Adalbert Stifter
Wirkungen eines weißen Mantels / Der arme Wohltäter / Der Pförtner im Herrenhause
Adalbert Stifter

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Der arme Wohltäter

Wir erzählen in den nachfolgenden Zeilen eine Tatsache, welche uns von einem Freunde mitgeteilt worden ist, der den Mann, von welchem die Tatsache ausgegangen ist, noch recht gut gekannt hat. So unglaublich es auch klingen mag, was dieser Mann sich vorgesetzt und seiner Meinung nach ausgeführt hat, so hat uns doch der eben angeführte Freund so viele einzelne Züge von ihm erzählt, daß wir begriffen, daß der Mann nicht nur diese Handlung unternehmen konnte, sondern daß er sie unternehmen mußte. Wir verzichten auf den Ruhm künstlerischer Gegenständlichkeit, die wir am Ende doch nicht erreichen würden, und erzählen durch das Auge unseres Freundes von dem Manne, wie er ihm erschienen ist, wobei wir uns nur zwei Dinge erlauben, die uns unerläßlich erscheinen: nämlich daß wir das, was uns der Freund in weit auseinander liegenden Zwischenräumen und ohne Ordnung erzählte, in eine Gattung Reihenfolge bringen, in der es sich zugetragen haben konnte, wann eines aus dem andern hervorgegangen ist – und daß wir in den die Wesenheit der Sache nicht berührenden Nebenumständen und Nebenhandlungen so viel veränderten, daß die noch etwa lebenden Verwandten des schon längst gestorbenen Mannes sich nicht unangenehm betroffen fühlen, wenn etwas zu größerer Verbreitung kommt, was sie nur einem kleineren Kreise bekannt glaubten. Es ist eine Eigentümlichkeit der menschlichen Natur – und ich glaube eine sehr schöne –, daß sie alles, was das Gefühl recht innig und in seinen reinsten Tiefen ergreift, vor den Augen der Menschen verbirgt, als dürfe es nicht in die Öffentlichkeit des Marktes. Mancher Lasterhafte verbirgt seine Laster nicht so sorgfältig, als mancher Tugendhafte seine Tugend – und gerade die größte und unbegreiflichste am meisten.

Wir lassen nun die Worte unseres Freundes, so viel wir uns derselben erinnern, und so viel wir es vermögen, ohne unserer eigenen Natur zu sehr Gewalt anzutun, folgen.

Ich habe einmal, sagt er, ein sehr seltsames Beispiel eines Menschen kennen gelernt, zu dem sich wenige emporschwingen würden, und den unter zehn Beobachtern neun tadelten. Es ist eine rührende Erscheinung, wenn die Vernunft als sittliches Gesetz in einem sehr hohen Maße vorhanden ist, und der Verstand als Ratgeber der Mittel nicht hinreicht. Ihr kennt alle das liebliche Dorf Ober-Schauen. Da ich in Wengendorf lebte, kam ich sehr oft hinüber. Der Pastor und seine Familie gewährten eine so einnehmende Erscheinung, daß, wenn man sich ihr einmal hingegeben hatte, man unvermerkt immer näher gezogen wurde, und bei jedem folgenden Besuche immer länger blieb. Auch war die Gegend ein Ding, das mich sehr lockte. Wenn man durch das buschige und struppige Bruchholz von Wengendorf gemach hinauf ging und auf den Hügel gelangte, jenseits dessen Ober-Schauen in seinem Tale im Schoße unzähliger Obstbäume lag, deren Anpflanzung ebenfalls der Pastor veranlaßt hatte: so konnte man nicht umhin, ein wenig stehen zu bleiben, und sich von dem unsäglich reinen und lieblichen Bilde gefangen nehmen zu lassen. Der Seele bemächtigte sich eine Ruhe und Einfachheit, mit der man dann zu der gleichfalls ruhigen und einfachen Pastorfamilie hinabging. Eines Tages war ich zu einem großen Feste bei dieser Familie geladen worden. Es war eine kirchliche Feier, die sich auf eine Begebenheit in der Entstehungsgeschichte der Kirche bezog, welche meinem Gedächtnisse nicht mehr gegenwärtig ist. Es waren viele Menschen aus der Umgegend geladen worden, und selbst aus größeren Entfernungen kamen manche herbei. Ich konnte bei der kirchlichen Feierlichkeit nicht sein, weil mich Berufsgeschäfte abhielten, die ich nicht verlegen konnte, aber ich versprach nach Beendigung meiner Geschäfte zu dem Reste des Festes zu kommen. Als mir dies möglich ward und ich zu dem Tore der Pfarrerswohnung hinein ging, erklärte mir der Geruch, der seitwärts aus dem Küchengange herauskam, und das freundliche, aber von der Wärme gerötete Angesicht der Pfarrerin, die flüchtig aus dem Küchenzimmer herausgrüßte, sogleich, daß die Tafel bereits begonnen haben müsse, und daß man hier für die Besetzung derselben arbeite. So war es auch. Da ich in das Speisezimmer trat, sah ich alle Tische, welche die Pfarrerswohnung besaß, aneinander gestellt, und daran saßen die sämtlichen Personen, welche heute geladen waren. Für mich war ein leerer Platz und ein noch unberührtes Gedecke aufbewahrt worden. Der Pastor stand auf, empfing mich an der Tür und geleitete mich zu meinem Platze, indem er der Gesellschaft meinen Namen nannte. Die mir unbekannten anwesenden Mitglieder würde er nach dem Mahle vorstellen und nennen, daß er nicht jetzt eine Reihe von Namen sagen müsse, die ich doch vielleicht wieder vergäße – und etwa lerne ich einige schon im Verlaufe des Speisens besser kennen, als wenn er mir nur den Namen gesagt hätte. Dieses geschah auch wirklich, und in der Tat. Als die Gerichte sich ablöseten und der gute, aber einfache Wein manche Zunge in Bewegung setzte, zeigte sich der Mann, der die Zunge führte, als das, was er im Herzen ist, und die Einzelheiten derer, die da sahen, begannen sich nach ihren Arten zu trennen. Nur ein einziger Gast war nicht zu erkennen. Lächelnd und freundlich saß er da, er hörte alles aufmerksam an, er wandte immer das Angesicht der Gegend, wo eifrig gesprochen wurde, zu, als ob ihn eine Pflicht dazu antriebe, seine Mienen gaben allen Redenden recht, und wenn an einem ganz anderen Orte das Gespräch wieder lebhafter wurde, wandte er sich gegen diesen und hörte mit derselben Aufmerksamkeit zu. Aber selber sprach er nicht. Er saß an der Tafel weder unter denen, die Anspruch auf die Plätze zu oberst haben, noch unter denen, die sich mit den untern begnügen müssen. Sein Anzug war der eines armen Landgeistlichen, für den ihn mir auch ein Nachbar, den ich fragte, bezeichnete. Über das weiße Linnengedecke der Tafel ragte seine schwarze Gestalt empor, die er, obwohl sie ohnedem nicht groß war, dennoch nie vollständig aufrichtete, gleichsam als hielte er das für unschicklich. Die winzig kleinen Läppchen von weißer Farbe – das einzige Weiße das er an sich hatte –, welche über sein schwarzes Halstuch herabhingen, bezeugten seine Würde. Dann folgte die Weste, welche sehr lang war und starke Knöpfe von schwarzem Bein hatte, damit sie so lange hielten wie der Westenstoff, der in seiner Beschaffenheit dartat, daß er ohnedem schon lange Dienste tue. Der schwarze Rock glänzte in etwas; auch war die Farbe nicht mehr so ganz schwarz, sondern ging ein wenig in das Fahlgraue. Die schwarzen Knöpfe waren ebenfalls von Bein. Der Stoff des Rockes war nicht Tuch, aber ich kannte nicht, was er war. Bei den Ärmeln gingen, wie er so saß, manchmal ein ganz klein wenig eine Art Handkrausen hervor, die er immer bemüht war wieder heimlich zurück zu schieben. Vielleicht waren sie in einem Zustande, daß er sich ihrer ein bißchen hätte schämen müssen. Obgleich ich nicht zu Anfange des Essens gekommen war, so sah ich doch noch, daß er sich von keiner Speise viel nahm, und daß er dem Diener, der sie darreichte, immer sehr dankte. Das Innere dieses Mannes war, wie ich sagte, nicht zu erkennen, obwohl sein Äußeres ziemlich klar und fast weniger als unscheinbar war. Gerade darum aber erregte er meine Aufmerksamkeit.

Als endlich die drei verschiedenen Weine, womit wir geehrt wurden, ausgekostet waren, als das Obst und die Zuckersachen herumgegangen waren und man aufstand, sah ich auch die andern Teile seines Leibes und Anzuges, welche mir vorher der Tisch verdeckt hatte. Der Rock ging ziemlich weit hinunter. Die Beinkleider, von demselben Stoffe wie der Rock, reichten bis an die Knie, dann kamen schwarze Strümpfe, die fast grau waren, und endlich weite Schuhe mit sehr großen Schnallen. Die Schuhe waren grob und hatten sehr dicke, starke Sohlen. So stand er mit dem Rücken gegen das Fenster hinter allen, die sich zu Gesprächen nach dem Speisen zusammengestellt hatten, und lächelte, wie bei Tisch, wie aus Pflicht ihren Reden zu. Bald aber nahm er seinen Hut und Stock, um sich zu empfehlen. Der Hut war kein anderer, als man sie trug, nur in der Gestalt etwas veralteter, die Krempen gleichsam ein Schiff bildend, aus dem das kurze Rohr des Knaufes hinauf stieg. Zu dem übrigen Anzuge stand der Hut gut, er war abgegriffen, hie und da glänzend und rötlich. Der Stock war ein Rohr, das einen weißbeinenen Kopf und in dem Loche ein Messingschnällchen hatte, in dem staubig schwarze Quasten hingen.

Mit dieser Ausrüstung stand er vor unserm Wirte, dem Pastor, und auf dessen Frage, warum er schon gehe, antwortete er, daß er schon sehr Zeit habe, indem er fünf Stunden bis nach Hause zu gehen habe und bis dahin der tiefe Abend schon hereingebrochen sein werde. Er dankte sehr für das Essen, verbeugte sich mehrmals vor der Frau Pastorin, entfernte sich, und in kurzem sahen wir durch unsere Fenster die schwarze Gestalt zwischen den Saatfeldern dahin schreiten, wie er den Hügel, welcher das Dorf gegen Abend sanft begrenzt, hinauf ging, und auf dessen Kamme in die glänzende Luft verschwand.

Ich fragte, wer der Mann sei, konnte aber nichts erfahren, als daß er ein sehr armer Prediger in einer entfernten, wenig fruchtbaren Gegend sei, daß er sehr zurückgezogen lebe und selten einer Einladung wie der heutigen folge, um sein Pfarrhaus auf fast so lange, als ein Tag beträgt, zu verlassen.

Daß er arm sei, hatte ich wohl aus seinem Anzuge abnehmen können, und auch die andere Bezeichnung wäre nicht schwer zu erraten gewesen. Er hatte ein gewöhnliches, fast eingeschüchtertes Angesicht mit klaren blauen Augen. Die braunen Haare gingen schlicht gegen hinten zusammen, hatten hie und da schon weiße Fäden unter sich gemischt und zeigten dadurch an, daß der Mann in einem Alter sei, das sich den fünfzig Jahren nähern möge.

Ich hatte den Mann und das ganze Gastmahl bei der liebenswürdigen Pastorfamilie in Ober-Schauen schon längst vergessen, als mich einmal mein Beruf in Vermessung von dem schönen Wengendorf in eine fürchterliche Gegend rief. Es waren dort nicht etwa Wälder oder Schluchten, Abstürze und schäumende Wässer, sondern nur kleine, beinahe unbedeutende Kalkberge, die nicht einmal, wie es bei diesem Steingeschlechte sehr oft der Fall ist, steil abfielen und zerrissene Gestalten zeigten, sondern fast allenthalben in breiten Rücken auseinander lagen, nicht einmal nahe an einander geschoben waren, sondern ziemliche Räume zwischen sich ließen, die gleichsam wie Talwiegen um die einzelnen runden Hügel herum und durch das ganze Gewirre derselben liefen. Aber auf allen diesen Hügeln lag das Gestein bloß, es zeigte die gewöhnliche graue Farbe, hie und da gelbe Flecke, und wo eine Tafel oder ein Knollen abgebrochen war, den glänzenden Bruch. An den Seiten und an dem Fuße der Hügel waren Sandlehnen. Die Zirder ging in einem großen Schlangenbogen durch all das Ding hindurch, und ihr Wasser, das den Glanz des Himmels spiegelte, ferner die grünen Säume an ihren Ufern und manch anderer grüner Fleck, der dem Gesteine eingesetzt war, bildeten die ganze Abwechslung und Erquickung.

Als ich einmal abends von meinen Arbeiten nach Hause ging, saß mein armer Prediger auf einem Sandhaufen; er hatte die großen Schuhe beinahe in den Sand eingegraben, und die Schöße des Rockes wurden von demselben staubig. Ich erkannte ihn im Augenblicke, obgleich er noch schlechter gekleidet war als bei jenem Mahle, wo er vielleicht seinen Sonntagsanzug angehabt haben mochte. Seine Haare waren jetzt viel mehr grau, als hätten sie sich sehr beeilt, diese Farbe zu gewinnen – sein längliches Angesicht hatte deutlichere Falten, die nach der Länge an den Mundwinkeln herabgingen – die Augen aber waren gerade so blau und klar wie damals. An seiner Seite lehnte das Rohr, aber es war nicht jenes mit den grauschwarzen Quasten, sondern ein ganz einfaches ohne allem Schmucke.

Ich trat näher zu ihm hinzu, da ich meines Weges durch den Sand wanderte, und grüßte ihn. Er stand eilig auf, nahm den Hut, an dessen Filze nicht ein einziges Haar mehr war, von dem Haupte und dankte mir demütig für meinen Gruß. Auch jener Hut, den er bei dem Gastmahle gehabt hatte, mußte, so schlecht er war, dennoch ein Festtagshut gewesen sein, denn unmöglich, selbst bei absichtlicher Mißhandlung, hätte er zu dem Ansehen herunter gebracht werden können, das der gegenwärtige hatte. Der arme Prediger gab kein Zeichen, daß er mich erkenne; es konnte auch gar nicht möglich sein; denn bei jenem Mahle hatte er nur die Menschen im allgemeinen angeschaut und geehrt und sich dann zurückgezogen. Er stand also, da ich meines Weges nicht weiter ging, vor mir, sah mich freundlich an und lächelte. Ich fragte ihn, ob er sich denn meiner gar nicht mehr erinnere.

»Ich bin nicht der Ehre teilhaftig, daß ich noch weiß, wo Euer Wohlgeboren zu mir gesprochen haben«, antwortete er.

»Ich habe auch mit Euer Ehrwürden«, sagte ich, auf die Art seiner Höflichkeit eingehend, »nicht das Vergnügen gehabt, selber zu sprechen, sondern ich habe Sie nur vor einigen Jahren gesehen und habe Sie da auch mehrere Worte sprechen gehört.«

»Ich kann die Zeit nicht angeben«, antwortete er.

»Euer Ehrwürden sind doch derselbe Mann«, sagte ich, »der einmal bei einem kirchlichen Feste in dem Dorfe Ober-Schauen war, dann nach dem Feste bei dem Pastor von Ober-Schauen zu Mittag speiste, und nach dem Essen gleich zu Fuße fort ging, weil, wie er sagte, er noch fünf Stunden nach Hause zu gehen hatte.«

»Ja, ich bin der nämliche Mann gewesen«, antwortete er; »es war das hundertjährige Kircheneinweihungsfest, und ich bin dann den ganzen Rest des Nachmittags und einen Teil der Nacht nach Hause gegangen.«

»Und in dieser abscheulichen Gegend haben wir uns zufällig wieder gefunden«, sagte ich.

»Sie ist, wie sie Gott erschaffen hat«, antwortete er, »es wachsen hier nicht so viele Bäume wie in Ober-Schauen – aber manches Mal ist sie auch schön, und zuweilen ist sie schöner als alle andern in der Welt.« Als ich ihn um seinen Pfarrhof fragte, nannte er mir das Dorf, welches nicht sehr weit von dem Standpunkte, auf welchem wir sprachen, in dem nämlichen Steinreviere lag, in dem wir uns befanden. Weil er aber gleichsam befürchten mochte, daß ich seine Gastfreundschaft in Anspruch nehmen könnte, bot er sich wiederholt an, wenn ich etwa in der Gegend eine Wohnung hätte, mich dahin zu führen, da er überall sehr wohl bekannt sei. Ich dankte ihm und versicherte, daß ich allerdings auf einige Zeit hier eine Wohnung habe, aber daß ich schon sehr gut allein dahin finde. Hierauf tat ich noch Ehren halber einige Fragen über verschiedene Punkte der Gegend an ihn, die er sehr freundlich beantwortete, und verabschiedete mich dann. Ich sah den Mann desselben Abends noch einmal, aber ohne daß er etwas davon wußte. Weil ich des andern Tages mehrere meiner Leute ziemlich weit wegschicken mußte, so machte ich, da ich von dem Pfarrer wegging, einen Umweg, um mir mehrere Punkte zu zeichnen, damit ich ihnen, weil hier so ziemlich ein Hügel dem andern gleich sah, den Weg angeben könnte, den sie einschlagen müßten. Ich kam hiebei in der Nähe des Dorfes, in welches der Pfarrer gehörte, vorbei, und da ich um einen Sandbruch bog, sah ich ihn ein wenig weiter unten an mehreren Blöcken vorbeigehen, die einmal abgebrochen und in dem Sand liegen geblieben waren. Er hatte ein Stück schwarzen Brotes in der Hand und aß davon. Es dämmerte schon sehr stark, – er bog links noch weiter in die Tiefe des Tales, ich ging rechts in die Berglehnen hinein und hatte noch ein gutes Stück Weg zurück zu legen, bis ich nach Hause kam.

Dies war mein zweites Zusammentreffen mit dem armen Prediger.

Daß ich ihn nun nicht wieder so schnell vergaß, wie damals nach dem Kircheneinweihungsfeste bei dem Pastor in Ober-Schauen, war natürlich; denn die ungemeine Armut, welche sich in seinem ganzen Wesen so sehr aussprach, wie ich sie noch niemals bei Menschen oberhalb des Bettlerstandes angetroffen habe, namentlich nicht bei solchen, welche den andern als Muster der Nettigkeit und Ordnung voran zu leuchten haben, reizte im mindesten doch die Neugierde, wenn sich auch nicht ein edleres Gefühl der Teilnahme hinein gemischt hätte, wie es damals wirklich in meinem Herzen war. Zwar nett und ordentlich war er in seinem Anzuge auch, es war durch Bürsten und Zurechtlegen alles Mögliche gemacht, was man aus so herabgebrachten und verbrauchten Kleidern machen konnte, aber durch diesen Reinlichkeits- und Ordnungssinn wurde die unsägliche Dürftigkeit, die um das Ganze schwebte, nur desto einleuchtender sichtbar.

Ich kannte Gargen, so hieß das Dorf, in welchem sein Pfarrhaus stand, sehr gut, war schon mehrere Male durchgegangen und hatte den Pfarrhof, welcher nebst der Kirche außerhalb der andern Häuser gegen die Berge zu stand, angeschaut. Einmal, als ich über den Steg, der dem Pfarrhause schief gegenüber über die Zirder führt, gegen die grüne Wiese hinüberschritt, welche ziemlich tief gerade von den Fenstern des Pfarrhauses liegt, sah ich ein ungemein reizendes weibliches Angesicht bei einem der Fenster des ersten Geschosses heraus schauen. Auch hingen an einigen der Fenster Linnenstücke heraus, welche dort wahrscheinlich trocknen mußten. Ich ging aber niemals in das Pfarrhaus hinein, um einen Besuch zu machen, weil ich mir dachte, daß der Pfarrer meinen würde, mir mit irgend etwas Eßbarem und Trinkbarem aufwarten zu müssen, was ihn etwa in eine große Verlegenheit hätte bringen können. So ging ich auch damals auf dem Pfade, der in einiger Entfernung von dem Pfarrhause durch die Wiese läuft, dahin, und lenkte in die Kalksteingefilde hinein, in denen in noch bedeutender Entfernung erst das Gasthaus lag, in dem ich für die Dauer meiner Geschäfte meine Wohnung aufgeschlagen hatte.

Es war ringsherum kein ordentliches Haus zu sehen, nur sehr schlechte Hütten lehnten sich hie und da, in großen Entfernungen von einander zerstreut, an die heißen Kalksteine an, und oberhalb kletterten eine oder zwei magere Ziegen und suchten das wenige Gras und Laub zu gewinnen, welches zwischen den Gesteinen hervor sproßte. Ein Kartoffelfeldchen, oder besser gesagt, ein Gärtchen mit Steinen umlegt, war die Zugabe, welche bei solchen Hütten niemals fehlte.

Der Pfarrer machte gegen Abend gerne einen Spaziergang. Ich kam dahinter, als ich einmal, es war gerade im Hochsommer, in der Gegend, die nahe an seinen Bezirk grenzte, vorzugsweise meine Arbeit hatte. Da schlenderte ich auch noch, nachdem ich meine Leute entlassen hatte, was ungefähr um vier Uhr war, wo wir aufhörten und jeder sich erst sein Mittagsmahl suchte, täglich gerne ein wenig in dem Gesteine herum, ehe ich den Rückweg antrat, der mich zu meinem bescheidenen Gasthofe führte. Und bei diesem Herumschlendern sah ich auch den Pfarrer. Er ging gewöhnlich zwischen den Steinen dahin, von denen er sich, von weitem sichtbar durch seine schwarze Gestalt, abhob, dann saß er auf eines der Steinstücke, oder, wie wir oben gesehen haben, auch auf eine Sandlehne nieder, schaute so herum und war der einzige dunkle Punkt in der gräulich dämmernden oder unter den Strahlen der herabsinkenden Sonne auch matt rötlich beleuchteten Kalkflur. Dann stand er auf und ging fort. Er ging entweder nach Hause, oder er ging noch weiter in irgend einem der vielfach verschlungenen Täler herum, die, wie wir sagten, die runden Kalkfelsen umkreiselten und meistens trocken und sandig waren. Weil wir nun beide den Abend in derselben Gegend verschlenderten, so konnte es nicht fehlen, daß wir uns auch sahen und trafen. Ich ging ihm einmal zu und redete mit ihm. Das Gespräch war sehr einfach und betraf die gewöhnlichen Gegenstände, die zwischen Leuten abgehandelt werden, die sich noch so gut wie gar nicht kannten und wovon wenigstens der eine, wie ich vermutete, eine Art Mißtrauen hegen mochte. Wir redeten von dem Wetter, von den schönen Abenden, die immer sind, und von der Hitze, die unter Tags herrschte, und von andern dergleichen Dingen. Ich sagte ihm auch, um ihn unbefangener zu machen, daß ich in dem Gasthofe an der Knorstraße wohne, daß ich dort sehr zufrieden sei und daß mir der Weg dahin in der Kühle des Abends und in dem ersten Teile der einrückenden Nacht sehr angenehm sei, wenn ich auch unter Tags viel herumgegangen bin und viel zu arbeiten gehabt habe. Er knöpfte seinen Rock zu, stand vor mir und hörte mich an.

Manchmal ging er unten in einem Tale, ich ging oben vorbei; manchmal kamen wir uns so nahe, daß wir uns grüßen und die Hüte vor einander abziehen konnten.

Ein zweites Mal, da wir uns sprachen, sagte ich ihm, weshalb ich in der Gegend sei, daß mich nämlich die hohen Ämter beauftragt hätten, die Landschaft abzumessen, damit Karten davon gemacht werden könnten, daß ich viele Leute unter mir habe, daß wir immer sehr früh des Morgens ausrückten und daß ich gegen vier Uhr nachmittags die Leute entlasse, damit sie essen und ausruhen könnten, daß ich selber immer eine Flasche Wein und etwas kalte Speisen mithabe und daher erst abends ein warmes Mittagsmahl einnehme. Ich zeigte ihm auch etwas von meinen feineren Geräten, die ich eben bei mir hatte. Diese abendlichen Zusammenkünfte wurden Ursache, daß ich noch mehr von dem Manne erfuhr, obgleich dieses Mehr noch wenig genug war. Die Anwohner des Pfarrhofes über ihn auszuforschen, war nicht meine Sache; in dem Gasthofe, in welchem ich wohnte, wußten sie gerade so viel wie ich, nämlich, daß der Prediger im ganzen sehr arm sei, daß er immer so vereinsamt herumgehe und mit wenigen Menschen etwas spreche, und meine Leute kümmerten sich nicht weiter um ihn, als daß sie, wenn sie ihn sahen, den Hut abnahmen und ihn grüßten. – Es war eines Tages ganz besonders dunstig gewesen, die Sonne hatte den ganzen Tag nicht aufgeschienen, aber dennoch hatte sie den matten Schleier, der den ganzen Horizont bedeckte, so weit durchdrungen, daß man ihr blasses Bild immer sehen konnte, daß um alle Gegenstände des Steinlandes ein wesenloses Licht lag, dem kein Schatten beigegeben, und daß die Blätter der wenigen Gewächse, die zu sehen waren, geröstet wurden; denn obgleich kaum ein halbes Sonnenlicht durch die Nebelschichte der Kuppel herabdrang, war doch eine Hitze, als wären drei Tropensonnen am heiteren Himmel und brennten alle drei nieder. Wir hatten unsäglich viel gelitten. Ich entließ meine Leute schon um zwei Uhr und hatte mich selber unter einen Steinüberhang gesetzt, der eine Art Höhle bildete, in welcher es bedeutend kühler war als heraußen in der freien Luft. Ich las in der Höhle.

Gegen Abend wurde, obwohl dies häufig an solchen Tagen geschieht, die Wolkenschichte nicht zerrissen; sie wurde auch nicht dichter, sondern lag in derselben einfarbigen Art, wie den ganzen Tag, über den Himmel. Ich ging daher sehr spät aus der Höhle; denn so wie die Schleierdecke am Himmel sich nicht geändert hatte, so war die Hitze am Abende kaum weniger geworden, man hatte keinen Tau zu erwarten, und es ging kein Lüftchen. Ich wandelte langsam an einem kargen Rasen, der von den Steinen herunter ging, dahin, weil ich sehr ermüdet war; da stand auf einem Hügelpunkte, über den der Weg ging, der Pfarrer. Wir grüßten uns, er kehrte um, wenn er vielleicht des Weges gegen mich hergegangen war, und wir gingen mit einander nach derselben Richtung fort. Auch auf den Mann mußte die Hitze Einfluß gehabt haben, denn es standen ihm sehr viele feine Wassertröpfchen auf der blassen Stirne. Er fragte mich, wo wir heute gearbeitet hätten, und ich sagte es ihm. Ich erzählte ihm auch, daß ich in einer Höhle gesessen sei und gelesen habe, ich beschrieb ihm die Gegend und zeigte ihm das Buch.

Der Mann schien etwas ängstlich zu werden. Er nahm den Hut ab, strich sich die dünnen Haare noch mehr nach rückwärts zusammen, wie er sie ohnehin zu tragen gewohnt war, tat die vorderen gegen die Schläfe und setzte den Hut wieder auf.

Endlich sagte er: »Es wird gar nicht mehr möglich sein, daß Sie das Wirtshaus an der Knorstraße erreichen.«

Ich sah gegen den Himmel. Die Wolkendecke schien dichter geworden zu sein, und auf allen den kahlen Steinbergen, die wir zufällig von unserem Wege aus in einer großen Breite übersehen konnten, lag ein unsäglich sonderbares, bleifarbenes Licht.

»Wenn es möglich wäre,« fuhr er nach einer Weile, ohne eine Antwort von mir zu erwarten, fort, »wenn Sie sich in einen kleinen Raum fügen könnten, so würde ich Sie recht gerne einladen, eine Nacht bei mir zuzubringen.«

Das »Euer Wohlgeboren« und »Euer Ehrwürden« war schon früher aus unseren Gesprächen auf meine herzliche Bitte verbannt worden. Ich sagte daher: »Wenn nur ein gewöhnlicher Landregen auf diesen heißen Tag aus der sich verdichtenden Wolkendecke folgen sollte, so hindert mich derselbe ganz und gar nicht, nach Hause zu gehen.

Ich bin nach der Natur meiner Beschäftigungen auf so etwas immer gefaßt – ich nehme nur mein feines Wachstaffetmäntelchen aus der Tasche heraus, setze es auf und gehe fort. Sollte aber der Regen sehr heftig, etwa ein Platzregen, Gewitterguß oder Wolkenbruch werden, so nehme ich Ihre Einladung recht gerne an und werde auf keine Weise lästig sein und die gewohnte Ordnung des Hauses stören. Da aber unser Weg, den wir eben gehen, sowohl gegen meinen Gasthof hinführt als gegen Ihren Pfarrhof, so können wir unterdessen auf ihm fortwandeln und sehen, wie sich die Sachen gestalten werden, nach denen wir dann diese oder jene Maßregel treffen können.«

»Das können wir auch tun,« antwortete er, »in mein Pfarrhaus kommen wir noch sehr leicht, ehe der Regen kömmt, aber in die Knorstraße geht es nicht mehr, ich glaube, ganz und gar nicht.«

Wir gingen daher auf unserem Wege fort. Bald flog ein Schein über die Gegend wie ein mattes plötzliches Erleuchten. Es war ein stummes Blitzen gewesen, das bei dem immer mehr heranrückenden und dunkelnden Abende auf die Gegenstände sein Licht geworfen hatte. Auch an dem Himmel zeigte sich schon, daß ein Gewitter kommen würde, aber daß dasselbe noch nicht so bald eintreffen könne. Ungleich dem gewöhnlichen Heranrücken der Gewitter, welche nämlich in einer zarten bläulichen Wand meistens den Westhimmel einnehmen, von da vorrücken und die Sonne überfluten, war dieses gleichsam ein stille stehendes, welches sich aus dem vorhandenen Wolkenschleier entwickelte. Derselbe wurde nämlich immer dichter und an einer Himmelsstelle, die gerade hinter uns lag, immer dunkler. Aber es ging hiebei kein Lüftchen, und die Hitze, schien es, minderte sich gar nicht.

Ich weiß nicht, wie ich darauf kam, – aber ich fragte den Pfarrer, wie wir so fort gingen, ob er verheiratet sei?

»Ich verheiratet?« antwortete er, »ach, denken Sie nicht so etwas!«

Hiebei war er rot geworden, als ob ein schöner, sanfter Rosenhauch über seine alternden Züge gegangen wäre.

Ich fühlte, daß ich eine ungeschickte Frage getan habe. Wie mochte auch so etwas sein? Dann würde ihn die Gattin nicht so arm und unscheinbar herum gehen lassen, oder er würde sie nicht ernähren können. Ich wurde mir aber auch bewußt, warum mir die Frage in den Sinn gekommen war. Da wir uns nämlich dem Pfarrhofe näherten, fiel mir das angenehme weibliche Angesicht ein, welches ich einmal aus einem Fenster des oberen Geschosses herausschauen gesehen hatte.

Wir gingen weiter, und ich sah bald, daß er recht habe, daß ich mein Gasthaus an der Knorstraße nicht würde erreichen können. Die Blitze wurden immer häufiger, und da, teils wegen des hereinbrechenden Abends, teils wegen der immer dichter werdenden Wolkendecke, die Finsternis zunahm, so erschienen sie stets greller. Der bleiche, ausgedörrte Kalkstein, den wir in der Dunkelheit des Abends kaum sahen, oder wo dies der Fall war, nicht hell, sondern mit derselben graublauen Farbe, wie die Wolken bedeckt wahrnahmen, stand, wenn ein Blitz fiel, weit hin sichtbar in rosenroter Farbe da. Auch die Donner gaben sich schon in einem langsamen und fernen Rollen kund, das von Zeit zu Zeit vernehmlich wurde.

So erreichten wir endlich den Pfarrhof bei ziemlicher Dunkelheit, die wegen der Wolken früher hereingebrochen war, aber bei noch unverminderter Wärme und gänzlicher Windstille.

»Sie sehen es schon,« sagte der Pfarrer, »daß der drohende Regen kein feiner Landregen, wie Sie's nennen, werden wird, sondern ein Gewitter, das einen mäßigen Regen herabschütten kann, oder auch einen Wolkenbruch oder schwächeren und stärkeren Hagel. Da wir dies nicht wissen, so ist das Bessere, daß Sie bei mir bleiben und in der Nacht sich nicht dem ungewissen Übel aussetzen. Ich kann es nicht zugeben.«

»Ich sehe selber,« antwortete ich, »daß ich durch mein langes Bleiben in der kühlen, anmutigen Höhle die Zeit vergeudet habe, die mir zu meiner Rückkehr nach Hause gegönnt gewesen war, und daß ich dadurch in der Lage bin, Ihnen beschwerlich werden zu müssen. Ich gehe daher mit Ihnen und wiederhole nur meine Bitte, daß Sie an diesem Abende auf mich gar keine weitere Rücksicht nehmen, gerade so, als ob Sie ganz allein wären. Ich habe sogar noch Wein im Vorrate, weil ich ihn in der Tageshitze nicht trinken konnte, auch kalte Speise findet sich – und daher ist das Obdach das einzige, welches ich in Anspruch nehme. Auch kann sich ja in kurzem zeigen, ob das Gewitter hier zum Ausbruche kommen wird, oder ob es sich nach einer andern Seite landauswärts zieht. Im letzteren Falle werde ich auf gar keine Weise zur Last fallen, sondern meinen Heimweg antreten, namentlich, da ich früh auf muß, um meinen Arbeitern ihre Weisungen zu geben, und mir selber mein Tagewerk einzuteilen.«

»Sie können alles tun, wie es Ihnen am besten dünkt«, sagte er; »ich werde Ihnen geben, was ich habe, und bitte Sie, dasselbe freundschaftlich anzunehmen.«

Während wir so redeten, sahen wir schon, daß das Gewitter nicht etwa, wie ich aussprach, landauswärts ziehe, sondern daß gerade unsere Gegend sein Schauplatz werden würde. Auf der einfarbigen, nur immer dunkler werdenden Wand des Himmels zogen sich weiße laufende Nebel herauf, die in langen, wulstigen Streifen wagrecht den untern Teil der Wand säumten, also dort schon Wind anzeigten, obwohl sich bei uns an dem Baume und den Gesträuchen, die den Pfarrhof umgaben, noch kein Blättchen und kein Hälmchen rührte. Solche laufende, gedunsene Nebel sind bei Gewittern oft schlimme Anzeichen, denn sie verkünden immer großen Sturm, sehr oft bedeutenden Hagel oder zerstörende Wolkenbrüche. Es sind die zarten unsichtbaren Dünste des Himmels, die in der Hitze des Tages im unermeßlichen Raume unschädlich aufgehängt waren, nun aber, plötzlich in kalte Stellen gelangend, alsogleich Nebelballen bilden und ihre ungeheuren Massen, seien es zusammengeschossene Tropfen, seien es verdichtete Eisstücke, ohne Säumnis herab schleudern.

Rings in der ganzen Gegend war, wie ich wußte, keine einzige Hütte und kein Haus, in welchem ich Unterstand hätte finden können: wir gingen daher in das Haus des unendlich armen Pfarrers hinein. »Es wird wohl sehr enge sein,« sagte er, »Sie müssen sich daher fügen, wie es eben gehen will.«

Mit diesen Worten hatten wir die Schwelle des Tores überschritten und befanden uns in dem sogenannten Vorhause. Es war dies, so viel ich in der Dämmerung erkennen konnte, ein etwas enger, gewölbter Gang mit Nischen, der zu der Gegend rückwärts führte, von welcher die Stiege in das obere Geschoß hinauf leitete. Allein statt diese Treppe zu besteigen, wie ich erwartet hatte, gingen wir hart vor ihr sechs andere Stufen, die sich in einer der Nischen verborgen hatten, hinauf und traten in ein Gemach, das aber schier nichts anders war als wieder eine Fortsetzung des Vorhauses oder höchstens ein Vorgemach. Es war gewölbt, und unter einem der Gewölbbogen, welcher in der Mauer angebracht war, stand eine hölzerne Bank, ziemlich breit und mit dem oberen Ende wie zu dem Kopfende eines Schlaflagers sanft empor gebogen. Dies war das einzige Geräte, das sich in dem Zimmer befand. Das Zimmer erinnerte mich lebhaft an ein Gefängnis. Wir gingen durch dasselbe hindurch und gelangten in ein zweites, welches aber nicht, wie ich vermutete, das Hauptgemach, sondern, wie sich bald auswies, ein Nebenzimmer war. Es hatte nur ein Fenster, während das erste durch zwei erleuchtet wurde; es war daher auch bedeutend schmäler als das erste. Alle drei Fenster, welche vergittert waren, sahen auf die schöne Wiese hinaus, welche, wie ich schon bei einer früheren Gelegenheit bemerkt hatte, dem Pfarrhofe gerade gegenüber lag, ziemlich tief gesenkt war und auf welche man über die Zirder herüber kam, wenn man den Steg derselben, der schief hinüber von den Pfarrfenstern gesehen werden konnte, überschritten hatte. Die Fenster waren ziemlich hoch gelegen, und man mußte von ihnen aus einen beträchtlichen Teil der Gegend übersehen können, was ich selbst jetzt, obwohl es bedeutend dunkelte, wahrnahm, indem ein großer Teil der Gewitterwand mit den weißen, laufenden Nebeln in ihrem Rahmen stand.

»Legen Sie doch Ihre Sachen ab und setzen Sie sich nieder«, sprach der Prediger.

Ich sah bei diesen Worten, daß in der Kammer, so konnte man füglich das Nebenzimmer nennen, doch etwas von Geräten sei. Es war ein Tisch da, drei Stühle und eine ähnliche Bank wie in dem größeren Gemache. Alles war von weichem Holze, und, mit Ausnahme der Bank, mit dunkelgelber Ölfarbe gestrichen. Außer diesen Dingen war aber nichts. Selbst die Wände, die übrigens sehr weiß getüncht waren, waren kahl, und nicht das kleinste, schlechteste Bildchen hing daran.

Ich legte auf die Einladung des armen Pfarrers meine Sachen ab, als da sind: einen Rock und Hut, ein Lederfach mit Zeichnungsgeräten, das ich gerne an einem Riemen trug, und eine Tasche, in welcher meine flache Weinflasche und kalte Speisen waren. Ich selber setzte mich auch auf einen der Stühle nieder.

»Das sind meine zwei Zimmer, und diese Zimmer sind meine Wohnung«, sagte der Prediger; »es ist wohl noch eine Kammer vorhanden, in welcher meine Kleider und andere Dinge sind, aber diese ist nicht zu der Wohnung zu rechnen, weil sie nur ein Aufbewahrungsort ist. Es ist einfach bei mir, wie es sich wohl für einen Verkünder des Evangeliums ziemt, das auch nicht von dieser Welt ist.«

Ich wollte ihn gewissermaßen trösten und sagte, daß es sehr bequem sei, daß wir sehr gut hier sitzen, wenn es draußen losbrechen und Wassermengen auf alle Wesen herabschütten wird.

Er lächelte freundlich und sagte: »Ich werde Ihnen verschiedene Dinge herbei bringen, die Sie brauchen und die noch nicht da sind, damit Sie nicht zu hart in meiner Wohnung daran sind.«

Nach diesen Worten ging er hinaus, und ich blieb in dem dunkelnden Gemache sitzen. Er brachte zuerst eine wollene Decke herein, die er vierfach über einander gefaltet auf die hölzerne Bank legte, dann tat er ein Leintuch glatt gestrichen darüber, legte auf das hölzerne emporstehende Kopfende einen Polster und gab eine zweite Decke als Hülle auf das Ganze. Dies mochte mein Bett sein. Ich weigerte mich nicht gegen diese Vorrichtungen, denn sie waren wirklich einfach genug – und auch mochte ihn eine Weigerung verletzen. Er hatte bei diesen Arbeiten seinen Rock ausgezogen, höchst wahrscheinlich um ihn zu schonen, und ach Gott, wie armselig war doch dieser Rock, nicht nur heute, sondern vielleicht schon vor langem würdig, daß er weggeworfen werde. Die Hemdärmel, die zum Vorscheine kamen, schienen mir, nach Art ihrer Faltenbrechung, denn genau konnte ich in der Dunkelheit nichts mehr unterscheiden, eher fein als grob zu sein; sie hatten Händekrausen, die aber unter Tags immer in die Rockärmel zurückgebauscht wurden, und waren sehr weiß gewaschen.

Das Nächste, was er nun tat, war, daß er Licht brachte.

Er stellte nämlich einen hölzernen Leuchter mit einem Talglichte auf den Tisch, weil, wie er bemerkte, wegen des Gewitters die Finsternis früher käme als sonst. Neben den Leuchter legte er eine gelbe messingene Lichtputze.

Ich hatte mir vorgenommen, in alle seine Anstalten kein Wort einzureden, daß er nicht etwa verwirrt und in unerwartete Verlegenheiten gesetzt werde. Das Licht des Zimmers machte die Fenster plötzlich schwarz, durch die man bisher noch immer das herannahende Gewitter gesehen hatte, das unbegreiflich lange zauderte; denn noch kein einziges Lüftchen hatte sich gehoben, obgleich die Blitze stets dichter und feuriger wurden und das langsame Dröhnen der fernen Donner in dem Gemache gehört und fast durch Erschütterungen empfunden wurde.

Er blieb nun, nachdem er sich neuerdings entfernt hatte, ziemlich lange aus. Endlich trat er aus dem größeren Zimmer, in welchem kein Licht war, sondern nur der von unserer Kerze hinausfallende Schein, wieder in die Kammer herein und setzte etwas auf einen in der Dunkelheit des Hintergrundes stehenden Stuhl. Unter dem Arme nahm er ein weißes, feines Tuch hervor und bedeckte damit den Tisch; dann brachte er das, was er auf den Stuhl gesetzt hatte, hervor. Es war ein Krüglein mit Milch nebst zwei Gläsern, was alles auf einem Teller stand. Dann waren noch Erdbeeren, die sich in einem grün glasierten Schüsselchen befanden. Er rückte die Dinge vor mich hin, teilte mir und sich ein Glas zu, schnitt schwarzes Brot von einem Laibe, der in der Tischlade lag, auf einen Teller, legte ein Messer und ein Löffelchen vor mich und holte dann noch einen Krug frischen Wassers, zu dem er noch zwei Gläser brachte. Hierauf legte er, ohne ein Wort zu reden, seinen Rock wieder an und trat vor den Tisch. »Den Segen«, sagte er, »spricht meistens jeder Mensch gerne allein, ich tue es auch immer so.«

Hierauf machte er ein Kreuz, faltete die Hände vor dem schwarzen, schlechten Rocke, sah vor sich hin und rührte keine Lippe, indem er innerlich betete.

Ich tat desgleichen, indem ich ebenfalls aufstand.

Dann setzten wir uns nieder, und er sagte: »Es ist ein einfaches Mahl, aber gut. Die Alten hatten es auch so.«

Zugleich geschahen die ersten Stöße des Gewitterwindes auf unser Haus. Der Baum, welcher seitwärts des Einganges stand, schauerte einen Augenblick leise, wie von einem kurz abgebrochenen Lüftchen, dann ward es wieder stille. Über ein Kleines kam das Schauern abermals, jedoch länger und tiefer. Nach dem kleinsten Zeitabschnitte Ruhe geschah ein starker Stoß, alle Blätter rauschten, die Äste mochten zittern, wie wir den Schall herein vernahmen, und nun hörte das Tönen gar nicht mehr auf. Der Baum des Hauses, die Hecken um dasselbe und alle Gebüsche und Bäume der Nachbarschaft waren in einem einzigen Brausen befangen, das nur wechselnd abnahm und schwoll. Doch war der Kern des Gewitters noch nicht da; denn die Blitze waren noch ein verschwommenes Aufleuchten, feine Schlangen, und der Donner rollte noch entfernt, aber schon deutlicher und dringender.

Wir saßen indessen bei dem Mahle. Ich aß die ungezuckerten Erdbeeren mit dem Löffelchen, das Brot hatte ich mir mit dem Messer nicht in kleine Teilchen geschnitten, sondern ich hielt das ganze Stück in der Hand, und aus dem Glase mit Milch tat ich von Zeit zu Zeit einen Schluck. Mein Wirt machte es genau so – machte er es nun mir nach, oder ich ihm, oder lag es in der Natur der Sache. Wir aßen alle Erdbeeren und tranken alle Milch. Ich erklärte ihm, daß das Mahl sehr erfrischend und gut war – und in der Tat, es war nach dem heißen Tage wirklich erfrischend, und es wäre hinlänglich gut und genug gewesen, aber ich sagte dennoch, er möge erlauben, daß nun auch ich ihn ein wenig bewirte. Ich stand auf, holte mein Wanderfell, tat Sachen daraus hervor, nahm das Messer, mit dem er Brot geschnitten hatte, wickelte die Lebensmittel aus ihrem Papiere und schnitt dünne Scheibchen von Braten und Schinken auf den Teller. Auch weißes Brot war in der Tasche, und ich legte mehrere Stücke vor. Hierauf schenkte ich noch aus der flachen Wanderflasche, die in dem Fache angeschnallt war, zwei Gläser guten Weines voll. Nachdem diese Dinge geschehen waren, lud ich ihn ein, nun auch von meinem Vorrate zu genießen.

Er nahm, um mir die Ehre anzutun, ein winziges Scheibchen Braten, Schinken und Brot, nippte an dem Glase und war nicht mehr zu bewegen, etwas weiter zu nehmen.

Unser Mahl war also aus; denn auch ich nahm nun von dem, was da stand, nichts mehr, damit es nicht schiene, als wäre mir seine Bewirtung zu wenig gewesen, oder als verachtete ich dieselbe.

Da wir nicht mehr aßen, stand ich auf, was er sogleich auch tat, wir dankten Gott wieder stumm, und ich dankte dann ihm, wobei er sich sehr freundlich und sehr tief verbeugte.

Hierauf sagte er: »Euer Wohlgeboren mögen nun tun, was Ihnen gefällt, ich werde Gesellschaft leisten. Sie mögen bei Tische sitzen bleiben und das Gewitter abwarten, oder Sie mögen auf und nieder gehen, oder Sie mögen sich zur Ruhe verfügen.«

»O nein,« antwortete ich, »ich kann Euer Ehrwürden diesen Zwang nicht auflegen, es wäre mir selber ein Zwang. Zeigen Sie mir nur den Platz, den ich über Nacht benützen darf, und verfügen Sie sodann über Ihre Zeit, wie Sie es täten, wenn ich nicht hier wäre. Sie würden etwa zur Ruhe gehen, tun Sie es ja, ich werde es dann auch tun.«

»Die Ruhe möchte das Beste sein,« erwiderte er, »denn man weiß nicht, wie lange das Gewitter dauert, und um Schonung kann ja auch jeder Gott in der Ruhe bitten. Wenn Sie es so wollen, so ist hier Ihr Bett, das ich bereitet habe, ich werde hinausgehen und mich in dem Nebenzimmer auf mein Lager legen. Aber nur wie Sie wollen. Wenn Sie etwas brauchen, so rufen Sie nur, ich werde aufstehen und kommen. Das Licht können Sie brennen lassen, so lange Sie wollen, ich brauche keines.«

Nach diesen Worten blieb er stehen, gleichsam Befehle erwartend.

Ich sagte: »Euer Ehrwürden haben zu verfügen; ich bin ein Gast, möchte so wenig Störung als möglich verursachen, und darf nur auf Duldung für diese stürmische Nacht Anspruch machen. Schlafen Sie ja recht wohl, ich wünsche eine sehr gute Nacht.«

»Ich auch eine sehr gute,« sagte er, indem er sich verbeugte, »rufen Sie nur, wenn Sie etwas brauchen.« Dann ging er zu dem Tische, nahm aus der Lade, wo sein Brot gelegen war, ein sehr großes Buch heraus, küßte es und ging damit in das erstere der zwei Gemächer hinaus. Ich sah zu, was er beginnen würde, so viel ich in der Dämmerung, die draußen herrschte, sehen konnte. Hiebei entledigte ich mich selber meiner Oberkleider. Er ging aus dem Gemache fort und kam nach einer Weile wieder. Er war in der Kleiderkammer gewesen, von der er früher gesprochen hatte; denn er war nun ohne Oberrock, Weste und Priesterhalstuch; dafür hatte er eine Art Überleib an, der aus grauer Wolle gestrickt und mit Ärmeln versehen war. In dieser Bekleidung legte er sich nun auf die bloße hölzerne Bank, die ich bei unserem Eintritte in diese zwei Gemächer unter der Mauerwölbung gesehen hatte. Das große Buch tat er unter sein Haupt.

»Mit nichten, hochwürdiger Herr,« rief ich, indem ich schnell in das Zimmer zu ihm hinausging. »Sie dürfen nicht auf diesem Lager schlafen, während ich das bessere hätte; ich bin durch meinen Stand gewohnt, auf allen Arten von Lagern zu schlafen, auf Kissen, Decken, Stein oder Holz. Lassen Sie mich hier liegen und nehmen Sie das Bett, das Sie für mich bereitet haben.«

»Ich bin es auch durch meinen Stand gewohnt«, antwortete er. »Ich liege alle Tage hier, wenn auch niemand da ist, und schlafe sehr gut und sehr wohl, weil ich es lange gewohnt bin.«

»Genau so, wie Sie jetzt sind, schlafen Sie alle Nächte auf dieser Bank?« fragte ich.

»Genau, wie ich jetzt bin, schlafe ich alle Nächte hier«, antwortete er.

»Sie bringen aber auch gewiß nicht meiner Bequemlichkeit ein Opfer?« fragte ich, noch immer mißtrauisch zögernd.

»Nein, ich tue es wahrhaftig nicht,« erwiderte er, »es ist schon eine sehr lange Zeit, daß ich angefangen habe, in den Kleidern, in welchen Sie mich sehen, auf dieser Bank zu schlafen und das Buch mir unter das Haupt zu legen.«

Ich schwieg, denn die Worte waren so einfach sicher gesagt, daß ich an ihrer Wahrheit nicht den geringsten Zweifel haben konnte.

Nach einer Weile sagte ich: »Wenn es eine alte Gewohnheit ist, hochwürdiger Herr, so zu schlafen, dann kann ich freilich nichts mehr einwenden; aber Sie werden auch begreifen, daß ich anfangs dagegen sprach, weil man gewöhnlich überall ein Lager hat.« «Ja wohl,« antwortete er, »wir gewöhnen uns an verschiedene Dinge, und dann meinen wir, es müsse gerade so sein, die Gewohnheit ist zuletzt sehr leicht, sehr leicht.«

Ich sagte nun nichts weiter über diesen Gegenstand, um sein Zartgefühl nicht zu verletzen, und ging in mein Zimmer hinein. Hier zeigte sich sofort die tatsächliche Bestätigung seiner Worte; denn als ich zu dem Zwecke einer Untersuchung das Talglicht nahm und die Decken und Hüllen meines Lagers erleuchtete, so erkannte ich aus dem scharfen rechtwinkeligen Faltenbruche und aus der Einteilung in lauter viereckige Tafeln, daß sie frisch gereinigt, zusammen gelegt und gepreßt gewesen seien, und aus dem schwach dumpfen Gerüche ergab sich, daß sie zusammengefaltet lange gelegen waren. Er hatte diese Dinge also in der unmittelbar vergangenen Zeit nicht gebraucht. Besaß er noch andere, so konnte er sie auch heute nehmen, ohne jemanden etwas zu entziehen. Ich setzte das Licht wieder auf den Tisch und blieb noch eine Weile sitzen.

Das Gewitter war endlich ganz über unserm Haupte ausgebrochen. Die Donner rollten in der gewöhnlichen Art, und die Blitze waren so heftig, daß sie bei gelegentlichem Aufleuchten das Licht des Zimmers völlig überstrahlten und alle Winkel, in denen die Kerze tiefe Schatten ließ, mit Feuer erfüllten. Namentlich sah ich den Pfarrer bei jedem Blitze auf seiner Bank draußen wie auf einer Bahre ausgestreckt liegen. Der Wind rauschte noch in den Bäumen fort, aber mit gebrochener Heftigkeit, dafür strömte der Regen so dicht nieder, daß es war, als empfinde man das Dröhnen des Hauses, wie die Last des Wassers unaufhörlich auf dasselbe niederfiel. Ich entkleidete mich endlich nach und nach; denn wie sehr ich gewohnt war, auf jedem Lager zu schlafen, wie sehr der Pfarrer auch gesagt hatte, daß die Gewohnheit alles sehr leicht mache: wußte ich doch, daß ein Schlaf in Kleidern, selbst auf dem besten Bette, nicht halb so erquicke wie einer mit aus den Fesseln gelösten Gliedern. Und Erquickung bedurfte ich nach der Anstrengung in den heißen Tagen und nach der Arbeit und Bewegung überhaupt, der ich schon lange Zeit her in dieser Gegend ausgesetzt gewesen war.

Ich legte die Kleider auf einen Stuhl. Die Kerze, die ich nicht auslöschte, stellte ich mit einem andern Stuhle neben mein Bett, legte mich auf die ausgebreiteten Decken nieder und zog die Hülle über meine Brust empor. Ich wollte das Licht erst auslöschen – wie es überhaupt meine Gewohnheit war –, wenn ich den Schlaf in meinen Augen verspürte. Vorher wollte ich noch nachdenken und mir im allgemeinen mein morgiges Tagewerk und die Austeilung desselben unter meine Leute im Haupte ordnen. Ich tat es, kam von einem Gedanken in den andern, und konnte nicht einschlafen. Endlich, da es schon sehr lange war, schien es, als ob das Gewitter, das mit unveränderter Mächtigkeit fortgedauert hatte, anstatt sich zu entfernen, mit seinem Mittelpunkte erst recht nahe kommen wollte. Das Brüllen des Regens ging selber beinahe in unausgesetztes Donnern über, der Sturm nahm wieder ungemein zu, und trieb das Wasser der Luft wie ein rasendes Strömen gegen das Glas des Fensters, das noch dazu bei jedem tiefen Schalle des das andere Brausen übertönenden Donners erklirrte. Zuletzt geschah ein Schlag, als ob das ganze Haus in allen seinen Fugen krachte und zusammenstürzen wollte, und gleich darauf wieder einer. Dann war ein Weilchen Stille. Ich nahm mein Licht und ging in das größere Zimmer zu dem Pfarrer hinaus. Er lag auf seiner Bank, schlief nicht und sah mit seinen sanften blauen Augen um sich.

Ich sagte nichts, ging wieder in meine Kammer und nahm mir vor, auf dem Bette zu bleiben.

Wie es oft der Fall nach heftigen Erschütterungen bei Gewittern ist, daß der Regen einen Augenblick abzuckt, als ob er erschrocken wäre, so war es auch hier; nach den zwei Schlägen schwieg fast der Wind, der Regen endete, und es war ein Innehalten. Gemach begann alles wieder. Die Blitze leuchteten, der Donner hallte, der Regen strömte: aber alles war gleichsam gebrochen, kehrte nicht mehr zu der alten Kraft zurück und ging in gleichmäßigerer Weise fort. Wie stark auch noch immer die Aufregung der Luftgewalten fortdauerte, so schlief ich endlich doch nach und nach ein, denn die gleiche Art, mit der etwas geschieht, hat eine die Sinne der Menschen beruhigende Macht, und sie ergeben sich in dieselbe. Ich hatte das Licht ausgelöscht, hatte mich recht bequem zurecht gelegt und hörte noch in die entschlummerten Ohren das zeitweilige Rollen des Donners und das nachlassende Herabschütten des Wassers – dann nichts mehr.

Das Gewitter hatte sich nach und nach entfernt und war hinausgezogen in fernere Länder, ihnen allgemach schwächeren Donner und endlich nur eine Wolkendecke zu geben, die in rieselnden Nebeln oberhalb den Fluren dahin lief.

Am andern Morgen war wieder ein schöner Tag, und die Sonne stand in einem großen, gekühlten, unermeßlichen Blau.

Ich bin gewohnt, sehr früh aufzustehen. Ich erwachte daher auch an diesem Tage mit dem ersten Lichte, stand auf und begann mich zu kleiden. Aber der Pfarrer war doch noch früher aufgestanden. Als ich, mit den nötigsten Kleidern angetan, unter die offene Tür trat, um zu ihm hinaus zu schauen, sah ich, daß er mit einer Bürste an meinem Rocke reinige. Ich ging sogleich, wie ich war, hinaus, hielt ihn ab und sagte: »Dies Kleid kann bleiben wie es ist, es liegt nichts daran.«

»Nur noch hier,« antwortete er –, »so, jetzt ist es gut, es kann schon bleiben.«

Mit diesen Worten reichte er mir den Rock, verbeugte sich und lächelte sehr freundlich.

»Ich werde gleich für ein Frühmahl sorgen«, sagte er hierauf und ging fort.

Ich benützte die Zeit, um mich völlig anzukleiden und um meine Sachen in Ordnung zu bringen. Er kam sehr bald zurück und brachte in einem Kruge Milch. Er setzte hierauf die zwei Gläser mit Wein, die ich gestern eingeschenkt hatte, den Teller mit dem aufgeschnittenen Fleische und das Brot, das ich gegeben hatte, sachte auf zwei Stühle seitwärts, nahm das Tischtuch mit den Brosamen weg, und deckte ein anderes, das er unter dem Arme hervorgezogen hatte, über die Tischfläche. Ich konnte mich nicht genug wundern über die Schönheit und Feinheit der Leinwand, aus der diese Stücke bestanden. Dann tat er den Krug auf den Tisch, stellte Gläser und Schalen, je nachdem man die Milch trinken oder essen wollte, daneben und tat sein schwarzes Brot heraus. Wir setzten uns zu diesem Frühmahle und erquickten uns daran. Er war schon völlig angekleidet, und zwar ganz genau in dieselben Kleider, wie ich ihn gestern unter den Kalksteinhügeln draußen gefunden hatte. Als wir mit dem Frühmahle fertig waren, standen wir ein wenig vor dem Fenster und sahen hinaus. Der ungeheure Platzregen, den man eigentlich einen Wolkenbruch nennen konnte, hatte schier alles rein gewaschen, und es glänzte frisch und heiter in dem jungen Glanze der Sonne. Die Wiese vor den Fenstern des Pfarrhofes war lieblich grün, desgleichen die Blätter des Baumes, der seitwärts des Tores stand, und von denen noch manche herabgeschüttelte auf der Erde lagen. Jenseits des Wiesengrüns leuchteten die Kalksteine weithin weiß, einer hinter dem andern stehend, weiß: aber diese gleiche Farbe in ihrem ersten grellen Eindrucke war nur täuschend. Dem Auge, das an zarte Abstufungen geübt ist, zeigten sich die milderen, gebrochenen Glanzfarben gräulich, rötlich, gelblich, rosenfarbig – und dazwischen, immer weiter zurück schreitend, immer schöner die luftblauen Schatten.

Während wir so standen, weil ich es für unartig hielt, unmittelbar nach dem Frühmahle fort zu gehen, und daher noch ein wenig warten wollte, hörte ich Tritte oberhalb uns. Von meinem Gefühle, das mich schon gestern immer geplagt hatte, warum wir denn in diesen zwei kleinen Zimmern wohnen, da doch der Pfarrhof so groß sei, welches Gefühl ich aber aus Schonung immer unterdrückt hatte, nun plötzlich überrascht, sagte ich: »Ich höre ja in dem Gemache, das über unsern Häuptern ist, gehen?«

»Alle andern Zimmer des Pfarrhauses, außer in denen wir geschlafen,« antwortete er, »sind vermietet.«

Ich erwiderte nichts auf diese Entdeckung, und er war auch in Verlegenheit, daß er mir die Sache hatte sagen müssen.

Nach einer kleinen Weile bemerkte ich, daß mich meine Geschäfte gerne frühzeitig zur Arbeit riefen, daß ich daher Abschied nehmen und ihm für seine freundliche Beherbergung und für die bereitwillige Bewirtung danken müsse. Er verbeugte sich, sagte, ich möchte zufrieden sein, er habe gegeben, was er hatte, und begleitete mich hinaus, nachdem ich meine Sachen zusammen gesucht, umgetan und mich zum Fortgehen angeschickt hatte. In dem Vorhause oder eigentlich in dem Gange, der zu dem Haustore führte, hielt er mich wieder an und sagte, indem er gleichsam wie beschämt im hageren Antlitze errötete: »Sie müssen es mir verzeihen, daß ich Sie selber bedient habe, – es ist nicht so, als wenn ich niemanden andern dazu hätte, aber die alte Sabine ist krank geworden, sie ist sehr brav und gut, ich bin auch dankbar und wohlgesinnt gegen sie, und wann eines krank wird, so ist das andere sein Krankenwärter.«

»Es ist mir nur leid, daß ich, durch die Umstände veranlaßt, so viel Ungelegenheiten verursacht habe,« antwortete ich, »ich werde in Zukunft sehr genau auf Himmel und Wetter sehen, damit ich durch meine Unvorsichtigkeit nicht wieder jemandem zur Last fallen muß.«

»O nein, o nein,« erwiderte er, indem er sich verlegen verbeugte, wie damals, da er von dem Pastor in Ober-Schauen nach dem Gastmahle Abschied genommen hatte, »o nein, es ist mir eine Freude und eine Ehre gewesen – wenn es nur nicht zu wenig war, und wenn es nur nicht zu schlecht bei mir gewesen ist.«

»Nein, nein, Euer Ehrwürden,« antwortete ich, »es war lieb und gut. Ich danke noch einmal sehr herzlich für alles und jedes, und es wäre mir äußerst erwünscht, wenn ich irgend wie durch einen Gegendienst Gelegenheit fände, meinen Dank auch werktätig zu äußern.«

»Ach, ich bitte, das ist zu viel, das ist viel zu viel«, erwiderte er. »Sie sind ein freundlicher Mann – wenn ich nur, falls Sie sich länger mit Arbeiten in unserer Gegend aufhalten, nicht zu schwach wäre, Ihnen in manchem behülflich zu sein.«

»Es kann vielleicht kommen, hochwürdiger Herr,« antwortete ich, »es kann kommen. Indessen seien Sie bedankt für das Heutige, nehmen Sie die Versicherung der Bereitwilligkeit zu jedem künftigen Freundschaftsdienste von meiner Seite hin, und leben Sie recht wohl.«

Er verneigte sich sehr tief, indem er die Hände vor seinem schwarzen Gewande zusammen gefaltet hielt, – ich ging in die nasse, glänzende Landschaft hinaus und er gesenkten Hauptes in seinem Gange zurück. Ich sah die hagere Gestalt, als ich gelegentlich umschaute, in die zwei Zimmer hinein gehen, in denen wir die Gewitternacht zugebracht hatten.

Ich bekam auf meinem Wege sogleich Gesellschaft, aber eine ganz andere als die des alternden vereinsamten Predigers. Es gingen nämlich auf dem Stege, von dem ich schon sagte, daß er schief von den Fenstern des Pfarrhauses über die Zirder laufend gesehen werden kann, mehrere blühende kleine, kleinere und winzig kleine Kinder. Sie hatten sämtlich Schultäschelchen umgehangen und mochten sich in der jenseitigen Gegend zu dem Zwecke zusammengesellt haben, um gemeinschaftlich den Weg zurück zu legen, der sie zu dem Orte führte, wo sie die ersten Anfangsgründe zu ihrer zukünftigen Bildung erlangen sollten. Ich bin von der Zeit an, wo ich selber ein Kind gewesen war, immer ein Freund der Kinder geblieben, und da es schien, daß sie, weil der Wiesenfußsteig von der Brücke gegen mich her lief, eine Weile desselben Weges mit mir gehen würden, so blieb ich stehen und wartete auf sie. Als sie am Ende des Steges gegen mich herangekommen waren, duckten sie sich fast alle nieder, und hockten auf einem Häuflein, wie wenn ein Flug Sperlinge oder anderer Feldvögel auf einen Platz einfällt und ihn bedeckt. Ich sah sogleich, daß sie beschäftigt waren, Schuhe und Strümpfe, wenn sie solche hatten, auszuziehen und daß die, die keine hatten, doch auch da blieben und zuschauten. Die Zirder mußte nämlich oben irgendwo ausgetreten sein; denn ich sah mehrere Wasserflächen auf der niedrig gelegenen Wiese stehen und glänzen. Während des Geschäftes des Schuhausziehens lief noch ein einzelner barfüßiger frischer Bube über den Steg zu den andern herüber, hatte er nun seine Schuhe entweder schon jenseits ausgezogen oder war er überhaupt nur ein Nachzügler gewesen. Nachdem alle fertig geworden waren, gingen sie von der Höhe des Steges auf die Wiese herab, gingen auf dem Fußwege weiter, und wateten mit Bereitwilligkeit und Freudigkeit durch die Lacken, welche die Nacht an manchen Stellen über den Weg gelegt hatte. Ich setzte mich auch langsam in Bewegung, um mit ihnen zu gleicher Zeit an der Stelle einzutreffen, wo der Wiesenfußweg mit dem Fahrwege, der an dem Pfarrhause vorübergeht, zusammenstößt. Es geschah auch, namentlich, da ich mein Wandeln so einrichtete, daß ich an der Stelle und mitten unter ihnen war, da sie von dem triefenden Graswege der Wiese auf den feuchten Kalksteinsand des Fahrweges herein sprangen. Ich ging eine Weile so wie zufällig unter ihnen. Sie stellten ihr Schäkern ein, das ich deutlich auf der Wiese, da sie allein waren, bemerkt hatte, und gingen manierlich neben mir, der sich lächerlich unter ihnen ausnehmen mußte, weil er auch an einem Riemen einen Ledersack umhängen hatte, den man für eine Schultasche anschauen konnte. Die Schuhe und Strümpfe hatten sie, da sie jetzt auf einem unüberschwemmten Wege gingen, doch nicht wieder angelegt, sondern die Mädchen trugen sie in ihren hinauf gebundenen Schürzen, und die Buben in der Schultasche, wo sie einen hervorstehenden Pack bildeten. Die älteren gingen ernsthaft und verhältnismäßig reinlich erhalten dahin, die jüngeren, insbesondere die kleinen Buben, die als Anfang und Grund aller Wissenschaften nur ein kleines Täfelchen trugen, plätscherten und wackelten hinten darein, waren bedeutend naß und von dem Kote der Erde vielfach angespritzt. Aber die heitern Augen und roten Wangen der Angesichter zeigten nicht, daß sie sich aus diesem Umstande etwas machten.

Ich redete zu ihnen, allein sie sahen seitwärts zu mir herauf, gingen neben mir her und antworteten nicht. Ein sanft keckes Mädchen endlich, welches erwachsener und vernünftiger als die andern war – da sie überhaupt sahen, daß ich gut sei und ihnen nichts anhaben wolle – tat die Lippen auf und antwortete mir auf manche meiner Fragen. Da erfuhr ich nun, daß sie alle aus den Karhäusern sind und miteinander immer in die Wenner in die Schule gehen. Die Kar ist eine ziemlich weit jenseits der Zirder gelegene Gegend mit denselben Merkmalen der Kalksteinhügel, wie alle andern umliegenden, nur schier noch ärmer und unfruchtbarer als diese. Jedoch ist sie von fleißigen Menschen bewohnt, die ihre Häuser weit zerstreut in die Steine bauten und von dem Boden ihren Unterhalt zu gewinnen wissen. Die Wenner ist eine Häusergruppe in einer ziemlich fruchtbaren und wohlhabenden Gegend, daher sich auch die Schule dort befindet, obwohl in dem Dorfe Gargen, dem unfruchtbaren und dürftigen, die Kirche und die Wohnung meines Freundes, des armen Predigers, steht. Die Kinder der Kar haben bedeutend mehr als eine Wegstunde in die Schule zu gehen. Sie tragen Brot und manchmal auch harte Käse in der Schultasche, diese Dinge verzehren sie unter Mittags, wenn die andern Kinder heimgehen, und gegen Abend, wenn die Nachmittagschule aus ist, wandern sie ihren Weg wieder nach Hause, und bekommen ihr Mittagmahl. Auf meine Frage, wie es im Winter sei, antwortete das Mädchen: »Da gehen wir auch herüber.«

»Wenn aber auf der Wiese Wasser ist, wie heute?«

»So ziehen wir die Schuhe nicht aus, sondern gehen so durch.«

»Wenn aber so viel Wasser ist, daß dasselbe über das Haupt eines großen Menschen zusammen ginge?«

»Dann kehren wir um und gehen wieder nach Hause.«

Die Kinder waren mittlerweile zutraulicher geworden, mehrere redeten drein, ich plauderte mit ihnen, gab Antwort, und immer mehrere drängten sich dichter herzu, um neben mir zu gehen. Ein ungemein kleiner Bube, der noch so aussah, als könnte er gar nicht reden, dessen Körper aber stark und gesund war, bemühte sich, beschmutzt und bespritzt, neben mir her zu laufen und mir sein Täfelchen zu zeigen, auf welchem unter den schwarzen auch rote Buchstaben waren.

Endlich kamen wir zu dem Platze, wo mein Weg seitwärts ging, und ich sagte zu ihnen: »Kinder, seid recht fleißig, ich muß jetzt da hinüber gehen, und ihr geht auf dem Wege gegen die Wenner hinab – behüte euch Gott.«

»Behüte dich Gott«, riefen mehrere, indem sie alle auf ihrem Wege fort liefen, ich aber seitwärts gegen die Gesteine hinein bog, wohin mich meine Geschäfte führten.

Wie geduldig ist doch die Unerfahrenheit und Unschuld der Kinder, dachte ich, wenn sie gelernt haben, folgsam zu sein und auf das Ansehen und das Wort der Eltern hin etwas zu tun, woraus auch der Tod folgen könnte, den sie, wenn auch ihre Lippen seinen Namen nennen, doch noch nicht kennen, und von dem ihr Herz nicht weiß, daß er auf der Welt ist und so viel aus derselben hinweg nimmt.

Ich ging zwischen den Gesteinen, die auf meinem Wege immer wilder wurden, dahin. Ich ging nicht in das Wirtshaus an der Karstraße – denn ich hatte jetzt dort nichts mehr zu tun, weil ich meine Versorgung an Brot auch anderswo einnehmen konnte – und sonst brauchte ich nichts als Brot. Für den Abend hatte ich dann vor, ein sehr gutes Mahl in meinem Gasthause einzunehmen, um mich für die kalten Speisen während der vergangenen achtundvierzig Stunden zu entschädigen.

Ich ging nach einem Orte der Gegend, wo ich meine Leute beschäftigt wußte, um sodann den weiteren Fortgang der Arbeiten zu regeln. Die Steinnester jener unwirtschaftlichen Landschaft setzten uns solche Hindernisse entgegen, daß wir Aussicht hatten, da viel länger bleiben zu müssen, als es auf einem gleichen Flächenraume einer fruchtbaren und gezähmten Gegend der Fall gewesen wäre.

Ich fand die Leute wirklich, und sie waren bereits in Tätigkeit. Einer der Handlanger, dem ich schon manches Gute erwiesen hatte, hatte die Aufmerksamkeit gehabt, mir aus meiner Herberge, wo er die Nacht zugebracht hatte, Wein, Brot und kalten Braten zu bringen. Er hatte nämlich nicht mit Unrecht geschlossen, daß mich das Gewitter irgendwo überfallen habe, daß ich in der Nacht in einem Orte gewesen sei, wo man nichts mehr bekomme, und daß ich daher Mangel leide, weil ich gewiß, um die Arbeit nicht zu verkürzen, den großen Umweg über mein Gasthaus vermieden haben würde. Ich nahm die Sachen an, und machte den Mann durch das gebührende Lob sehr heiter und freudig; denn er war nicht darauf stolz, daß er die Lebensmittel gebracht habe – denn das hätte jeder andere auch getan – sondern darauf, daß er so witzig gewesen, daß ihm das Ding eingefallen ist.

In dem gänzlich heiteren, schönen und verhältnismäßig kühlen Tage ging es nun an ein Messen, Pflöckeschlagen, Kettenziehen, an ein Aufstellen der Meßtische, an ein Absehen durch die Gläser, an ein Linienbestimmen, Winkelmessen, Rechnen und dergleichen, wie es eben mit derlei Arbeiten verbunden ist. Ich dachte den ganzen Tag hindurch keinen Augenblick an meinen Prediger. Dies war nun um so mehr der Fall, da es eine Auszeichnung war, diesen schwierigen Erdwinkel ohne Fehler, sauber, und ansehnlich auf das Papier zu werfen. Ich war daher stolz, diese Arbeit bekommen zu haben, wollte sie vortrefflich lösen, ließ mir keine Nachlässigkeit zuschulden kommen und blätterte oft, wenn es die Zeit erlaubte, meine Blätter durch, um etwas, das mir nicht gefiel, zu verschönern, oder gar neu zu zeichnen. Am Abende aber, da die Leute schon längst zu ihrem Essen gegangen waren, da ich den durch rohe Handarbeit gesammelten Stoff des Tages in Ordnung gebracht und zu der künftigen Zeichnung, Rechnung und Ausführung vorbereitet hatte, dachte ich, da ich bei Zeiten nach Hause ging, um ein gutes Mahl und Lager zu bekommen, vielfach an die vergangene Nacht, und an den seltsamen Haushalt des so armen und sonderbaren Predigers. Aber die Ankunft in meiner Herberge, die Einnahme meines Essens, die Zurechtlegung der am Tage gewonnenen Blätter und der darauffolgende Schlaf verwischten mir alle Eindrücke wieder.

Ich würde wahrscheinlich den Mann in kurzer Zeit gänzlich vergessen haben; denn bei meinen Geschäften, die mich in die verschiedensten Gegenden führten und mich mit vielen Menschen bekannt machten, habe ich allerlei sonderbare Menschen kennen gelernt, habe große Torheiten und mitunter großes Unglück getroffen, und habe dasselbe, wie sehr es mich auch in der Gegenwart angriff, doch wieder vergessen müssen: aber ein Zufall brachte mich neuerdings mit dem Prediger in Verbindung, daß ich ihn nicht mehr vergessen werde, weil ich ihn durch diesen Zufall näher kennen gelernt habe, ja weil mir der Mann einen großen Teil seines Herzens und seines Innern aufgeschlossen hat.

Ich mußte, weil sich meine Arbeiten in weitere Gegenden zogen, meinen Standort in dem Wirtshause an der Karstraße aufgeben, und mir einen andern suchen. Durch Zufall war die Mitte meiner Geschäfte sehr nahe an dem Pfarrhause des Dorfes Gargen, und durch einen zweiten Zufall fand ich in einem netten Häuschen in der Nähe des Pfarrhofes Unterkunft. Die Leute des Häuschens gaben mir eine freundliche Stube, in welcher ich den Abend und die Nacht zubringen konnte, und sie kochten mir des Abends mein Fleisch, welches sie von der Wenner herüber geholt hatten. Meine Leute hatten sich in das Wirtshaus in der Wenner eingefunden.

Es war nun in dieser Lage ganz natürlich, daß ich nicht nur viel öfter mit dem Prediger zusammen kam, sondern daß ich auch viel über ihn hörte, ohne daß ich eben die Leute eigens über ihn auszufragen brauchte.

Es war wirklich wahr, woran ich wegen seiner eigenen Aussage ohnehin nicht gezweifelt habe, daß er alle Nacht auf einer bloßen Bank schlafe, und als Unterlage unter das Haupt nur ein großes Buch habe. Er hat dies nicht immer getan, aber zu einer Zeit, auf die man sich nicht mehr recht erinnern könne, habe er mit dieser Handlungsweise begonnen. Er kleide sich auch nicht aus wie andere Leute, wenn sie schlafen gehen, sondern er lege statt der weggetanen Oberkleider ein Wollkleid an, in dem er schlafe. Nur wenn der Tag sei, an dem er die Wäsche zu wechseln pflege, ziehe er sich aus, und ändere die Kleider, die zunächst an seinem Leibe liegen. Die andern, welche das Obergewand bilden, trage er so lange, daß sich niemand mehr erinnern könne, wann sie einmal neu gewesen wären. Auch habe er nur immer höchstens zwei Anzüge, deren einen er an den Wochentagen, den andern an Festtagen trage. Sie werden beide vielmal geflickt und ausgebessert, und unter allen Eingepfarrten könnte sich keiner rühmen, seine Kleider so lange zu tragen und bei gänzlich verfallener Gestalt doch noch bei so ziemlich äußerem Anscheine, als wären sie etwas, herzuhalten, als der Pfarrer.

Er war auch nicht immer so gegangen, sondern ältere Leute wollen sich entsinnen, daß er bei seiner Ankunft ganz ehrenhaft angetan gewesen sei. Den Pfarrhof habe er in verschiedenen Zeiten an verschiedene Leute vermietet, so daß ihm immer nur zwei ebenerdige Gewölbe, gleichsam zwei Keller oder nur armselige Hausfluren zur Wohnung geblieben seien, an die sich das Gemach für Sabine, seine Haushälterin, und ein Fach für allerlei nötiges Geräte und Gerümpel anschlossen. Sabine sei schon lange bei ihm und werde auch bei ihm bleiben, da sie zu erben hoffe, obwohl sie so alt sei, daß nach der Ordnung der Dinge eher er von ihr, als sie von ihm erben könne. Seine Nahrung sei so einfach als möglich, und weil er sich schäme, daß die Leute sehen, was er abends verzehre, gehe er allemal zu dieser Zeit spazieren und esse in der Dämmerung, wenn er heimkehre, so daß ihn niemand sehen könne, ein Stück schwarzen Brotes.

Das letztere, dachte ich, dürfte wahr sein, da ich ihn selber einmal, ohne daß er mich bemerkte, in der Dämmerung heimgehen und an einem Stücke schwarzen Brotes essen gesehen habe.

Wenn er krank sei, erzählten die Leute, suche er keinen Arzt in das Haus zu ziehen, nehme auch keine Heilmittel ein, sondern liege dahin, faste, und warte, bis er gesund werde.

Die Einkünfte der Pfarrei seien sehr gut – das heißt, dachte ich, in dem Sinne und der Schätzung dieser dürftigen Leute sehr gut – einen recht kleinen Teil derselben verwende er zu Almosen, wo die einzelnen Posten schon sehr genau eingeteilt wären, und das andere bleibe über; denn seine eigenen Bedürfnisse seien kaum zu rechnen, und werden überflüssig durch das Mietgeld des Pfarrhofs ersetzt. Wenn er nicht in Amtsgeschäften sei, oder sich in dem Garten befinde, gehe er in der Gegend herum oder sitze irgendwo und schaue die Gegend und die andern Dinge an. Er habe gar keine Verwandten; denn es sei in den Jahren, als er sich zu Gargen befinde, noch nie jemand in dem Pfarrhause zum Besuch gewesen, wenn es nicht etwa ein entfernter anderer Prediger war, welche dann auch nicht mehr kamen, oder ein Wanderer, der von Schnee oder sonstigem Unwetter überfallen wurde, und in der Pfarre Schutz suchte. Alle Vorgänger des Predigers seien immer nur kurze Zeit auf der Pfarre Gargen gewesen; er allein sei nicht nur schon sehr lange da, sondern es habe den Anschein, daß er auch bis an sein Lebensende da bleiben werde.

Viele Menschen – ich getraue mir nicht zu sagen: alle – hielten ihn für geizig und schrieben seine ganze Lebensweise diesem einzigen herrschenden Laster zu.

Ich konnte nicht übereinstimmen, denn so wie ich, seit ich in der Gegend und so nahe an ihm war, öfter mit ihm zusammen kam, viel mit ihm redete und manchen Abendspaziergang mit ihm machte: so sah ich immer ein zwar schüchternes, aber zu jeder Zeit klares, ruhiges und zufriedenes Auge, was dem Geize niemals und durchaus nicht eigen ist; denn zu der Furcht und Angst, das Geld zu verlieren, in welcher der Geizige jeden Augenblick schwebt, gesellt sich noch die Gier, immer mehr zu sammeln, und der Kummer, daß das arme menschliche Leben viel zu kurz ist, um ein Hinreichendes zusammen zu bringen. Dies alles, wie sehr er es auch übrigens zu verbergen strebte, gibt dem Auge des Geizigen etwas unheimlich Loderndes, etwas zurückgehalten Unstettes und etwas Lauerndes; die Augen unseres Predigers aber loderten nicht, sondern blickten in einfachem, wenn auch nicht zu starkem Glanze – sie waren nicht unstett, sondern sahen geduldig oft recht lange auf den nämlichen Gegenstand hin, – und vom Lauern war endlich ganz und gar nichts vorhanden, sondern es lag eher eine zu große, ich möchte sagen, beinahe unverständige Einfachheit darinnen. In seinem Benehmen, wie unvorteilhaft, gedrückt und von der leichten Art der Weltbürger abweichend es auch sein mochte, zeigte sich doch Wohlwollen und Zuvorkommenheit, und gerade in der Art, den andern recht zu tun, sich unterzuordnen, offenbarte sich sein Absehen von sich selbst, und eine Aufopferung seiner selbst, die der Geiz nicht kennt, der unwillkürlich und wider Willen selbstsüchtig ist, sogar da, wo das Gegenteil in seinem Sinne vorteilhaft wäre, weil er das Bild von Freigebigkeit und Großmut, das er als Lockung hinstellt, immer ohne Wissen mit seinen innern Zügen von Gier und Schmählichkeit befleckt. Das einzige, was unbestimmt in dem Benehmen des Predigers war, floß von der Scham her, die er über seine Armut haben mußte.

Ich habe auch mehrere Predigten von ihm gehört. Wenn sie gleich nicht durch ungemeine Verständigkeit ausgezeichnet waren, so lag doch ein solcher Duft von unbewußter und unabsichtlicher Güte darinnen, daß sie recht linde in seine Zuhörerschaft einzugehen schienen und auf mich, obwohl ich seinen Beweisführungen gar viel entgegen zu sagen gewußt hätte, eine Bewältigung ausübten.

Da ich jetzt so nahe war, kam ich auf seinen Abendspaziergängen häufig mit ihm zusammen, die Freundschaft befestigte sich, wir gingen mit einander in den Steinwerken herum und sprachen über allerlei Dinge; aber deßungeachtet würde dieser Umgang nicht die Ursache geworden sein, daß ich einen so tiefen Blick in das Herz dieses seltsamen und verwaisten Menschen tat, wie es wirklich in der Folge geschah, wenn sich nicht etwas anderes ereignet hätte. Er wurde nämlich krank. Ich besuchte ihn, wie er in dem Innern seiner zwei Zimmer lag. Man hatte ihn dazu vermocht, die Bank dieses Zimmers zu wählen, weil doch auch ein Tisch und einige Stühle da waren. Wir taten ihm die Decken, auf denen ich in der Gewitternacht geschlafen hatte, unter den Leib, was er zuließ, und gaben ihm eine Hülle, sich zuzuhüllen. Ich sage: »wir«; denn außer der alten Sabine, die aber selber schier immer eine Krankenwärterin gebraucht hätte, war auch in der Sache noch jemand anderer tätig: nämlich das wunderschöne neunzehnjährige Mädchen, welches in dem ersten Stockwerke des Pfarrhauses wohnte, und welches ich einmal bei einem Fenster herausschauen gesehen hatte. Sie war die Tochter eines verwitweten Mannes, der in einem Amte gestanden, dann in den Ruhestand versetzt worden war und der seinen geringen Ruhegehalt jetzt hier, in der Gegend, wo er geboren worden war, verzehrte. Er hatte den Umstand, daß der Pfarrer seine Zimmer vermietete, benützt und sich in denselben eingemietet, daß er immer den Schauplatz vor Augen habe, in dem er seine Kindheit zugebracht hatte, und der ihm trotz der Ärmlichkeit doch reizend vorkommen mußte. Das Mädchen hatte die Magd ihres Vaters angestellt, daß sie dem kranken Prediger Beistand leiste, wenn er etwas brauche, und sie selber kam öfters herab, trat mit dem freien Haupte und dem lieblichen Angesichte vor das Bett und fragte ihn, ob er etwas bedürfe. Der Pfarrer schämte sich jedesmal, wenn das liebliche Kind in das Zimmer trat, er regte sich nicht und zog die Decke bis an das Kinn über seinen Körper.

Da die Krankheit mehr einen langen als gefährlichen Lauf nahm, so verrichtete ich meine Tagesgeschäfte wie gewöhnlich; nur am Nachmittage und Abende, wo ich sonst im Müßiggange gerne in der Gegend herumgeschlendert war, besuchte ich den kranken Prediger. Was ich auf meinen Papieren daheim zu rechnen und zu schreiben hatte, tat ich in der Nacht. Er lag so dahin, und seine Haare wurden während der Krankheit vollends weiß, und die Knochen seines hagern Angesichtes wurden höher.

Er war auch diesmal nicht zu bewegen gewesen, einen Arzt anzunehmen oder Arznei über seine Zunge kommen zu lassen.

Ich wurde schon so gewohnt, wenn ich meine Leute entlassen hatte, sogleich meine Sachen zusammen zu packen, nach Hause zu gehen, mein einfach hergerichtetes Essen zu verzehren und mich dann in den Pfarrhof hinüber zu begeben, um immer auf dem nämlichen Stuhl an dem Bette des kranken Pfarrers zu sitzen, daß ich gar nicht mehr an den Himmel schaute, was wir für ein Wetter bekommen werden und ob es zuträglich sein würde, einen Spaziergang zwischen den sonderbaren Kalksteinhügeln zu machen. Der Pfarrer schien das Opfer, wofür er meine Besuche halten mochte, sehr freundlich aufzunehmen. Ich saß an dem Tische, den man neben das Kopfende des Bettes gestellt hatte, und erzählte ihm verschiedene Sachen: wo wir heute gewesen waren, was wir gearbeitet hatten, wie sich das Wetter angelassen habe, ob es heiß gewesen sei, ob die Brombeeren an dem Kulterloche schon reifen und wie stark der Kalk in der Verwitterung begriffen sei und in die Zirder falle. Er lernte nach und nach unsere ganze Verfahrungsweise bei dem Abmessen kennen, daß er vielleicht nach seiner Genesung keinen ungeschickten Arbeiter abgegeben haben würde. Er sah mich hierbei oft mit den unzweideutigen Zeichen der Zuneigung und der Liebe an. Die Krankheit mochte auch den Mann, der immer einfach und verschlossen gewesen war, weicher gestimmt haben.

Eines Tages, da er in der Genesung schon sehr weit vorgerückt war, so zwar, daß er schon manche Mittagsstunde außerhalb seines Lagers an dem vergitterten Fenster seines Zimmers zubringen konnte, sagte er zu mir, als ich mich entfernen wollte, ich möchte noch ein wenig bleiben. Es war eben sein Mietmann des ersten Stockwerkes bei ihm gewesen, der ihn äußerst selten während seiner Krankheit besucht hatte und heute länger da geblieben war, weil er meinem Gespräche zugehört hatte.

»Ich habe mir schon seit länger her vorgenommen,« sagte der Prediger zu mir, »mit Ihnen von einer Sache zu sprechen, die mir sehr wichtig ist, aber heute wollte ich es ganz gewiß tun, weil ich mich sehr wohl befinde, und weil Sie gestern gesagt hatten, daß Sie heute sehr früh kommen würden; allein da ist der Mann da gewesen und hat uns alle Zeit genommen.«

»Wenn es sich um sonst nichts handelt, als um die Zeit,« antwortete ich, »so trifft es sich heute gerade sehr günstig, denn ich habe nichts mehr zu tun, da ich zu dem Stoffe, den ich zu verarbeiten habe, noch den morgigen Tag brauche, damit er völlig gesammelt werde. Morgen hätte ich weniger Zeit. Wenn es also Ihre Kräfte zulassen, daß Sie eine Weile noch mit mir reden, so sprechen Sie ungescheut, ich kann so lange da bleiben, als es Ihnen nur immer gefällig ist.«

»Meine Gesundheit ist recht gut,« erwiderte er, »ich werde dieses Mal sehr bald aufstehen können, und wenn es Ihre Zeit erlaubt, so bleiben Sie noch ein Weilchen bei mir.«

Ich setzte mich bei diesen Worten wieder an den Tisch auf meine gewohnte Stelle nieder, denn ich war schon gestanden, um mich bald zu entfernen.

»Ich werde Ihnen sagen,« begann er, »wo ich mein Testament habe, und Sie werden mir einen großen Dienst erweisen, wenn Sie nämlich so freundschaftlich sein wollen, daß Sie nach meinem Tode dorthin gehen und fragen, ob es zum Vorscheine gekommen ist und ob man es erfülle.«

»Wir Menschen stehen alle in Gottes Hand,« antwortete ich, »und der eine kann früher sterben und der andere später. Wenn es die Vorsehung so fügen sollte, daß Sie eher das Zeitliche verlassen müssen als ich, so will ich sehr gerne tun und verrichten, was Sie mir zu tun und zu verrichten anvertrauen wollen.«

»Das ist recht gut und freundschaftlich von Ihnen,« sagte er, »Sie haben immer viel Nachsicht mit mir gehabt, und ich wußte es, daß Sie mir die Freundschaft erzeigen werden. Ich habe viel Gnade und Güte auf dieser Erde genossen, und nun schickt mir der Himmel Sie, daß Sie mir in der Not helfen. Ich habe nämlich in meiner Krankheit immer darauf gedacht, daß es so gefährlich sein könnte, wie es ist, und daß ich jemanden bitten müsse, der mir beistehe, daß die Gefährlichkeit geringer werde.«

Er wendete sich nach diesen Worten auf seinem Lager um, daß sein Angesicht gegen mich herschaute, und er richtete seine klaren Augen auf mich, während er im Bette beinahe halb saß und die ersten Spuren der beginnenden Dämmerung in dem Gemache bemerkbar wurden. »Ich bin der Sohn eines wohlhabenden Gewerbsmannes,« fuhr er fort, »eines Lederhändlers. Wir hatten weit von hier ein Haus, das groß und geräumig war, und viele Höfe und Fächer hatte, die zur Betreibung des Handwerkes dienten. Am liebsten erinnere ich mich noch des schönen Gartens, der bei dem Hause war. In den Räumen gingen die von ihrer Arbeit in ihren Leinenkleidern fast gelbbraun gefärbten Gesellen herum, in dem großen Gewölbe zu ebener Erde, und auch in den zwei kleinen lagen Lederballen, auf den Stangen des Trockenbodens hingen Häute, und in den großen Austeilzimmern wurden sie von einander gesondert, und die gleichbedeutenden zu einander gelegt. In den Ställen waren vier Pferde, und in dem Garten war ein Gärtner, der allerlei Früchte und schöne Blumen erzog. Solchergestalt erinnere ich mich der Dinge. Mein Vater war ein großer, starker Mann, der immer in den Räumen des Hauses herum ging und ansah, ob alles recht geschehe. Er ging nie in eine Gesellschaft, außer wenn es sein Geschäft erforderte, sonst war er zu Hause, und wenn er nicht nach der Arbeit sah, saß er in dem großen Gewölbe an dem Schreibtische und schrieb. Von einer Mutter habe ich gar keine Vorstellung. Man erzählte uns, daß sie bei unserer Geburt gestorben sei. Ich hatte nämlich noch einen Bruder, und wir waren Zwillinge. In dem ersten Stockwerke des Wohnhauses war hinter der Küche gegen den Obstgarten hinaus eine große Stube. Dort wohnten wir und hatten einen Lehrer, der gleichfalls mit uns in der Stube schlief und uns in den notwendigen Dingen unterrichtete. Mein Bruder lernte sehr leicht, ich aber konnte mir die Sachen nicht merken. Wir lernten die Erdbeschreibung und die Naturgeschichte, das Rechnen, Briefschreiben und andere Dinge. Als wir in den lateinischen Schulen unterrichtet worden waren, sagte der Vater, jetzt müßten wir das Gewerbe lernen, damit wir es einmal in Gemeinschaft, wie es uns zufallen würde, fort treiben könnten. Wir kamen unter die Aufsicht eines Arbeiters, der uns unterrichten mußte, und schliefen in der großen Stube unter den Arbeitern. Ich machte es genau so, wie es uns unser Lehrer zeigte, und wie ich es von den andern Arbeitern machen sah, aber ich konnte nichts Rechtes zuwege bringen. In jener Zeit saßen die Gesellen manchmal bis tief in die Nacht in ihrem Zimmer, und ich holte ihnen dann Wein und andere Sachen, die sie brauchten.

»Nach längerer Weile wurde unser Vater krank. Er lag nicht, aber er ging auch nur so herum wie ein Abgelebter und nahm sich der Geschäfte nicht mehr an. Ich verstand es nicht, wie krank er sei, und hatte bei dieser Lage der Dinge nur Muße, zu tun, was ich wollte. Ich dachte damals immer, ich möchte doch wissen, warum ich denn die lateinische Sprache so schwer erlernt habe, und ich möchte die Sache untersuchen. Ich ging daher auf die hintere Stube, in welcher wir schon lange nicht mehr wohnten, um nach dem lateinischen Buche zu suchen. Die Stube war zu nichts verwendet worden, nur die Betten hatte man daraus fortgenommen, und das andere gelassen, wie es war. Der Tisch stand noch da, wie wir daran gelernt hatten, und zeigte noch die Tintenbäche, die uns darauf geflossen waren, und die Gestalten, die wir in sein Holz hinein geschnitten hatten. Ich fand das lateinische Buch in der Lade, und alle die andern Bücher und Schriften fand ich nach und nach in den Fächern der Stehkästen. Ich setzte mich mit dem Buche zu dem Tische mit den Tintenbächen nieder und lernte den Anfang desselben. Ich lernte nur weniges, aber ich verstand es recht gut und merkte mir es auch sehr gut. Am andern Tage ging ich wieder in die Stube und lernte ein wenig weiter und wiederholte das am Tage zuvor Gelernte. So tat ich es fort. Gott gab mir die Gnade, daß ich alles verstand, und daß ich mir alles merkte. Ich suchte endlich unsere Aufgabe-Schriften hervor und machte die damaligen Aufgaben noch einmal. Wenn ich dann in den Ausbesserungen, die unser Lehrer, der jetzt schon weit entfernt auf einer kleinen Pfarre lebte, einst mit roter Tinte gemacht hatte, nachsah, so entdeckte ich, daß ich nun meistens gar keinen Fehler gemacht hatte oder höchstens einen, während damals lauter rote Striche schier durch alle Worte waren, die ich geschrieben hatte. Man beobachtete mein Tun im Hause nicht, und legte mir keine Hindernisse in den Weg. Ich sagte auch keinem Menschen ein Wort, und dachte mir die freudige Überraschung, wenn ich einmal hervortreten würde und sagen dürfe, daß ich nun alles sehr gut könne, was wir einstens mit unserm geliebten Lehrer hätten lernen sollen; denn ich habe nach und nach auch alle andern Bücher und Schriften herausgetan und sie nachzuholen begonnen.

»Plötzlich starb der Vater. Mein Schreck war fürchterlich; denn ich hatte gar nie gedacht, daß er so krank sei. Im ersten Schmerze ging alles durcheinander. Wir wohnten den Trauerfeierlichkeiten bei und trugen die schwarzen Kleider und Flöre.

»Endlich sagte mir einmal mein Bruder, daß die ganze Last des Geschäftes jetzt auf uns liege, und daß wir uns der Führung derselben unterziehen müßten. Ich entdeckte ihm nun, was ich unterdessen getan habe, und daß ich jetzt in allen Fächern fest sei, in welchen wir als Knaben unterrichtet worden waren, und welche ich nicht gelernt hatte. Er antwortete mir: ›Das ist jetzt zu spät, und zu unserm Berufe ist dir das Latein, die Naturgeschichte und die Erdbeschreibung unnütz.‹ Ich erwiderte ihm hierauf, daß ich die Arbeiten, welche zu unserem Geschäfte notwendig sind, von jetzt an auch so lernen werde, wie ich diese Schulfächer gelernt habe. ›Aber dann wirst du zu einer Zeit fertig werden,‹ antwortete er mir, ›wenn unsere Handlung bereits zu Grunde gegangen ist.‹ Ich sah ein, daß er recht habe, und daß er die Dinge besser verstehe als ich.

»Er ließ mich in der hinteren Stube, wo ich auch eine griechische Sprachlehre gefunden hatte, in welcher ich anfing, langsam diese Sprache zu lernen. Er ließ mir sogar ein Bett und schönere Einrichtungsstücke in die Stube stellen, was mich sehr freute. Nach einer Zeit kam er einmal mit einem Gerichtsmanne und setzte mir aus den Verlassenschaftsschriften auseinander, was mir gehöre, daß wir nämlich die Handlung fortführen sollen, und die Einkünfte nach Belieben verwenden könnten. Er gab mir von Zeit zu Zeit das Geld, welches ich aus der Geschäftsführung als mein Eigentum beziehen durfte. Ich wohnte gänzlich in der hintern Stube.

»Einmal stellte er mir vor, daß mein Lernen doch zu etwas führen müsse, und daß ich einen Stand auf der Welt ergreifen solle. Er meinte, daß ich ein Prediger werden könnte. Ich stimmte bei, man ordnete in dem Hause meine Ausstattung, und als der Anfang des nächsten Schuljahres kam, reiste ich auf die Schule ab.

»Ich mußte weit von vorne anfangen, ich lernte sehr fleißig, kargte mir die Zeit bei der Nacht ab, die zu dem Schlafe bestimmt ist, meine Lehrer waren mit mir zufrieden, und mir zitterte innerlich das Herz vor Freude, daß mir Gott die Gnade sollte gewähren, in den heiligen Stand eines Verkünders seines Wortes eintreten zu können.

»Es waren schon beinahe alle Jahre vergangen, die ich zur Erreichung meines Zieles zu verwenden hatte, da erhielt ich einmal einen Brief von meinem Bruder, in welchem er mir anzeigte, daß er durch zwei Handelschaften, die ihre Pflichten nicht mehr erfüllen konnten, um all unser Vermögen gebracht sei, und daß er die Gläubiger unseres Geschäftes nicht mehr werde befriedigen können. Ich reisete auf der Stelle zu ihm. Als ich ankam, war alles in Verwirrung und Bestürzung, denn er hatte seine Not erklärt, und die Leute kamen, ihre Forderungen anzumelden. Ich gab ihm mein Geld, welches ich in den Jahren her erspart hatte, denn ich brauchte nicht viel, und es war mir schier alles übrig geblieben. Insbesondere hatte er mir gegen die letzte Zeit, wo das Geschäft viel blühender wurde, große Summen geschickt. Er aber nahm das Geld nicht an, und sagte: ›Behalte es dir, es würde doch nichts nützen.‹ Ich behielt es aber nicht, ich sagte, daß es Handelsgut sei, und gab es den Gläubigern, damit sie es nach Maßgabe unter sich verteilten. Das ganze Haus mit samt meiner Hinterstube wurde verkauft, der schöne Garten wurde verkauft. Die Pferde, der Wagen wurden verkauft, und auch ein Feld samt einem Bauernhause, das der Bruder erst in der letzten Zeit angeschafft hatte, wurde verkauft. Alles, was einen Wert hatte, mußte hingegeben werden. Die Gesellen arbeiteten teils bei den neuen Herren, teils gingen sie in die Fremde.

»Der Bruder, welcher zum Glücke noch nicht geheiratet hatte, weil er immer sagte, daß er noch zu jung sei, grämte sich so sehr, daß er in ein Fieber verfiel und starb. Ich ging allein mit der Leiche, und mehrere andere arme Menschen, denen er in seinem Leben wohl getan hatte. Nun war kein einziger Verwandter von mir mehr da; denn mein Vater war einmal als Findelkind von der Fremde eingewandert, und hatte das große, ausgebreitete Geschäft gegründet.

»Ich verkaufte einige Sachen, die mir noch geblieben waren, und reiste zu der Schule zurück. Ich hatte durch das Schicksal, das meinen Bruder traf, ein Jahr verloren. Dasselbe begann ich dann wieder von vorne, als die großen Ferien zu Ende gegangen waren, und die Schulen wieder angefangen hatten. Die Vorsehung, welche mir schon so viel Gutes getan hatte, verlieh mir auch Unterrichtsstunden, die ich gab, damit ich mir das Notwendige zu meinem Auskommen erwerben konnte. So erreichte ich es endlich, was ich vor einigen Jahren noch für ein kaum zu hoffendes Glück gehalten hatte, daß ich Priester wurde – ja, ein Freund der Familie, deren Kinder ich unterrichtet hatte, verschaffte mir sogar eine Predigerstelle, von der sie zwar sagten, daß sie klein und unbedeutend sei, die aber doch – ich müßte lügen, wenn ich es anders sagte – ihren Mann, wenn er nur das Seinige zusammen zu halten verstand, ernährte.

»Um jene Zeit geschah etwas, das ich damals für sehr schmerzhaft hielt, das aber Gott in seiner weisen Gerechtigkeit über mich verhängte, und wodurch er mich zu läutern versuchte. Ich muß ein wenig weiter in der Geschichte zurück gehen, um es Ihnen zu erzählen.

»Als ich noch in der Hinterstube saß und lernte, sah ich immer sehr schöne weiße Tücher und andere Wäsche an langen Schnüren in einem kleinen Gärtchen, das an den unsrigen stieß, aufgehängt. Ich sah sie recht gerne und blickte oft darauf hin. Wenn sie trocken waren, wurden sie in einen Korb gesammelt, während eine Frau dabei stand und es anordnete. Dann wurden wieder nasse aufgehängt, nachdem die Frau die zwischen Pflöcken gespannten Schnüre mit einem Tuche abgewischt hatte. Diese Frau war eine Witwe. Ihr Gatte hatte ein Amt gehabt, das ihn gut nährte. Bei seinem Tode hatte zufällig auch der Herr, in dessen Diensten er gestanden war, das Zeitliche gesegnet, und der Sohn gab der Witwe nur ein Weniges, daß sie nicht vor Hunger sterbe. Sie mietete sich daher in einem kleinen Häuschen, unserem Garten gegenüber, ein, und begann für alle Leute, die etwas brachten, feine Wäsche zu besorgen – und sie mußte viel zu tun haben, weil ich immer, wenn ich hinaus schaute, die weißen Dinge auf den gespannten Schnüren des Angers hängen sah. Unser Garten hatte ein Gittertor, gerade auf diesen Anger hinaus, welches Tor aber seit Kindesdenken immer geschlossen war. Ich ging zuweilen an dieses Tor, legte mein Angesicht zwischen die Gitterstäbe und schaute auf den Anger hinüber. Einmal, da ich wieder den Anger, die Pflöcke, die weißen Leinenstücke anschaute, ging ein Kind – aber es war doch schon ein erwachsenes Mädchen – aus der Tür des Häuschens heraus und trug in einem länglichen, sehr leichten Korbe, den sie mit beiden Händen vor sich her hielt, weiße, trockene, recht leicht aufgelockerte Wäsche. Es waren Krausen, Vorhemden, und dergleichen – ich erinnere mich noch sehr gut darauf. Das Mädchen ging auf dem Angerwege hart an dem Tore vorüber, und sah mich an. Sie war die Tochter der Frau, wie ich nach der Zeit erfahren habe. Später sah ich sie wieder, wie sie entweder auf den Anger heraus ging oder unter der Türe erschien, oder am Fenster stand und lernte. Sie trug immer die Wäsche zu den vornehmen Leuten und war selber immer sehr rein mit einem weißen Schürzchen gekleidet, so wie die Mutter auch immer eine schöne weiße Krause um das Angesicht hatte. Der Weg vor dem Gartenhäuschen ins Freie führte an unserem Gittertore vorüber, und ich stand mehrmals an demselben, wenn die Stunde war, daß sie die Wäsche fort trug. Sie schämte sich allemal, wenn sie vorüber ging, und nahm sich in ihren Kleidern und in ihrem Gange zusammen. Eines Tages, da ich sie kommen sah, legte ich schnell einen sehr schönen Pfirsich, den ich zu diesem Zwecke schon vorher gepflückt hatte, durch die Öffnung der Gitterstäbe hinaus auf ihren Weg und ging in das Gebüsch. Ich ging so tief hinein, daß ich sie selber nicht sehen konnte. Als sie fortgegangen und wieder zurückgekommen war, ging ich an das Gitter, um nachzusehen. Der Pfirsich lag noch da, ich nahm ihn wieder herin. Das nämliche geschah nach einiger Zeit noch einmal. Beim dritten Male blieb ich stehen, da der Pfirsich mit seiner sanften roten Wange im Grase lag, und sagte, da sie in die Nähe kam: ›Nimm ihn.‹ Sie blickte mich an, zögerte ein Weilchen, bückte sich und nahm die Frucht. Ich weiß nicht mehr, wo sie dieselbe hingesteckt hatte, aber das war gewiß, daß sie sie genommen hatte. Ich tat dasselbe dann mehrere Male, und reichte ihr zuletzt den Pfirsich mit der Hand durch das Gitter. Sie brachte mir Pflaumen, Nüsse und einmal ein Stück Kuchen. Endlich kamen wir auch zum Sprechen. Was wir geredet haben, weiß ich nicht mehr; aber es war ganz gewöhnliches Ding. Sie zeigte mir, wenn sie das Körbchen hatte, die Wäsche, tat die Stücke eines über das andere hervor und nannte sie mir. ›Das ist recht schön, das ist recht schön,‹ sagte ich einmal. ›Ja, das ist schön,‹ antwortete sie, ›die Wäsche ist ein so großes Gut, daß sie in dem Hause gleich nach dem Silber kommt.‹ Sie selber hatte immer so schöne, feine Wäsche, wenn das Hemd zufällig an dem Mieder oder Handknöchel hervorguckte oder wenn sie die Schürze um hatte. Ich fing von diesem Augenblicke an, mir sehr feine Wäsche und Silber zu kaufen. Ich konnte es von dem Gelde, das mir der Bruder gab. Ich brauchte in allem andern so wenig, ich sparte jedes, ich hielt auf Kleider nichts und kaufte mir von dem Überschusse Wäsche und Silbergeräte. Die Wäsche sahen sie in unserem Hause, das Silbergeräte versteckte und versperrte ich sorgfältig in meinem Laden. Einmal, da wir wieder an dem Gitter standen und sprachen, hörten wir die Mutter rufen: ›Susanna, schäme dich.‹ Wir liefen auseinander, und von diesem Augenblicke an schämten wir uns wirklich. Wir gingen nicht mehr an das Gitter zusammen, ich versteckte mich, wenn sie des Weges kam, in das dichteste Gebüsch, daß kaum die Augen hervor sahen – diese Augen aber blickten begierig auf sie, sie sah dieselben und ging purpurrot in dem Angesichte vorüber.

»Als ich schon in den Schulen war, versprachen wir uns einmal in den Ferien, daß wir uns lieben wollten, und daß wir aufeinander warten würden. ›Nein, Susanna,‹ sagte ich, ›du kannst ein Glück machen, ich hindere dich nicht, aber ich will auf dich denken, und wenn ich fertig bin, komme ich und frage, ob du noch frei bist.‹

»Ich lernte fleißig, wie ich es nur immer konnte, ich kaufte noch gelegentlich Silbergeräte und ordnete oft die Stücke, daß sie schön stünden – auch an Wäsche legte ich Vorrat bei und ordnete sie. Ich habe gar nie geschrieben und gefragt. Als ich die Predigerstelle erhalten hatte, erkundigte ich mich wegen ihr, und erfuhr, daß sie schon verheiratet sei. Ich habe gemeint, ich müsse mich schier zu Tode weinen – aber es war töricht; sie ist ja in eine sehr gute Wirtschaft gekommen, sie hat es gut und hat, wie alle Leute versicherten, einen sehr vorzüglichen Mann erhalten, der ihre Mutter ehrt und pflegt. Wie gut ist es, daß es so gekommen ist. Was hätte sie an mir gehabt? Nun war ich auch noch dazu ganz arm. Das Silber hatte ich nach dem Unglücke des Bruders verkauft, daß ich das Geld auch den Gläubigern zulege, und die Wäsche hätte ich auch verkauft, aber da sagte mir ein Mann, daß die grobe, die ich mir dafür nach und nach einschaffen müßte, mehr kosten würde, als ich für diese bekäme. Da behielt ich sie und trug sie bis heut zu Tage allmählich ab. Es ist eine Hoffart, ich schäme mich; darum drücke ich sie auch immer unter das Kleid zurück, wenn sie irgendwo hervor steht. Sie wird doch auch bald enden. Ich nahm damals in der ersten Pfarre mein Gemüt zusammen, erleichterte es durch Demut und opferte es von nun an Gott auf. Er hat mir eine Gnade erwiesen, daß Susanna so gut versorgt war.

»Nach langer Zeit kam ich hieher. Die Leute sagten, daß die Gegend sehr häßlich und die Pfarre sehr schlecht sei; aber es ist beides nicht wahr. Unter meinen Vorgängern ist keiner lange hier geblieben, sie suchten immer wieder fort zu kommen. Ich werde aber hier bleiben bis zu meinem Ende. Ich werde schon alt, und weil die andern einsichtsvoller sind, so habe ich nie angesucht, weg zu kommen. Ich bin ganz allein, und die Vorsehung hat mir schon etwas zu tun gegeben. Sie kennen nämlich den Steg über die Zirder, der auf meine Wiese herausgeht. Das werden Sie als Landesmesser auch bemerkt haben, daß die Zirder oft austreten und die Wiese überschwemmen muß. Da stand ich nun oft an dem Fenster meines obern Geschosses und sah auf den Steg, auf den jenseitigen Berg und auf die Zirder hinaus. Nun ist es aber hier so eingerichtet, daß die Kinder aus den Karhäusern und auch noch aus anderen Gegenden – viele Eltern schicken sie nur nicht – gar nach der Wenner in die Schule gehen müssen. Die Wenner liegt diesseits des Flusses. Wenn ich daher so hinausschaute, sah ich die Kinder über meine Wiese gehen, und sah auch, wie oft sie wadeten. Da zog das erste, wenn es über den Steg gekommen war, die Schuhe aus, schürzte sich auf und ging mit den Füßlein in das Wasser. Das zweite, dritte tat auch so, und die ganze Schar ging in dem Wasser dahin. Im Winter ist es ärger, wenn Schneemassen, Eisrinden und Erdschollen durcheinander schwimmen und die Kinder in ihrer Unwissenheit mit ihren schlechten Schuhen und Stieflein hinein stiegen und drinnen fort gingen. Endlich aber wissen Sie ja, wie ein reißendes Wasser die Zirder sein kann, wenn sie durch plötzliche Regen oder Schneeschmelzen anschwillt. Da kömmt sie in einem Augenblicke daher, nimmt meine Wiese unter Wasser, umflutet jenseits den Steg, daß er wie eine Insel allein da steht, – ja bei den dreimaligen Wolkenbrüchen ist er während meiner Pfarrverwaltung selber schon weggerissen worden. Da konnte nun ein Kind, zwei Kinder, die ganze Schar der Kinder weggeschwemmt werden. Sie sind unvorsichtig und unwissend, sie gehen in dem Wasser fort, bis es in Macht daher kommt und sie weg nimmt. Dieses erkannte ich und sah es ein, daher war es meine Pflicht, da abzuhelfen; Gott würde das Leben der Kinder von mir fordern können. Ich fing also an zu sparen, damit nach meinem Tode eine so große Summe vorhanden sei, daß man jenseits des Steges in den Karhäusern oder sonst irgendwo eine Schule gründen könne. Ich tat so viele überflüssige Dinge weg, die man in dem Leben hat, damit das Ersparnis dem Zwecke zu Gute komme. Ich vermietete mein Haus, schaffte die überflüssigen Speisen ab, und legte mich draußen auf die Bank schlafen, das heilige Buch der Bücher unter mein Haupt nehmend, gleichsam wie zum Segen des Dinges. Gott wird mich so lange leben lassen, daß es zur Vollbringung gelangen kann.

»Sehen Sie, darum habe ich Sie gebeten, daß Sie heute bei mir bleiben, denn ich mußte Ihnen aus Vorsicht die Sachen mitteilen und anvertrauen. Ich habe das Testament dreimal geschrieben und es an drei verschiedenen Gerichten niedergelegt – hier habe ich es zum vierten Male – es steht nur darinnen, daß von meinem Nachlasse die Schule gegründet werden solle – ferner steht hier auch, wo die drei andern Testamente liegen. Dieses vierte Testament gebe ich Ihnen, wenn Sie nämlich einwilligen, daß Sie es bewahren, und zur größeren Sicherheit nach meinem Tode vorzeigen. Tun Sie es der guten Sache willen, ich habe ein sehr großes Vertrauen zu Ihnen, denn Sie haben nie über mich gespottet.

»Sagen Sie auch keinem Menschen ein Wort, ich bin hier ohnehin schon einmal ganz beraubt worden, weil sie meinten, ich sei geizig. Das Geld ist jetzt nicht in dem Pfarrhofe – es ist gegen Sicherheit in dem Waisenamte. Sie sehen, daß ich Ihnen dieses alles habe sagen müssen, und nun bitte ich Sie recht schön und recht freundlich, daß Sie mir Ihren Beistand nicht verweigern wollen.«

Hier endete der Pfarrer, und ich sagte ihm sogleich meinen Beistand zu, ich versprach ihm das unverbrüchlichste Stillschweigen, ja ich versprach, daß ich das Testament abschreiben und die Abschrift versiegelt an einen jungen, treuen Freund geben wolle, der es nach meinem Tode öffnen soll, wenn mich nämlich Gott eher als den Prediger zu sich riefe.

Er war erfreut über meine Zusage und zog unter dem Kopfkissen ein versiegeltes Papier hervor, reichte es mir und sagte, das sei das Testament. Ich nahm es und verbarg es in meiner Brusttasche.

Hierauf tat ich eine Frage – es war nicht Mutwille, ich weiß selbst nicht, wie es kam, ich war damals noch jung und mit den feinen Beziehungen der beiden Geschlechter unbekannt – ich fragte nämlich, ob keines der Kinder, die er über den Steg gehen gesehen habe, der einstigen Susanna ähnlich gesehen habe.

»Nein, lieber Herr,« antwortete er, »ich weiß jetzt gar nicht einmal mehr, wie Susanna ausgesehen habe.« Ich schämte mich gleich nach dieser Antwort meiner Frage.

Obwohl die Hauptsache abgetan war, blieb ich doch noch eine ziemliche Weile bei ihm, und wir redeten von verschiedenen gleichgültigen Dingen. Als ich unter dem Sternenhimmel von dem Pfarrhofe nach Hause ging, wußte ich kaum, wie mir geschah. – Aber das wußte ich, daß der arme, unscheinbare Prediger, der bei Zusammenkünften der unterste ist, sich keinem vordrängt und jedem gefällig sein will, unendlich mehr wert sei als ich, und vielleicht auch als die andern.

Ich blieb noch ziemlich lange in der Gegend und ging mit dem Pfarrer um. Als ich endlich auf immer Abschied nahm und in dem Wagen von den immer zurück schreitenden, weißlich und gräulich und rötlich dämmernden Kalksteinhügeln in das fruchtbare Land hinaus kam, war mir selber, als hätte ich die Landschaft, die ich verließ, sehr schön gefunden – es war gleichsam eine trübsinnige Zärtlichkeit in ihr, mit der sie die belohnt, die sie, wie der Prediger, in ihrer Armut doch lieben – wie, wenn man einem verschlossenen Manne seine Neigung schenkt, man dieselbe viel schwerer fahren lassen kann als bei einem andern.

Ich habe dem Pfarrer mein gegebenes Wort treu gehalten. Es vergingen noch manche Jahre, ich habe ihn nicht mehr gesehen, weil mich Amtsgeschäfte gefangen hielten. Endlich vernahm ich seinen Tod. Ich reisete mit meinem Testamente nach Gargen, allein die Gerichte hatten die ihrigen schon eröffnet, und das Verfahren des armen Pfarrers hatte großes Aufsehen erregt. Der bereits sehr alte Mietmann, den der Pfarrer zu meiner Zeit im ersten Stockwerke gehabt hatte, sagte mir unter Tränen: »Nein, wie ich den Mann verkannt habe, ich hielt ihn für geizig und hart, und war mißgeneigt – meine Tochter hat das besser gewußt, die den armen geistlichen Vater so sehr geliebt hat.«

Ich fragte dieser Tochter nach, die einst so schön gewesen war. Sie war in der Stadt glücklich vermählt und bereits Mutter von zahlreichen, eben so schönen Kindern.

Wie sehr der Pfarrer den Wert des Geldes mißkannte, wie schon aus seinem Leben hervorging, zeigte sich auch in seinem Anhange zu dem Testamente, den er einige Wochen vor seinem Tode geschrieben hatte, und in welchem eine tiefe Beruhigung über sein Unternehmen herrschte – und doch waren es nur sechstausend Gulden, die er zur Gründung und Herhaltung einer Schule und deren Lehrer hinterlassen hatte: aber eine Gesinnungssumme legte er durch diese Tat in der unschuldigen Weise, in der er alles vollbrachte, dem unzureichenden Gelde bei, die weiter zeugte und alles reichlich ersetzte, was abging. Alle Wohlhabenden der Gegend nämlich, als sie die Handlungsweise und das Leben des Pfarrers erfuhren, sandten von weit und breit her die Beiträge, bis eine Summe zusammenkam, mit welcher man die Absicht des verstorbenen Pfarrers erfüllen konnte.

Die Schule steht heut zu Tage glänzend und neu in den Karhäusern, die Lehrer sind begründet, und die Todesgefahr für die Kinder ist verschwunden.

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