungen und Beschreibungen beibehalten, weil sie die handelnden Menschen noch gut gekannt hat, und uns dieselben in ihren Eigentümlichkeiten darzustellen vermochte.

Jeder von uns, der nicht gar zu jung ist, das heißt, dem sich vielleicht schon allgemach der Reif der sich sammelnden Jahre um das Haupt zu legen beginnt, wird sich noch aus seiner Jugend einer glänzenden Künstlerpersönlichkeit erinnern, die in jener Zeit das Entzücken der Hauptstadt W . . . . war, und von der wir alle das eine oder das andere Bild, je nachdem es uns besonders anzog, in unsere späteren Jahre hinübergetragen haben mögen. Diese Künstlerpersönlichkeit spielte eine Rolle in unserer Geschichte. Wir wollen sie, ohne in die Art ihrer Kunstwirksamkeit einzugehen, wodurch sie ihre Zeitgenossen begeistert hat, an dieser Stelle bloß schlechthin Dall nennen. Dall war ein einnehmender Mann, er war außer seiner Kunsttätigkeit leicht, suchte seine Freude, wo er sie fand, und ließ sich von seiner Phantasie beherrschen. Er war in vielfachen Kreisen, lebte in ihnen, besuchte sie, und verließ sie, wie es ihm eben zusagte. Er huldigte der Heiterkeit, der Annehmlichkeit und dem Wechselspiele seiner lebendigen Kräfte. Er war launig, und wer ihn bei der fröhlichen, einladenden Tafel und hinter dem Glase vortrefflichen Weines gesehen hat, der hätte nicht geglaubt, daß das derselbe Mann sei, von dem er vor kurzem in irgend einer großartigen Darstellung die tiefsten Erschütterungen und nachhaltende Schauer empfangen hat. Nur in einem Dinge war Dall beständig, und es schien dasselbe wahrhaftig sein Herz zu erfüllen. Er hatte einen Freund, und zu diesem Freunde ging er stets, und plauderte mit ihm. Derselbe wohnte in einem Stübchen, das in dem obersten Geschosse eines der hohen Stadthäuser lag. Er hatte ein kleines Vermögen, er hatte ein kleines Amt, er machte Gedichte und musizierte. Die Nachbarn, welche im gleichen Geschosse wohnten, nannten ihn den Rentherrn, entweder, weil er etwa in einem Rentamte diente, oder weil er von seinem kleinen Anliegendhaben eine Rente bezog. Bei diesem Manne saß Dall gerne in dem großen gepolsterten Stuhle, und redete mit ihm über alle Dinge, die sich in der Stadt zutrugen, über die Dinge, die in ein besonderes Fach schlugen, und über alles andere. Wenn er auch in noch so entfernte Gegenden der Menschen abirrte, wenn er auch mit ganz andern Gegenständen beschäftigt schien, kam er doch allemal wieder in das kleine Stübchen und saß in dem großen gepolsterten Stuhle.

Endlich verführte Dall seinem Freunde die Frau.

Das Weib, welches in einem großen, geräumigen Zimmer, das an das Stübchen des Rentherrn grenzte, als in ihrem Eigentume immer gewirtschaftet und gewaltet hatte, sagte es dem Manne selber. Dieser war in einer außerordentlichen Wut, er wollte zu Dall rennen, er wollte ihm Vorwürfe machen, er wollte ihn ermorden.

Er versuchte auch zu ihm zu kommen, konnte ihn aber in dieser Zeit nirgends treffen. Dies ging so eine geraume Weile. Als diese Weile vergangen war, wurde der Rentherr sehr stille – ja er wurde außerordentlich stille. Er sagte, Dall habe gar keine Schuld, seine Gattin habe ebenfalls keine Schuld, es sei das schon alles so in der Notwendigkeit gewesen, daß es gekommen sei. Sein Weib habe ja an Dall fallen müssen. – – So floß wieder eine Zeit. – Nach derselben vermißte der Rentherr seine Gattin. Sie war fortgegangen und nicht mehr gekommen. Als er gewartet hatte, als er bei allen Freunden und Bekannten gefragt hatte, und diese nichts wußten, ging er zu Dall, und weil er glaubte, dieser habe sein Weib fortgebracht, und halte sie irgend wo verborgen, so bat er ihn, er möchte ihm sein Weib zurückgeben. Als Dall geantwortet hatte, daß er von dem Weibe nichts wisse, daß er es nicht fortgebracht habe, kniete der Rentherr nieder, hielt beide Hände zusammen, und bat Dall, er möchte ihm sein Weib geben. Da dieser die nämliche Antwort erteilte, kam der Rentherr in mehreren Tagen einige Male, und wiederholte dasselbe. Dall sagte immer, daß er von dem Weibe nichts wisse, daß es sich nicht mit seinem Willen entfernt habe, und daß er ganz unschuldig sei. Endlich kam der Rentherr nicht mehr.

Als aber nach langer Zeit einmal ein entfernter Bekannter desselben an der Tür seiner Wohnung klingelte, um Einlaß zu bekommen, wurde nicht geöffnet, ein paar Nachbarn des Geschosses, die zufällig vorbeigingen, sagten, der Rentherr sei einmal im Mantel, obwohl Sommer gewesen sei, und das eingewickelte Kind, das ihm sein Weib in früherer Zeit geboren hatte, im Arme tragend fortgegangen. Ob er wieder gekommen sei, wüßten sie nicht.

Der Bekannte ging fort. Als aber die gesperrte Tür immer ruhig blieb, als lange Zeit vergangen war, und die Mietänderung kam, wurde die Tür geöffnet. Eine eingesperrte Luft drang heraus, sonst war aber die Wohnung wie immer. Es pappten die Papiere an den Wänden, die Angesichter großer Männer enthaltend, es stand der große gepolsterte Stuhl da, und es staken die Schlüssel an den Kästen. In dem großen Zimmer der Gattin war alles genau so, wie es gewesen sein mochte, als sie fort gegangen war.

Die Sache machte einiges Aufsehen, und einmal sagte man gar, der Rentherr sei in den böhmischen Wäldern, wohne dort in einer Höhle, habe das Kind darin verborgen, lasse es den Tag dort, während er herumgehe und Lebensmittel erwerbe, und kehre gegen die Nacht zurück, und bringe sie in der Höhle zu. Aber, sagten andere, das sei nur erfunden, um den Mann, der an sich schon anziehend und der in dieser seltsamen Geschichte beteiligt sei, noch anziehender zu machen.

Wir haben vor langer Zeit, erzählte unsere Freundin, als ich mit meinem Gatten erst einige Jahre vermählt war, eine sehr angenehme, freundliche Vorstadtwohnung gehabt. Mein Gatte konnte recht leicht den kleinen Weg über die freie Umgebung der Stadt in sein Amt machen, ich ging nicht gar so oft hinein, weil ich mit meiner Häuslichkeit zu tun hatte, und wenn es ja doch geschah, so war mir im schönen Wetter der Spaziergang angenehm, und im schlechten kostete ja auch ein Wagen nicht gar viel. Aber ich blieb gerade meiner Wohnung zu lieb viel zu Hause. Die Fenster eines Teiles sahen gegen einen Garten, und über diesen hinweg auf die erste Anhöhe, die sich außerhalb der großen Stadt erhebt und ein langes, freundliches Dorf auf ihrem Rücken trägt. Die anderen Fenster gingen gegen die breite, heitere Vorstadtgasse, in welcher immer einige Wägen fuhren, Leute gingen, und ein bewegtes, wenn auch nicht gar zu betäubendes Leben herrschte. Namentlich war es uns wegen der Kinder angenehm, die damals gerade im Heranblühen waren. Sie durften in den Garten gehen; da die Wohnung doch nicht gar nahe an der Stadt war, so hatten wir auch nicht weit in das Freie; und da in den Vorstädten der Raum nicht so gespart wird wie in der Stadt, so waren die Gemächer und die ganze Umgebung sehr luftig und gesund.

Als einmal ein sehr schöner Morgen war, als eine ungewöhnlich milde und warme Luft des Vorfrühlings herrschte, öffnete ich die Fenster, da der Gatte schon in die Stadt gegangen, und die Knaben in der Schule waren, und beschäftigte mich damit, die Zimmer aufzuräumen und in ihnen ordnen zu helfen. Wir hörten in unserer Wohnung gerne das Glöcklein des Krankenhauses, wenn es zur Messe rief, und ich ging nicht selten, wenn ich eben darnach angezogen war, hinüber, meine Andacht zu verrichten. Eben tönte auch wieder das Glöcklein durch die Lüfte, als ich bei einem Fenster gegen die Straße hinaus sah, ein Abwischtuch ausschwingend. Ich hatte aber außer dem Klingen des Glöckleins auch noch einen andern Eindruck, der mich ein Weilchen an dem Fenster hielt. Da ich nämlich hinunter sah, was denn für Leute gingen, erblickte ich ein seltsames Paar. Ein Mann, nach dem Rücken zu schließen, den er mir zukehrte, schon etwas bejahrt, mit einem dünnen gelben Molldanröckchen, blaßblauen Beinkleidern und großen Schuhen ging auf der Straße dahin. Er führte ein erwachsenes Mädchen, das eben so seltsam gekleidet war wie er. Das Mädchen hatte aber einen so großen Kopf, daß es zum Erschrecken war, und daß man doch immer nach demselben hinsah. Die beiden gingen mäßig schnell des Weges fort. Der Mann sah sorgsam darauf, daß er mit dem Mädchen den Wägen ausweiche und mit keinem Fußgänger zusammenstoße. Überhaupt war in beiden etwas Scheues, Unsicheres und Ungewohntes. Sie schlugen gerade den Weg ein, der in das Kirchlein führte, von dem das Glöcklein tönte. Ich dachte, der Mann wolle das Mädchen in die Messe führen.

Daher faßte ich den Entschluß, auch hinüber zu gehen, mein Gebet zu verrichten und die beiden näher zu betrachten. Ich kleidete mich schnell an, warf ein Tuch um, setzte den Hut auf und ging fort. Ich bog in das kleine Gäßchen, das um die Ecke der Medizinschule herum gegen die Gegend des Kirchleins führt, wohin ich die zwei Menschen hatte einlenken gesehen. Allein ich erblickte sie nicht in dem Gäßchen. Ich ging dasselbe entlang, ging dann durch den Schwiebbogen, dann um die Häuserecke und trat in das Kirchlein. Aber ich sah das Paar nicht. Ich verrichtete meine Andacht, vertiefte mich, und als die Messe vorüber war, sah ich noch einmal überall herum, um ihnen vielleicht Hilfe anzubieten. Allein ich hatte mich völlig geirrt, das Paar war wirklich nicht in der Kirche. Ich verfügte mich wieder nach Hause.

Ich hatte des Vorfalles längst vergessen, als ich einmal mit meinem Gatten spät abends aus dem Theater nach Hause ging. Es war der Frühling schon sehr weit vorgerückt, eine wahrhaft südliche, duftige und doch sehr helle Mondnacht stand über der Stadt. Dies hatte uns bestimmt, das Anerbieten eines Freundes, der mit uns die Vorstellung angesehen hatte, anzunehmen, und ein wenig zu seiner Familie einzutreten. Wir hielten uns dort fast bis gegen Mitternacht auf. Man wollte uns den Wagen geben, um uns in unsere Vorstadt fahren zu lassen. Allein mein Gatte meinte, das wäre eine Schande, und wir schlugen unsern Weg zu Fuß ein. Wir traten aus dem finsteren Stadttore, der heitere Grasplatz und die vielen Bäume empfingen uns, das holde, dämmerige, hier erst recht sichtbare Licht umgab uns, und mancher einzelne Wandler und manches Paar begegnete uns noch. Als wir unsere Vorstadt erreicht hatten, an der Häuserreihe so dahin gingen, und hier gar keinen einzigen Menschen mehr sahen, hörten wir ein gedämpftes Flötenklingen. Wir blieben etwas stehen, um durch unsere Tritte nicht beirrt zu werden. Die Flöte spielte nicht eben sehr ausgezeichnet, auch konnten wir die Einzelheiten nicht unterscheiden, aber es war ein seltsamer, fremdartiger Ausdruck in ihr, der uns ein Weilchen stehen machte. Sonderbarer Weise konnten wir durchaus die Richtung nicht erkennen, nach welcher die Flötentöne zu unseren Ohren gelangten.

»Das ist irgend ein Naturtalent,« sagte mein Gatte, »das das Flötenspiel aus sich selber erlernt hat, und, von dem schmeichelnden Mondlicht verleitet, wie wir, sich noch wach befindet, und mit dem angenehmen Himmelslichte des Mondes seine angenehmen Flötentöne verbindet.«

Wir gingen weiter. Das Flötenspiel wurde hinter uns immer schwächer, bis wir es nicht mehr hörten, wir gingen auf dem glänzenden Mondlichte der breiten Straße dahin, kamen an unser Haus, klingelten, traten ein, und gelangten in unsere Wohnung, in der die Kinder und alle andern, außer einem Mädchen, welches uns erwartet hatte, schon schliefen.

Wer unsere Stadt schon so manches Jahr kennt, wird sich noch des ehemaligen Perronschen Hauses erinnern. Es stand in unserer Vorstadt und hatte die Eigentümlichkeit, welche jetzt schon immer mehr und mehr zu verschwinden beginnt, daß es unterirdische Wohnungen hatte, deren kleine viereckige Fenster, die mit eisernen Kreuzen und mit einem starken eisernen Drahtgitter versehen waren, hart an dem Pflaster der Straße heraus gingen. Das Haus sah nur mit wenigen Fenstern auf die Straße, und ging mit den übrigen Räumen in einen Hof, oder in einen Garten, oder in andere unbekannte Gegenden zurück. Eine zweite Eigenheit des Hauses war es, daß sein Tor immer geschlossen war, ja man hatte gegen die Unreinlichkeit an seinen untern Fugen einen hölzernen Anbau gemacht, so daß es schien, daß man das Tor überhaupt gar nimmermehr aufzumachen im Stande sei. Ziemlich weit von dem Tore an der Ecke des Hauses war ein dunkelrotes, mit vielen Nägeln versehenes Pfortentürlein, durch welches die Bewohner aus und ein gingen.

Einmal sagte mein Gatte, da er schon angezogen war und sich anschickte, in sein Amt zu gehen, und da er ein Buch auf meinen Nähtisch legte: »Dieses Buch gehört dem Professor Andorf, es ist sehr wichtig, schlage es in ein Papier ein, ich habe eben kein taugliches gefunden, siegle das Papier zu, und schicke das Buch durch jemand Zuverlässigen an den Professor. Er wohnt in dem Perronschen Hause. Man soll es aber nur in seine eigenen Hände geben.«

Ich übernahm den Auftrag. Da ich aber noch im Verlaufe des Vormittages selber in die Stadt zu gehen hatte, und da mich mein Weg an dem Perronschen Hause vorüberführte, so beschloß ich, das Buch eigenhändig dem Professor Andorf, der, unvermählt, ein Freund unseres Hauses war, und öfters zu uns kam, zu übergeben. Ich schlug deshalb auch das Buch in kein Papier ein. Als ich zu meinem Gange angekleidet war, tat ich das Buch in meine Tasche, die ich gerne am Arme bei mir trage, und machte mich auf den Weg. Da ich zu dem Perronschen Hause kam, näherte ich mich dem roten Pförtchen, und drückte auf die eiserne Klinke. Das Pförtchen öffnete sich, und ich trat ein. Ich befand mich in einem kurzen gewölbten Gange, aus dem aber keine Treppe in die Zimmer des Hauses empor führte. Der Gang leitete mich in den Hof. Da sah ich nun, daß der Hof mit unregelmäßigen Steinen gepflastert war und aus den Fugen üppiges, unzertretenes Gras hervorwuchs. Es waren mehrere Tore in den Mauern, die den Hof umgaben, die Tore schienen zu Stallungen oder Wagenbehältern zu führen, aber ihr ausgewittertes und ausgetrocknetes Ansehen, das Gras, das an ihnen wuchs, und die braunverrosteten Angeln zeigten, daß sie nie geöffnet wurden. Es waren auch zwei Pförtchen, die zu Treppen führten, aber die Pförtchen waren verfallen, und die Treppen schienen nicht betreten.

Als ich empor sah, sah ich die meisten Fenster erblindet, einige waren mit hölzernen Läden geschlossen, und andere glänzten mit grünlichen und rötlichen Farben. Ich wußte nun wirklich nicht, was ich tun sollte. Es war auch kein Mensch da, den ich hätte fragen können.

In diesem Augenblicke hörte ich leise Tritte. Ich wendete mich um, und es stand ein schmächtiges Männlein vor mir, mit einfachem, schlichten Ausdrucke, die grauen, dünnen Haare gegen die Stirne gestrichen, in ärmlichem Anzuge.

»Was wünschen Sie denn?« fragte er.

»Wo wohnt denn der Herr Professor Andorf?« fragte ich, »ich hätte ihm ein Buch zu übergeben, das sehr wichtig ist.«

»Der Herr Professor Andorf ist nicht zu Hause,« antwortete der Mann, »aber wenn Sie mir das Buch übergeben wollen, ich werde es ihm schon einhändigen. – – Sie dürfen es mir geben; es wird keine Unreinigkeit daran kommen, und ich werde nicht hineinsehen.«

Der Mann stand zwar demütig, aber anständig da, seine Sprache hatte etwas, das an die besser gebildeten Stände erinnerte, so daß ich nicht den Mut hatte, ihm das Buch zu verweigern. Ich zog es aus der Tasche hervor, und reichte es ihm dar.

Dann ging ich wieder von dem Hofe in den Gang, von dem Gange auf die Gasse, und machte das rote, mit den vielen Nägeln beschlagene Pfortentürlein hinter mir zu.

Nicht weit von diesem Türlein, aber schon an der Wand des nächsten Hauses, saß gerne eine Obstfrau. Ich hatte schon mehreres von ihr gekauft. Sie saß immer da, wenn nicht ein gar abscheulich schlechtes Wetter war. Zu dieser Obstfrau ging ich hin, nachdem ich das Knöpflein meiner Armtasche wieder zugeknöpft und die Handhabe derselben an meinem Arme zurecht gerichtet hatte. Ich fragte die Frau, ob sie das Perronsche Haus kenne, ob sie schon drinnen gewesen sei, oder ob sie wisse, wer da wohne.

»Wohl kenne ich das Perronsche Haus,« antwortete sie, »man ist im Begriffe, es abzutragen und umzubauen; jetzt wohnt nur der Professor Andorf und der Pförtner drinnen. Wenn der Herr Perron nicht immer in dem Auslande wäre, und sich besser um seine Sachen kümmerte, so sollte es längst gebaut sein, weil es nichts mehr trägt. Es hat zu meinen Zeiten das Herrenhaus geheißen, ich weiß nicht warum, und wenn mich meine Mutter mit Blumen oder Obst in das Herrnhaus schickte, so brachte ich immer etwas an, weil es voll Leute war. Jetzt muß es zusammengerissen werden, und ist nicht mehr zu gebrauchen.«

Nach dieser Auskunft kaufte ich einiges Obst von der Frau, welches ich den Kindern bringen wollte, tat das Obst in die Tasche, empfahl mich der Frau, und verfolgte meinen Weg in die Stadt.

Als ich nach Hause gekommen war, quälte mich der Gedanke immer, daß ich den Auftrag meines Gatten überschritten und nicht das Buch unmittelbar in die Hände des Professors Andorf habe kommen lassen. Ich sagte es dem Gatten, als er nach Hause gekommen war, und wir bei dem Mittagessen bei einander saßen: aber er, nach seiner ihm von jeher innwohnenden Güte und Milde, beruhigte mich, und sagte, ich hätte vollkommen recht getan.

Deßohngeachtet fragte ich den Professor Andorf, als er nach längerer Zeit wieder einmal abends zu uns kam, und mein Gatte das Buch längst vergessen hatte, ob vor so und so viel Wochen ein Buch mit dem und dem Titel, welches ich ihm durch einen Mann, der wahrscheinlich der Pförtner des Herrnhauses ist, habe einhändigen lassen, erhalten habe. »Ich habe das Buch erhalten,« sagte der Professor, »aber ich habe geglaubt, Sie hätten es mir durch einen alten Mann geschickt. Daß wir einen Pförtner haben, wußte ich gar nicht, und wenn wir einen haben, so muß es der stillste Pförtner der Welt sein; denn ich habe nie etwas von ihm vernommen, habe einen Schlüssel, durch den ich das Pförtchen öffne und schließe, manchmal auch ganz offen stehen lasse, und habe geglaubt, daß ich der einzige Bewohner des alten Herrnhauses sei, welche Einsamkeit mich sehr erfreute, weil ich da das Vergehen und Zerfallen menschlicher Dinge recht anschaulich betrachten kann.«

Der Professor Andorf war eigentlich ein heiterer, fröhlicher Mann, wir wunderten uns daher damals, daß er sich solchen Betrachtungen hingeben könne. »Gerade weil ich ein heiterer, fröhlicher Mann bin,« antwortete er, »so sehe ich meine Umgebung als malerischen und dichterischen Gegenstand des Vergehens und Versinkens an, und ergötze mich daran, während ein Trübsinniger und Mißmutiger durch solche Betrachtung nur noch trübsinniger und mißmutiger werden würde.«

Ich merkte mir diese Begebenheiten, weil sie später in einen Zusammenhang traten, so wohl, als ob sie sich gestern zugetragen hätten.

Lange Zeit nach den obigen Vorfällen, von denen ich natürlich damals nicht ahnen konnte, daß sie zusammen gehören könnten, und denen ich auch nicht die geringste Wichtigkeit beilegte, kam einmal mein Sohn Alfred, der schon recht schön herangewachsen war, an einem milden Wintertage von der Schule nach Hause. Er stürmte die Treppe herauf und war sehr verstört, als er eintrat.

»Alfred, was ist dir denn?« fragte ich.

»Mutter, ich kann nichts dafür – Mutter, ich kann nichts dafür – ich habe ihm auch nichts getan«, antwortete er.

»Nun was ist es denn?« fragte ich wieder.

»Weißt du, Mutter, wo das Perronsche Haus steht,« sagte er, »dessen Fenster bei der Erde herausgehen, sah ich, als ich vor der Stadt nach Hause ging, einen schwarzen Raben auf dem Wege sitzen, der Rabe konnte nicht fliegen und hüpfte nur; ich ging immer näher, duckte mich, sprach mit ihm, und er ließ sich fangen. Ich legte meine Schulsachen nieder, hielt ihn in der Hand und streichelte ihn über den Kopf. Da schrie plötzlich eine Stimme neben mir: ›Laß ihn gehen!‹ Ich schaute hin und sah durch das häßliche, kotige Gitter, das an den Erdfenstern ist, einen fürchterlich großen Kopf mit einem blassen Angesichte und starrenden Augen heraus sehen. Ich ließ den schwarzen Raben los, griff nach den Schulsachen, stand von der Erde auf, und lief nach Hause. Mutter, ich habe ihm wirklich nichts zu Leide tun wollen.«

»Ich weiß, ich weiß, Alfred«, sagte ich, indem ich ihn zu beruhigen strebte, und ihm sein Vesperbrod, das die Kinder gewöhnlich nach der Schule bekamen, zurecht richtete.

Da wir in dem ungewöhnlich milden Winter eines Jahres, wenn wir in der Stadt geladen waren, manchmal spät in der Nacht doch zu Fuß nach Hause gingen, hörten wir wiederholt auch jenes Flötenspiel, welches wir einmal, von dem Theater nach Hause gehend, gehört hatten. Wir vernahmen nun auch deutlich, daß es von den unterirdischen Räumen des Perronschen Hauses herkomme.

Ich konnte mir nun die weit auseinander liegenden Tatsachen, die ich mir allmählig auch wieder in die Erinnerung rief, zusammenbinden, und sie liefen in die Familie des Pförtners des Herrnhauses zusammen. Ich nahm Anteil an der Familie, und beschloß, eine Gelegenheit zu suchen, mit ihr bekannt zu werden, und ihr, namentlich aber dem armen Geschöpfe, dem Mädchen, eine Wohltat zuzuwenden.

Allein da ich nicht zudringlich sein wollte, und kein Mensch in das Herrnhaus kam, ergab sich diese Gelegenheit lange nicht, auch mochte ich in meinem Vorhaben etwas saumselig gewesen sein – als einmal ein Zusammenlauf der Leute entstand, die alle unter unsern Fenstern in der Richtung gegen die Stadt zu liefen. Ich schickte ein Dienstmädchen hinab, um zu fragen. Das Mädchen kam zurück und sagte, der Pförtner des Herrnhauses habe sich erschlagen. Ich warf sogleich einen Mantel um, und ging gegen das Perronsche Haus. Es stand an dem Pförtchen eine Gruppe Menschen, die aber nichts taten, sondern nur dumpf schauten und unter sich murmelten. Ich sah die Obstfrau gegen uns herankommen.

»Was ist denn gewesen,« fragte ich, »wie kann sich denn ein Mensch selber erschlagen?«

»Es hat sich niemand erschlagen,« antwortete die Frau, »es ist nur der Pförtner des Herrnhauses gestorben. Vor einer Viertelstunde, da eben niemand ging, kam das Mädchen, seine Tochter, aus ihrer Wohnung heraufgestiegen, ging zu mir hin, und sagte mir, daß ihr Vater tot sei. Darauf ging sie sogleich wieder in das Herrnhaus zurück. Ich aber ließ meinen Obststand stehen, und ging zu den Leichenbesorgern und Beschauern; sie werden gleich kommen.«

Während die Frau redete, hatten sich noch mehr Menschen angesammelt, die herumstanden. Endlich sah man die Leichenmänner kommen. Alles drängte sich nach der Tür, aber die Männer sagten, daß niemand hinunter dürfe, der nicht zu dem Amte gehöre, oder der nicht von der Familie sei. Die Obstfrau, als die, welche den Fall angezeigt hatte, wurde durch das Pförtchen eingelassen, ich, welche ich sagte, daß ich der Familie Gutes tun wolle, wurde gleichfalls eingelassen, und noch mehrere andere Menschen. Dann nahmen Zwei Platz in der Mündung des Pförtchens, und ließen niemand mehr hinein.

Als wir die Treppe hinunter gestiegen waren und die Wohnung betreten hatten, sahen wir, daß dieselbe nur aus einem einzigen Zimmer bestehe. Neben einer Leiter, die gegen das Fenster empor lehnte, lag der tote alte Mann. Er hatte ein gelbes Moldanröcklein und blaßblaue Beinkleider an. Als ihn die Männer aufgehoben und auf ein Bett, das uns als das seinige erschienen war, getragen hatten, sah ich auch aus seinen Zügen, daß es der Mann sei, dem ich das Buch gegeben hatte. Man war anfangs willens gewesen, Versuche zu machen, ob man ihn nicht wieder in das Leben zurückrufen könne, aber beim Anfassen hatte man empfunden, daß er schon kalt sei; wann mußte er denn gestorben sein? Sonst war niemand in dem Zimmer als das Mädchen mit dem großen Haupte.

Es saß tief zurück auf einem weißen, unangestrichenen Stuhle, und sah von ferne zu, was man mit dem Manne beginne. Auf einem Schirme, der vor einem Bette stand, das ich für das des Mädchens ansah, saß die Dohle; denn eine solche, kein Rabe, war der schwarze Vogel. Sie nickte mit dem Kopfe und sprach unverständliche, zerstümmelte, aber menschenähnliche Laute. Auf dem Tische, der nicht weit von dem Sitze des Mädchens stand, sah ich die Flöte liegen.

Ich wollte, während die Männer die Leiche besahen und auf dem Bette in eine anständige Lage zu bringen versuchten, das Mädchen ansprechen, wollte es zutraulich machen, und es dann mit mir nehmen, um es von der traurigen Umgebung zu entfernen. Ich näherte mich, und sprach es an, wobei ich die höflichste, aber einfachste Sprache versuchte. Das Mädchen antwortete mir auch in einer guten, fast gewählten Sprache, aber seine Gedanken waren so seltsam, so sehr von allem, was sich immer und täglich in unserem Umgange ausspricht, entfernt, daß man es für blödsinnig hätte halten können, was es aber doch nicht war.

Ich hatte zufällig in meinem Mantel einige Stücke Zuckerbäckerei und etwas Obst. Ich nahm ein Stückchen heraus und bot es dem Mädchen an. Es langte darnach, aß es, und zeigte in den Zügen des großen Antlitzes einen augenfälligen Schein von Freude. Ich gab ihm nun ein zweites Stück, dann ein drittes, und dann mehrere.

Ich fragte es hierauf, ob es solche Dinge gerne äße, wenn es dieselben hätte.

»Ja, sie sind gut,« sagte es, »gib mir noch mehrere.«

»Ich werde dir mehrere geben,« antwortete ich, »wenn du mit mir gehst, und in einer andern Stube bleibst, bis wieder der Tag anbricht. Dann führe ich dich wieder hieher. Ich habe hier keine solchen Dinge mehr, aber in jener Stube habe ich noch viele.«

»Ich gehe mit dir,« sagte das Mädchen, »wenn du mich morgen wieder in unsere Wohnung bringst.«

»Ganz gewiß«, antwortete ich.

Hierauf fragte ich das Mädchen, ob es denn keine Mutter habe, oder ob keine Geschwister vorhanden wären. Es habe keine Mutter, antwortete es, es sei nur immer und immer mit dem Vater allein gewesen. Den Begriff Geschwister schien es gar nicht zu kennen.

Ich fragte es hierauf, wie denn der Vater gestorben sei.

»Er ist auf die Leiter gestiegen,« antwortete es, »die zu unseren Fenstern hinaufführt, ich weiß nicht, was er tun wollte, und da ist er herabgefallen und ist liegen geblieben. Ich wartete, bis er wieder gesund werden würde, aber er ist nicht mehr gesund geworden. Er war tot. Als eine Nacht und ein Tag vergangen waren, sagte ich es der Frau, die immer in der Nähe unseres Pförtleins sitzt. Seit dem sind die Leute gekommen.«

Ich teilte den Männern die Nachricht mit, und sagte, daß ich das Mädchen in mein Haus führen und einstweilen für dasselbe sorgen würde, auch wolle ich den Fall unter meinen Bekannten anzeigen, und wir würden sammeln, daß derselbe begraben werden könnte. Es war ihnen recht.

Sie waren mittlerweile mit der Leiche fertig geworden, sie lag jetzt anständig, noch mit den alten Kleidern angetan, auf dem Bette. Als ich näher trat und sie mir besah, sah ich die graue, dünne Locke gerade so nach der Stirne gerichtet wie damals, als er mir mit Feinheit gesagt hatte, daß ich ihm das Buch schon anvertrauen dürfe. Mit Erschütterung trat ich von der Leiche weg.

Ich näherte mich dem Mädchen und sagte ihm, daß ich es jetzt mit mir führen würde. Es folgte mir willig. Ich führte es, während sich die anderen auch zerstreuten, in meine Wohnung. Wir hatten ein nach rückwärts gelegenes Gemach, das eine alte Kinderwärterin, die noch aus der Familie meines Gatten herstammte, so lange bewohnt hatte, bis sie zu dem Kindbette ihrer Tochter gegangen, und dort wieder aufs neue Kinderwärterin geworden war.

Das Gemach hatte seitdem leer gestanden, nur waren die Geräte in demselben geblieben. Ich führte daher das Mädchen in dieses Gemach, und zwar durch einen Gang, wo sie von niemanden aus meinen Leuten gesehen werden konnte, die sie durch ihr Erschrecken über ihre Gestalt selbst wieder hätten erschrecken können. Nur einer ältlichen Magd teilte ich die Sache sogleich mit, und bat sie, für das arme Geschöpf Sorge tragen zu helfen. Den anderen würde ich den Vorfall schon melden, und würde ihnen sagen, daß sie das Gemach nicht beträten.

Ich gab dem Mädchen wirklich, wie ich versprochen hatte, noch Obst und Zuckergebäcke. Ich ließ das Stübchen angenehm heizen, brachte die alte Magd als Gesellschafterin und sagte, daß ich abends ein gutes Essen senden würde, daß ich mich aber jetzt entfernen müsse.

Das Mädchen schien das alles zu begreifen.

Ich setzte mich gleich nieder, um an mehrere meiner Bekannten und Freunde zu schreiben. Als abends mein Gatte nach Hause kam, erzählte ich ihm das Vorgefallene, und was ich getan hätte. Er billigte alles, schrieb selber noch ein paar Briefe, nahm dann einen Wagen und fuhr noch zu einigen Familien. Als er nach Hause kam, und als wir beim Abendessen beisammen saßen, sagte er, daß die Leichenkosten schon unterschrieben seien, was noch weiter eingehe, könne als Unterstützung für das Mädchen verwendet werden.

Am andern Morgen, als das Mädchen in dem Bette der Kindsfrau ausgeruht hatte, führte ich dasselbe wieder in seine unterirdische Wohnung; denn ich sah deutlich ein, daß ich mir nur durch genaues Worthalten Zutrauen zu erwerben im Stande wäre, indem das Mädchen außer manchen andern Ausnahmseigenschaften, die ich an ihm schon bemerkt hatte, auch die besaß, daß sie den Worten blind glaubte. Der entseelte Vater war unterdessen durch die Fürsorge meines Gatten von den Leichenbesorgern gereinigt und gekleidet worden, und lag jetzt bereits in seinem Sarge, um noch im Laufe des Vormittages beerdigt zu werden. Ich ließ das Mädchen eine Weile in dem Gemache, dann schlug ich wieder vor, daß es mich neuerdings in das Stübchen begleite, in welchem es geschlafen habe. Es willigte gerne ein. Dies tat ich im Verlaufe des Tages mehrere Male. Der Vater war indessen begraben worden.

Mein Gatte verwendete sich, daß er als Verlassenschaftsvollstrecker und als Vormund des verwaisten Mädchens, das übrigens schon bedeutend über zwanzig Jahre alt sein konnte, bestellt wurde. Wir wollten für dasselbe sorgen, daß es eine erträgliche Zukunft erhalte, und das verrichte, wozu es fähig sein würde. Zuerst wollte ich es in dem Ammenstübchen behalten, bis sich eine passendere und dauernde Stelle gefunden hätte.

Sehr schwer war es, das Mädchen von dem unterirdischen Gewölbe zu entwöhnen. Es hing mit einer Hartnäckigkeit an dem Gemache; aber durch öfteren Besuch des Gemaches, den ich mit ihm anstellte, durch zutrauliches Reden über gleichgiltige Dinge, und endlich durch sorgfältige Pflege, die ihm wohltat, gewöhnte ich es doch nach und nach an sein neues Stübchen. Die freie Luft scheute es noch mehr als fast alles andere, und wenn ich es ein wenig in den winterlichen Garten hinunter brachte, benahm es sich linkisch und starrte die entlaubten Zweige an. Anfangs kam niemand zu ihr als ich und die alte Magd, nach und nach gewöhnte es sich aber auch an den Anblick von andern als uns. So gut gewählt und so gut zusammengestellt es sprach, so wenig hatte es eine Vorstellung oder eine Kenntnis von der geringsten weiblichen Arbeit, dafür trafen wir es manchmal in dem Stübchen mit der Dohle plaudernd, oder leise singend an. Auch auf der Flöte des Vaters vermochte es zu spielen.

Als es schon eine große Anhänglichkeit an mich gewonnen hatte, veranlaßte ich es, von seiner Vergangenheit zu sprechen, was ich in den ersten Tagen sehr sorgfältig vermieden hatte. Es wußte von seiner frühen Jugend gar nichts, durchaus gar nichts. Es fand sich mit seinem Bewußtsein erst in dem unterirdischen Gewölbe des Herrnhauses.

»Der Vater,« sagte es, »ging fort, nahm die Flöte mit und kam oft erst zur Zeit, da die Lichter brannten. Er brachte in einem Topfe Speisen, die wir in dem kleinen Ofen wärmten und dann aßen. Oft wärmte ich mir auch etwas, wenn er abwesend war; denn es blieb zuweilen viel über. Manchmal war er auch zu Hause. Er lehrte mich viele Dinge und erzählte viel. Er sperrte immer zu, wenn er fortging. Wenn ich fragte, was ich für eine Aufgabe habe, während er aus sei, antwortete er: Beschreibe den Augenblick, wenn ich tot auf der Bahre liegen werde, und wenn sie mich begraben, und wenn ich dann sagte: Vater, das habe ich ja schon oft beschrieben, so antwortete er: So beschreibe, wie deine Mutter, von ihrem Herzen gepeinigt, in der Welt herum irrt, wie sie sich nicht zurück getraut, und wie sie in der Verzweiflung ihrem Leben ein Ende macht. Wenn ich sagte: Vater, das habe ich auch schon oft beschrieben, antwortete er: So beschreibe es noch einmal. Wenn ich dann mit meiner Aufgabe, wie der Vater tot auf der Bahre liegt, und wie die Mutter in der Welt umher irrt, und in Verzweiflung ihrem Leben ein Ende macht, fertig war, stieg ich auf die Leiter und schaute durch die Drahtlöcher des Fensters hinaus. Da sah ich die Säume von Frauenkleidern vorbeigehen, sah die Stiefel von Männern, sah schöne Spitzen von Röcken, oder die vier Füße eines Hundes. Was an den jenseitigen Häusern vorging, war nicht deutlich.«

Ich ließ mir von den Schriften, die die ausgearbeiteten Aufgaben enthielten, einiges zeigen. Es war die wildeste, einsamste Dichtung – aber sonderbar, von einem Verständnisse, was Tod, was Umirren in der Welt und sich in Verzweiflung das Leben nehmen heiße, war nicht die geringste Spur vorhanden. Die Satzführung war schön, die Gedanken seltsamlich und oft in ihrem Ursprunge und in ihren Gründen nicht mehr enträtselbar.

Mein Gatte war Vormund geworden. In der Verlassenschaft hatten sich nur wenige schlechte Geräte, einige Kleider und die Betten vorgefunden. Von Barschaft war ein Sack mit lauter Kupfermünzen da. Weiter nichts.

Aus den entsiegelten Schriften des Verblichenen entnahmen wir mit Staunen, daß er jener Rentherr gewesen sei, dessen Geschichte im allgemeinen zu unsern Ohren gekommen war, die wir aber wieder längst vergessen hatten. Es fand sich der Ort klar vor, an dem sein Vermögen anliege. Mein Gatte ging hin, aber man wies sich aus, daß der Betrag schon vor vielen Jahren erhoben worden sei. Wo er hingekommen war, war nicht zu ergründen. Eben so waren alle Nachforschungen über das frühere Schicksal des Verstorbenen vergeblich. Von seiner Gattin ist nie etwas gehört worden, und sie ist nie mehr, bis auf den heutigen Augenblick nicht, zurückgekehrt. Die Tochter haben wir, ihrer Lage angemessen, untergebracht, und es wird für sie durch wohltätige Menschen gesorgt.

Der reichbegabte Künstler, der der Freund des armen Mannes gewesen war, war bei der Entwicklung der Geschichte schon längst tot. Ob er wohl je eine Ahnung hatte, was aus seiner Handlung hervorgegangen ist?!

Die größte Begabung, der höchste Glanz des Geistes, der die Menschen in Staunen setzt, ist ein Sandkorn – ja ist nichts – gegen die tiefe Liebe und die Reinheit des Gemütes. Welche Größe lag in den unscheinbaren Menschen, die der überlegene Künstler mit seiner Freundschaft beglückt und verdorben hat, welches Unmaß von Liebe lag in ihnen, da der Mann noch um die schuldige Gattin mit aufgehobenen und gefalteten Händen bat, da er dann an der Menschheit verzweifelte, sich in die Höhle verbarg und in seiner Geistesverwirrung das einzige Kind, das einzige Wesen, das er liebte und bewahrte, das vielleicht zu dem höchsten Glücke hätte heranblühen können, durch dumpfe Kerkerluft krank und mißgestaltet, und durch Unentwicklung des Geistes unglücklich machte – da das Weib die Schmach nicht tragen konnte, zu dem Manne flüchtete und sie ihm bekannte, da sie den Jammer der Verzeihung und Schonung nicht zu fassen vermochte, mit der die Güte ihres Mannes sie beteilte, sondern, Kind und Mann verlassend, in die weite Welt gehen und dort wahrscheinlich ihr Leben selber enden mußte!!

Der Professor Andorf wohnte noch eine Weile – und nun wirklich der einzige Bewohner – in dem veralteten, unheimlichen Hause. Dann ward es abgerissen, und jetzt steht eine glänzende Häuserreihe an dessen und der Nachbarn Stelle, und das junge Geschlecht weiß nicht, was dort gestanden war, und was sich dort zugetragen hatte. –

 


 


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