Robert Louis Stevenson
Die Schatzinsel
Robert Louis Stevenson

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Fünfzehntes Kapitel
Der Inselmann

Von dem Abhang des Berges, der hier steil und felsig war, löste sich ein Kiesel und fiel rasselnd und mehrere Male aufschlagend durch die Bäume.

Ich wandte triebmäßig meine Augen nach dieser Richtung und sah eine Gestalt, die mit großer Schnelligkeit hinter den Stamm einer Fichte sprang. Was es war – ein Bär oder ein Mensch oder ein Affe, das konnte ich durchaus nicht sagen. Es schien mir etwas Dunkles und Zottiges zu sein; mehr wußte ich nicht. Aber der Schreck vor dieser neuen Erscheinung war so groß, daß ich stehenblieb.

Ich war jetzt, so schien es, von beiden Seiten abgeschnitten; hinter mir die Mörder, vor mir dieses huschende, unbestimmte Wesen. Und auf der Stelle begann ich die mir bekannten Gefahren den mir unbekannten vorzuziehen. Sogar Silver schien im Vergleich mit diesem Geschöpf der Wälder weniger schrecklich zu sein, und ich drehte mich auf dem Absatz um, warf einen schnellen Blick über meine Schulter zurück und begann in der Richtung auf die Boote zurückzulaufen.

Sofort erschien die Gestalt wieder, machte einen weiten Bogen und begann, mir den Weg abzuschneiden. Ich war sehr müde; aber wäre ich auch ganz frisch gewesen, so sah ich doch bald, daß es ein vergebliches Unterfangen für mich war, es an Schnelligkeit mit einem solchen Gegner aufzunehmen. Von Baum zu Baum huschte das Geschöpf mit der Schnelligkeit eines Hirsches; es lief wie ein Mensch auf zwei Beinen, aber ganz anders als irgendein Mensch, den ich je gesehen hatte, denn es bückte sich dabei beinahe zur Erde; aber ein Mensch war es; daran konnte ich nicht länger zweifeln.

Mir fielen die Geschichten ein, die ich von Menschenfressern gehört hatte. Ich wollte um Hilfe schreien. Aber die bloße Tatsache, daß es ein Mensch war, wenn auch ein Wilder, hatte mich etwas beruhigt, und im gleichen Verhältnis begann meine Furcht vor Silver wieder aufzuleben.

Ich stand daher still und sah mich um, ob nicht irgendwelche Rettung möglich sei; und als ich darüber nachdachte, fiel mir plötzlich ein, daß ich ja eine Pistole bei mir hatte. Sobald ich wußte, daß ich nicht wehrlos war, glühte in meinem Herzen auch wieder Mut auf. Ich beschloß, es mit diesem Inselmenschen aufzunehmen, und ging schnell auf ihn los.

Er hatte sich inzwischen wieder hinter einem Baumstamm versteckt; aber er mußte mich genau beobachtet haben; denn sobald ich mich in seiner Richtung bewegte, erschien er wieder und ging mir einen Schritt entgegen. Dann zögerte er, sprang zurück und ging wieder vorwärts. Und schließlich warf er sich zu meiner Verwunderung und Verwirrung auf die Knie und streckte mir flehend seine gefalteten Hände entgegen.

Infolgedessen blieb ich wieder stehen und fragte: »Wer seid Ihr?«

»Ben Gunn,« antwortete er, und seine Stimme klang heiser und ungeschickt, wie wenn in einem verrosteten Schloß ein Schlüssel herumgedreht wird. »Ich bin der arme Ben Gunn, ja; und ich habe seit drei Jahren mit keinem Christenmenschen gesprochen.«

Ich konnte jetzt sehen, daß er ein Weißer war wie ich selbst, und seine Gesichtszüge waren sogar hübsch von Natur. Aber seine Haut war an allen bloßen Stellen von der Sonne verbrannt; sogar seine Lippen waren schwarz, und seine blauen Augen sahen ganz sonderbar in diesem dunklen Gesicht aus. So zerlumpt, wie er war, hatte ich noch keinen Bettler in der Wirklichkeit oder im Traume gesehen. Er war mit Fetzen von alten Schiffssegeln und Matrosenröcken bekleidet, und dieses außerordentliche Flickwerk wurde durch alle nur denkbaren Befestigungsmittel zusammengehalten: Messingknöpfe, Bindfadenenden und dünne Zweige. Am den Leib trug er einen alten Ledergürtel mit einem Messingschloß, und dies war das einzige Solide an seiner ganzen Ausrüstung.

»Drei Jahre!« rief ich; »habt Ihr Schiffbruch erlitten?«

»Nein, Maat,« sagte er – »maruniert!«

Ich hatte das Wort gehört und wußte, daß es eine furchtbare Strafe bedeutete, die von den Freibeutern ziemlich häufig angewandt wurde: der Missetäter wird mit etwas Pulver und Schrot an irgendeiner einsamen, öden Insel ausgesetzt.

»Vor drei Jahren wurde ich maruniert,« fuhr er fort, »und habe seitdem von Ziegen und Beeren und Austern gelebt. Wo ein Mann ist, sage ich, da kann einer auch leben. Aber, Maat, mein Herz sehnt sich nach christlichem Essen! Hast du nicht zufällig ein Stück Käse bei dir? Nein? Ach, manche lange Nacht habe ich von Käse geträumt – besonders von geröstetem –, und dann wachte ich wieder auf und war hier auf dieser Insel!«

»Wenn ich wieder an Bord kommen kann,« sagte ich, »sollst du Käse haben, pfundweise, soviel dein Herz begehrt!«

Während dieser ganzen Zeit hatte er den Stoff meiner Jacke befühlt, meine Hände gestreichelt, nach meinen Stiefeln gesehen und überhaupt ein kindisches Vergnügen an der Gegenwart eines Mitmenschen gezeigt. Aber bei meinen letzten Worten wurde er anscheinend mißtrauisch; er machte ein schlaues Gesicht und fragte:

»Du sagtest: wenn du wieder an Bord kommen kannst? Nun, wer kann dich denn daran hindern?«

»Du nicht, das weiß ich wohl!« war meine Antwort.

»Da hast du recht!« rief er; »nun, wie heißest du denn eigentlich, Maat?«

»Jim.«

»Jim – Jim!« wiederholte er; mein Name gefiel ihm augenscheinlich. »Na, Jim, nun hör' mal: ich habe wüst gelebt; du würdest dich schämen, wenn ich dir davon erzählte. Zum Beispiel – wenn du mich so ansiehst, so würdest du wohl nicht denken, daß ich eine fromme Mutter gehabt habe?«

»Hm, allerdings – eigentlich nicht,« antwortete ich.

»Na ja. Aber ich hatte eine – sogar eine ganz besonders fromme Mutter. Und ich war ein höflicher, frommer Junge und konnte meinen Katechismus herunterrasseln – so schnell, daß kein Wort vom andern zu unterscheiden war. So weit bin ich nun heruntergekommen, Jim, und ich fing an mit Murmelspielen auf dem Kirchhof! Damit fing es an, aber es blieb nicht dabei; und meine Mutter sagte es mir voraus – prophezeite, wie alles kommen würde – jawoll, das tat sie! Aber die Vorsehung, die hat mich auf diese Insel hier gebracht. Ich habe es mir alles durchgedacht, auf dieser einsamen Insel hier, und ich bin nun wieder fromm geworden. Rum trinken – damit fängst du mich nicht mehr. Bloß einen Fingerhut voll, auf gut Glück, natürlich – den will ich haben, sobald ich die erste Gelegenheit habe. Ich werde gewiß ein guter Mensch sein, und ich sehe auch den guten Weg vor mir. Und, Jim,« – dabei sah er sich um und senkte seine Stimme zu einem ganz leisen Flüstern – »ich bin reich!«

Ich war jetzt überzeugt, daß der arme Bursche in seiner Einsamkeit verrückt geworden wäre, und dies Gefühl muß wohl auf meinem Gesicht zu lesen gewesen sein; denn er wiederholte ganz aufgeregt seine Behauptung:

»Reich! reich – sage ich dir. Und ich will dir was sagen: ich will einen Mann aus dir machen, Jim. Oh, Jim! Du wirst deinen Stern dafür segnen, daß du der erste warst, der mich gefunden!«

Plötzlich aber kam ein Schatten über sein Gesicht; er packte meine Hand mit einem festen Griff und hielt mir drohend den Zeigefinger vor die Augen und fragte:

»Nun, Jim – jetzt sage mir die Wahrheit; das ist doch nicht Flints Schiff?«

Da hatte ich eine glückliche Eingebung. Ich begann zu glauben, daß ich einen Verbündeten gefunden hätte, und antwortete ihm ohne Zögern:

»Es ist nicht Flints Schiff, und Flint ist tot; aber ich will dir die Wahrheit sagen, wie du es von mir verlangst: es sind einige von Flints Leuten an Bord, und das ist schlimm für uns andere!«

»Doch nicht ein Mann – mit einem – Bein?«

»Silver?« fragte ich.

»Richtig – Silver! Das war sein Name.«

»Er ist der Koch, und außerdem der Rädelsführer.«

Er hielt mich immer noch beim Handgelenk fest; und als ich diese Worte gesagt hatte, drehte er mir beinahe den Arm um und sagte:

»Wenn Long John dich geschickt hat, bin ich so gut wie geliefert – das weiß ich. Aber was meinst du wohl, was ich mit dir machen werde?«

Ich hatte mich im Nu entschlossen und erzählte ihm, anstatt seine Frage zu beantworten, die ganze Geschichte unserer Reise und die schwierige Lage, in der wir uns befänden. Er hörte mich mit gespannter Aufmerksamkeit an, und als ich fertig war, tätschelte er mir die Backe und sagte:

»Du bist ein guter Junge, Jim! Und ihr seid alle in der Klemme, nicht wahr? Na, setzt nur euer Vertrauen auf Ben Gunn – Ben Gunn ist der Mann, dies zu machen. Nun sage mal: Würdest du es für wahrscheinlich halten, daß Euer Squire sich anständig bezeigen würde, wenn er Hilfe bekäme, da er doch in der Klemme ist, wie du bemerkst?«

Ich sagte ihm, der Squire sei der anständigste und freigebigste Mann von der Welt.

»Ei ja, aber siehst du,« antwortete Ben Gunn, »ich meinte damit nicht, daß er mich zum Torwächter machen und mir eine Livree geben sollte und so weiter; daran liegt mir nichts, Jim. Was ich meine, ist dies: Würde er wohl von dem Gelde, das jetzt schon so gut wie mein ist, mir was abgeben – sagen wir: vielleicht eintausend Pfund Sterling?«

»Ich bin überzeugt, das wird er tun. Es war überhaupt schon bestimmt, daß alle Leute einen Anteil bekommen sollten.«

»Und freie Überfahrt nach Hause?« fügte er hinzu, indem er ein ganz besonders pfiffiges Gesicht machte.

»Oh!« rief ich; »der Squire ist ein Gentleman. Außerdem – wenn wir die andern loswerden, brauchen wir dich ja, damit wir das Schiff nach Hause bringen können.«

»Richtig – dazu hättet ihr mich nötig!«

Und er schien sich sehr erleichtert zu fühlen. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort:

»Nun, Jim, ich will dir was sagen. So viel will ich dir sagen, und nicht mehr: Ich war auf Flints Schiff, als er den Schatz vergrub; er und sechs Mann – sechs starke Seeleute. Sie waren nahezu eine Woche an Land, und wir lagen die ganze Zeit vor Anker, das alte ›Walroß‹. Eines schönen Tages geht das Signal hoch, und da kommt Flint, ganz allein in einem kleinen Boot, und um den Kopf ein blaues Tuch gebunden. Die Sonne ging gerade auf, und totenblaß sah er aus, Käpp'n Flint. Aber, er war da, verstehst du – und alle sechs waren tot – tot und begraben. Wie er's gemacht hatte, das konnte keiner bei uns an Bord herausbringen. Er hatte gefochten und gemordet und plötzlich zugeschlagen wahrscheinlich – er allein gegen sechs. Billy Bones war der Steuermann; Long John, der war Schiemann; sie fragten ihn, wo der Schatz wäre. ›Oh‹, rief er, ›ihr könnt ja an Land gehen, wenn ihr Lust habt, und könnt da bleiben,‹ sagte er; ›aber das Schiff, das segelt gleich wieder aus, um mehr zu holen, beim Donner nochmal!‹ Ja, das sagte er.

»Na, vor drei Jahren war ich auf einem anderen Schiff, und wir kriegten diese Insel in Sicht. ›Jungens,‹ sag' ich, ›da ist Flints Schatz! Laßt uns landen und ihn suchen!‹ Dem Käpp'n gefiel das nicht; aber meine Meßmaate waren alle miteinander dafür, und wir landeten. Zwölf Tage lang suchten sie darnach, und jeden Tag schimpften sie fürchterlich auf mich, bis eines schönen Morgens alle miteinander wieder an Bord gingen. ›Du, Benjamin Gunn,‹ sagen sie, ›kriegst eine Muskete,‹ sagen sie, ›und einen Spaten und eine Hacke. Du kannst hier bleiben und für dich alleine Flints Geld finden!‹ sagen sie.

»Na, Jim – drei Jahre bin ich hier gewesen, und von dem Tage an bis heute habe ich keinen Mundvoll christliches Essen gehabt. Aber trotz alledem – sieh mich mal an. Sehe ich aus wie ein gewöhnlicher Matrose? Nein, sagst du. Und ich war es auch nicht, sage ich.«

Und bei diesen Worten zwinkerte er mir zu und drückte mir das Handgelenk zusammen. Dann fuhr er fort:

»Sage bloß diese Worte zu deinem Squire, Jim: ›er war es auch nicht‹ – das sind genau die Worte, die du sagen mußt. ›Drei Jahre war er der Herr auf dieser Insel, bei Tag und Nacht, in Regen und Sonnenschein; und manchmal dachte er vielleicht an ein Gebet (sagst du) und manchmal dachte er vielleicht an seine alte Mutter (sagst du), ob sie wohl noch am Leben wäre; aber der größte Teil von Gunns Zeit (so mußt du sagen) – der größte Teil von seiner Zeit ging auf was anderes drauf‹. Und dann gibst du ihm einen kleinen Wink, wie ich jetzt dir.«

Und dabei zwinkerte er mir wieder sehr vertraulich zu.

»Und dann,« fuhr er fort, »dann kommt die Hauptsache; dann sagst du dies: ›Gunn ist ein guter Mensch – so mußt du sagen –, und er hat viel mehr Zuvertrauen – viel mehr, vergiß nicht, das zu sagen! – zu einem Gentleman, der als Gentleman geboren ist, als zu diesen Glücks-Gentlemen, wie er selber einer gewesen ist.«

»Höre,« sagte ich, »ich verstehe kein Wort von dem, was du da gesagt hast. Aber das ist ja auch ganz einerlei – denn wie soll ich an Bord kommen?«

»Hm – da liegt der Hund begraben; da hast du recht. Aber na, ich habe da ein Boot, das ich mit meinen eigenen zwei Händen mir gemacht habe, ich habe es unter der weißen Klippe. Wenn es zum Allerschlimmsten kommt, könnten wir es damit versuchen, sobald es dunkel geworden ist. Oho!« rief er plötzlich: »Was ist das?«

Denn gerade in diesem Augenblick, obgleich bis zum Sonnenuntergang noch mindestens eine Stunde war, donnerte ein Kanonenschuß, der alle Echos der Insel erweckte.

»Das Gefecht hat begonnen!« rief ich. »Komm mit!«

Und ich begann nach dem Ankerplatz hinunterzulaufen; alle meine Ängste waren vergessen. Dicht an meiner Seite trabte leichtfüßig der ausgesetzte Matrose in seinem Ziegenfell.

»Links! Links!« sagte er; »halte dich links, Maat Jim. Fix unter die Bäume! Da schoß ich meine erste Ziege. Sie kommen jetzt nicht mehr hier herunter; sitzen alle oben auf den Bergen, aus Angst vor Benjamin Gunn. Ah! und da ist der Friedhof! siehst du die Grabhügel? Hierher kam ich ab und zu und betete, wenn ich dachte, es könnte wohl wieder ein Sonntag sein. Es ist ja eigentlich keine Kirche, aber es kam mir doch feierlicher vor; und dann, nicht wahr? – Ben Gunn hatte es ja ein bißchen knapp; keinen Paster, nicht mal eine Bibel und eine Flagge, verstehst du!«

So plapperte er immerzu, während ich rannte, so schnell ich konnte; natürlich bekam er keine Antworten, aber er erwartete auch keine.

Dem Kanonenschuß folgte nach einem ziemlich langen Zeitraum eine Salve Kleingewehrfeuer.

Wieder gab es eine Pause, und dann sah ich, eine Viertelmeile von mir entfernt, die englische Flagge über einem Walde hoch in der Luft flattern.

 


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