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Pastors Marjory

Einige Jahre später starben die alten Leute beide im gleichen Winter nach einer sorgsamen Pflege seitens ihres Adoptivsohnes, der sie bei ihrem Hinscheiden still beweinte. Wer von seinen Wanderphantasien gehört hatte, glaubte, er würde sich jetzt beeilen, seinen Besitz zu verkaufen und flußabwärts ziehen, um sein Glück zu machen. Allein es fiel niemals ein Zeichen derartiger Absichten von seiten Wills. Er machte sich im Gegenteil daran, das Gasthaus zu heben, mietete sich ein paar Dienstboten als Hilfe für den Betrieb und ließ sich endgültig dort nieder – ein freundlicher, gesprächiger, undurchdringlicher junger Mann, sechs Fuß drei Zoll hoch in seinen Socken, mit einer eisernen Gesundheit und einer gütigen Stimme. Sehr bald galt er in der Gemeinde als etwas von einem Sonderling: eigentlich hätte man es sich ja von vornherein denken können, denn er hatte doch von jeher voller kurioser Ideen gesteckt und auch die einfachsten, vernünftigsten Dinge angezweifelt. Was jedoch am meisten dazu beitrug, jenen Ruf zu verstärken, waren die seltsamen Umstände seines Freiens um des Pastors Marjory.

Pastors Marjory war ein Mädel von etwa neunzehn Jahren, als Will die Dreißig erreicht hatte, von recht ansehnlichem Äußeren und mit einer weit höheren Bildung als alle anderen Mädchen jener Gegend, wie es sich ja auch für ihre Herkunft schickte. Sie trug den Kopf sehr hoch und hatte bereits mehrere Anträge recht großartig zurückgewiesen, welches ihr harte Namen unter ihren Nachbarn eingetragen hatte. Trotzdem war sie ein gutes Mädchen, das jeden Mann glücklich gemacht hätte.

Will war nie viel mit ihr zusammen gekommen, denn obwohl Kirche und Pfarrhaus nur zwei Meilen von seiner eigenen Tür entfernt lagen, hatte man ihn nie, außer an Sonntagen, dorthin gehen sehen. Zufällig jedoch wurde das Pfarrhaus reparaturbedürftig und mußte geräumt werden, und der Pastor und seine Tochter mieteten sich zu stark ermäßigten Preisen auf ein oder zwei Monate in Wills Gasthaus ein. Nun war aber unser Freund dank dem Gasthaus, der Mühle und den Ersparnissen des alten Müllers ein wohlhabender Mann geworden. Außerdem befaß er den Ruf eines gutmütigen, klugen Menschen, was in der Ehe immer ein großes Kapital bedeutet, und so entstand gar bald unter wohlmeinenden Bekannten das Gerücht, daß der Pastor und seine Tochter ihre vorübergehende Unterkunft nicht blindlings ausgesucht hätten. Will war ungefähr der letzte Mann der Welt, sich durch Furcht oder Ränke in eine Heirat locken zu lassen. Man durfte ihm nur in die Augen sehen, die klar und still wie ein Teich waren und dennoch ein helles Licht auszustrahlen schienen, das gleichsam von innen her leuchtete, und man erkannte sogleich, daß man einem Manne gegenüberstand, der wußte, was er wollte, und der unerschütterlich an seinem Willen festhalten würde. Marjory selbst war, nach ihrem Äußeren zu urteilen, auch kein schwacher Mensch. Sie hatte einen festen, willensstarken Blick und ein energisches, stilles Wesen. Es war noch sehr die Frage, ob sie ihm an Zielbewußtsein nicht ebenbürtig war, und wer von beiden nach der Heirat die Oberhand behalten würde. Allein Marjory hatte alledem niemals einen Gedanken geschenkt und begleitete ihren Vater in unerschütterlicher Unschuld und Unbefangenheit.

Es war noch so früh im Jahre, daß Wills Gäste nur spärlich und in langen Zwischenräumen eintrafen, aber die Fliederbüsche standen schon in Blüte, und das Wetter war so mild, daß die Gesellschaft ihre Mahlzeiten in der Laube einnahm, wo der Lärm des Flusses zu ihnen hinaufklang; und die Wälder im Umkreis hallten wider von Vogelgesang. Will begann diesen Mahlzeiten sehr bald besondere Freude abzugewinnen. Der Pastor war zwar ein ziemlich langweiliger Gesellschafter, der die Gewohnheit hatte, bei Tische einzuschlafen, doch fiel niemals ein rauhes oder grausames Wort von seinen Lippen. Und was des Pastors Tochter anbelangte, so paßte sie so anmutig wie nur möglich zu ihrer Umgebung, und alles, was sie sagte, klang so hübsch und treffend, daß Will eine hohe Meinung von ihren Gaben zu hegen begann. Er konnte ihr Gesicht sehen, wie es sich, beim Vorwärtsneigen, gegen einen Hintergrund ansteigender Tannenwälder abhob; ihre Augen leuchteten friedlich; das Licht legte sich wie ein Tuch um ihr Haar; etwas, das man kaum als ein Lächeln zu bezeichnen vermochte, glitt wellengleich über ihre blassen Wangen, und Will konnte sich nicht enthalten, sie in angenehmer Bestürzung anzustarren. Sie war, selbst in ihren ruhigsten Augenblicken, so ganz sie selber und bebte bis in ihre Fingerspitzen hinein, ja bis zum Saum ihres Kleides herab, so voll innersten Lebens, daß die übrige Schöpfung im Vergleich zu ihr in verschwommenes Nichts zerrann. Ja, wenn Will von ihr weg auf ihre Umgebung blickte, so erschienen die Bäume ihm leblos und gefühllos, die Wolken hingen wie tot am Himmel, und selbst die Berggipfel hatten ihren Zauber verloren. Das ganze Tal konnte sich an Schönheit nicht mit diesem einen Mädchen messen.

Will war in Gesellschaft seiner Mitmenschen stets ein aufmerksamer Beobachter, aber im Falle Marjorys wurde seine Aufmerksamkeit fast peinlich. Er lauschte allem, was sie sagte und forschte gleichzeitig in ihren Augen nach dem unausgesprochenen Kommentar. Viele freundliche, einfache, aufrichtige Reden fanden in seinem Herzen ein Echo. Er wurde einer Seele inne, die in schönster Harmonie in sich selber ruhte, die nichts anzweifelte, nichts begehrte, kurz, die in Frieden wandelte. Es war unmöglich, ihre Gedanken von ihrer Erscheinung zu trennen. Die Form ihres Handgelenks, der ruhige Klang ihrer Stimme, das Licht in ihren Augen, die Linien ihres Körpers sangen die gleiche Melodie wie ihre ernsten, sanften Worte, so wie Musikbegleitung die Stimme des Sängers stützt und ergänzt. Der Einfluß, der von ihr ausging, war ganz einheitlich, unteilbar, undiskutierbar und konnte nur mit dankbarer Freude hingenommen werden. Will war es, als riefe ihre Gegenwart einen Teil seiner Kindheit zurück, und der Gedanke an sie gesellte sich in seiner Seele zu den Bildern der Morgendämmerung, fließenden Wassers und der ersten Veilchen und Fliederblüten. Dinge, die wir zum ersten Male sehen, oder doch zum ersten Male nach einer langen Zeit wieder erblicken, wie zum Beispiel die Frühlingsblumen, haben die Eigenschaft an sich, in uns die Kraft der Empfindung, sowie jenen Eindruck des Mystisch-Wunderbaren zu verschärfen, die sonst mit dem Älterwerden aus unserem Leben schwinden; doch der Anblick eines geliebten Antlitzes erneuert eines Menschen Charakter von den Wurzeln aufwärts.

Eines Tages nach dem Essen machte Will einen kleinen Spaziergang unter den Fichten; eine ernste Seligkeit nahm ihn von Kopf bis zu Fuße gefangen, und er fuhr fort, im Gehen sich selbst und der Landschaft zuzulächeln. Der Fluß ergoß sich hier in hübschen Kräuselwellen von Stein zu Stein; ein Vogel sang laut im Walde; die Berge sahen unermeßlich hoch aus, und wenn Will von Zeit zu Zeit zu ihnen aufschaute, erschien es ihm, als blickten sie mit wohlwollender aber Ehrfurcht erweckender Neugier auf sein Kommen und Gehen. Sein Weg führte ihn zu der Anhöhe über der Ebene. Dort setzte er sich auf einen Stein und versank in tiefes und angenehmes Sinnen. Die Ebene dehnte sich mit ihren Städten und dem silbernen Fluß vor ihm aus; alles schlief, mit Ausnahme eines mächtigen Wirbels von Vögeln, der sich in einem fort hob und senkte und sich in der blauen Luft wieder und wieder um sich selbst drehte. Er sprach Marjorys Namen laut vor sich hin, und er klang wohltuend an sein Ohr. Er schloß die Augen, und ihr Bild erstand vor ihm, still leuchtend und von guten Gedanken begleitet. Der Fluß mochte bis in alle Ewigkeit so weiterströmen; die Vögel mochten höher und höher fliegen, bis an die Sterne hinan. Er erkannte, daß alles doch nur leeres Getöse war; denn hier hatte auch er, ohne einen Fuß zu rühren, geduldig wartend in dem engen Tale das bessere Sonnenlicht erreicht.

Am folgenden Tage, während der Pastor seine Pfeife stopfte, gab Will über den Tisch hinüber eine Art Erklärung von sich.

»Fräulein Marjory,« sagte er, »ich habe niemals jemanden gekannt, den ich so gut leiden konnte wie Sie. Ich bin fast ein kalter, unfreundlicher Mann, nicht aus Mangel an Gefühl, sondern dank der Eigenart meines Denkens, und alle Menschen erscheinen mir wie in weiter Entfernung. Es ist, als wäre ein Kreis um mich gezogen, der jeden ausschließt, Sie ausgenommen; ich kann die anderen reden und lachen hören, aber nur Sie sind mir ganz nahe. Aber vielleicht ist Ihnen das unangenehm?« schloß er.

Marjory antwortete nicht.

»So rede doch, Mädchen«, sagte der Pastor.

»Nein, jetzt möchte ich nicht in sie drängen, Herr Pastor«, entgegnete Will. »Ich, der ich nicht daran gewöhnt bin, kann selber schlecht reden; und sie ist eine Frau und, wenn alles gesagt ist, kaum mehr als ein Kind. Ich meinerseits bin, soweit ich begreife, was die Leute darunter verstehen, glaube ich, verliebt. So nennen sie es wohl. Ich möchte nicht den Glauben erwecken, als wollte ich mich hiermit festlegen, denn ich kann mich irren; aber ich denke, so stehen bei mir die Dinge. Und wenn Fräulein Marjory vielleicht irgendwie anders empfindet, so ist sie vielleicht so freundlich, den Kopf zu schütteln.«

Marjory schwieg und gab kein Zeichen, daß sie überhaupt etwas gehört hatte.

»Was meinen Sie, Herr Pastor?« fragte Will.

»Das Mädchen muß sprechen«, erwiderte der Pastor und legte seine Pfeife fort. »Hier sagt unser Nachbar, daß er dich liebt, Madge. Liebst du ihn denn, ja oder nein?«

»Ich glaube, ja«, antwortete Marjory leise.

»Na, dann ist ja alles so gut, wie man es sich nur wünschen kann«, rief Will herzlich. Und er nahm über den Tisch herüber ihre Hand und hielt sie einen Augenblick äußerst zufrieden in den seinen.

»Ihr müßt heiraten«, bemerkte der Pfarrer und steckte sich die Pfeife von neuem in den Mund.

»Glauben Sie, daß das das Richtige ist?« erkundigte sich Will.

»Es ist unerläßlich«, sagte der Pastor.

»Nun, gut«, versetzte der Freier.

Zwei oder drei Tage vergingen für Will in großem Entzücken, obgleich ein Zuschauer es wohl kaum bemerkt hätte. Er fuhr fort, seine Mahlzeiten Marjory gegenübersitzend einzunehmen und mit ihr zu sprechen und sie in Gegenwart ihres Vaters anzustarren; aber er unternahm weder einen Versuch, mit ihr allein zu sein, noch änderte er im geringsten ihr gegenüber sein Benehmen. Vielleicht war das Mädchen ein wenig enttäuscht, vielleicht sogar ganz mit Recht enttäuscht, und doch hätte sie wohl zufrieden sein können, wenn die Tatsache genügt, ständig in eines anderen Menschen Gedanken zu sein und sein ganzes Leben auszufüllen und von Grund auf zu verändern. Denn sie wich auch nicht einen Augenblick aus Wills Sinn. Er saß über den Fluß gebeugt, sah dem Schaum der Fälle zu und beobachtete die behutsam in Schwebe liegenden Fische und die gepeitschten Flußalgen; oder er wanderte einsam durch den purpurnen Abend, während um ihn herum im Walde alle Amseln pfiffen, und stand des Morgens früh auf und sah den Himmel sich aus Grau in Gold verwandeln und das Licht zu den Gipfeln aufspringen. In dieser ganzen Zeit fragte er sich verwundert, ob er denn jene Dinge früher nie bemerkt hätte, oder weshalb er sie jetzt mit so ganz anderen Augen sähe? Ja, das Geräusch seines eigenen Mühlenrades oder des Windes in den Bäumen verwirrte und entzückte ihn. Die bezauberndsten Gedanken stellten sich ganz unversehens ein. Er war so glücklich, daß er des Nachts nicht schlafen konnte und so ruhelos, daß er außer in ihrer Gesellschaft nicht still zu sitzen vermochte. Und doch schien es eher, als wiche er ihr aus. Eines Tages, als er von seinem Umherstreifen nach Hause kehrte, fand er Marjory im Garten beim Blumenpflücken, und während er sich ihr näherte, verlangsamte er seinen Schritt und ging dann an ihrer Seite.

»Liebst du Blumen?« fragte er.

»Ich liebe sie sehr«, antwortete sie. »Liebst du sie?«

»Eigentlich nein,« sagte er, »nicht so sehr. Es sind doch alles in allem recht kleine Dinge. Ich kann schon verstehen, daß Menschen sie sehr lieben, nicht aber, daß sie mit ihnen das tun, was du jetzt tust.«

»Was tun?« fragte sie, innehaltend und zu ihm aufblickend.

»Sie pflücken«, sagte er. »Es ist ihnen viel wohler da, wo sie sind, und sie sehen so im Grunde genommen auch viel hübscher aus.«

»Ich möchte sie ganz für mich haben,« erwiderte sie, »sie an meinem Herzen tragen und sie in meinem Zimmer halten. Sie locken mich, wenn ich an ihnen vorbeigehe; sie scheinen mir zuzurufen: ›Komm und tue etwas mit uns‹, aber sowie ich sie geschnitten habe, ist der Zauber dahin und ich kann sie leichten Herzens ansehen.«

»Du möchtest sie besitzen, um nicht mehr an sie denken zu müssen«, versetzte Will. »Es ist ein klein wenig so, als tötetest du die Gans mit den goldenen Eiern. Es ist ein wenig so, wie ich mir die Dinge als Knabe wünschte. Weil ich es liebte, auf die Ebene hinunter zu schauen, wollte ich zu ihr hinabeilen – dorthin, wo ich nicht mehr auf sie hätte niederblicken können. War das nicht eine schöne Unvernunft? Ja, ja, wenn die Menschen es sich nur recht überlegten, würden sie alle handeln wie ich, und du ließest deine Blumen in Ruhe, so wie ich hübsch in meinen Bergen geblieben bin.« Plötzlich brach er schroff ab. »Herrgott noch einmal!« rief er. Und als sie ihn fragte, ob etwas nicht in Ordnung wäre, wich er der Frage aus und ging mit leicht belustigtem Ausdruck ins Haus hinein.

Bei Tisch war er sehr still, und als es Nacht geworden war und über ihnen die Sterne erglänzten, schritt er stundenlang mit ungleichen Schritten im Hof und Garten auf und ab. In Marjorys Fenster brannte noch Licht: die Scheibe leuchtete wie ein längliches, orangefarbenes, kleines Viereck in eine Welt dunkelblauer Berge und silbernen Sternenscheins hinaus. Will wandte sich in Gedanken immer wieder dem Fenster zu, obwohl sein Sinnen durchaus nicht das eines Liebhabers war, »Da sitzt sie nun in ihrem Zimmer,« dachte er, »und dort – über meinem Kopfe – leuchten die Sterne: – Gott segne sie beide!« Beide waren von gutem Einfluß auf sein Leben gewesen; beide streichelten und stärkten seine tiefe Zufriedenheit mit der Welt. Was konnte er darüber hinaus von beiden verlangen? Der dicke junge Mann und seine Ratschläge waren ihm so allgegenwärtig, daß er seinen Kopf zurückwarf und die Hände an den Mund haltend laut zu dem belebten Himmel emporrief. Ob nun die Haltung seines Kopfes schuld war, oder die plötzliche Anstrengung, die er hatte machen müssen: ihm war, als liefe ein momentanes Zittern durch die Sterne, als husche ein verschwommenes, frostiges Licht von einem Ende des Himmels zum anderen. Gleichzeitig wurde ein Zipfel des Vorhangs am Fenster gelüftet und gleich wieder heruntergelassen. Er lachte laut los. »Das eine wie das andere!« dachte Will. »Die Sterne zittern und der Vorhang lüftet sich. Beim Himmel, was muß ich für ein großer Zauberer sein! Wenn ich jetzt nur noch ein Narr wäre, wie würde es mir dann ergehen?« Und er ging zu Bett und kicherte vor sich hin: »Wäre ich nur ein Narr!«

Ziemlich früh am nächsten Morgen erblickte er sie wieder im Garten und suchte sie auf.

»Ich habe über das Heiraten nachgedacht,« begann er unvermittelt, »und nachdem ich es mir gründlich überlegt habe, bin ich zu dem Schlusse gekommen, daß es sich doch nicht so recht lohnt.«

Einen einzigen Augenblick wandte sie sich ihm zu, aber sein Strahlendes, freundliches Aussehen hätte selbst einen Engel aus der Fassung gebracht, und so blickte sie von neuem schweigend zu Boden. Er sah, wie sie zitterte.

»Hoffentlich ist es dir gleich«, fuhr er ein wenig bestürzt fort. »Es müßte dir eigentlich gleich sein. Ich habe es mir hin und her überlegt und ich finde, bei Gott, gar nichts daran. Wir würden einander deshalb nicht um ein Jota näher sein als jetzt, dagegen wären wir, wenn ich es wirklich recht verstehe, nicht annähernd so glücklich.«

»Es ist überflüssig, mir gegenüber Ausflüchte zu gebrauchen«, sagte sie. »Ich erinnere mich ganz genau, daß Sie sich weigerten, sich festzulegen; und jetzt, da ich sehe, daß Sie sich geirrt haben und mich in Wahrheit niemals liebten, bin ich nur bekümmert, daß ich mich soweit habe täuschen lassen.«

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Will energisch; »du hast mich nicht verstanden. Ob ich dich je geliebt habe, kann ich nicht entscheiden. Das muß ich anderen überlassen. Aber das eine ist sicher: mein Gefühl hat sich dir gegenüber nicht geändert. Und das andere ist nicht minder sicher: du kannst dich rühmen, mein ganzes Leben und meinen ganzen Charakter verwandelt zu haben. Ich meine jedes Wort, das ich sage, aufrichtig. Ich finde einfach, daß sich das Heiraten nicht lohnt. Mir wäre es lieber, du wohntest auch weiterhin bei deinem Vater, so daß ich einmal oder vielleicht sogar zweimal die Woche hinübergehen und dich besuchen könnte, so wie die Leute in die Kirche gehen, und in der Zwischenzeit würden wir beide nur um so glücklicher sein. Das ist so meine Auffassung. Aber ich werde dich natürlich heiraten, wenn du es willst«, fügte er hinzu.

»Wissen Sie, daß Sie mich damit beleidigen?« brach sie jetzt los.

»Aber nein, Marjory,« rief er, »wenn ein reines Gewissen etwas zu bedeuten hat, bestimmt nicht. Ich biete dir die ganze aufrichtige Liebe meines Herzens; du kannst sie nehmen oder zurückweisen, wie du willst; obwohl ich vermute, daß es außerhalb deiner oder meiner Macht liegt, zu ändern, was einmal geschehen ist und mein Denken wieder frei zu geben. Ich will dich ja heiraten, wenn du es wünschst; aber ich sage es dir wieder und immer wieder, daß es sich nicht lohnt, und daß wir am besten Freunde bleiben. Wenn ich auch nur ein stiller Mann bin, so habe ich in meinem Leben doch gar mancherlei beobachtet. Vertraue mir und fasse die Sache so auf, wie ich sie dir vorschlage; wenn dir das aber nicht gefällt, so sag nur ein Wort und ich heirate dich auf der Stelle.«

Eine längere Pause folgte und Will, der sich jetzt unbehaglich zu fühlen begann, wurde allmählich ärgerlich.

»Es scheint, daß du zu stolz bist, deine Meinung herauszusagen«, bemerkte er. »Glaube mir, das ist sehr schade. Eine klare Beichte macht ein einfaches Leben. Kann ein Mann einer Frau gegenüber aufrichtiger und ehrenhafter sein, als ich es gewesen bin? Ich habe gesagt, was ich zu sagen habe, und lasse dir jetzt die Wahl. Willst du, daß ich dich heirate? Oder willst du meine Freundschaft, wie ich es für das beste halte? Oder hast du ein für allemal genug von mir? So sprich doch, um Gottes willen! Du weißt doch, daß dein Vater dir gesagt hat, ein Mädchen sollte in diesen Dingen rund heraus ihre Meinung sagen.«

Bei diesen Worten schien sie ihre Fassung wiederzugewinnen. Ohne eine Silbe drehte sie sich um, schritt eilig durch den Garten und verschwand im Hause, Will in einiger Verwirrung zurücklassend. Er ging daher im Garten auf und ab und pfiff leise vor sich hin. Manchmal hielt er inne und sah zum Himmel und zu den Bergen auf; dann ging er bis an das Ende des Wehrs, setzte sich und starrte albern ins Wasser. Alle diese Zweifel und Unruhen waren seiner ganzen Natur sowie dem Leben, das er sich so entschlossen gewählt hatte, derart fremd, daß er Marjorys Kommen zu beklagen begann. »Schließlich«, dachte er, »war ich so glücklich, als man es sich nur wünschen kann. Ich konnte hierherkommen und den ganzen Tag über meinen Fischen zuschauen: ich war ruhig und zufrieden in meiner alten Mühle.«

Endlich kam Marjory zum Essen herunter, sehr gesetzt und äußerlich ruhig; und kaum hatten alle drei am Tische Platz genommen, als sie, den Blick auf ihren Teller geheftet, sonst aber ohne jedes Anzeichen von Verlegenheit oder Kummer, ihrem Vater eine Rede hielt.

»Vater,« begann sie, »Herr Will und ich haben uns ausgesprochen. Wir sehen ein, daß jeder von uns sich in seinen Gefühlen getäuscht hat, und er hat, auf meinen Wunsch hin, eingewilligt, jeden Gedanken an eine Heirat aufzugeben und weiter nichts als mein sehr guter Freund zu sein, wie er es bisher gewesen ist. Du siehst, daß es auch nicht den Schatten eines Zwists zwischen uns gegeben hat, und ich hoffe in der Tat, ihn in Zukunft sehr häufig zu sehen, denn er wird in unserem Hause stets willkommen sein. Natürlich, Vater, weißt du es am besten, aber ich glaube doch, es wäre das richtigste, wenn wir für das erste Mr. Wills Haus verließen. Ich glaube, nach dem was sich ereignet hat, würden wir in den nächsten Tagen nicht die angenehmsten Hausbewohner sein.«

Will, der sich von Anfang an nur mit Mühe beherrscht hatte, brach jetzt in einen unartikulierten Laut aus und hielt in offensichtlicher, echter Bestürzung seine Hand hoch, als wolle er sich einmischen oder ihr widersprechen. Aber sie brachte ihn mit einem einzigen raschen Blick und einem zornigen Erröten zum Schweigen.

»Sie haben vielleicht die Güte,« sagte sie, »mich diese Angelegenheit selbst auseinandersetzen zu lassen.«

Will war durch ihr Gesicht sowie durch den Ausdruck und den Ton ihrer Stimme völlig aus der Fassung gebracht. Er schwieg daher und folgerte, daß einige Dinge an diesem Mädchen über seinen Horizont gingen, worin er vollkommen recht hatte.

Der arme Pastor war gänzlich niedergeschlagen. Er suchte zu beweisen, daß das Ganze ja nicht mehr als ein kleiner Zank wäre, der die Liebe doch nur noch erhöhe, und daß alles bis zum Schlafengehen schon wieder gut sein würde. Und als man ihn endlich aus dieser Auffassung verdrängt hatte, fuhr er fort zu behaupten, daß, wo es keinen Streit gegeben hätte, auch keine Trennung erforderlich wäre; denn dem guten Manne sagten sowohl seine Verpflegung wie sein Wirt zu. Dabei war es seltsam zu sehen, wie das Mädchen sie beide nach ihrem Willen lenkte. Sie sprach die ganze Zeit über sehr wenig und das wenige auch nur mit größter Ruhe, und doch wickelte sie die beiden Männer um den Finger und führte sie dank ihres Takts und ihrer weiblichen Strategie dahin, wo sie sie haben wollte. Kaum schien es ihr Werk zu sein – es war, als wenn alles sich ganz von selbst ergäbe – daß sie und ihr Vater noch am gleichen Nachmittage in einem Bauernwagen davonfuhren und sich weiter unten in einem anderen Dorfe einmieteten, bis ihr eigenes Haus für sie bereit wäre. Doch Will hatte sie scharf beobachtet und ihre Geschicklichkeit und Willenskraft wohl durchschaut. Als er wieder allein war, gab es sehr viele sonderbare Dinge zu bedenken. Erstens fühlte er sich sehr traurig und einsam. Alles Interesse war plötzlich aus seinem Leben geschwunden; mochte er noch so lange zu den Sternen aufschauen, aus irgendeinem Grunde mißlang es ihm, aus ihnen Trost und Kraft zu schöpfen. Und dann befand er sich auch in einem wahren Aufruhr des Geistes über Marjory. Ihr Benehmen hatte ihn verwirrt und geärgert, und doch konnte er nicht umhin, sie zu bewundern. Er meinte, in jener stillen Seele einen feinen, querköpfigen Engel entdeckt zu haben, den er bis dahin nie dort vermutet hatte; und obwohl er erkannte, daß der Einfluß, der von ihr ausging, schlecht zu dem Leben künstlicher Ruhe paßte, das er sich geschaffen hatte, vermochte er seine glühende Sehnsucht, diesen Einfluß auch weiter auf sich wirken zu lassen, doch nicht zu meistern. Einem Manne gleich, der bisher im Schatten gelebt hat und jetzt an die Sonne tritt, empfand er sowohl Schmerz wie Entzücken.

Als die Tage allmählich verstrichen, fiel er von einem Extrem ins andere; in einem Augenblick war er stolz auf seine Kraft und Entschlossenheit, im nächsten verachtete er seine Ängstlichkeit und seine törichte Vorsicht. Das Eine stellte wohl in Wahrheit den Gedanken dar, der in seinem Herzen lebte und der auch seine Grübeleien beherrschte; doch das Andere verschaffte sich von Zeit zu Zeit mit unbezähmbarer Heftigkeit Luft, und dann pflegte Will alle Überlegung zu vergessen und in Haus und Garten auf und nieder zu gehen oder in den Fichtenwäldern umherzuirren, wie einer, der vor Reue außer sich ist. Dem gleichmäßigen, fest in sich verankerten Will war dieser Gemütszustand jedoch unerträglich und er beschloß, damit, koste es was es wolle, ein Ende zu machen. So zog er denn eines schönen, warmen Sommernachmittags seinen besten Anzug an, nahm einen Dornenstecken in die Hand und machte sich auf den Weg talabwärts den Fluß entlang. Kaum hatte er diesen Beschluß gefaßt, als er wie mit einem Schlage seinen gewohnten Herzensfrieden zurückgewann, und er genoß das helle Wetter und die abwechselnde Szenerie ohne jedes Nebengefühl von Furcht oder peinlichem Sehnen. Es war ihm jetzt fast gleich, wie die Sache enden würde. Wenn sie ihn wollte, würde er sie diesmal wohl heiraten müssen, was vielleicht auch für alle Teile das Beste war. Wenn sie ihm aber einen Korb gab, nun so hatte er sein möglichstes getan und konnte hinfort seinen eigenen Weg mit ruhigem Gewissen gehen. Im großen und ganzen hoffte er eigentlich, daß sie nein sagen würde; als er dann aber an einer Biegung des Flusses das braune Dach, das sie beherbergte, unter einigen Weiden hervorlugen sah, fühlte er sich schon wieder fast geneigt seinen Wunsch umzustürzen und war mehr als halb über seine Willensschwäche beschämt.

Marjory schien erfreut, ihn zu sehen und reichte ihm ohne Gezwungenheit unverzüglich die Hand.

»Ich habe mir diese Heirat durch den Kopf gehen lassen«, hob er an.

»Ich auch«, antwortete sie. »Und ich achte dich mehr und mehr als einen sehr weisen Mann. Du hast mich besser verstanden, als ich mich verstanden habe, und ich bin jetzt überzeugt, daß die Dinge, so wie sie liegen, am besten sind.«

»Gleichzeitig aber –«, wagte Will zu bemerken –

»Du mußt müde sein«, unterbrach sie ihn. »Nimm Platz und laß mich dir ein Glas Wein holen. Der Nachmittag ist heiß, und ich möchte nicht, daß dir dein Besuch mißfiele. Du mußt recht oft kommen, einmal die Woche, wenn du die Zeit dafür erübrigen kannst; ich freue mich immer so sehr, meine Freunde zu sehen.«

»Nun gut«, dachte Will bei sich. »Es scheint, daß ich doch recht hatte.« Und er stattete ihr einen sehr angenehmen Besuch ab, marschierte in gehobener Stimmung nach Hause und machte sich über die Angelegenheit keine weiteren Sorgen.

Fast drei Jahre lang trafen sich Will und Marjory ein- oder zweimal die Woche, ohne daß je ein Liebeswort gefallen wäre, und ich glaube, Will war während dieser ganzen Zeit fast so glücklich, wie ein Mensch es nur sein kann. Er knauserte sich eher die Freude ab, sie zu sehen, und spazierte oft mehr als die Hälfte des Weges zum Pastorat hinüber, nur um dann wieder umzukehren, als gälte es, seinen Appetit zu wetzen. Ja, es gab eine bestimmte Wegbiegung, von der aus er den Kirchturm samt einem dreieckigen Fleckchen Ebene im Hintergrund, die, eingeklemmt zwischen zwei Fichtenwaldungen, durch einen Spalt des Tales hindurchschimmerten, sehen konnte; und dort pflegte er, ehe er sich auf den Heimweg schickte, besonders häufig zu verweilen, da ihm der Ort für das Ausruhen und Moralisieren vortrefflich geeignet schien. Und die Bauern gewöhnten sich so sehr daran, ihn dort in der Abenddämmerung sitzen zu sehen, daß sie das Plätzchen das »Will von der Mühlen-Eck« tauften.

Nach Verlauf dreier Jahre spielte Marjory ihm den argen Streich, sich unversehens mit jemand anderem zu verheiraten. Will wahrte tapfer den äußeren Schein und bemerkte lediglich, nach dem wenigen zu urteilen, das er von den Frauen wüßte, hätte er wohl daran getan, Marjory vor drei Jahren nicht selbst zu heiraten. Offenbar wüßte sie selber nicht, was sie wollte, und wäre trotz ihres irreführenden Wesens so unbeständig und leichtfertig wie die anderen alle. Er müsse sich zu der entronnenen Gefahr beglückwünschen, sagte er, und würde daher von jetzt ab eine höhere Meinung von seiner Klugheit hegen. Aber im Grunde seines Herzens war er doch recht unzufrieden, lungerte ein oder zwei Monate meist ziemlich freudlos herum und nahm zur Verwunderung seines Dienstpersonals an körperlichem Gewichte ab.

Es war vielleicht ein Jahr nach der Heirat, als Will spät in der Nacht durch das Geräusch eines galoppierenden Pferdes auf der Landstraße sowie durch ein darauffolgendes hastiges Klopfen gegen das Wirtshaustor geweckt wurde. Er öffnete das Fenster und sah einen berittenen Bauernknecht, der noch ein anderes Pferd am Zügel führte und der ihm zurief, er möge sich beeilen, so sehr er könne, und mit ihm kommen. Marjory lag im Sterben und hatte dringend nach Will gesandt, um ihn an ihr Totenbett zu holen. Will war kein großer Reiter und kam daher unterwegs so langsam vorwärts, daß die arme junge Frau ihrem Ende recht nahe war, bevor er dort anlangte. Doch sprachen sie einige Minuten allein miteinander, und als sie hinüberging war er zugegen und weinte lange und bitterlich.

 


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