Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Geschichte von dem Hause mit den grünen Fensterläden

Francis Scrymgeour, ein Angestellter der »Bank von Schottland« in Edinburgh, hatte in einer Sphäre ruhigen, rechtschaffenen und häuslichen Lebens das fünfundzwanzigste Jahr erreicht. Seine Mutter starb, als er noch ein Knabe war. Aber sein Vater, ein verständiger und ehrenwerter Mann, hatte ihm eine ausgezeichnete Schulbildung zuteil werden lassen und ihn zu Hause an ein ordentliches und sparsames Leben gewöhnt.

Francis, der von Natur fügsam und ein liebevoller Sohn war, hatte sich dieser Vorteile mit Eifer bedient und sich mit Leib und Seele seiner Berufstätigkeit gewidmet.

Ein Spaziergang am Sonnabend nachmittag, ein gelegentliches Mahl mit Familienangehörigen, und alljährlich ein vierzehntägiger Ausflug in die Hochlande oder sogar nach dem europäischen Festlande hinüber, waren seine hauptsächlichen Zerstreuungen. So war er bald bei seinen Vorgesetzten beliebt geworden und bezog bereits ein Gehalt von fast zweihundert Pfund jährlich, mit der Aussicht, daß er schließlich beinahe das Doppelte dieses Betrages verdienen würde.

Wenig junge Leute waren mit ihrem Leben zufriedener, wenige waren fleißiger und arbeitswilliger als Francis Scrymgeour. Wenn er abends die Zeitung gelesen hatte, spielte er manchmal seinem Vater, für dessen Tugenden er große Ehrfurcht empfand, etwas auf der Flöte vor.

Eines Tages erhielt er von einer bekannten Sachwalterfirma einen Brief mit dem Ersuchen, sie sofort behufs einer Unterredung aufzusuchen. Der Brief trug die Bezeichnung »Privatim und vertraulich« und war ihm in das Bankgebäude geschickt worden, statt in seine Wohnung – zwei ungewöhnliche Umstände, die ihn veranlaßten, der Aufforderung mit besonderem Eifer zu folgen.

Der Seniorteilhaber der Firma, ein Herr von sehr ernstem Wesen, hieß ihn mit großer Würde willkommen, bat ihn Platz zu nehmen und erklärte ihm hierauf in der abgehackten Sprechweise eines alten Geschäftsmannes die Angelegenheit, um die es sich handle: Eine Person, deren Namen nicht genannt werden dürfe, von der der Anwalt aber alle Ursache habe, eine gute Meinung zu haben – kurz gesagt, ein Mann, der im Lande eine bedeutende Stellung einnehme –, wünsche ihm, Francis Scrymgeour, ein Jahrgeld von fünfhundert Pfund auszusetzen. Das Kapital solle von der Anwaltsfirma und zwei Vertrauensmännern, deren Namen ebenfalls nicht genannt werden dürften, verwaltet werden. Mit dieser freigebigen Schenkung seien allerdings einige Bedingungen verknüpft; er sei jedoch der Meinung, daß sein neuer Klient in diesen Bedingungen nichts Übertriebenes oder Unehrenhaftes finden werde. Diese beiden Wörter wiederholte er mit besonderer Betonung, wie wenn er wünschte, weitere Aufklärungen über die Sache nicht zu geben.

Francis fragte, welcher Art diese Bedingungen seien.

»Die Bedingungen«, sagte der Sachwalter, »sind, wie ich bereits zweimal bemerkte, weder unehrenhaft noch übertrieben. Allerdings kann ich Ihnen gleichzeitig nicht verhehlen, daß sie sehr ungewöhnlicher Art sind. Die ganze Sache liegt überhaupt eigentlich nicht auf unserem Gebiet, und ich würde sie sicherlich nicht übernommen haben, wenn nicht der Herr, der mich damit betraute, eine so angesehene Persönlichkeit wäre – und wenn nicht, gestatten Sie mir, Herr Scrymgeour, das zu bemerken, die vielen lobenden und, wie ich nicht bezweifle, wohlverdienten Empfehlungen über Ihre Person mir eine große Teilnahme für Sie eingeflößt hätten.«

Francis bat ihn, sich etwas deutlicher in bezug auf diese Bedingungen auszusprechen, da er, wie er offen gestehen wolle, in großer Unruhe wegen dieses Punktes sei.

»Der Bedingungen sind zwei,« antwortete der Sachwalter; »nur zwei. Und die Summe beträgt, was Sie bitte beachten wollen, fünfhundert Pfund im Jahr – und zwar ohne Abzug, was ich bisher zu erwähnen vergaß –, ohne jeden Abzug.«

Und der Sachwalter machte ein feierliches Gesicht, indem er die Augenbrauen hochzog und den jungen Bankbeamten ansah.

»Die erste Bedingung«, fuhr er fort, »ist von einer überraschenden Einfachheit: Sie müssen am Nachmittag des fünfzehnten dieses Monats, also Sonntag, in Paris sein; dort werden Sie am Kassenschalter der Comédie Française eine Eintrittskarte finden, die auf Ihren Namen hinterlegt ist. Sie haben während der ganzen Vorstellung auf dem Platz, für den die Karte lautet, sitzenzubleiben. Das ist alles.«

»Ich hätte allerdings gewiß einen Wochentag vorgezogen,« antwortete Francis. »Aber freilich – schließlich – wenn man mal auf der Reise ist –«

»Und noch dazu in Paris, mein lieber Herr,« setzte der Anwalt beschwichtigend hinzu. »Ich glaube, ich bin selber ein Mann, der es mit der Heiligung des Sabbats genau nimmt; aber unter solchen Umständen, und noch dazu in Paris, da würde ich mich nicht einen Augenblick bedenken.«

Und die beiden sahen einander an und lachten behaglich zusammen.

»Die zweite Bedingung ist von größerer Bedeutung,« fuhr der Sachwalter fort. »Sie betrifft Ihre Verheiratung. Mein Klient, der von einer tiefen Teilnahme an Ihrem Wohlergehen erfüllt ist, wünscht bei der Wahl Ihrer Gattin unbedingt den Ausschlag zu geben. Unbedingt – verstehen Sie mich wohl!«

»Lassen Sie uns diese Bedingung etwas genauer feststellen, wenn ich bitten darf,« antwortete Francis. »Muß ich eine jede heiraten, die dieser Unsichtbare mir vorzuschlagen geruht – einerlei ob Jungfrau oder Witwe, ob weiß oder schwarz?«

»Ich wurde beauftragt. Ihnen zu versichern, daß Ihr Wohltäter grundsätzlich darauf halten würde, daß die Erwählte an Jahren und Lebensstellung zu Ihnen passe. In bezug auf die Rasse muß ich Ihnen gestehen, daß ich daran nicht gedacht habe, und daß ich deshalb unterließ, mich danach zu erkundigen; aber wenn Sie es wünschen, will ich Ihre Frage sofort vormerken und Ihnen sobald wie möglich darüber Nachricht geben.«

»Herr Anwalt,« sagte Francis, »wir müssen erst noch sehen, ob diese ganze Geschichte nicht ein höchst gemeiner Schwindel ist. Die einzelnen Umstände sind unerklärlich – ich hätte beinahe gesagt: unglaublich. Und solange ich nicht etwas klarer sehe und einen vernünftigen Beweggrund erkennen kann, muß ich Ihnen gestehen, daß ich höchst ungerne zu dieser Sache meine Hand bieten möchte. In dieser schwierigen Lage bitte ich Sie um Ihren Rat. Ich muß erfahren, was dieser ganzen Geschichte zugrunde liegt. Wenn Sie das nicht wissen, oder nicht erraten können, oder mir nicht sagen dürfen, so nehme ich meinen Hut und gehe wieder in meine Bank.«

»Ich weiß es nicht,« antwortete der Sachwalter; »aber ich habe eine Vermutung, die wohl nicht fehlgehen dürfte: Ihr Vater, und kein anderer, ist der Veranlasser dieser dem Anschein nach ganz unnatürlichen Geschichte.«

»Mein Vater!« rief Francis mit unverhohlenem Hohn. »Der brave Mann! Ich kenne jeden Gedanken seiner Seele und jeden Schilling seines Vermögens!«

»Sie legen meine Worte nicht richtig aus,« sagte der Anwalt. »Ich meine nicht Herrn Scrymgeour senior – denn der ist nicht Ihr Vater. Als er und seine Frau nach Edinburgh kamen, waren Sie schon beinahe ein Jahr alt, aber Sie befanden sich noch keine drei Monate unter ihrer Obhut. Das Geheimnis ist gut bewahrt worden; aber was ich Ihnen sage, ist Tatsache. Ihr Vater ist unbekannt, und ich sage Ihnen nochmals, ich glaube, daß ursprünglich von ihm die Anerbietungen ausgehen, die ich beauftragt bin, Ihnen zu übermitteln.«

Es wäre unmöglich, das Erstaunen zu schildern, in das Francis Scrymgeour ob dieser unerwarteten Nachricht geriet. Er gestand dem Anwalt, daß er völlig ratlos sei, und sagte:

»Nachdem Sie mir eine so überraschende Mitteilung gemacht haben, müssen Sie mir gestatten, einige Stunden darüber nachzudenken. Sie werden heute abend erfahren, zu welchem Entschluß ich gekommen bin.«

Der Anwalt lobte seine Vorsicht. Francis ließ sich unter irgendeinem Vorwand von seiner Bank Urlaub geben, machte einen langen Spaziergang draußen vor der Stadt und überlegte sich die Sache von allen Seiten und von jedem Standpunkt aus. Ihn durchdrang ein angenehmes Gefühl seiner eigenen Wichtigkeit, und gerade deshalb überlegte er sich seinen Entschluß um so reiflicher; aber der Ausgang war von Anfang an nicht zweifelhaft. Seine ganze Natur wurde unwiderstehlich von dem Angebot der fünfhundert Pfund im Jahr angezogen, nicht weniger aber von den sonderbaren Bedingungen, an die dieses Jahrgeld geknüpft war. Er entdeckte in seinem Herzen eine unüberwindliche Abneigung gegen den Namen Scrymgeour, an dem er bisher niemals etwas auszusetzen hatte; er begann die beschränkten, unromantischen Verhältnisse seines bisherigen Lebens zu verachten; und als sein Entschluß einmal feststand, ging er mit einem neuen Gefühl von Kraft und Freiheit und überließ sich den frohesten Hoffnungen für die Zukunft.

Er sagte dem Anwalt ein einziges Wort und erhielt sofort einen Scheck für die beiden rückständigen Vierteljahre; denn das Jahresgehalt galt vom ersten Januar an. Mit diesem Scheck in der Tasche ging er nach Hause. Die Mietswohnung in der Scotland Street war in seinen Augen schäbig; seine Nüstern empörten sich zum erstenmal gegen den Geruch von Hammelbrühe, und an seinem Adoptivvater bemerkte er kleine Verstöße gegen den guten Ton, die ihn überraschten und beinahe anekelten. Er beschloß, daß schon der nächste Tag ihn auf dem Wege nach Paris sehen soll.

Lange vor dem ihm angegebenen Tage traf er in dieser Stadt ein; er nahm ein Zimmer in einem bescheidenen Gasthof, der von Engländern und Italienern besucht wurde, und bemühte sich, seine Kenntnisse in der französischen Sprache zu verbessern; zu diesem Zweck ließ er zweimal in der Woche einen Lehrer kommen, unterhielt sich möglichst oft mit Müßiggängern, die er in den Champs Elysées traf, und ging jeden Abend ins Theater. Er ergänzte seinen Kleidervorrat durch mehrere Anzüge nach der neuesten Mode und ließ sich von einem Barbier in der nächsten Straße jeden Morgen rasieren und frisieren. Hierdurch begann er etwas ausländisch auszusehen und man merkte ihm seine schottische Vergangenheit und Herkunft nicht mehr so sehr an.

Schließlich kam der Sonnabend heran und er begab sich an den Kassenschalter des Theaters in der Rue Richelieu. Kaum hatte er seinen Namen genannt, so brachte der Kassierer die Karte in einem Umschlag zum Vorschein, auf dem die Adresse offenbar unmittelbar vorher geschrieben war, und sagte zu dem jungen Bankbeamten: »Die Karte wurde gerade in diesem Augenblicke genommen.«

»Was Sie nicht sagen! Darf ich fragen, wie der Herr aussah?«

»Ihr Freund ist leicht zu beschreiben,« antwortete der Angestellte. »Er ist ein alter, kräftiger und schöner Herr mit weißen Haaren und einer Säbelnarbe im Gesicht. Sie müssen eine so auffallende Persönlichkeit unbedingt sofort erkennen.«

»Ohne Zweifel,« antwortete Francis, »und ich danke Ihnen bestens für die freundliche Auskunft.«

»Er kann noch gar nicht weit sein,« setzte der Kassierer hinzu; »wenn Sie sich beeilen, können Sie ihn vielleicht noch einholen.«

Francis ließ sich das nicht zweimal sagen; er lief aus dem Theater heraus, stellte sich mitten auf die Straße und sah sich nach allen Richtungen um. Mehr als ein weißhaariger Herr befand sich innerhalb seines Gesichtskreises; aber obwohl er sie alle, einen nach dem anderen überholte, fand er doch nicht den richtigen; denn keiner von ihnen hatte den Säbelhieb.

Beinahe eine halbe Stunde lang lief er durch alle Straßen in der Nachbarschaft; schließlich sah er ein, daß dieses Herumlaufen ganz zwecklos war, und beschloß, einen längeren Spaziergang zu machen, um seine Aufregung zu meistern; denn es war dem jungen Mann doch tief zu Herzen gegangen, daß er seinem mutmaßlichen Vater so nahe gewesen war.

Der Zufall führte ihn in die Rue Drouot und von dort die Rue des Martyrs hinauf; und der Zufall bediente ihn diesmal besser, als die sorgfältigste Überlegung es hätte tun können. Denn auf dem äußeren Boulevard sah er zwei Herren, die in eifrigem Gespräch auf einer Bank saßen. Der eine war dunkelhaarig, jung und hübsch; er trug weltliche Kleider, war aber unverkennbar geistlichen Standes; der andere entsprach in jeder Einzelheit der Beschreibung, die der Theaterkassierer ihm gegeben hatte.

Francis fühlte, wie ihm das Herz klopfte; er wußte, daß er jetzt bald die Stimme seines Vaters hören würde. Er ging daher in weitem Bogen um die beiden herum und setzte sich geräuschlos hinter sie, die zu ernstlich in ihrem Gespräch vertieft waren, um viel anderes zu bemerken. Wie Francis erwartet hatte, wurde die Unterhaltung in englischer Sprache geführt.

»Ihr Mißtrauen beginnt mich zu ärgern, Rolles,« sagte der ältere. »Ich sage Ihnen, ich tue mein Äußerstes; aber man kann nicht in einem Augenblick Millionen flüssig machen. Habe ich denn nicht Sie, der Sie mir völlig fremd waren, aus bloßem guten Willen bei mir ausgenommen? Leben Sie nicht sehr behaglich von meinen freiwilligen Gaben?«

»Von Ihren Vorschüssen, Herr Vandeleur,« berichtigte der andere.

»Meinetwegen sagen Sie Vorschüsse; und sagen Sie statt ›aus gutem Willen‹ ›aus Gewinnsucht‹, wenn Sie dieses Wort vorziehen,« antwortete Vandeleur ärgerlich. »Ich habe keine Lust an Wortklaubereien. Geschäft ist Geschäft; und Ihr Geschäft – gestatten Sie mir, Sie darauf aufmerksam zu machen – ist zu schmutzig, als daß Sie so hochnäsig zu sein brauchten. Vertrauen Sie mir oder sagen Sie sich von mir los und suchen Sie sich irgendeinen anderen; aber verschonen Sie mich endlich einmal, um des Himmels willen, mit Ihren Jeremiaden!«

»Ich fange an, die Welt kennenzulernen,« antwortete der andere, »und ich sehe, daß Sie jeden Grund haben, mich zu betrügen, und keinen einzigen Grund, ehrlich gegen mich zu sein. Ich habe ebensowenig wie Sie ein Vergnügen an Wortklaubereien; Sie wollen den Diamanten für sich selber haben; Sie wissen, daß Sie das gar nicht leugnen können. Haben Sie nicht schon meine Unterschrift gefälscht und in meiner Abwesenheit meine Wohnung durchsucht? Ich begreife, weshalb Sie mich fortwährend vertrösten: Sie liegen auf der Lauer – Sie sind ja der Diamantenjäger! Und Sie werden früher oder später durch gute oder schlechte Mittel den Stein in Ihre Hände bringen, so denken Sie. Ich sage Ihnen: das muß aufhören! Treiben Sie mich noch etwas weiter, und Sie sollen eine Überraschung erleben!«

»Es steht Ihnen gar nicht gut, mir zu drohen! Das kann ein anderer auch! Mein Bruder ist hier in Paris; die Polizei ist auf der Jagd, und wenn Sie dabei beharren, mich mit Ihren Klageliedern anzuöden, so will ich Ihnen auch eine kleine Überraschung bereiten, Herr Rolles. Aber meine Überraschung werden Sie einmal erleben, und dann wird's aus sein. Verstehen Sie mich, oder möchten Sie vielleicht lieber, daß ich es Ihnen auf hebräisch sage? Jedes Ding hat mal ein Ende, und Sie haben es dahin gebracht, daß jetzt meine Geduld zu Ende ist. Dienstag um sieben Uhr; nicht einen Tag, nicht eine Stunde früher! Nicht den kleinsten Bruchteil einer Sekunde früher – und wenn es darum ginge, Ihr Leben zu retten! Und wenn es Ihnen nicht paßt, solange zu warten, so mögen Sie meinetwegen zur Hölle fahren, wo sie am tiefsten ist – mir ist es Wurst!«

Mit diesen Worten stand der Diktator von der Bank auf und ging in der Richtung nach dem Montmartre davon, indem er mit wütendem Gesicht den Kopf schüttelte und mit dem Spazierstock in der Luft herumfuchtelte. Sein Begleiter dagegen blieb in einer Haltung, wie wenn er ganz verzweifelt wäre, auf seiner Bank sitzen.

Francis Scrymgeour war vor Erstaunen und Entsetzen außer sich. Seine Gefühle hatten einen furchtbaren Stoß bekommen. Die hoffnungsvolle Kindesliebe, in der er sich auf die Bank gesetzt hatte, hatte sich in Abscheu und Verzweiflung verwandelt. Der alte Scrymgeour war ein viel freundlicherer und achtungswerterer Vater als dieser gefährliche und leidenschaftliche Intrigant. Aber Francis verlor seine Geistesgegenwart nicht und zögerte keinen Augenblick, der Spur des Diktators nachzugehen.

Dieser Herr lief in seiner Wut mit schnellen Schritten davon und war mit seinen zornigen Gedanken so vollständig beschäftigt, daß er sich auch nicht ein einziges Mal umsah, bis er vor seiner eigenen Tür stand.

Das Haus stand hoch oben in der Rue Lepic, von wo man eine Aussicht über ganz Paris hat und die reine Luft der Höhe atmet. Es war zwei Stockwerke hoch, mit grüngemalten hölzernen Fensterläden, und alle auf die Straße hinausgehenden Fenster waren dicht geschlossen. Baumwipfel erhoben sich über die hohe Gartenmauer, und diese selbst war durch eiserne Spitzen geschützt. Der Diktator blieb einen Augenblick stehen und suchte in der Tasche nach seinem Schlüssel; hierauf öffnete er eine Pforte in der Mauer und verschwand.

Francis sah sich um. Die Gegend war sehr einsam; das Haus lag ganz für sich allein in seinem Garten. Es sah so aus, wie wenn seine Beobachtungen hier plötzlich zu Ende wären. Ein zweiter Umblick zeigte ihm jedoch gleich nebenan ein großes Haus, dessen Giebel nach dem Garten zu lag; und in diesem Giebel befand sich ein einzelnes Fenster.

Er begab sich nach diesem Hause hin und sah einen Aushangzettel, daß unmöblierte Zimmer monatsweise zu vermieten seien; als er sich erkundigte, stellte sich heraus, daß auch das Zimmer mit der Aussicht auf den Garten des Diktators zu vermieten war. Francis besann sich keinen Augenblick; er nahm das Zimmer, machte eine Anzahlung auf die Miete und kehrte nach seinem Gasthof zurück, um sein Gepäck zu holen.

Der alte Herr mit dem Säbelschmiß war vielleicht sein Vater, vielleicht auch nicht; er war vielleicht auf der richtigen Spur, vielleicht auch nicht. Soviel aber war gewiß: er sah sich einem sehr aufregenden Geheimnis gegenüber, und er nahm sich vor, in seiner Beobachtung keinen Augenblick zu ermüden, bis er dieses Geheimnis vollständig ergründet hätte.

Das Fenster seiner neuen Wohnung gewährte dem jungen Scrymgeour einen vollständigen Überblick über den Garten des Hauses mit den grünen Läden. Unmittelbar unter ihm beschattete ein sehr hübscher Kastanienbaum mit dichtem Laub ein paar Holztische, an denen man im Hochsommer speisen konnte. Dichter Graswuchs bedeckte überall den Boden; nur auf der einen Seite, zwischen den Tischen und dem Hause, sah er einen Kiesweg, der von der Veranda bis zur Gartenpforte führte.

Francis spähte durch die Latten der venezianischen Fensterläden hindurch, die er nicht öffnen durfte, um nicht bemerkt zu werden; er beobachtete nur wenig, was einen Schluß auf die Gewohnheiten der Hausinsassen zuließ, und aus diesem wenigen ging nur hervor, daß es Leute waren, die sehr abgeschlossen lebten und die Einsamkeit liebten.

Der Garten erinnerte mit seiner Mauer an einen Klostergarten, das Haus sah wie ein Gefängnis aus. Die grünen Fensterläden der Außenseite waren sämtlich geschlossen; die Tür, die in die Veranda führte, ebenfalls; der Garten, soweit er ihn übersehen konnte, lag vollkommen einsam im Abendsonnenschein. Nur ein dünner Rauchfaden, der aus dem einen Schornstein aufstieg, bekundete die Anwesenheit lebender Menschen.

Um nicht ganz untätig zu sein, und zugleich seiner Lebensweise einen gewissen äußeren Anstrich zu geben, hatte Francis eine französische Übersetzung von Euklids Lehrbuch der Geometrie gekauft. Dieses übersetzte er ins Englische und übertrug die Zeichnungen, indem er sich auf den Fußboden gegen die Wand setzte und seinen Koffer als Schreibtisch benutzte; denn er hatte weder Tisch noch Stuhl; von Zeit zu Zeit stand er auf und warf einen Blick in den Garten des Hauses mit den grünen Läden; aber die Fenster blieben nach wie vor geschlossen und der Garten leer.

Erst spät am Abend ereignete sich etwas, das seine fortgesetzte Aufmerksamkeit belohnte. Zwischen neun und zehn Uhr weckte der scharfe Klang einer Klingel ihn aus einem leichten Schlummer, in den er gesunken war; er sprang an seinen Beobachtungsposten und kam noch zur rechten Zeit, um zu hören, wie mit großem Geräusch Schlösser geöffnet und Riegel zurückgeschoben wurden. Dann sah er Herrn Vandeleur, in einem wallenden Talar von schwarzem Sammet mit gleichem Käppchen, eine Laterne in der Hand, aus der Veranda herauskommen und gemächlich nach der Gartenpforte zu gehen. Das Klirren von Schlössern und Riegeln wiederholte sich, und einen Augenblick später sah Francis in dem hüpfenden Licht der Laterne den Diktator, wie er ein Individuum von sehr gemeinem und abstoßenden Aussehen in sein Haus führte.

Eine halbe Stunde nachher wurde der Besucher wieder bis an die Straße begleitet; Herr Vandeleur setzte seine Laterne auf einen der Gartentische und rauchte unter dem Kastanienbaum nachdenklich seine Zigarre zu Ende. Francis konnte alle seine Bewegungen genau beobachten: wie er die Asche abstreifte oder lange Züge an der Zigarre tat; er bemerkte eine Wolke auf der Stirn des alten Mannes und ein starkes Zucken der Lippen, das auf ein angestrengtes und wahrscheinlich schmerzliches Nachdenken schließen ließ.

Die Zigarre war schon fast aufgeraucht, als plötzlich die Stimme eines jungen Mädchens aus dem Innern des Hauses ihm zurief, es sei zehn Uhr.

»Ich komme sofort,« antwortete John Vandeleur.

Mit diesen Worten warf er den Zigarrenstummel weg, griff nach seiner Laterne und verschwand für diese Nacht in der Veranda. Sobald die Tür geschlossen war, lag das Haus wieder in vollständiger Dunkelheit. So angestrengt Francis auch hinblickte, konnte er auch nicht einmal einen einzigen Lichtschimmer an einer Ritze der Fensterläden bemerken; er zog daraus den sehr verständigen Schluß, daß die Schlafzimmer sich sämtlich auf der anderen Seite des Hauses befänden.

In der Frühe des nächsten Morgens – denn er war schon zeitig auf den Beinen, nachdem er eine unbequeme Nacht auf dem Fußboden verbracht hatte – sah er sich veranlaßt, diesen Schluß wieder umzustoßen. Die grünen Läden wurden einer nach dem anderen aufgezogen, offenbar vermittels einer Vorrichtung, die sich im Inneren der Zimmer befand, und unter ihnen kamen eiserne Läden zum Vorschein, wie man sie für Schaufenster benutzt. Diese wurden ebenfalls in die Höhe gezogen und dann etwa eine Stunde lang die Zimmer gelüftet. Nach Ablauf dieser Zeit schloß der alte Vandeleur mit eigener Hand die eisernen Läden und ließ dann die grünen Läden wieder herunter.

Während Francis sich noch über diese Vorsichtsmaßregeln wunderte, ging die Tür auf; ein junges Mädchen trat heraus und sah sich im Garten um. Es dauerte keine zwei Minuten, bis sie wieder in das Haus ging; aber auch in diesem kurzen Augenblick sah er genug, um überzeugt zu sein, daß sie eine ungewöhnlich reizende Erscheinung war.

Dieser Vorfall erregte nicht nur seine Neugier in hohem Maße, sondern erfüllte ihn auch mit einer freudigen Erwartung. Die beunruhigenden Manieren und die mehr als zweifelhafte Lebensweise seines Vaters bekümmerten ihn nicht mehr; von diesem Augenblick an schloß er sich mit leidenschaftlicher Liebe seiner neuen Familie an; einerlei, ob die junge Dame seine Schwester oder seine zukünftige Gattin wäre – er war auf alle Fälle überzeugt, daß sie ein Engel in Menschengestalt wäre. Diese Überzeugung war so stark, daß ihn ein plötzliches Entsetzen ergriff, als er darüber nachdachte, wie wenig er in Wirklichkeit wüßte und wie leicht es möglich wäre, daß er gar nicht den Richtigen verfolgt hätte, als er dem alten Herrn Vandeleur nachgegangen war.

Der Hausmeister, den er auszufragen suchte, konnte ihm nur wenig mitteilen; aber auch diese geringe Auskunft hatte etwas geheimnisvolles. Der Herr im Nebenhause sei ein außerordentlich reicher Engländer, der in seinen Gewohnheiten und Neigungen ebenso exzentrisch sei. Er besitze große Sammlungen, die er in seinem eigenen Hause aufbewahre, und um diese zu sichern, habe er seine Wohnung mit den eisernen Läden, den grünen Holzläden und den eisernen Spitzen auf der Gartenmauer versehen. Er lebe sehr einsam, obgleich zuweilen sonderbare Besucher kämen, mit denen er dem Anschein nach Geschäfte mache; und in dem Hause befinde sich außer ihm und Mademoiselle kein anderer Mensch als eine alte Dienerin.

»Ist Mademoiselle seine Tochter?« fragte Francis.

»Freilich. Mademoiselle ist die Tochter des Hauses; und es ist sehr auffallend, wie sie arbeiten muß. Obgleich der Herr so reich ist, muß sie selber die Einkäufe besorgen, und Sie können sie an jedem Wochentage, mit einem Marktkorb am Arm, hier vorübergehen sehen.«

»Und die Sammlungen?«

»O mein lieber Herr! Die sind unermeßlich wertvoll! Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Seitdem Herr de Vandeleur in das Haus eingezogen ist, hat kein Mensch aus unserem Stadtviertel die Schwelle überschritten.«

»Wenn das auch nicht der Fall ist,« bemerkte Francis, »so müssen Sie doch gewiß einigermaßen wissen, was diese berühmten Kunstsammlungen enthalten. Sind es Bilder, seidene Stoffe, Statuen, Juwelen, oder was sonst?«

»Meiner Seel!« sagte der Mann mit einem Achselzucken, »es könnten Mohrrüben sein – ich kann Ihnen das nicht sagen. Woher sollte ich das wissen? Das Haus wird, wie Sie bemerkten, gleich einer Festung bewacht.«

Als aber Francis, sehr enttäuscht, wieder aus dem Zimmer gehen wollte, rief der Hausmeister ihn zurück und sagte:

»Etwas ist mir noch eingefallen, mein Herr! Herr de Vandeleur ist in allen Weltteilen gewesen, und ich hörte mal die alte Frau behaupten, er habe viele Diamanten mitgebracht. Wenn das wahr ist, muß hinter diesen eisernen Läden ein schöne Ausstellung zu sehen sein.«

*

Am Sonntag abend saß Francis schon früh auf seinem Platz im Theater. Der Sitzplatz, der für ihn ausgewählt worden war, befand sich nur zwei oder drei Nummern von dem Gange zur Linken und einer der Parkettlogen unmittelbar gegenüber. Da der Platz besonders ausgesucht worden war, so ließen sich ohne Zweifel aus seiner Lage einige Schlüsse ziehen, und sein Instinkt sagte dem jungen Mann, daß die Loge zu seiner Rechten in irgendeiner Beziehung zu dem Drama stehe, in welchem er unwissentlich eine Rolle spiele. Diese Loge lag nämlich so, daß ihre Insassen, wenn sie Lust hatten, ihn vom Anfang bis zum Ende des Stückes bequem beobachten konnten, während sie selber sich nur zurückzusetzen brauchten, um vor Gegenbeobachtung seinerseits gesichert zu sein. Er nahm sich vor, die Loge nicht einen Moment aus dem Auge zu lassen, und während er sich im Zuschauerraum umsah oder scheinbar die Vorgänge auf der Bühne verfolgte, sah er aus der Augenecke beständig auf die leere Loge.

Der zweite Akt näherte sich bereits seinem Ende, als die Tür der Loge geöffnet wurde, zwei Personen eintraten und sich in den dunkelsten Schatten setzten. Francis konnte kaum seine Aufregung bemeistern. Es waren Herr Vandeleur und seine Tochter. Das Blut schoß ihm mit betäubender Geschwindigkeit durch die Adern; es sauste ihm in den Ohren und schwamm ihm vor den Augen. Er durfte sich nicht umsehen, um keinen Verdacht zu erregen. Der Theaterzettel, den er immer wieder vom ersten bis zum letzten Buchstaben las, erschien seinen Augen in roter Farbe, und als er einen Blick auf die Bühne warf, sah er diese wie in unendlich weiter Ferne und die Stimmen und Gebärden der Schauspieler kamen ihm höchst albern und lächerlich vor.

Von Zeit zu Zeit wagte er einen schnellen Blick in die Richtung, die ihn vor allen Dingen interessierte, und wenigstens einmal war er überzeugt, daß seine Augen denen des jungen Mädchens begegneten. Es gab ihm einen Stoß durch den ganzen Körper, und er sah alle sieben Farben des Regenbogens. Was hätte er nicht darum gegeben, wenn er hätte anhören können, was die Vandeleurs untereinander sprachen; was hätte er nicht darum gegeben, wenn er soviel Mut gehabt hätte, sein Opernglas zu nehmen und ihre Haltung und den Ausdruck ihrer Züge zu mustern? Dort wurde, soviel er wußte, über sein ganzes Leben entschieden – und er durfte kein Wort dazu sagen, konnte nicht einmal hören, was gesprochen wurde, und mußte in ohnmächtiger Aufregung still auf seinem Platze sitzen und alles geschehen lassen.

Endlich war der Akt zu Ende. Der Vorhang fiel, und die Zuschauer rings um ihn herum begannen, der Pause wegen, ihre Plätze zu verlassen. Es war nur natürlich, daß er ihrem Beispiel folgte; und wenn er dies tat, war es nicht nur natürlich, sondern notwendig, daß er unmittelbar an der bewußten Loge vorüberging. Allen seinen Mut aufbietend, aber mit niedergeschlagenen Augen, näherte Francis sich der Stelle. Er kam sehr langsam vorwärts; denn sein Vordermann, ein alter Herr, ging unglaublich langsam und schnaufte fortwährend. Was sollte er tun? Sollte er im Vorbeigehen die Vandeleurs bei ihrem Namen anreden? Sollte er die Blume aus seinem Knopfloch nehmen und in die Loge werfen? Sollte er sein Antlitz erheben und einen langen, zärtlichen Blick der Dame zusenden, die entweder seine Schwester oder seine Braut war?

Während er im Widerstreit dieser Gefühle langsam vorwärtsging, sah er wie eine Vision sein früheres, friedliches Dasein als Bankbeamter, und empfand eine gewisse Sehnsucht nach der Vergangenheit.

Mittlerweile war er bei der Loge angekommen; und obgleich er immer noch unentschlossen war, was er tun sollte, ob er überhaupt etwas tun sollte, wandte er den Kopf zur Seite und schlug die Augen auf. Kaum hatte er dies getan, so stieß er einen Ruf der Enttäuschung aus und blieb wie festgewurzelt stehen. Die Loge war leer. Während er so langsam vorwärts gekommen war, hatten Herr Vandeleur und seine Tochter die Loge verlassen.

Ein Herr hinter ihm machte ihn höflich darauf aufmerksam, daß er den Weg versperre; mechanisch ging er weiter und ließ sich in dem Gedränge widerstandslos aus dem Theater mitführen. Als er auf der Straße stand und das Gedränge aufhörte, gab die kühle Abendluft ihm sofort seine Denkkraft zurück. Er fand zu seiner Überraschung, daß er heftige Kopfschmerzen hatte und daß ihm von den beiden Akten, die er angehört hatte, kein Wort im Gedächtnis zurückgeblieben war. Der Aufregung, in der er sich befunden hatte, folgte ein dringendes Schlafbedürfnis; er rief eine Droschke an und fuhr, vollkommen erschöpft und des Lebens überdrüssig, nach seiner Wohnung.

Am nächsten Morgen legte er sich auf die Lauer, um Fräulein Vandeleur auf ihrem Gang nach dem Markt zu sehen, und als es acht Uhr schlug, sah er sie die Gasse hinunterkommen. Sie war einfach, ja sogar ärmlich gekleidet; aber in der Haltung ihres Kopfes und Körpers war etwas edles, das auch die geringste Kleidung hätte vornehm erscheinen lassen. Sogar ihr Marktkorb erschien als ein Schmuck ihrer Person, so zierlich wußte sie ihn zu tragen.

Francis trat in einen Torweg und hatte ein Gefühl, wie wenn vor ihren Schritten die Schatten entfliehen und heller Sonnenschein ihr folgte; und es kam ihm plötzlich zum Bewußtsein, daß in einem Käfig an einem Fenster über ihm ein Vogel sang.

Er ließ sie an sich vorübergehen, trat dann aus seinem Versteck hervor und rief von hintenher ihren Namen:

»Fräulein Vandeleur!«

Sie drehte sich um und wurde totenblaß, als sie sah, wer er war.

»Verzeihen Sie mir,« fuhr er fort; »der Himmel ist mein Zeuge, daß ich nicht die Absicht habe. Sie zu beunruhigen; und es braucht Sie in der Tat nicht zu beunruhigen, daß Sie einem Menschen gegenüberstehen, der es so gut mit Ihnen meint, wie ich. Und glauben Sie mir: ich handle mehr aus Notwendigkeit als aus freier Wahl. Wir haben manches miteinander gemein, aber ich tappe vollständig im Dunklen. Es gibt vieles, was ich tun sollte, und mir sind die Hände gebunden. Ich weiß nicht einmal, wie ich fühlen müßte, wer mein Freund und wer mein Feind ist.«

Es wurde ihr offenbar schwer, Worte zu finden; endlich sagte sie:

»Ich weiß nicht, wer Sie sind.«

»O doch, Fräulein Vandeleur! Sie wissen es! Sie wissen es besser als ich selber. Und gerade hierüber möchte ich vor allen Dingen Aufklärung erhalten. Sagen Sie mir, was Sie wissen!« flehte er. »Sagen Sie mir, wer ich bin, wer Sie sind, und wie unsere Schicksale ineinander verschlungen sind. Helfen Sie mir ein bißchen vorwärts, Fräulein Vandeleur – sagen Sie mir nur ein Wort oder zwei, um mich zu leiten, nur den Namen meines Vaters, wenn Sie wollen – und ich werde dankbar und zufrieden sein!«

»Ich will nicht den Versuch machen, Sie zu täuschen,« antwortete sie. »Ich weiß, wer Sie sind; aber es liegt nicht in meiner Macht, es Ihnen zu sagen.«

»Sagen Sie mir wenigstens, daß Sie mir meine Kühnheit verziehen haben, und ich werde so geduldig warten, wie ich kann. Wenn ich nichts wissen darf, so muß ich auf eigene Faust handeln. Das ist schmerzlich, aber ich kann viel vertragen. Nur fügen Sie nicht zu meinen Sorgen noch den Gedanken hinzu, daß ich mir Sie zur Feindin gemacht habe!«

»Was Sie taten, war vollkommen natürlich, und ich habe Ihnen nichts zu verzeihen. Leben Sie wohl!«

»Soll dies ein ›Lebewohl‹ sein?«

»Nein. Das weiß ich selber noch nicht. Also, wenn Sie lieber wollen: leben Sie einstweilen wohl!«

Und mit diesen Worten ging sie.

*

Francis ging in großer Aufregung in seine Wohnung zurück. Seine Übersetzung des Euklid machte an diesem Vormittage sehr geringe Fortschritte. Und er hielt sich mehr am Fenster auf als an seinem improvisierten Schreibtische.

Er sah Fräulein Vandeleur nach Hause kommen und sich mit ihrem Vater begrüßen, der auf der Veranda eine Trichinopoliszigarre rauchte. Sonst aber ereignete sich bis zur Zeit des Mittagessens nichts Bemerkenswertes in der Nachbarschaft des Hauses mit den grünen Fensterläden. Der junge Mann stillte hastig seinen Hunger in einer benachbarten Speisewirtschaft und kehrte, von seiner unbefriedigten Neugier getrieben, sofort wieder nach dem Hause in der Rue Lepic zurück.

Ein Reitknecht führte vor der Gartenmauer ein paar gesattelte Pferde auf und ab, und Scrymgeours Hausmeister stand an den Türpfosten gelehnt, rauchte eine Pfeife und bewunderte die Livree und die beiden Pferde.

»Sehen Sie doch!« rief er dem jungen Mann zu; »was für schöne Tiere! was für eine elegante Livree! Sie gehören dem Bruder des Herrn de Vandeleur, der in diesem Augenblick drinnen auf Besuch ist. Er ist ein hoher Herr, ein General drüben in Ihrem Lande; ohne Zweifel haben Sie seinen Namen oft gehört.«

»Ich gestehe, daß ich von einem General Vandeleur niemals etwas gehört habe. Wir haben viele Offiziere dieses Ranges, und meine Beschäftigung war bisher gänzlich unmilitärisch.«

»Es ist der General,« antwortete der Hausmeister, »dem der große Diamant gestohlen wurde. Davon müssen Sie doch wenigstens oft in den Zeitungen gelesen haben!«

Sobald Francis sich von dem Hausmeister losmachen konnte, lief er die Treppen hinauf und eilte an das Fenster. Unmittelbar unter der Lücke in dem Laube der Kastanie saßen die beiden Herren im Gespräch bei einer Zigarre. Der General, ein soldatisch aussehender Mann mit rotem Gesicht, hatte eine gewisse Familienähnlichkeit mit seinem Bruder; er ähnelte ihm in den Zügen und auch etwas, obgleich nicht viel in seiner Haltung; aber er war älter, kleiner und sah gewöhnlicher aus; seine Ähnlichkeit war eine Art von Karikatur des starken imposanten Diktators.

Sie sprachen so leise, indem sie sich über den Tisch neigten, daß Francis nur gelegentlich ein paar Worte aufschnappen konnte. Aber das wenige, was er hörte, brachte ihn zu der Überzeugung, daß die Unterredung ihm selber und seiner zukünftigen Laufbahn galt; mehrere Male klang der Name Scrymgeour an sein Ohr, denn dieser war leicht zu unterscheiden; und noch häufiger glaubte er den Namen Francis hören zu können.

Schließlich brach der General, wie wenn er sehr ärgerlich wäre, in heftige Ausrufe aus.

»Francis Vandeleur!« rief er, mit starker Betonung des letzten Wortes. »Francis Vandeleur, sage ich dir!«

Der Diktator machte eine halb zustimmende, halb verächtliche Bewegung mit dem ganzen Oberkörper; aber seine Antwort konnte der junge Mann nicht hören.

Er dachte bei sich selber, ob er wohl der Vandeleur sei, von dem die beiden Herren sprachen. Stritten sie sich darum, unter welchem Namen er heiraten solle? Oder war die ganze Geschichte nur ein Traum, eine Verspottung seiner eigenen eitlen Einbildung?

Nachdem das Gespräch wieder eine Zeitlang unhörbar war, schien ein neuer Streit der beiden unter dem Kastanienbaum auszubrechen, und wieder erhob der General zornig seine Stimme, so daß Francis seine Worte verstehen konnte.

»Meine Frau?« rief der General. »Mit meiner Frau bin ich für immer und ewig fertig. Ich will ihren Namen nicht hören! Ihr bloßer Name ist mir zum Ekel.« Und er fluchte laut und schlug mit der Faust auf den Tisch.

Der Diktator schien, nach seinen Gebärden zu urteilen, ihn in väterlicher Weise zu beruhigen. Kurz darauf begleitete er ihn an die Gartenpforte. Die beiden schüttelten sich recht herzlich die Hand; sobald aber die Tür sich hinter seinem Besucher geschlossen hatte, brach John Vandeleur in ein Gelächter aus, das den Ohren des Horchers am Fenster oben gehässig und sogar teuflisch erklang.

So verstrich ein ganzer Tag, und Francis Scrymgeour hatte wenig neues erfahren. Aber der junge Mann erinnerte sich, daß morgen Dienstag sei, und hoffte an diesem Tage wichtige Entdeckungen zu machen. Vielleicht ging alles gut, vielleicht ging alles schlecht. Jedenfalls würde er aber doch irgend etwas von Bedeutung erfahren, und wenn er Glück hatte, konnte er sogar hinter das Geheimnis kommen, das seinen Vater und seine Familie umgab.

Als die Stunde des Mittagessens herankam, wurden in dem Garten des Hauses mit den grünen Läden manche Vorbereitungen getroffen. Der Tisch, den Francis durch die Lücke im Kastanienlaub zum Teil überblicken konnte, diente zum Abstellen des Geschirrs und der Speisen; auf ihm standen eine Anzahl Teller und Schüsseln und alles, was zur Zubereitung eines Salats gehört. Der andere Tisch, von dem nur ein sehr kleiner Teil zu sehen war, war für die Teilnehmer des Mahles gedeckt, und Francis konnte ein Eckchen von einem weißen Tischtuch erblicken, worauf silbernes Geschirr stand.

Simon Rolles kam pünktlich auf die Minute; er sah aus wie ein Mann, der auf seiner Hut ist, und sprach leise und mit wenigen Worten. Der Diktator dagegen schien in ungewöhnlich guter Laune zu sein; sein Lachen, das jugendlich klang und einen angenehmen Ton hatte, scholl häufig vom Garten herauf; offenbar erzählte er eine Menge komischer Geschichten und ahmte dabei die Mundarten vieler verschiedener Nationen nach, und bevor er und der junge Geistliche ihr Glas Wermuth geleert hatten, war offenbar alle Zwietracht beigelegt, und sie plauderten miteinander wie ein paar Schulkameraden.

Endlich erschien auch Fräulein Vandeleur: sie brachte die Suppenterrine. Rolles eilte ihr entgegen, um ihr seinen Beistand anzubieten, den sie lachend ab lehnte; es wurden hierauf unter dem Trio allerlei Scherze gewechselt, die sich darauf zu beziehen schienen, daß die Bedienung auf so primitive Weise von einem der Tischgenossen selbst übernommen wurde.

»Man ist auf diese Weise behaglicher unter sich,« hörte Francis den alten Herrn Vandeleur erklären.

Im nächsten Augenblick saßen alle drei auf ihren Stühlen, und Francis konnte von dem, was weiter vorging, weder etwas sehen noch hören. Aber die Mahlzeit schien lustig zu verlaufen; unter dem Kastanienbaum wurde munter geplaudert, und Messer und Gabeln klapperten lustig. Francis, der nur ein Brötchen bei sich hatte, beneidete sie unwillkürlich um diese behagliche Mahlzeit. Die Gesellschaft verzehrte ein Gericht nach dem anderen und zum Schluß einen leckeren Nachtisch, zu welchem der Diktator eigenhändig eine Flasche alten Weines entkorkte.

Als es dunkel zu werden begann, wurden eine Lampe auf den Tisch und zwei Kerzen auf den Nebentisch gestellt; denn der Abend war vollkommen windstill, an dem klaren Himmel funkelten die Sterne. Außerdem drangen aus Tür und Fenster der Veranda Fluten von Licht hervor, so daß der Garten hell erleuchtet war und die Blätter der Kastanie in der Dunkelheit schimmerten.

Vielleicht zum zehnten Male ging Fräulein Vandeleur in das Haus, und diesmal kam sie mit dem Kaffeegeschirr, das sie auf den Seitentisch stellte. In demselben Augenblick stand ihr Vater von seinem Stuhl auf und Francis hörte ihn sagen:

»Der Kaffee ist meine Provinz!«

Und im nächsten Augenblick sah er seinen vermeintlichen Vater im Lichte der Kerzen am Seitentisch stehen. Während er unaufhörlich über die Schulter hinweg erzählte, schenkte Herr Vandeleur zwei Tassen des braunen Lebenstrankes ein; dann goß er mit der Geschwindigkeit eines Taschenspielers den Inhalt eines winzigen Fläschchens in die kleinere der beiden Tassen. Dies wurde so schnell gemacht, daß sogar Francis, der ihm gerade ins Gesicht sah, die Bewegung kaum bemerkte, als sie auch schon vollzogen war. Im nächsten Augenblick war der alte Vandeleur immer noch lachend mit einer Tasse in jeder Hand wieder an den Eßtisch getreten.

»Bevor wir fertig sind,« sagte er, »können wir unseren berühmten Hebräer bei uns erwarten.«

Die Aufregung und Angst des jungen Bankbeamten können wir unmöglich schildern. Er sah, wie unter seinen Augen ein heimtückisches Verbrechen vor sich ging, und er fühlte sich verpflichtet, einzuschreiten, aber er wußte nicht wie. Vielleicht konnte es sich um einen bloßen Spaß handeln, und wie würde er dann dastehen, wenn er unnötigerweise eine Warnung losließe? Oder, wenn es Ernst wäre, so war der Verbrecher vielleicht sein eigener Vater, und wie traurig wäre es doch für ihn, wenn er seinen Erzeuger ins Verderben stürzte? Zum erstenmal wurde es ihm bewußt, in welcher peinlichen Lage er selber als Spion sich befand. In einem so kritischen Augenblick und unter so widerstreitenden Gefühlen untätig warten zu müssen, war für ihn eine peinliche Qual; er klammerte sich an die Stäbe seines Fensterladens an, sein Herz schlug schnell und unregelmäßig, und er fühlte am ganzen Leibe einen starken Schweiß ausbrechen.

Mehrere Minuten vergingen.

Es kam ihm vor, wie wenn das Gespräch weniger lebhaft und laut würde; aber es ereignete sich nichts, was ihn hätte beunruhigen oder auch nur bemerkenswert erscheinen können.

Plötzlich hörte er einen Klang wie von zerbrochenem Glase und darauf einen schwachen, dumpfen Ton, wie wenn ein Mensch mit dem Kopf auf einen Tisch sänke. In demselben Augenblick erhob sich in dem Garten ein durchdringender Schrei.

»Was hast du getan?« rief Fräulein Vandeleur. »Er ist tot!«

Der Diktator antwortete im Flüsterton, aber so heftig und zischend, daß der Horcher am Fenster oben jedes Wort vernehmen konnte:

»Still! Dem Mann fehlt so wenig, wie mir selber. Fasse ihn an den Absätzen; ich trage ihn an den Schultern.«

Francis hörte, wie das Mädchen in ein leidenschaftliches Weinen ausbrach.

»Hörst du nicht, was ich sage?« begann der Diktator wieder in dem gleichen Ton. »Oder willst du vielleicht Streit mit mir haben? Ich lasse dir die Wahl!«

Wieder entstand eine Pause; und wieder sprach dann der Diktator. »Fasse den Mann an den Füßen! Er muß ins Haus gebracht werden. Wenn ich ein bißchen jünger wäre, könnte ich mir selber gegen die ganze Welt helfen. Aber jetzt, da Gefahren mich bedrohen, da ich alt bin und meine Hände schwach geworden sind, muß ich von dir Hilfe verlangen.«

»Es ist ein Verbrechen,« antwortete das Mädchen.

»Ich bin dein Vater.«

Dieser Appell schien seine Wirkung hervorzubringen. Es folgte ein schlürfendes Geräusch auf dem Gartenkies, ein Stuhl fiel um und dann sah Francis Vater und Tochter über den Weg stolpern und in der Veranda verschwinden. Sie trugen an Knien und Schultern den leblosen Körper des jungen Geistlichen. Simon Rolles war leichenblaß und bei jedem Schritt, den die beiden machten, schwankte sein Kopf hin und her.

War er lebendig oder tot? Trotz der Erklärung des Diktators neigte Francis sich der letzteren Ansicht zu.

Ein großes Verbrechen war begangen worden; ein großes Unglück war über die Bewohner des Hauses mit den grünen Läden gekommen. Zu seiner Überraschung fand Francis, daß alles Entsetzen wegen des Mordes vor der Sorge verschwand, die er um ein Mädchen und einen alten Mann fühlte, der in der höchsten Gefahr schweben mußte.

Ein hochherziges Gefühl durchdrang seine Brust: auch er wollte seinem Vater gegen Welt und Menschheit helfen, gegen Schicksal und Gerechtigkeit! Er stieß seinen Fensterladen auf, schloß seine Augen und ließ sich mit ausgestreckten Armen in die Zweige des Kastanienbaumes fallen.

Ein Zweig nach dem anderen glitt ihm aus den Händen oder brach unter seinem Gewicht; endlich aber geriet ein starker Ast unter seine Achselhöhle und er hing einen Augenblick in der Schwebe. Dann ließ er sich herabgleiten und fiel schwer gegen den Tisch an.

Ein lauter Ruf vom Hause her gab ihm die Kunde, daß sein Eindringen nicht unbemerkt geblieben war. Er richtete sich taumelnd auf, durchmaß in drei Sprüngen den Zwischenraum und stand vor der Verandatür.

In einem kleinen Zimmer, dessen Fußboden mit Matten bedeckt war und dessen vier Wände von Glasschränken, voll von seltenen und kostbaren Merkwürdigkeiten, eingenommen waren, stand der alte Vandeleur, über den Körper des jungen Geistlichen gebeugt. Er richtete sich auf, als Francis eintrat und machte eine blitzschnelle Bewegung mit den Händen. Sie dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde; so schnell ein Auge sehen kann, war es getan; der junge Mann konnte seiner Sache nicht ganz gewiß sein, aber es kam ihm vor, als ob der Diktator etwas von der Brust des Geistlichen entfernt, es mit einem kurzen Blick angesehen und sofort seiner Tochter gegeben hätte.

Dies alles war vor sich gegangen, während Francis noch mit dem einen Fuß auf der Schwelle stand. In dem nächsten Augenblick lag er vor dem alten Vandeleur auf den Knien und rief:

»Vater! laß auch mich dir helfen. Ich will alles tun, was du begehrst, und will keine Fragen stellen. Mit meinem Leben will ich dir dienen. Behandle mich als deinen Sohn, und du wirst finden, daß ich dir treu bin wie ein Sohn!«

Eine furchtbare Salve von Flüchen war die erste Antwort des Diktators; dann rief er:

»Sohn und Vater!« rief er. »Vater und Sohn? Was für eine verdammte blödsinnige Komödie ist das alles? Wie kommen Sie in meinen Garten? Was wollen Sie? Und wer sind Sie denn überhaupt, zum Teufel nochmal?«

Francis stand mit einem ganz verdutzten und verschämten Gesicht wieder auf und schwieg.

Plötzlich schien dem alten Vandeleur ein Licht aufzugehen; er lachte laut auf und sagte:

»Ach so! Es ist der Scrymgeour. Schön, Herr Scrymgeour, lassen Sie mich Ihnen in ein paar Worten sagen, wie es mit Ihnen steht. Sie sind in meiner Privatwohnung mit Gewalt eingedrungen, oder vielleicht mit List, aber jedenfalls ohne eine Aufforderung von meiner Seite; und jetzt kommen Sie in einem peinlichen Augenblick, wo ein Gast an meinem Tisch ohnmächtig geworden ist, und fallen mit Ihren Erklärungen über mich her! Sie sind kein Sohn von mir. Sie sind ein Bankert meines Bruders und eines Fischweibes, wenn Sie das wissen wollen. Ich betrachte Sie mit einer Gleichgültigkeit, die nahe an Abneigung grenzt; und aus dem, was ich von Ihrem Benehmen sehe, ziehe ich den Schluß, daß Ihr Geist genau Ihrem Körper entspricht. Über diese Bemerkungen, die Sie vielleicht kränken mögen, empfehle ich Ihnen in Ihren Mußestunden nachzudenken; bis dahin gestatten Sie mir Sie zu ersuchen, uns von Ihrer Anwesenheit zu befreien. Wenn ich nicht beschäftigt wäre,« schloß der Diktator mit einem entsetzlichen Fluch, »gäbe ich Ihnen ganz gehörige Dresche und schmisse Sie dann hinaus!«

Francis hörte tief gedemütigt diese Worte. Er wäre geflohen, wenn ihm dies möglich gewesen wäre; aber da er nicht wußte, wie er aus dem Garten herauskommen sollte, in den er so unglücklicherweise eingedrungen war, so konnte er nichts weiter tun, als mit einem dummen Gesicht stehen zu bleiben.

Fräulein Vandeleur brach endlich das Schweigen und sagte: »Vater, du sprichst im Zorn! Herr Scrymgeour mag einen Mißgriff begangen haben, aber er meinte es gut und freundlich.«

»Ich danke dir dafür, daß du dies sagst,« erwiderte der Diktator. »Du erinnerst mich daran, daß ich es für notwendig halte, Herrn Scrymgeour noch einige andere Mitteilungen zu machen. Mein Bruder,« fuhr er fort, indem er sich an den jungen Mann wandte, »war töricht genug. Ihnen ein Jahrgeld auszusetzen; er war töricht und eingebildet genug, um eine Heirat zwischen Ihnen und dieser jungen Dame vorzuschlagen. Sie wurden am vorletzten Abend ihr gezeigt, und es macht mir Vergnügen, Ihnen zu sagen, daß sie den Gedanken mit Abscheu von sich wies, lassen Sie mich hinzusetzen, daß ich einen bedeutenden Einfluß auf Ihren Vater ausübe, und daß es nicht meine Schuld sein wird, wenn Ihr Jahrgeld Ihnen nicht entzogen und wenn Sie nicht an das Schreibpult zurückgeschickt werden, bevor die Woche um ist.«

Der Ton, in welchem der alte Mann dieses sagte, war vermutlich noch mehr verletzend als die Worte selbst; Francis fühlte sich mit der grausamsten, unerträglichsten Verachtung mißhandelt; ihm wurde schwarz vor den Augen, er schlug die Hände vors Gesicht und stieß zugleich einen Seufzer tiefsten Schmerzes aus. Doch abermals trat Fräulein Vandeleur für ihn in die Schanze.

»Herr Scrymgeour,« sagte sie in ruhigem und herzlichen Ton, »Sie müssen sich meines Vaters harte Ausdrücke nicht zu Herzen nehmen! Ich fühlte keinen Abscheu vor Ihnen; im Gegenteil, ich wünschte Gelegenheit zu haben. Sie besser kennen zu lernen. Was die Vorgänge des heutigen Abends anlangt, so bitte ich Sie, mir zu glauben, daß Sie mich mit Mitleid und zugleich mit Achtung Ihnen gegenüber erfüllt haben.«

Gerade in diesem Augenblick machte Rolles eine krampfhafte Armbewegung, die den jungen Francis überzeugte, daß er nur ein Schlafmittel erhalten hatte und die Wirkung des Opiums bereits abzuschütteln begann. Der alte Vandeleur beugte sich über ihn und sah ihm einen Augenblick ins Gesicht. Dann erhob er wieder den Kopf und rief:

»Nun genug! Die Sache muß einmal ein Ende haben! Und da dir sein Benehmen so gut gefällt, liebe Tochter, so nimm eine Kerze und lasse den Bankert hinaus!«

Die junge Dame beeilte sich ihm zu gehorchen; Francis aber sagte zu ihr, sobald er mit ihr im Garten allein war:

»Ich danke Ihnen! Ich danke Ihnen aus tiefster Seele! Dies war der bitterste Abend meines ganzen Lebens, aber es wird stets auch eine angenehme Erinnerung an ihn mir bleiben.«

»Ich sprach, wie ich fühlte, und wie Sie es verdienten. Es tat meinem Herzen weh, daß Sie so unfreundlich behandelt werden sollten.«

Sie hatten mittlerweile die Gartenpforte erreicht, und Fräulein Vandeleur, die die Kerze auf die Erde gesetzt hatte, war schon damit beschäftigt, die Riegel zurückzuschieben. Da sagte Francis:

»Noch ein Wort! Es ist doch nicht das letztemal – ich werde Sie wiedersehen, nicht wahr?«

»Ach!« antwortete sie. »Sie haben ja meinen Vater gehört. Was kann ich weiter tun, als gehorchen?«

»Sagen Sie mir wenigstens, daß Sie nicht mit seinen Worten einverstanden sind. Sagen Sie mir, daß Sie nicht den Wunsch haben, mich niemals wiederzusehen!«

»Diesen Wunsch habe ich in der Tat nicht. Sie scheinen mir tapfer und ehrlich zu sein.«

»Dann geben Sie mir ein Andenken!« rief Francis.

Sie zögerte einen Augenblick. Ihre Hand lag bereits am Schlüssel; denn sie hatte die verschiedenen Riegel und Eisenstangen zurückgeschoben und brauchte nur noch das Schloß zu öffnen.

»Wenn ich das tue,« sagte sie, »wollen Sie mir dann versprechen, ganz genau so zu handeln, wie ich es von Ihnen verlange?«

»Können Sie noch fragen?« antwortete Francis. »Das täte ich von Herzen gern auf Ihr bloßes Wort hin!«

Sie drehte den Schlüssel um, öffnete die Pforte und sagte:

»Gut. Sie wissen nicht, was Sie verlangen; aber gut, es sei so. Aber was Sie auch hören, was auch geschehen mag, kommen Sie nicht wieder in dieses Haus! Laufen Sie so schnell wie möglich, bis Sie in die hell beleuchteten, belebten Stadtteile kommen; und selbst da seien Sie auf der Hut! Sie sind in größerer Gefahr, als Sie glauben. Versprechen Sie mir, daß Sie sich mein Andenken nicht einmal ansehen wollen, bevor Sie in einem sicheren Ort sind!«

»Ich verspreche es Ihnen!« antwortete Francis.

Sie steckte einen Gegenstand, der lose in ein Taschentuch gewickelt war, dem jungen Mann in die Hand; gleichzeitig stieß sie ihn mit größerer Kraft, als er ihr zugetraut hatte, in die Straße hinaus und rief:

»Jetzt laufen Sie!«

Er hörte, wie die Tür hinter ihm geschlossen und wie die Riegel klirrend wieder vorgeschoben wurden.

»Auf mein Wort!« rief er noch einmal; »ich hab's ja versprochen!«

Und er rannte, so schnell er konnte, die schmale Gasse hinunter, die in die Rue Ravignan einmündet.

*

Francis Scrymgeour war noch nicht fünfzig Schritte von dem Hause mit den grünen Läden entfernt, da drang plötzlich ein Schrei durch die Stille des Abends an sein Ohr, wie wenn die Hölle losgelassen wäre. Unwillkürlich blieb er stehen; ein anderer Vorübergehender folgte seinem Beispiel; in den nächsten Häusern sah er Menschen an die Fenster eilen; eine Feuersbrunst hätte keine größere Aufregung in diesem einsamen Stadtviertel hervorrufen können.

Und doch war es allem Anschein nach weiter nichts, als daß ein einzelner Mensch in Schmerz und Wut brüllte, wie eine Löwin, der ihre Jungen geraubt worden sind, und Francis hörte voll Überraschung und Unruhe, wie sein eigener Name unter englischen Flüchen in die Abendluft hinausgeschrien wurde.

Sein erster Gedanke war, nach dem Hause mit den grünen Läden umzukehren; dann aber fiel ihm Fräulein Vandeleurs Rat ein und er setzte seine Flucht in noch größerer Eile fort. Plötzlich schoß der Diktator, barhäuptig, laut schreiend, mit wehenden weißen Locken, wie eine Kanonenkugel an ihm vorüber und rannte die Straße hinunter.

Da bin ich gerade noch um Haaresbreite davongekommen, dachte Francis bei sich selber. Was er von mir will, und warum er so aufgeregt ist, das kann ich mir nicht vorstellen; aber offenbar ist in diesem Augenblick nicht gut Kirschen mit ihm zu essen, und ich kann nichts besseres tun, als Fräulein Vandeleurs Ratschlag zu befolgen.

Mit diesen Worten kehrte er wieder um, in der Absicht, dann die Rue Lepic selber hinunterzugehen, während sein Verfolger in der Nebenstraße weiterlaufen würde. Dies war ein unglücklicher Gedanke. Das einzig richtige wäre gewesen, sich in das nächste Kaffeehaus zu setzen und dort zu warten, bis die erste Hitze der Verfolgung vorüber gewesen wäre. Aber Francis hatte keine Erfahrung und nur geringe natürliche Anlagen für den Kleinkrieg des Menschenlebens; außerdem aber war er sich in keiner Weise bewußt, irgend etwas Böses getan zu haben, und deshalb glaubte er nicht, daß er schlimmeres zu befürchten hätte als eine unangenehme Auseinandersetzung. Und solche unangenehme Auseinandersetzungen hatte er an diesem Abend schon zur Genüge kennen gelernt. Er konnte auch nicht annehmen, daß Fräulein Vandeleur irgend etwas ungesagt gelassen hätte. Der junge Mann hatte Schmerzen an Leib und Seele – sein Leib war voll von Beulen und Schrammen, und seine Seele war von vielen scharfen Pfeilen durchbohrt worden; denn er mußte sich gestehen, daß der alte Vandeleur eine sehr böse Junge hatte.

Die Schmerzen seiner Glieder erinnerten ihn daran, daß er nicht nur seinen Hut im Zimmer gelassen hatte, sondern daß auch seine Kleider bei dem Sprung durch die Zweige des Kastanienbaumes sehr gelitten hatten. In dem ersten Laden, auf den er traf, kaufte er einen billigen weichen Filzhut und ließ die Hauptschäden an seiner Kleidung flüchtig ausbessern. Das Andenken, das Fräulein Vandeleur ihm gegeben hatte, steckte er in die Hosentasche, ohne es aus dem Taschentuch herauszuwickeln.

Er war nur wenige Schritte von dem Kleiderladen entfernt, da verspürte er plötzlich einen Stoß. Eine Hand packte seine Kehle, ein wütiges Gesicht befand sich dicht vor seinen Augen, und ein offener Mund brüllte Flüche in sein Ohr. Der Diktator war die andere Straße zurückgelaufen, als er von seiner Beute keine Spur gefunden hatte. Francis war ein kräftiger junger Mann, aber mit seinem Gegner konnte er es weder an Kraft noch an Geschicklichkeit aufnehmen; und nachdem er einen Augenblick vergeblich Widerstand zu leisten versucht hatte, ergab er sich vollständig dem Stärkeren und sagte:

»Was wollen Sie von mir?«

»Darüber wollen wir zu Hause sprechen!« antwortete der Diktator mit einem grimmigen Lachen.

Und er schob den jungen Mann die Straße hinauf vor sich her in der Richtung nach dem Hause mit den grünen Läden.

Francis versuchte allerdings nicht mehr, durch Gewalt etwas zu erreichen, aber er wartete lieber auf eine Gelegenheit, durch einen kühnen Schritt wieder zur Freiheit zu gelangen. Mit einem plötzlichen Ruck ließ er den Kragen seines Rockes in den Händen des alten Vandeleur und lief wieder, so schnell er nur konnte, in der Richtung auf die Boulevards zu.

Das Blättlein hatte sich jetzt gewandt. Wenn auch der Diktator stärker war, so war dafür Francis, der in der Blüte seiner Jugend stand, bei weitem der schnellere, und bald hatte er seinen Verfolger weit hinter sich gelassen und war im Menschengewühl verschwunden. Für den Augenblick fühlte er sich befreit, aber ein Gefühl der Unruhe und der Verwunderung wurde immer stärker in ihm; so ging er mit schnellen Schritten, bis er auf den von elektrischen Lampen taghell beleuchteten Opernplatz kam.

Jetzt würde Fräulein Vandeleur ja wohl mit mir zufrieden sein, dachte er bei sich selber.

Er ging nach rechts hinunter die Boulevards entlang, trat in das Café Américain ein und bestellte ein Glas Bier. Die Stunde war für die meisten Besucher dieses Kaffeehauses entweder zu spät oder zu früh. Daher saßen nur zwei oder drei Herren und keine einzige Dame an verschiedenen Tischen des Saales; Francis war jedoch zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, um ihre Anwesenheit überhaupt zu bemerken.

Er zog das Tüchlein aus seiner Tasche hervor. Der eingewickelte Gegenstand erwies sich als ein Lederkästchen mit goldenen Zieraten und Schließen. Ein Druck auf eine Feder öffnete es, und den Blicken des entsetzten jungen Mannes zeigte sich ein Diamant von ungeheuerlicher Größe und unglaublichem Glanze.

Daß er diesen Edelstein in der Hand hielt, war so unerklärlich, und der Wert des Steines war offenbar so riesig, daß Francis keine Bewegung machen und keinen Gedanken fassen konnte, sondern immer nur auf den Diamanten starrte, wie wenn er plötzlich den Verstand verloren hätte.

Eine Hand legte sich leicht, aber fest auf seine Schulter, und eine ruhige Stimme, aus der jedoch die Gewohnheit des Befehlens klang, flüsterte ihm ins Ohr:

»Schließen Sie das Kästchen und halten Sie Ihr Gesicht in der Gewalt!«

Er sah auf und erblickte einen noch jungen Mann von höflichem und ruhigem Wesen und in einfacher, aber kostbarer Kleidung. Diese Person war von einem der Nachbartische aufgestanden, hatte sein Glas mitgebracht und setzte sich jetzt auf einen Stuhl neben Francis.

»Schließen Sie das Kästchen,« wiederholte der Fremde, »und stecken Sie es ruhig wieder in Ihre Tasche, in die es, wie ich überzeugt bin, niemals hineingehörte. Versuchen Sie bitte, nicht ein so verblüfftes Gesicht zu machen, sondern tun Sie, wie wenn ich ein Bekannter von Ihnen wäre, den Sie zufällig getroffen hätten. So! stoßen Sie man mit mir an. So geht es schon besser. Ich fürchte, mein Herr, Sie sind nur ein Dilettant in Ihrem Geschäft.«

Diese letzten Worte sprach der Fremde mit einem eigentümlich bedeutungsvollem Lächeln, indem er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte, worauf er einen tiefen Zug aus seiner Zigarre tat.

»Um Gotteswillen,« sagte Francis, »sagen Sie mir, wer Sie sind, und was das bedeutet? Ich weiß wirklich selber nicht, weshalb ich Ihre sehr sonderbaren Befehle befolge; aber ich bin heute Abend bereits in so viele überraschende Abenteuer geraten, und alle Menschen, mit denen ich zu tun habe, benehmen sich so sonderbar, daß ich wahrhaftig glaube, entweder bin ich verrückt geworden oder ich bin plötzlich auf einen anderen Planeten geraten. Ihr Gesicht flößt mir Vertrauen ein; Sie scheinen klug, gütig und erfahren zu sein. Sagen Sie mir, um des Himmels willen, warum Sie mich auf eine so sonderbare Art anreden!«

»Alles zu seiner Zeit!« antwortete der Fremde; »aber erst komme ich daran: Sie müssen mir erst erzählen, wie der Diamant des Radschahs in Ihren Besitz gekommen ist.«

»Der Diamant des Radschah!« wiederholte Francis.

»Ich würde an Ihrer Stelle nicht so laut sprechen. Aber soviel ist ganz gewiß: Sie haben den Diamanten des Radschahs in Ihrer Tasche. Ich habe ihn in Sir Thomas Vandeleurs Sammlung Dutzende von Malen gesehen und in der Hand gehabt.«

»Sir Thomas Vandeleur! Der General! Mein Vater!« rief Francis.

»Ihr Vater?« wiederholte der Fremde. »Es war mir nicht bekannt, daß der General Nachkommenschaft hätte.«

»Ich bin ein illegitimer Sohn, mein Herr,« antwortete Francis errötend.

Der andere machte eine würdevolle Verbeugung. Es war eine respektvolle Verbeugung, wie wenn jemand seinesgleichen stillschweigend um Vergebung bäte; und Francis fühlte sich erleichtert und getröstet – warum, das wußte er selber nicht. Die Gesellschaft dieses Herrn tat ihm wohl; er hatte das Gefühl, festen Boden zu berühren; ein starkes Gefühl von Ehrfurcht stieg in ihm auf, und unwillkürlich nahm er seinen Filzhut ab, wie wenn er sich in Gegenwart eines Vorgesetzten befände.

»Wie ich bemerke,« sagte der Fremde, »ist es bei Ihren Abenteuern nicht immer ganz friedlich hergegangen. Ihr Rockkragen ist zerrissen, Ihr Gesicht ist verkratzt. Sie haben eine Schramme an der Schläfe. Vielleicht werden Sie meine Neugier verzeihen, wenn ich Sie bitte, mir zu erklären, wie Sie zu diesen Verletzungen kamen, und wie es sich gefügt hat, daß Sie gestohlenes Gut von ungeheurem Werte in Ihrer Tasche haben.«

»Ich muß Ihnen widersprechen!« antwortete Francis aufgeregt. »Ich besitze kein gestohlenes Gut. Und wenn Ihre Worte sich auf den Diamanten beziehen – dieser wurde mir vor noch nicht einer Stunde von Fräulein Vandeleur in der Rue Lepic gegeben.«

»Von Fräulein Vandeleur in der Rue Lepic! Ihre Worte interessieren mich mehr, als Sie glauben. Bitte fahren Sie fort.«

»Himmel!« rief Francis.

Sein Gedächtnis hatte einen plötzlichen Sprung gemacht. Er hatte gesehen, wie der alte Vandeleur seinem ohnmächtigen Gast einen Gegenstand von der Brust wegnahm; und dieser Gegenstand – davon war er fest überzeugt – war ein Lederkästchen gewesen.

»Ihnen geht ein Licht auf?« fragte der Fremde.

»Hören Sie! Ich weiß nicht, wer Sie sind; aber ich glaube, Sie verdienen mein Vertrauen und können mir helfen. Ich befinde mich in einer merkwürdigen Lage. Ich weiß nicht, was ich tun soll: ich habe Rat und Hilfe nötig, und da Sie mich auffordern, so will Ihnen alles erzählen.«

Und er berichtete in aller Kürze seine sämtlichen Erlebnisse von dem Augenblick an, als der Sachwalter ihn zu sich bestellt hatte.

»Da haben Sie allerdings eine merkwürdige Geschichte erlebt,« sagte der Fremde, als der junge Mann mit seiner Erzählung fertig war, »und Ihre Lage ist schwierig und gefahrvoll. Mancher würde Ihnen wohl raten, Ihren Vater aufzusuchen und diesem den Diamanten zu geben; aber ich bin anderer Meinung.«

Er schwieg einen Augenblick und rief dann:

»Kellner!«

Der Kellner trat heran, und der Fremde sagte:

»Wollen Sie den Geschäftsführer bitten, mal einen Augenblick mit mir zu sprechen.«

Wieder bemerkte Francis an seinem Ton und Gehaben, daß er offenbar gewöhnt war, zu befehlen.

Der Kellner entfernte sich und kam gleich darauf mit dem Geschäftsführer wieder, der eine ehrfurchtsvolle Verbeugung machte und dienstbeflissen sagte:

»Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Haben Sie die Güte,« antwortete der Fremde, indem er auf Francis zeigte, »diesem Herrn meinen Namen zu sagen.«

»Sie haben die Ehre, mein Herr,« sagte der Geschäftsführer zum jungen Scrymgeour, »an demselben Tische mit Seiner Hoheit, dem Prinzen Florizel von Bohemia zu sitzen.«

Francis sprang bestürzt auf und machte dem Prinzen eine tiefe Verbeugung.

Florizel bat ihn, sich wieder zu setzen und sagte dann zum Geschäftsführer:

»Ich danke Ihnen. Es tut mir leid, Sie wegen einer solchen Kleinigkeit bemüht zu haben.«

Und er entließ ihn mit einer Handbewegung. Sodann wandte der Prinz sich zu Francis und sagte:

»Und jetzt geben Sie mir den Diamanten!« Ohne ein Wort zu sagen, reichte der junge Bankbeamte ihm das Kästchen.

»Sie haben recht getan,« sagte Florizel. »Ihr Gefühl hat Ihnen den rechten Weg gezeigt. Und Sie werden für die unangenehmen Ereignisse dieser Nacht noch einmal dankbar sein. Ein Mensch kann in tausend Verlegenheiten geraten, Herr Scrymgeour; aber wenn sein Herz aufrichtig und seine Vernunft klar ist, dann wird er sie alle ohne Schande bestehen. Seien Sie ohne Sorge; ich habe jetzt Ihre Sache in meine Hand genommen und bin mit des Himmels Hilfe stark genug, sie zu einem guten Ende zu führen. Begleiten Sie mich bitte zu meinem Wagen.«

Mit diesen Worten stand der Prinz auf und legte ein Goldstück für den Kellner auf den Tisch. Dann führte er den jungen Mann aus dem Kaffeehause und den Boulevard entlang bis an eine Stelle, wo ein einfacher Brougham mit zwei Dienern ohne Livree auf ihn wartete.

»Dieser Wagen«, sagte der Prinz, »steht zu Ihrer Verfügung; besorgen Sie so schnell wie möglich Ihr Gepäck; meine Diener werden Sie nach einer Villa in der Nähe von Paris fahren, wo Sie einigermaßen behaglich verweilen können, bis ich Zeit gehabt habe Ihre Angelegenheiten zu ordnen. Sie werden dort einen hübschen Garten finden, eine Bibliothek mit guten Büchern, einen Koch, einen Weinkeller und etliche gute Zigarren, die ich Ihrer Beachtung empfehle. Jerome,« sagte er zu einem der Bedienten, »du hast gehört, was ich sagte; ich lasse Herrn Scrymgeour in deiner Obhut; ich weiß, du wirst dich meines Freundes sorgsam annehmen.«

Francis stotterte einige abgebrochene Danksagungen.

»Mir zu danken, wird es früh genug sein,« sagte der Prinz, »wenn Sie von Ihrem Vater anerkannt und mit Fräulein Vandeleur verheiratet sind.«

Mit diesen Worten drehte der Prinz sich um und ging gemächlich nach dem Montmartre hinauf. Er rief die erste vorbeifahrende Droschke an, gab dem Kutscher eine Adresse an, und klopfte eine Viertelstunde später, nachdem er kurz vorher schon den Wagen weggeschickt hatte, an John Vandeleurs Gartenpforte.

Es wurde mit besonders umständlichen Vorsichtsmaßregeln von dem Diktator selber geöffnet.

»Wer sind Sie?« fragte der alte Herr.

»Sie müssen mir diesen späten Besuch verzeihen, Herr Vandeleur,« antwortete der Prinz.

»Eure Hoheit sind stets willkommen,« sagte Vandeleur, indem er beiseite trat.

Der Prinz schritt durch die offene Tür, ging, ohne auf den alten Herrn zu warten, stracks in das Haus und trat in den Salon ein. Zwei Menschen saßen in diesem; Fräulein Vandeleur trug an ihren Augen die Spuren, daß sie geweint hatte und wurde von Zeit zu Zeit durch ein neues Schluchzen erschüttert; in dem anderen erkannte der Prinz den jungen Mann, der ihn vor etwa einem Monat im Rauchzimmer eines Klubs nach literarischen Angelegenheiten gefragt hatte.

»Guten Abend, Fräulein Vandeleur,« sagte Florizel; »Sie sehen angegriffen aus. Herr Rolles, glaube ich? Ich hoffe, Sie haben sich das Studium Gaboriaus zunutze gemacht, Herr Rolles.«

Aber der junge Geistliche war zu niedergeschlagen, um sprechen zu können; er begnügte sich damit, eine steife Verbeugung zu machen und nagte an seiner Unterlippe.

»Welchem guten Winde«, sagte John Vandeleur, der seinem Gast gefolgt war, »darf ich die Ehre der Anwesenheit Eurer Hoheit zuschreiben?«

»Ich komme wegen eines Geschäftes,« erwiderte der Prinz; »wegen eines Geschäftes mit Ihnen; sobald dieses abgemacht ist, werde ich Herrn Rolles ersuchen, mich auf einem Spaziergange zu begleiten. Herr Rolles,« setzte er in strengem Ton hinzu, »gestatten Sie mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß ich mich noch nicht gesetzt habe.«

Der junge Geistliche sprang mit einer Entschuldigung auf. Dann setzte der Prinz sich in einen Lehnstuhl, reichte seinen Hut Herrn Vandeleur, seinen Spazierstock Herrn Rolles, ließ die beiden vor ihm stehen, wie wenn sie seine Bedienten wären, und sagte:

»Ich bin, wie gesagt, wegen eines Geschäftes gekommen; aber wenn ich nur zu meinem Vergnügen gekommen wäre, so hätte dieser Empfang und die Gesellschaft, die ich hier treffe, mir nicht mehr mißfallen können. Sie, Herr Rolles, haben sich gegen einen Mann, der höheren Standes ist als Sie, unhöflich benommen; Sie, Vandeleur, empfangen mich mit einem Lächeln, aber Sie wissen sehr wohl, daß Ihre Hände noch nicht rein sind. Ich wünsche nicht unterbrochen zu werden, Herr!« rief er gebieterisch; »ich bin hier, um zu sprechen, nicht um zu hören; und ich muß Sie ersuchen, mich mit Ehrfurcht anzuhören und pünktlich zu gehorchen. Sobald es irgend möglich ist, wird auf der britischen Botschaft Ihre Tochter mit meinem Freunde Francis Scrymgeour, dem anerkannten Sohn Ihres Bruders, vermählt werden. Sie werden mir den Gefallen tun, eine Mitgift von mindestens zehntausend Pfund auszusetzen. Ihnen selber werde ich schriftlich einen Auftrag für Siam zustellen; er ist nicht ohne Bedeutung und ich verlasse mich dabei auf Ihre Umsicht. Und jetzt, Herr Vandeleur, werden Sie mir in zwei Worten antworten, ob Sie diese Bedingungen annehmen oder nicht.«

»Euer Hoheit werden verzeihen,« sagte der alte Vandeleur; »wollen Sie mir gestatten, in aller Ehrerbietung, Ihnen zwei Fragen zu unterbreiten?«

»Ihre Bitte ist gewährt,« antwortete der Prinz.

»Eure Hoheit«, fuhr der Diktator fort, »haben Herrn Scrymgeour Ihren Freund genannt. Glauben Sie mir, wenn ich gewußt hätte, daß er solcher Ehre gewürdigt wird, so hätte ich ihn mit entsprechender Achtung behandelt.«

»In Ihren Worten liegt eine geschickte Frage,« sagte der Prinz; »aber dies wird Ihnen nichts nützen. Sie haben meine Befehle vernommen; Sie würden unumstößlich sein, selbst wenn ich diesen Herren heute abend zum allerersten Male gesehen hätte!«

»Eure Hoheit haben meine Meinung mit gewohntem Scharfsinn erkannt,« antwortete Vandeleur. »Noch eins: ich habe unglücklicherweise die Polizei auf die Spur des Herrn Scrymgeour unter der Anschuldigung eines Diebstahls gebracht; soll ich die Anklage zurückziehen oder aufrecht erhalten?«

»Das haben Sie mit sich selber auszumachen,« antwortete Florizel. »Die Frage geht Ihr Gewissen und die Gesetze dieses Landes an. Geben Sie mir meinen Hut; und Sie, Herr Rolles, geben Sie mir meinen Stock, und folgen Sie mir. Fräulein Vandeleur, ich wünsche Ihnen guten Abend. Ich nehme an,« sagte er zum alten Vandeleur, »daß Ihr Stillschweigen rückhaltlose Zustimmung bedeutet.«

»Ich kann nichts besseres tun,« antwortete der alte Herr; »ich werde mich fügen; aber ich erkläre Ihnen offen heraus, ich weiche nur der Gewalt.«

»Sie sind alt,« sagte der Prinz; »aber das Alter ist für Sünder kein Vorteil, Ihr Alter ist weniger weise, als die Jugend anderer. Fordern Sie mich nicht heraus; Sie könnten finden, daß ich härter bin, als Sie geglaubt haben. Es ist das erstemal, daß ich im Bösen Ihren Weg gekreuzt habe, geben Sie acht, lassen Sie es das letztemal sein!«

Mit diesen Worten winkte Florizel dem jungen Geistlichen, ihm zu folgen, verließ das Zimmer und schritt der Gartenpforte zu. Der Diktator folgte ihm mit einer Kerze und öffnete wieder die vielen Riegel und Schlösser, durch die er sich gegen Eindringlinge zu schützen suchte.

»Da jetzt Ihre Tochter nicht mehr zugegen ist,« sagte der Prinz, indem er sich auf der Stelle umdrehte, »so lassen Sie mich Ihnen sagen, daß ich Ihre Drohungen verstehe. Sie brauchen nur Ihre Hand zu erheben, und Sie werden sofort unrettbar verloren sein.«

Der Diktator antwortete nicht; als aber der Prinz ihm den Rücken wandte, machte er eine Gebärde der Drohung und wahnsinniger Wut. Im nächsten Augenblick schlüpfte er um eine Straßenecke und lief im schnellsten Schritt zur nächsten Droschken-Haltestelle.

*

Hier – sagte mein Araber – schließt die Erzählung von dem Hause mit den grünen Läden. Nur noch ein Abenteuer, und wir sind fertig mit dem Diamanten des Radschahs. Dieses letzte Glied in der Kette ist unter den Einwohnern Bagdads bekannt als: Das Abenteuer des Prinzen Florizel und des Geheimpolizisten.


 << zurück weiter >>