Robert Louis Stevenson
Die Schatzinsel
Robert Louis Stevenson

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III
Mein Abenteuer an Land

Dreizehntes Kapitel
Der Anfang meines Landabenteuers

Als ich am nächsten Morgen auf Deck kam, sah die Insel ganz anders aus. Obwohl es jetzt vollkommen windstill war, hatten wir doch während der Nacht eine gute Strecke zurückgelegt; jetzt lagen wir in der Kalmte ungefähr eine halbe Meile südöstlich von der flachen Ostküste. Graugrüne Wälder bedeckten einen großen Teil des Bodens. Diese gleichmäßige Färbung war allerdings durch Streifen gelben Sandes in dem niedrigen Teil der Insel unterbrochen, sowie durch viele große Bäume, dem Anschein nach Nadelholz, die über die Wälder emporragten – manche einzeln, manche in kleinen Gruppen; aber die allgemeine Färbung war eintönig und trübe. Über den Wäldern erhoben die Berge sich als nackte Felsen. Diese waren alle von seltsamer Form, und das »Fernrohr«, das um drei- oder vierhundert Fuß über die anderen emporragte, war zugleich auch in bezug auf die Gestalt am sonderbarsten; denn der Berg fiel beinahe auf allen Seiten steil ab und war an der Spitze plötzlich scharf abgebrochen, wie ein Sockel für ein Denkmal.

Die Hispaniola schwankte in der Dünung des Ozeans. Das Steuerruder schlug hin und her, und das ganze Schiff stöhnte und ächzte. Ich mußte mich fest an das Bollwerk anklammern, und mir wurde schwarz vor den Augen; denn obgleich ich unterwegs leidlich seefest war, so konnte ich mich doch niemals daran gewöhnen, so auf einer Stelle stillzuliegen und wie eine Flasche herumgerollt zu werden; besonders morgens auf nüchternen Magen fühlte ich mich immer übel.

Vielleicht war es dieses Unwohlsein – vielleicht war es auch der Anblick der Insel mit ihren grauen, trübseligen Wäldern und den wilden Felsenbergen, und der Brandung, die schäumend sich an der steilen Küste brach und deren Donnern ich hörte. Obgleich die Sonne hell und warm schien, und die Strandvögel rings um uns herum fischten und schrien, und obgleich man hätte meinen sollen, jeder wäre gern an Land gegangen, nachdem er so lange auf See gewesen war – so sank mir doch das Herz in die Stiefel, wie man zu sagen pflegt; und bei dem ersten Blick haßte ich den bloßen Gedanken an diese Schatzinsel.

Wir hatten eine harte Morgenarbeit vor uns; denn da es vollkommen windstill war, so mußten die Boote ausgesetzt und bemannt werden, um das Schiff drei oder vier Meilen weit um die Ecke der Insel herumzuschleppen, bis wir in dem engen Sund hinter der Skelettinsel waren. Ich ging als Freiwilliger in eins der Boote, wo ich natürlich nichts zu tun hatte. Die Hitze war fürchterlich drückend, und die Leute schimpften mächtig bei ihrer Arbeit. Anderson hatte den Befehl über mein Boot, und schimpfte so laut wie die schlimmsten, anstatt seine Leute in Zucht zu halten.

»Na,« sagte er mit einem Fluch: »es ist ja nicht für ewig!«

Ich hielt dies für ein sehr schlimmes Zeichen; denn bis zu diesem Tage hatten die Leute eifrig und willig ihre Arbeit getan; aber der bloße Anblick der Insel hatte die Mannszucht gelockert.

Während der ganzen Fahrt stand Long John neben dem Mann am Steuerruder auf dem Schiff und gab die Richtung an. Er kannte das Fahrwasser wie seine Handfläche; und obgleich der Mann, der die Tiefen lotete, überall mehr Wasser fand, als auf der Karte angegeben war, brauchte John sich niemals auch nur einen Augenblick zu besinnen.

»Die Ebbe bringt einen starken Strom,« sagte er, »und diese Fahrtrinne hier ist sozusagen mit dem Spaten ausgegraben.«

Wir machten genau an der Stelle halt, wo auf der Karte der Anker eingezeichnet war, ungefähr eine Drittelmeile von beiden Küsten entfernt, von der der Hauptinsel auf der einen Seite, von der der Skelettinsel auf der anderen. Der Boden war reiner Sand. Als unser Anker in das Wasser plumpste, erhoben sich Wolken von Vögeln flatternd und kreischend über die Wälder; aber in weniger als einer Minute waren sie wieder auf ihren Bäumen, und alles war wieder still.

Der Ort war auf allen Seiten von Land umschlossen und lag in Wäldern vergraben, deren Bäume bis unmittelbar an die Hochwassermarke herankamen; der Strand war beinahe ganz flach, und die Berggipfel standen in der Ferne wie ein Amphitheater, einer hier, einer dort. Zwei kleine Flüsse, oder besser gesagt zwei Sümpfe, ergossen sich in diesen Teich, wie man das Gewässer nennen konnte; und das Laubwerk an diesem Teil des Strandes hatte eine Art von giftgrüner Farbe. Vom Schiff aus konnten wir weder vom Hause noch von dem Palisadenwerke etwas sehen; denn beide lagen vollständig in den Bäumen verborgen; hätten wir nicht die Karte in unserer Kajüte gehabt, so hätten wir glauben können, wir seien die ersten, die jemals an dieser Stelle ankerten, seitdem die Insel aus dem Meere aufgetaucht war.

Kein Lüftchen regte sich und kein Laut war zu hören, außer dem Donnern der Brandung, die in der Entfernung einer halben Meile gegen den Strand und die Klippen anschlug. Ein eigentümlicher Geruch hing über dem Ankerplatz – wie von vermodernden Blättern und faulem Holz. Ich bemerkte, wie der Doktor fortwährend schnüffelte wie einer, der ein faules Ei riecht.

»Vom Schatzsuchen verstehe ich nichts,« sagte er, »aber ich will meine Perücke darauf wetten, daß hier Fieber ist!«

Wenn die Haltung der Leute in den Booten schon beunruhigend gewesen war, so wurde sie tatsächlich bedrohlich, als sie wieder an Bord gekommen waren. Sie lagen auf dem Deck herum und schimpften untereinander. Der geringste Befehl wurde mit düsteren Blicken entgegengenommen und wurde widerwillig und nachlässig ausgeführt. Selbst die ehrlichen Leute mußten davon angesteckt sein; denn keiner an Bord machte es besser als die anderen. Es war klar und deutlich, daß Meuterei wie eine Gewitterwolke über uns in der Luft hing.

Aber nicht nur wir von der Kajütenpartei bemerkten die Gefahr. Long John war eifrig an der Arbeit, ging von einer Gruppe zur anderen, gab überall guten Rat; kein Mensch hätte ein besseres Beispiel geben können. Er überbot sich selber an Bereitwilligkeit und Höflichkeit; für alle hatte er ein freundliches Lächeln. Wenn ein Befehl gegeben wurde, war augenblicklich John auf seiner Krücke da, mit dem freudigsten »Jawoll, Herr!« von der Welt; und wenn nichts anderes zu tun war, stimmte er ein Lied nach dem anderen an, wie wenn er auf diese Weise das Mißvergnügen der anderen verbergen wollte.

Von allen trüben Vorzeichen dieses trüben Nachmittags erschien diese offenbare Ängstlichkeit des langen John als das schlimmste.

Wir hielten in der Kajüte Kriegsrat.

»Herr Trelawney,« sagte der Kapitän, »wenn ich noch einen Befehl riskiere, wird die ganze Mannschaft über uns herfallen. Sie sehen selber, wie es steht. Ich bekomme eine grobe Antwort, nicht wahr? Nun, wenn ich darauf ein Wort sage, kommt es im Nu zum Schlagen; tu ich das nicht, so wird Silver begreifen, daß ich eine bestimmte Absicht dabei habe, und dann sind wir ebensoweit. Wir haben jetzt einen einzigen Menschen, auf den wir uns verlassen können.«

»Und wer ist das?« fragte der Squire.

»Silver, Herr Trelawney!« antwortete der Kapitän; »er ist so ängstlich wie Sie und ist darauf bedacht, daß alles seinen ruhigen Gang geht. Die augenblickliche Stimmung der Leute ist nur eine kleine Verdrießlichkeit; die wird er ihnen bald ausreden, wenn er nur eine Möglichkeit dazu hat, und darum schlage ich vor, daß wir ihm diese Möglichkeit gewähren. Lassen Sie uns der Mannschaft erlauben, heute nachmittag an Land zu gehen. Wenn sie alle gehen, nun, dann können wir das Schiff verteidigen. Wenn keiner von ihnen gehen will, dann wehren wir uns in der Kajüte, und Gott möge das Recht beschützen! Wenn aber einige gehen – glauben Sie meinen Worten –, so wird Silver sie so sanft wie Lämmer an Bord zurückbringen.«

Es wurde beschlossen, diesen Rat zu befolgen; alle sicheren Leute bekamen geladene Pistolen; Hunter, Joyce und Redruth wurden ins Vertrauen gezogen. Sie nahmen die Nachricht mit geringerer Überraschung und mit größerem Mut auf, als wir erwartet hatten. Dann ging der Kapitän auf Deck und hielt eine Ansprache an die Mannschaft:

»Jungens!« sagte er; »wir haben einen heißen Tag gehabt und sind alle müde und nicht in Stimmung. Eine kleine Fahrt an Land wird keinem was schaden; die Boote sind noch zu Wasser; ihr könnt die Gigs nehmen, und wer von euch Lust hat, kann für den Nachmittag an Land gehen. Eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang werde ich eine Kanone abfeuern.«

Ich glaube, die dummen Tröpfe müssen geglaubt haben, sie würden sich die Schienbeine an Schätzen zerstoßen, sobald sie an Land kämen; denn ihre verdrießliche Laune war im Nu verschwunden, und sie brachten ein Hurra aus, das von den Bergen in der Ferne widerhallte, so daß die Vögel wieder aufflogen und um den Ankerplatz herumflatterten.

Der Kapitän war zu klug, um ihnen im Wege zu stehen. Er verschwand sofort in der Kajüte und überließ es Silver, alle Anordnungen für den Ausflug zu treffen; und ich glaube, es war gut, daß er das tat. Wäre er auf Deck geblieben, so hätte er nicht länger so tun können, wie wenn er die Lage der Dinge nicht begriffe. Das war so klar wie der Tag. Silver war der Kapitän, und eine verdammt rebellische Mannschaft hatte er unter sich! Die ehrlichen Leute – und es stellte sich, wie ich sehen sollte, bald heraus, daß solche an Bord waren – müssen sehr dumm gewesen sein. Oder vielleicht lag die Sache so, daß alle Leute von dem Beispiel der Rädelsführer angesteckt waren – einige mehr, andere weniger; ein paar aber, die im Grunde gute Leute waren, konnten nicht weiter gebracht werden. Solche Leute können wohl verdrießlich sein, weil ihnen die Arbeit nicht paßt, es ist aber doch eine ganz andere Sache, ein Schiff mit Gewalt zu nehmen und eine ganze Anzahl unschuldiger Menschen zu ermorden.

Endlich war die Gesellschaft zum Aufbruch bereit. Sechs Leute wollten an Bord bleiben, und die anderen dreizehn, unter ihnen Silver, gingen in die Boote.

Und in diesem Augenblick hatte ich den ersten von den eigentlich verrückten Einfällen, die so viel dazu beitrugen, unser Leben zu retten. Wenn sechs Leute von Silver zurückgelassen wurden, so war es klar, daß die anderen dreizehn nicht das Schiff mit Gewalt angreifen konnten; und da nur sechs zurückblieben, so war ebenfalls klar, daß die Kajütenpartei für den Augenblick einer Hilfe nicht bedurfte.

So kam ich auf den Gedanken, mit an Land zu gehen. Im Nu hatte ich mich an der Schiffswand heruntergelassen und im Vorderteil des nächsten Bootes zusammengekauert, und beinahe in demselben Augenblick stieß dieses ab.

Nein, niemand achtete auf mich, nur der Mann, der zunächst am Bug ruderte, sagte zu mir:

»Bist du das, Jim? Ducke deinen Kopf unter!«

Aber Silver blickte vom anderen Boot scharf herüber und rief, ob ich drin sei; und von diesem Augenblick an begann es mir leid zu tun, daß ich mich auf das Abenteuer eingelassen hatte.

Die Mannschaften der beiden Boote ruderten um die Wette, wer zuerst an Land sei; aber das Boot, worin ich war, war dem anderen etwas voraus, und da es zugleich auch leichter und besser bemannt war, so gewann ich einen weiten Vorsprung. Es war schon zwischen ein paar Bäumen am Strande auf den Sand gelaufen, und ich hatte einen Ast ergriffen und mir einen Schwung gegeben, der mich in das nächste Dickicht brachte, als Silver mit seinen Leuten noch mindestens um hundert Schritte vom Ufer entfernt war.

»Jim! Jim!« hörte ich ihn rufen.

Aber man kann sich wohl denken, daß ich auf sein Geschrei nicht achtete; springend und mich duckend und durch die Büsche brechend lief ich immer geradeaus, immer meiner Nase nach, bis ich nicht mehr konnte.

 


 << zurück weiter >>