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Die Geschichte von der Schachtel

Bis zu seinem sechzehnten Jahr in einer Privatschule und später auf einer der großen Hochschulen erzogen, durch die England mit Recht berühmt geworden ist, hatte Harry Hartley die gewöhnliche Bildung eines Gentleman. Zu jener Zeit legte er eine auffallende Abneigung gegen jedes Studium an den Tag, und da sein einziger, noch am Leben befindlicher Verwandter unwissend und schwach war, so durfte er sein Leben damit zubringen, daß er sich nur mit nichtigen Modedingen beschäftigte. Als er zwei Jahre darauf in der Welt ganz allein stand, war er beinahe ein Bettler. Für ein tätiges, betriebsames Leben war Harry seiner Anlage, wie seiner Erziehung nach ungeeignet. Er konnte romantische Lieder singen und auf dem Klavier sich selber leidlich dazu begleiten; er war ein anmutiger, obgleich etwas schüchterner Reiter; er hatte eine ausgesprochene Vorliebe für das Schachspiel, und die Natur hatte ihn mit einem außerordentlich vorteilhaften Äußeren in die Welt geschickt. Blondhaarig, rosenwangig, mit Taubenaugen und einem sanften Lächeln, hatte er ein angenehmes, melancholisch-zärtliches Aussehen und ein sehr anschmiegendes unterwürfiges Benehmen. Aber alles in allem genommen, war er nicht der Mann, ein Held im Kriege oder ein Sprecher im Staatsrat zu sein.

Ein glücklicher Zufall und etlicher Einfluß, der zu seinen Gunsten geltend gemacht wurde, verschafften Harry, als er in diese Not geriet, die Stelle eines Privatsekretärs beim Generalmajor Sir Thomas Vandeleur, Komtur des Bathordens. Sir Thomas war ein Mann von sechzig Jahren, von lautem, prahlerischem und anmaßendem Wesen. Aus irgendeinem Grunde, für irgendeinen Dienst, über dessen Art viel geflüstert und manche Behauptung aufgestellt und abgeleugnet wurde, hatte ihm der Radschah von Kaschgar den sechstgrößten der in der Welt bekannten Diamanten geschenkt. Diese Gabe machte General Vandeleur aus einem armen Mann zu einem reichen, aus einem unbekannten und wenig beliebten Soldaten zu einem der Löwen der Londoner Gesellschaft: der Besitzer des Radschah-Diamanten war in den abgeschlossensten Kreisen willkommen und hatte eine junge, schöne Dame von vornehmer Geburt gefunden, die bereit war, selbst um den Preis einer Heirat mit Sir Thomas Vandeleur den Diamanten ihr eigen zu nennen. Es wurde damals allgemein gesagt: da Gleiches das Gleiche anziehe, so habe ein Juwel das andere angezogen; sicherlich war Lady Vandeleur nicht nur persönlich ein Edelstein von reinstem Wasser, sondern sie zeigte sich auch der Welt in einer sehr kostbaren Fassung und galt für viele vertrauenswürdige Autoritäten als eine der drei oder vier Damen, die sich in ganz England am besten kleideten.

Harrys Pflichten als Privatsekretär waren nicht übermäßig beschwerlich; aber er hatte eine Abneigung gegen langes Arbeiten; es war ihm unangenehm, seine Finger mit Tinte zu beschmutzen, und die Reize der Lady Vandeleur und ihrer Toiletten zogen ihn oft aus der Bücherei in ihr Boudoir. Er wußte sich sehr reizend mit Damen zu benehmen, konnte mit Geschick über Modeangelegenheiten sprechen, und war niemals glücklicher, als wenn er über die Farbenschattierungen eines Bandes sein Urteil abgeben oder eine Besorgung bei einer Modistin ausrichten durfte. Kurz und gut, die Erledigung von Sir Thomas Vandeleurs Briefen geriet kläglich in Rückstand und Mylady hatte dafür eine zweite Kammerjungfer.

Schließlich kam es so weit, daß der General, der ein sehr ungeduldiger alter Soldat war, in einem Zornanfall von seinem Stuhl aufsprang, seinem Sekretär zubrüllte, er bedürfe seiner Dienste nicht länger, und diese Worte mit einer erklärenden Gebärde begleitete, wie sie zwischen Gentlemen höchst selten zur Anwendung kommen. Da unglücklicherweise die Tür offen stand, fiel Herr Hartley, mit dem Kopf voran, die Treppe hinunter.

Er erhob sich etwas beschämt und sehr tief bekümmert. Das Leben im Hause des Generals war gerade so recht nach seinem Geschmack: er bewegte sich, wenn auch in einer mehr oder weniger zweifelhaften Stellung, in sehr feiner Gesellschaft; er tat wenig; er aß und trank ausgezeichnet; und er empfand eine lauwarme Befriedigung in der Gegenwart von Lady Vandeleur, die er in seinem eigenen Herzen mit einem leidenschaftlicheren Namen bezeichnete.

Unmittelbar nachdem er die Beschimpfung durch den Soldaten erhalten hatte, eilte er in das Boudoir und klagte seinen Schmerz.

»Sie wissen sehr wohl, mein lieber Harry,« antwortete Lady Vandeleur – denn sie rief ihn bei seinem Vornamen wie ein Kind oder einen Dienstboten –, »daß Sie ja überhaupt niemals tun, was der General Ihnen sagt. Sie werden vielleicht sagen, daß ich das ja auch nicht tue. Aber das ist etwas anderes. Eine Frau kann für jahrelangen Ungehorsam Verzeihung erlangen, wenn sie ein einziges Mal in geschickter Weise klein beigibt; außerdem ist man ja nicht mit seinem Privatsekretär verheiratet. Es wird mir leid tun, Sie zu verlieren; da Sie aber doch nicht länger in einem Hause bleiben können, wo Sie beschimpft worden sind, so will ich Ihnen hiermit Lebewohl sagen. Aber ich verspreche Ihnen, dem General soll sein Gebaren noch leid tun!«

Harry machte ein langes Gesicht; Tränen standen ihm hoch in den Augen, er blickte Lady Vandeleur mit zärtlichem Vorwurf an und sagte:

»Mylady, was ist eine Beschimpfung? Ich würde wirklich recht gering von einem Menschen denken, der nicht ein paar Dutzend Beleidigungen zu vergeben wüßte! Aber sich von seinen Freunden zu trennen, die Bande zärtlicher Hingebung zu zerreißen, das –«

Er konnte nicht weiter sprechen, denn seine Rührung überwältigte ihn und er weinte laut.

Lady Vandeleur sah ihn mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an; sie dachte:

Dieser kleine Dummkopf bildet sich ein, in mich verliebt zu sein. Warum sollte er nicht mein Diener werden, anstatt Privatsekretär des Generals zu sein? Er ist gutmütig, diensteifrig und versteht etwas von Toiletten; außerdem wird eine solche Stellung ihn davon abhalten, dumme Streiche zu machen. Er ist tatsächlich zu hübsch, daß man ihn könnte seinen eigenen Weg gehen lassen.

An demselben Abend überredete sie den General, der sich seiner Lebhaftigkeit bereits ein bißchen schämte, ihr ihren Wunsch zu erfüllen, und Harry wurde in die weibliche Abteilung des Hauses versetzt, wo er ein beinahe himmlisches Leben führte. Er war stets außerordentlich nett angezogen, trug zarte Blümchen in seinem Knopfloch und konnte Besucher taktvoll und ergötzlich unterhalten. Er war stolz darauf, einem schönen Weibe als Diener untertan zu sein; jeden Befehl der Lady Vandeleur sah er als eine besondere Huld an, und er brüstete sich sogar vor anderen Männern, die ihn verspotteten und verachteten, mit seiner Stellung als männliche Kammerzofe und Putzmacherin. Besonders aber vom moralischen Standpunkt aus schien ihm sein Dasein beneidenswert zu sein. Sündhaftigkeit hielt er für eine wesentlich männliche Eigenschaft, und seine Tage bei einer zartfühlenden Frau zu verbringen und hauptsächlich mit Näharbeiten beschäftigt zu sein, hieß nach seiner Meinung eine Zauberinsel inmitten der Stürme des Lebens bewohnen.

Eines schönen Morgens kam er in den Salon und begann einige Noten zu ordnen, die auf dem Klavier lagen. Lady Vandeleur unterhielt sich am anderen Ende des Zimmers ziemlich lebhaft mit ihrem Bruder, Charlie Pendragon, einem ältlichen jungen Herrn, der durch ausschweifenden Lebenswandel sehr klapperig geworden war, und auf dem einen Fuß bedeutend hinkte. Der Privatsekretär, dessen Eintreten sie nicht beachteten, konnte nicht umhin, einen Teil ihres Gespräches anzuhören.

»Heute oder niemals!« rief die Lady. »Es bleibt dabei: heute soll es geschehen!«

»Also heute, wenn es sein muß,« antwortete der Bruder mit einem Seufzer. »Aber es ist ein falscher Schritt, der uns in den Abgrund führen wird, Clara; wir werden es noch bitterlich bereuen.«

Lady Vandeleur sah ihren Bruder mit einem festen und etwas sonderbaren Blick ins Gesicht und sagte:

»Du vergissest: mein Mann muß ja doch schließlich mal sterben.«

»Auf mein Wort, Clara,« sagte Pendragon, »ich glaube, du bist die herzloseste Spitzbübin in ganz England.«

»Ihr Männer,« antwortete sie, »seid so plump angelegt, daß ihr niemals eine feine Schattierung begreifen könnt. Ihr selber seid habsüchtig, heftig, unbescheiden, gleichgültig; und trotzdem empört es euch, wenn eine Frau einmal an die Zukunft denkt. Aber solcher Unsinn paßt mir nicht. Du würdest einen gewöhnlichen Geldverleiher verachten, wenn er so dumm wäre, wie nach eurer Meinung wir Frauen sein sollen.«

»Du wirst wahrscheinlich recht haben,« antwortete ihr Bruder; »du warst ja immer klüger als ich. Und jedenfalls kennst du meinen Wahlspruch: Unsere Familie über alles!«

»Ja, Charlie,« antwortete sie und drückte ihm die Hand, »ich kenne deinen Wahlspruch besser als du selber. ›Und Clara noch über die Familie!‹ Nicht wahr, so lautet der zweite Teil des Satzes? Ja, du bist der beste Bruder, den es geben kann, und ich habe dich von Herzen lieb!«

Herr Pendragon machte ein ziemlich dummes Gesicht zu diesen Lobsprüchen; er stand auf und sagte:

»Es ist besser, wenn man mich nicht sieht; ich weiß ja nun ganz genau, was ich zu tun und zu sagen habe, und will auf den ›zahmen Kater‹ aufpassen.«

»Tu das! Er ist ein verruchter Mensch und könnte vielleicht alles kaputt machen.«

Sie warf ihm einen zierlichen Handkuß zu, und der Bruder entfernte sich auf dem Wege durch das Boudoir und über die Hintertreppe. Sobald sie allein waren, wendete Lady Vandeleur sich zu dem Privatsekretär und sagte:

»Harry, ich habe heute morgen etwas für Sie zu besorgen: aber Sie sollen sich eine Droschke nehmen; mein Privatsekretär soll keine Sommersprossen kriegen!«

Die letzten Worte sprach sie mit Gefühl und mit einem Blick halb mütterlichen Stolzes, der den guten Harry beseligte, und er rief, er sei entzückt, daß er eine Gelegenheit habe, ihr dienen zu können.

»Es handelt sich wieder einmal um ein großes Geheimnis!« sagte sie mit einem listigen Lächeln; niemand darf darum wissen, als mein Sekretär und ich. Sir Thomas würde den fürchterlichsten Spektakel machen, und wenn Sie nur wüßten, wie überdrüssig ich dieser Szenen bin! O Harry, Harry – können Sie mir erklären, warum ihr Männer so heftig und ungerecht seid? Aber ich weiß ja. Sie können es nicht! Sie sind der einzige Mann auf der Welt, der von diesen schändlichen Leidenschaften nichts weiß; Sie sind zu gut, Harry, und so freundlich; Sie sind wenigstens einer, der ein wahrer Freund einer Frau sein kann, und wissen Sie was? Ich glaube, durch den Vergleich mit Ihnen erscheinen die anderen Männer häßlicher.«

»Sie sind so freundlich zu mir!« rief Harry leidenschaftlich. »Sie behandeln mich wie –«

»Wie eine Mutter,« unterbrach Lady Vandeleur ihn; »ich versuche Ihnen eine Mutter zu sein. Oder wenigstens«, verbesserte sie sich mit einem Lächeln, »beinahe eine Mutter. Ich bin zu jung, um wirklich Ihre Mutter zu sein. Lassen Sie mich also sagen: Ihre Freundin – Ihre aufrichtige Freundin.«

Sie machte eine Pause, die lang genug war, um auf Harrys gefühlvolles Herz zu wirken, aber nicht lang genug, um ihn zu Worte kommen zu lassen; denn sie fuhr gleich fort:

»Aber dies alles tut nichts zur Sache. Sie werden in dem Eichenschrank auf der linken Seite eine Pappschachtel finden; sie steht unter dem rosenroten Schleppkleide, das ich Donnerstag mit meinen Mechelner Spitzen trug. Diese Schachtel bringen Sie sofort nach dieser Adresse,« gleichzeitig gab sie ihm einen Zettel, »aber unter keinen Umständen geben Sie sie aus den Händen, bevor Sie eine von mir selbst geschriebene Empfangsbestätigung erhalten haben. Verstehen Sie? Antworten Sie, bitte – antworten Sie! Die Sache ist ungeheuer wichtig, und ich muß Sie bitten, etwas aufzupassen!«

Harry beruhigte sie, indem er ihre Vorschriften buchstäblich genau wiederholte. Sie wollte ihm gerade noch mehr sagen, da stürzte plötzlich General Vandeleur, purpurrot vor Zorn, in das Zimmer. In der Hand hielt er eine ungeheuer lange, dichtbeschriebene Kleiderrechnung.

»Wollen Sie sich das gefälligst ansehen, Madame!« schrie er. »Wollen Sie die Güte haben, sich dieses Dokument anzusehen? Ich weiß ja gut genug, daß Sie mich meines Geldes wegen geheiratet haben, und ich hoffe, ich habe Ihnen ein so großes Nadelgeld ausgesetzt, wie man es von einem Manne in meinen Verhältnissen verlangen kann. Aber so wahr mich Gott geschaffen hat – ich will jetzt einmal dieser unanständigen Verschwendungssucht ein Ende machen.«

»Herr Hartley,« sagte Lady Vandeleur, »Sie haben wohl verstanden, was Sie zu tun haben. Darf ich Sie bitten, es sofort zu besorgen?«

»Halt!« rief der General Harry zu; »noch ein Wort, bevor Sie gehen!«

Dann sagte er zu Lady Vandeleur:

»Was hat dieser reizende Bursche zu tun? Ich will Ihnen mal was sagen: ich traue ihm nicht weiter als Ihnen selber. Wenn er nur einen Funken von Ehrgefühl im Leibe hätte, würde er die Zumutung, in diesem Hause zu sein, verächtlich ablehnen; und was er mit seinem Gehalt eigentlich tut, ist aller Welt ein Rätsel. Was hat er zu besorgen, Madame? Und warum schicken Sie ihn so plötzlich hinaus?«

»Ich nahm an. Sie hätten mir etwas unter vier Augen zu sagen,« antwortete die Dame.

»Sie sprachen von einer Besorgung,« sagte der hartnäckige General; »machen Sie in meiner augenblicklichen Stimmung keinen Versuch, mir etwas vorzulügen! Sie haben ganz bestimmt etwas von einer Besorgung gesagt!«

»Wenn Sie darauf bestehen, Ihre Dienerschaft zu Zeugen unserer unerquicklichen Streitigkeiten zu machen,« antwortete Lady Vandeleur, »so ist es vielleicht besser, wenn ich Herrn Hartley bitte, Platz zu nehmen. Nein? – Dann können Sie gehen, Herr Hartley! Ich hoffe, Sie behalten alles im Gedächtnis, was Sie in diesem Salon gehört haben; es kann Ihnen vielleicht von Nutzen sein.«

Harry verließ schleunigst den Salon, und als er die Treppe hinauflief, konnte er hören, wie der General mit lauter Stimme predigte und wie Lady Vandeleur in schrillem Ton auf jeden Satz eine eisige Antwort gab. Wie bewunderte er diese Frau aus vollem Herzen! Wie geschickt wußte sie einer unbequemen Frage auszuweichen! Mit welcher selbstbewußten Kühnheit wiederholte sie ihre Aufträge unter dem Feuer der feindlichen Kanonen! Und andererseits – wie verabscheute er ihren Gatten!

Die Vorgänge dieses Morgens waren nichts Ungewöhnliches gewesen; denn er hatte für Lady Vandeleur fortwährend geheime Aufträge auszurichten, die sich hauptsächlich auf Kleiderangelegenheiten bezogen. Daß ein Skelett im Hause Vandeleur war, wußte er recht wohl. Die bodenlose Verschwendungssucht der Frau, die ihre eigenen Schulden nicht kannte, die ihr persönliches Vermögen längst verschlungen, drohte täglich auch das ihres Gatten zu verschlingen. Ein - oder zweimal jedes Jahr schien ein Skandal und völliger Zusammenbruch unvermeidlich zu sein; dann lief Harry bei allen Lieferanten herum, erzählte ihnen allerlei kleine Geschichten und machte kleine Abzahlungen auf die ungeheuer hohe Rechnung; dann gab es wieder eine neue kleine Frist und die Lady und ihr getreuer Sekretär atmeten wieder auf. Denn Harry stand in doppelter Eigenschaft mit Leib und Seele auf der Seite der einen kriegführenden Partei; er betete nicht nur Lady Vandeleur an, deren Gatten er fürchtete und verabscheute, sondern er stimmte auch von Natur mit ihrer Putzsucht überein, und die einzige Verschwendung, die er selber sich erlaubte, waren seine Anzüge.

Er fand die Pappschachtel an dem ihm beschriebenen Ort, machte sich sorgfältig zum Ausgehen zurecht und verließ das Haus. Die Sonne schien warm; die Entfernung, die er zurückzulegen hatte, war beträchtlich, und zu seinem Ärger hatte das plötzliche Eintreten des Generals Lady Vandeleur davon abgehalten, ihm Geld für eine Droschke zu geben. Es war anzunehmen, daß an diesem heißen Sommertage seine weiße Haut argen Schaden nehmen würde; und mit einer Pappschachtel am Arm durch halb London zu laufen, war für einen jungen Mann seines Charakters eine fast unerträgliche Demütigung. Er blieb stehen und überlegte. Die Vandeleurs wohnten am Eaton-Platz, die ihm angegebene Adresse war in der Nähe von Notting Hill; er konnte also offenbar durch den Park gehen, wenn er nur die Alleen vermied, in denen viele Menschen spazieren gingen; und er dankte seinem Himmel, daß es noch verhältnismäßig früh am Tage war! Um sich seine unangenehme Last möglichst bald vom Halse zu schaffen, ging er etwas schneller als für gewöhnlich, und er hatte schon ein ziemliches Stück Weges durch den Kensington-Park zurückgelegt, da sah er sich plötzlich an einer einsamen Stelle in einer Gruppe von Bäumen dem General gegenüber.

»Bitte um Verzeihung, Sir Thomas,« bemerkte Harry, indem er höflich ausbog; denn der andere hatte sich ihm mitten in den Weg gestellt.

»Wohin gehen Sie, Herr?« fragte der General.

»Ich mache einen kleinen Spaziergang im Grünen,« antwortete der junge Mann.

Der General schlug mit seinem Spazierstock auf die Schachtel und rief:

»Mit dem Ding da? Sie lügen, Herr! Und Sie wissen, daß Sie lügen!«

»Wirklich, Sir Thomas!« antwortete Harry; »ich bin es nicht gewöhnt, so angeschrien zu werden.«

»Sie begreifen Ihre Stellung nicht,« sagte der General. »Sie sind in meinen Diensten, und Sie sind ein Diener, gegen den ich den ernstlichsten Verdacht habe. Wer bürgt mir dafür, daß Ihre Schachtel nicht voll von Teelöffeln ist?«

»Es ist ein Zylinderhut darin, der einem Freunde gehört,« sagte Harry.

»Sehr schön!« antwortete General Vandeleur. »Dann wünsche ich Ihres Freundes Zylinderhut zu sehen. Ich interessiere mich,« fuhr er mit einem grimmigen Lächeln fort, »ganz besonders für Zylinderhüte; und ich glaube, Sie wissen, daß ich nicht mit mir spaßen lasse!«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir Thomas – es tut mir außerordentlich leid, aber dies ist meine Privatangelegenheit.«

Der General packte ihn ohne Umstände mit der einen Hand an der Schulter, während die andere in sehr bedrohlicher Weise den Spazierstock schwang. Harry gab sich verloren. In demselben Augenblick sandte der Himmel ihm einen unerwarteten Beschützer in Charlie Pendragon, der plötzlich hinter den Bäumen hervortrat und sagte:

»Aber, General! Nicht doch! Einen so schwachen jungen Mann zu schlagen, geziemt einem höflichen Mann nicht!«

»Aha!« rief der General, indem er auf seinen neuen Gegner zustürzte: »Herr Pendragon! Bilden Sie sich vielleicht ein, Herr Pendragon, ich lasse mich von einem niedergebrochenen Lebemann wie Sie ausspionieren und von meinen Vorsätzen zurückhalten, weil ich das Unglück gehabt habe, Ihre Schwester zu heiraten? Meine Bekanntschaft mit Lady Vandeleur hat mir jeden Appetit benommen, etwas mit den Mitgliedern ihrer Familie zu tun zu haben.«

»Und bilden Sie sich ein, General Vandeleur,« versetzte Charlie, »meine Schwester habe auf alle Rechte und Privilegien einer Dame verzichtet, weil sie das Unglück gehabt hat, Sie zu heiraten? Allerdings hat sie sich, indem sie das tat, viel vergeben; aber für mich ist sie immer noch eine Pendragon. Ich mache es mir zur Aufgabe, sie gegen unvornehme Mißhandlungen zu schützen, und wenn Sie zehnmal ihr Gemahl wären, so würde ich es nicht erlauben, daß sie in ihrer Freiheit beschränkt wird, oder daß ihre Boten, die sie in Privatangelegenheiten schickt, mit Gewalt auf offener Straße angehalten werden!«

»Was bedeutet denn das, Herr Hartley?« fragte der General. »Herr Pendragon ist, wie mir scheint, ebenfalls meiner Meinung. Auch er nimmt an, daß Lady Vandeleur etwas mit dem Zylinderhut Ihres Freundes zu tun hat.«

Charlie sah, daß er einen unverzeihlichen Schnitzer begangen hatte, und versuchte dies schnell wieder gutzumachen, indem er rief:

»Was, Herr? Ich nehme an, sagen Sie? Ich nehme gar nichts an! Ich nehme mir nur die Freiheit, einzuschreiten, wenn ich sehe, daß jemand seine Stärke mißbraucht und seine Untergebenen brutal behandelt.«

Während er diese Worte sprach, gab er Harry einen Wink, den dieser aber nicht verstand, weil er zu schwerfällig oder zu aufgeregt war.

»Wie soll ich Ihr Benehmen verstehen, Herr!« fragte Vandeleur. Wieder erhob der General seinen Spazierstock und führte einen Schlag nach Charlies Kopf; dieser aber parierte den Hieb mit seinem Regenschirm, stürzte sich trotz seinem lahmen Fuße auf seinen viel stärkeren Gegner, packte ihn um den Leib und rief:

»Laufen Sie, Harry, laufen Sie! Laufen Sie doch, Sie Trottel!«

Harry stand trotzdem noch einen Augenblick wie versteinert da und sah zu, wie die beiden Männer miteinander rangen; dann aber drehte er sich um und lief davon, so schnell er konnte. Als er einen Blick über seine Schulter zurückwarf, sah er, wie der General unten lag und Charlie auf ihm kniete, daß Sir Thomas aber immer noch sich anstrengte, nach oben zu kommen. Der ganze Park schien voll von Leuten zu sein, die von allen Seiten herbeiliefen, um die Prügelei zu sehen. Dieser Anblick verlieh dem Sekretär Flügel, und er verlangsamte seinen Schritt nicht eher, als bis er Bayswater Road erreicht hatte, wo er in eine menschenleere Seitenstraße einbog.

Daß zwei Gentlemen seiner Bekanntschaft in so roher Weise aufeinander losdroschen, war für Harry ein entsetzlicher Anblick gewesen. Er wünschte diesen zu vergessen, und vor allen Dingen wünschte er eine möglichst große Entfernung zwischen sich und den General Vandeleur zu bringen. Darüber vergaß er ganz und gar, wohin er gehen sollte, sondern lief zitternd nur immer geradeaus.

Wenn er daran dachte, daß Lady Vandeleur die Gemahlin des einen dieser Gladiatoren und die Schwester des anderen war, dann empfand sein Herz ein inniges Mitgefühl für eine Frau, der das Schicksal einen so falschen Platz im Leben angewiesen hatte. Sogar seine eigene Stellung im Haushalt des Generals erschien ihm nicht so angenehm wie früher, da er sie jetzt im Lichte des letzten Vorganges sah.

Er war, in diese Betrachtungen versunken, ziemlich weit gegangen, als er gegen einen anderen Passanten anstieß und dadurch an die Pappschachtel an seinem Arm erinnert wurde.

»Um des Himmels willen!« rief er. »Wo hatte ich denn meinen Kopf? und wo bin ich jetzt?«

Er sah sich den Brief an, den Lady Vandeleur ihm gegeben hatte. Auf dem Umschlag war nur Straße und Hausnummer angegeben, aber kein Name. Harry war nur angewiesen worden, nach dem Herrn zu fragen, »der ein Paket von Lady Vandeleur erwarte«, und wenn dieser nicht zu Hause wäre, sollte er auf seine Rückkunft warten. Der Herr, so hieß es weiter auf dem Umschlage, sollte eine von der Dame selbstgeschriebene Empfangsbestätigung vorzeigen. Dies alles sah äußerst geheimnisvoll aus, besonders wunderte Harry sich über die Weglassung des Namens und die Förmlichkeit der Quittung. Er hatte sich über diesen letzten Umstand wenig Gedanken gemacht, als Lady Vandeleur ihn im Gespräch erwähnt hatte; als er jetzt aber mit kühler Überlegung diese Vorschrift auf dem Briefumschlag las und sie mit den anderen sonderbaren Umständen in Verbindung brachte, kam er zu der Überzeugung, daß er es mit gefährlichen Dingen zu tun habe.

Einen Augenblick zweifelte er halb und halb sogar an Lady Vandeleur selber; denn er fand diese dunklen Machenschaften einer so hochstehenden Dame nicht ganz würdig, und vor allen Dingen wurde seine Kritik dadurch geschärft, daß sie ihre Geheimnisse sogar ihm vorenthielt. Aber sie beherrschte ihn so vollständig, daß er seinen Verdacht gleich wieder fahren ließ und sich selber einen Vorwurf daraus machte, daß er ihn überhaupt nur hatte hegen können.

Jedenfalls verlangten seine Pflicht und sein Vorteil, seine Hochherzigkeit und seine Angst eines von ihm; er mußte so schleunig wie nur möglich die Schachtel loswerden.

Er sprach den ersten Schutzmann an, der ihm begegnete, und fragte ihn höflich nach dem Wege. Es stellte sich heraus, daß er gar nicht mehr so sehr weit von seinem Bestimmungsort entfernt war, und ein Gang von wenigen Minuten brachte ihn zu einem Häuschen, das frisch getüncht und peinlich sauber gehalten war; es lag an einer schmalen Seitengasse. Türklopfer und Klingelgriff waren blank poliert; blühende Topfgewächse schmückten die Fensterbänke, und dunkle, schwere Vorhänge verhüllten das Innere vor den Blicken neugieriger Vorübergehender. Das Haus hatte etwas Ruhiges und Geheimnisvolles an sich, das auf Harry solchen Eindruck machte, daß er ganz leise klopfte und ungewöhnlich sorgfältig seine Stiefel abputzte.

Ein recht hübsches Dienstmädchen öffnete sofort die Tür und schien den Sekretär mit nicht unfreundlichen Augen anzusehen.

»Hier ist das Paket von Lady Vandeleur,« sagte Harry.

»Ich weiß,« antwortete das Dienstmädchen und nickte. »Aber der Herr ist nicht zu Hause. Wollen Sie es mir hier lassen?«

»Das kann ich nicht. Ich bin angewiesen worden, es nur unter einer gewissen Bedingung herzugeben und werde Sie daher leider bitten müssen, mich drinnen warten zu lassen.«

»Nun, ich glaube, ich darf Sie hier wohl warten lassen. Ich kann Ihnen sagen, ich fühle mich hier recht einsam, und Sie sehen nicht aus, wie wenn Sie ein Mädchen essen würden. Aber fragen Sie mich nur nicht, wie der Herr heißt; denn das darf ich Ihnen nicht sagen.«

»Was sagen Sie da?« rief Harry. »Das ist ja merkwürdig! Aber ich habe ja seit einiger Zeit eine Überraschung nach der anderen. Nur eine Frage darf ich wohl an Sie richten, ohne unbescheiden zu sein: ist er der Besitzer dieses Hauses?«

»Er wohnt hier zur Miete, und zwar auch erst seit acht Tagen. Und nun – Frage für Frage: kennen Sie Lady Vandeleur?«

»Ich bin ihr Privatsekretär,« antwortete Harry mit einem Erröten bescheidenen Stolzes.

»Sie ist hübsch?« fragte das Dienstmädchen weiter.

»Oh, schön!« rief Harry; »wunderbar lieblich, und dabei nicht weniger gut und freundlich!«

»Sie sehen selber recht freundlich aus, und ich möchte darauf wetten. Sie sind so viel wert, wie ein Dutzend Lady Vandeleurs.«

Harry war geradezu empört über diese Worte und rief:

»Ich! Ich bin ja nur ein Sekretär!«

»Wollen Sie mich damit zurechtweisen, denn ich bin ja nur ein Dienstmädchen, wenn Sie nichts dagegen haben!«

Als sie aber Harrys offenbare Verlegenheit sah, besänftigte sie sich und fuhr fort:

»Ich weiß. Sie haben es nicht böse gemeint, und Sie gefallen mir. Aber Ihre Lady Vandeleur! Oh, diese Herrschaften! Einen richtigen feinen Herrn, wie Sie – am hellen lichten Tage – mit einer Pappschachtel auf die Straße zu schicken!«

Sie waren während dieses Gespräches auf derselben Stelle geblieben – sie stand in der offenen Tür, er auf dem Bürgersteig. Wegen der Hitze hatte er den Hut abgenommen und am Arm trug er seine Pappschachtel. Als Sie aber diese letzten Worte sagte, nahm Harry eine andere Haltung an und sah verlegen nach links und nach rechts; denn er konnte solche Komplimente über sein Aussehen, die ihm gerade ins Gesicht gemacht wurden, nicht vertragen, und besonders nicht den aufmunternden Blick, womit sie begleitet wurden. Wie er sich nun umsah, sah er am Ende der kleinen Gasse zu seinem unbeschreiblichen Entsetzen den General Vandeleur auftauchen.

Der General war in seiner Entrüstung trotz der Hitze durch die Straßen gerannt, um seinen Schwager zu erwischen; sobald er aber seinen pflichtvergessenen Sekretär erblickte, wurde sein Zorn in ein anderes Fahrwasser gelenkt. Er drehte sich um und stürmte mit wilden Gebärden und Flüchen die schmale Gasse hinauf.

Mit einem Satz war Harry im Hause, indem er das Mädchen vor sich her schob; und im nächsten Augenblick hatte er die Tür seinem Verfolger vor der Nase zugeschlagen.

»Ist ein Riegel da? wird das Schloß auch halten?« sagte Harry, während eine Salve des Türklopfers durch das ganze Haus schallte.

»Aber was haben Sie denn?« fragte das Mädchen. »Haben Sie Angst vor dem alten Herrn?«

»Wenn er mich kriegt,« flüsterte Harry, »bin ich so gut wie tot, er hat mich schon den ganzen Tag verfolgt; er hat einen Stockdegen bei sich und ist ein alter indischer Offizier.«

»Das sind ja schöne Manieren!« rief das Mädchen; »und wie heißt er denn wohl, bitte?«

»Es ist der General, mein Herr,« antwortete Harry; »er will seine Schachtel haben.«

»Sagte ich es Ihnen nicht?« rief das Mädchen triumphierend, »ich sagte Ihnen ja, daß ich von Ihrer Lady Vandeleur ganz und gar nichts halte; und wenn Sie Augen in Ihrem Kopf hätten, könnten Sie selber sehen, was an ihr dran ist. Eine undankbare Kokette ist sie, darauf will ich Gift nehmen!« Der General erneuerte seinen Türklopfersturm; als immer noch nicht aufgemacht wurde, geriet er in eine geradezu fürchterliche Wut und begann mit den Füßen gegen die Tür zu stoßen.

»Es ist ein Glück,« bemerkte das Mädchen, »daß ich allein im Hause bin; Ihr General kann klopfen, bis er müde wird; aufmachen tut ihm niemand. Kommen Sie mit.«

Mit diesen Worten führte sie Harry in die Küche, ließ ihn Platz nehmen und stand neben ihm, indem sie ihm zärtlich die Hand auf die Schulter legte. Der Lärm an der Tür ließ nicht nach, sondern wurde immer stärker, und bei jedem Schlage, den er hörte, zitterte dem unglückseligen Sekretär das Herz.

»Wie heißen Sie?« fragte das Mädchen.

»Harry Hartley.«

»Ich heiße Prudence. Gefällt Ihnen der Name?«

»Sehr! Aber hören Sie doch bloß mal, wie der General gegen die Tür haut! Er wird sie sicherlich aufbrechen, und um des Himmels willen, das ist ja mein sicherer Tod!«

»Sie regen sich ohne jeden Grund viel zu sehr auf,« antwortete Prudence. »Lassen Sie Ihren General nur gegen die Tür hauen; damit schlägt er sich höchstens die Hände entzwei. Glauben Sie denn, ich würde Sie hierbehalten, wenn ich nicht sicher wäre, Sie zu retten? O nein, ich bin eine treue Freundin, wenn einer mir gefällt! Und wir haben eine Hintertür, die nach einer anderen Seitengasse hinausgeht. Aber,« fuhr sie fort und drückte ihn wieder auf seinen Stuhl zurück, denn er war sofort aufgesprungen, als er diese willkommene Nachricht vernahm, »aber ich zeige Ihnen nicht, wo diese Tür ist, wenn Sie mir nicht einen Kuß geben. Wollen Sie das, Harry?«

»Gewiß will ich das!« rief er, als galanter Jüngling, der er war; »nicht wegen der Hintertür, sondern weil Sie ein gutes und hübsches Mädchen sind!«

Und er drückte ihr zwei oder drei herzliche Küsse auf die Lippen, die sie in derselben Weise erwiderte.

Hierauf führte Prudence ihn nach dem hinteren Ausgang, legte ihre Hand auf den Schlüssel und sagte:

»Wollen Sie wiederkommen und mich besuchen?«

»Herzlich gern! Ich verdanke Ihnen ja mein Leben!«

»Und jetzt,« sagte sie, indem sie die Tür öffnete, »laufen Sie, so schnell Sie können, denn ich lasse jetzt den General ein.«

Harry bedurfte dieses Rates kaum; Angst hatte ihn beim Schopf gepackt, und er wandte sich zu eiliger Flucht. Ein paar Schritte, so glaubte er, und er wäre aus allen Fährlichkeiten befreit und würde ehrenvoll, heil und gesund zu Lady Vandeleur zurückkehren. Aber diese paar Schritte hatte er noch nicht gemacht, da hörte er einen Mann mit vielen Flüchen seinen Namen rufen, und als er sich umsah, erblickte er Charlie Pendragon, der mit beiden Armen ihm zuwinkte, daß er wieder umkehren solle.

Dieser neue Zwischenfall gab ihm einen so plötzlichen und harten Stoß, und Harry war außerdem bereits in einer solchen nervösen Aufregung, daß ihm nichts Besseres einfiel, als seine Schritte noch zu beschleunigen und weiterzulaufen. Natürlich hätte er an den Vorfall im Kensington-Park denken sollen; dann hätte er gewiß den Schluß gezogen, daß, wenn der General sein Feind war, Charlie Pendragon nur sein Freund sein konnte. Aber er befand sich in einer solchen fieberhaften Aufregung, daß er hieran gar nicht dachte und nur immer noch schneller das schmale Sträßchen entlang lief. Charlie war offenbar ganz außer sich vor Wut, wie man aus dem Klange seiner Stimme und aus den Schimpfworten entnehmen konnte, die er dem Sekretär nachrief. Auch er lief so schnell er konnte; aber so sehr er sich auch anstrengte, die körperlichen Vorteile waren nicht auf seiner Seite, und bald hörte Harry, wie sein Geschrei und sein Gerumpel immer ferner verklang.

Harry begann neue Hoffnung zu schöpfen. Das Sträßchen war steil und schmal, aber ganz menschenleer; es wurde auf beiden Seiten von Gartenmauern eingefaßt, die von Laubwerk übersponnen waren. Soweit der Flüchtling blicken konnte, bewegte sich vor ihm kein lebendes Wesen und stand keine Tür offen. Die Vorsehung schien müde geworden zu sein, ihn zu verfolgen, und bot ihm jetzt freies Feld zum Entrinnen.

Aber ach! als er gerade an einer Gartenpforte unter einer Gruppe von Kastanienbäumen vorbeilief, wurde diese plötzlich geöffnet und er sah auf einem Gartenwege einen Schlachterjungen mit seiner Mulde auf der Schulter herankommen. Er hatte kaum die Beobachtung gemacht, als er schon um einige Schritte jenseits der Gartentür sich befand. Aber der Bursche hatte Zeit gehabt, ihn zu bemerken; er war offenbar sehr erstaunt, einen feingekleideten Herrn so geschwind rennen zu sehen, und er trat auf das Sträßchen hinaus und begann Harry durch ironische Zurufe anzufeuern.

Sein Erscheinen brachte Charlie Pendragon auf einen neuen Gedanken; obwohl er kaum noch Luft schnappen konnte, erhob er noch einmal seine Stimme und schrie:

»Haltet den Dieb!«

Sofort stimmte der Schlachterjunge in diesen Ruf ein und nahm die Verfolgung auf.

Dies war ein böser Augenblick für den gehetzten Sekretär. Allerdings gab die Angst ihm neue Kräfte und vermehrte seine Schnelligkeit; mit jedem Schritt kam er weiter von seinen Verfolgern ab, aber er wußte wohl, daß er dicht am Ende seiner Kräfte war, und es brauchte ihm nur jemand entgegenzutreten, so befand er sich auf der schmalen Straße in einer geradezu verzweifelten Lage.

Ich muß ein Versteck finden, dachte er bei sich selber, und zwar innerhalb der nächsten paar Sekunden, sonst ist es mit mir völlig aus auf dieser Welt.

Kaum war ihm dieser Gedanke durch den Kopf geschossen, so machte die Straße eine scharfe Biegung, und er konnte von seinen Feinden nicht gesehen werden. Es gibt Umstände, in denen selbst der schlaffste Mensch tatkräftig und entschlossen zu handeln lernt, in denen der zaghafteste seine Vorsicht vergißt und waghalsige Entschlüsse faßt. Eine solche Gelegenheit trat jetzt für Harry Hartley ein; wer ihn genau kannte, würde sich über die Kühnheit des jungen Menschen gewundert haben. Er blieb plötzlich stehen, warf die Schachtel über die Gartenmauer, sprang mit unglaublicher Gelenkigkeit an dieser empor, packte den Rand und ließ sich auf der anderen Seite in den Garten hinunterfallen. Als er gleich darauf wieder zu sich kam, saß er in einem Rosenbeet. Seine Knie und Hände waren aufgeschunden und bluteten; denn die Gartenmauer war, um solches Hinüberklettern zu verhindern, auf ihrem oberen Rande reichlich mit Flaschenscherben gespickt. Ihm taten alle Glieder weh und er hatte ein Gefühl, wie wenn alles vor seinen Augen schwämme. Gerade gegenüber auf der anderen Seite des Gartens, der ausgezeichnet gepflegt und voll von köstlich duftenden Blumen war, sah er die Rückseite eines Hauses. Dieses war von beträchtlicher Größe und wurde offenbar bewohnt; aber in einem seltsamen Gegensatz zu dem wohlgepflegten Garten war das Haus schlecht gehalten und sah schäbig aus. Außer dem Hause sah Harry auf allen Seiten nur die Gartenmauer.

Sein Auge erfaßte mechanisch diese Bilder, aber sein Geist war noch nicht imstande, sie miteinander zu einem Ganzen zu verbinden oder aus dem Gesehenen Schlüsse zu ziehen. Und als er Schritte auf dem Kiesweg sich nähern hörte, dachte er weder an Verteidigung, noch an Flucht, obgleich er sein Auge nach dieser Richtung wandte. Die Gestalt, die sich näherte, war ein großer, breitschultriger und sehr schmutziger Mann in Gärtnerkleidung und mit einer Gießkanne in der linken Hand. Wäre er nicht so verwirrt gewesen, so hätte er wohl bei dem Anblick dieser Riesenglieder und der schwarzen, tief eingesunkenen Augen eine gewisse Unruhe verspürt. Aber Harry war von seinem Sturz noch so betäubt, daß er nicht einmal Furcht mehr hatte; er war zwar nicht imstande, seine Blicke von dem Gärtner abzuwenden, aber er verhielt sich vollkommen ruhig, ließ ihn herankommen, ihn an der Schulter packen und mit bärenmäßiger Kraft in die Höhe reißen und auf seine Füße stellen, ohne auch nur den geringsten Widerstand zu leisten.

Einen Augenblick starrten die beiden einander an – Harry wie gelähmt, der Mann offenbar zornig und voll von einem grimmigen Humor.

»Wer sind Sie?« fragte der Mann endlich; »wie kommen Sie dazu, über meine Mauer zu springen und mir meine Gloire-de-Dijon-Rosen zu zerdrücken? Wie heißen Sie?« schrie er, indem er ihn am Kragen packte, »und was haben Sie hier zu suchen?«

Harry vermochte kein Wort zur Erklärung hervorzubringen.

Aber gerade in diesem Augenblick liefen Pendragon und der Schlachterjunge vorüber, und der Schall ihrer Schritte und ihr heiseres Geschrei ertönten laut auf dem schmalen Wege. Der Gärtner hatte seine Antwort erhalten und sah jetzt mit einem bösen Lächeln Harry ins Gesicht.

»Ein Dieb!« rief er. »Auf mein Wort – Sie müssen recht gute Geschäfte damit machen; denn wie ich sehe, sind Sie vom Kopf bis zu den Füßen wie ein feiner Herr angezogen. Schämen Sie sich nicht, in solchen feinen Kleidern auf der Welt herumzulaufen, während anständige Leute, das darf ich wohl sagen, froh wären, wenn sie solche Sachen, wie Sie sie tragen, beim Trödler kaufen könnten? Sprich, du Hund!« fuhr der Mann fort; »du bist doch wohl nicht stumm, und ich möchte erst noch ein Wörtlein mit dir sprechen, bevor ich dich auf die Polizeiwache bringe.«

»Wirklich, mein lieber Herr,« sagte Harry, »es ist alles bloß ein schauderhaftes Mißverständnis; und wenn Sie mit mir zu Sir Thomas Vandeleur am Eaton-Platz kommen wollen, so kann ich Ihnen versprechen, daß alles sich aufklären wird. Der ehrlichste Mensch kann, wie ich jetzt bemerke, in Verdacht geraten.«

»Ne, Männeken,« antwortete der Gärtner, »ich gehe mit Ihnen nicht weiter als bis zur Polizeiwache in der nächsten Straße. Der Inspektor wird gewiß gerne mit Ihnen einen kleinen Spaziergang nach dem Eaton-Platz machen und mit Ihren vornehmen Bekannten eine Tasse Tee trinken. Oder möchten Sie nicht vielleicht lieber gleich zum Herrn Staatssekretär des Inneren gehen? Sir Thomas Vandeleur – ha ha ha? – Vielleicht denken Sie, ich könne einen wirklichen feinen Herrn, wenn ich einen sehe, nicht von einem Strolch wie Sie unterscheiden? Einerlei, was für Kleider Sie anhaben – Sie sind für mich wie ein offenes Buch. Sie tragen ein Hemd, das vielleicht soviel gekostet hat, wie mein Sonntagshut, und der Rock da hat gewiß noch nie eine Trödelbude gesehen; und dann Ihre Stiefel –«

Der Mann hatte auf Harrys Füße gesehen; plötzlich hielt er mit seiner beleidigenden Beschreibung inne und sah einen Augenblick scharf auf etwas, das auf dem Boden vor seinen Füßen lag. Seine Stimme klang merkwürdig verändert, als er sagte:

»Um Gottes willen, was bedeutet denn dies?«

Harry folgte der Richtung seiner Blicke und sah etwas, das ihn mit Staunen und Entsetzen erfüllte. Bei seinem Sprung war er auf die Pappschachtel gefallen und hatte sie vollständig zerdrückt; ein ungeheurer Schatz von Diamanten hatte sich aus der Öffnung ergossen und lag jetzt auf dem Beet, zum Teil in die Erde hineingetreten, zum Teil funkelnd und glitzernd auf der Oberfläche. Darunter war auch ein herrliches Diadem, das er oft an Lady Vandeleur bewundert hatte; ferner Ringe und Busennadeln, Ohrgehänge und Armbänder und sogar ungefaßte Brillanten, die wie Tautropfen zwischen den Rosenbüschen lagen. Ein fürstliches Vermögen lag zwischen den beiden Männern auf dem Erdboden – ein Vermögen in der einladendsten, sichersten und dauerhaftesten Form, das man in einer Schürze davontragen konnte –, herrlich schön an und für sich und im Sonnenlicht in millionenfachen Regenbogenfarben strahlend.

»Gütiger Himmel!« rief Harry, »ich bin verloren!«

Sein Geist eilte mit der unberechenbaren Geschwindigkeit des Gedankens in die Vergangenheit zurück; er begann die Abenteuer dieses Tages zu begreifen, sie als ein Ganzes aufzufassen und zu erkennen, in was für einen unangenehmen Wirrwarr er verstrickt worden war.

Er blickte sich Hilfe suchend um; aber er war allein in dem Garten mit seinen auf der Erde verstreuten Diamanten und seinem fürchterlichen Ausfrager; sein lauschendes Ohr vernahm weiter nichts als Blätterrauschen und das hastige Pochen seines Herzens. Es war nicht zu verwundern, daß der junge Mann plötzlich jeden Mut verlor und mit gebrochener Stimme nur seinen letzten Ausruf wiederholte:

»Ich bin verloren!«

Der Gärtner sah sich mit einem Ausdruck von Schuldbewußtsein nach allen Richtungen um; da aber an keinem von den Fenstern ein menschliches Gesicht zu sehen war, schien er wieder aufzuatmen und sagte:

»Nur den Kopf hoch, Dummkopf! das Schwerste ist ja getan. Warum konntest du nicht sofort sagen, daß hier genug für zwei wäre? Für zwei?« wiederholte er; »ja, für zweihundert! Aber kommen Sie mit! Hier können wir beobachtet werden und seien Sie vernünftig: machen Sie die Beulen aus Ihrem Hut und bürsten Sie Ihre Kleider! In diesem lächerlichen Aufzuge wie jetzt kämen Sie auf der Straße nicht zwei Schritte weit.«

Während Harry mechanisch diese Ratschläge befolgte, ließ der Gärtner sich auf seine Knie nieder, suchte hastig die verstreuten Juwelen zusammen und legte sie wieder in die Schachtel hinein. Die Berührung dieser kostbaren Kristalle machte den herkulischen Mann erschaudern; sein Gesicht war verzerrt und seine Augen funkelten vor Gier. Es war beinahe, wie wenn er eine Wollust daran fände, dieses Aufsammeln zu verlängern und wie wenn er mit den Augen jeden Diamanten streichelte, den seine Finger ergriffen. Schließlich aber war er fertig; er verbarg die Schachtel unter seiner Schürze, gab Harry einen Wink und ging ihm voraus in der Richtung auf das Haus zu.

Dicht bei der Tür begegneten sie einem jungen Mann, der offenbar dem geistlichen Stande angehörte; er war dunkelhaarig und auffallend hübsch; in seinen Augen lag ein gemischter Ausdruck von Schwäche und Entschlossenheit, und seine Berufskleider, die er trug, waren sehr sauber gehalten. Dem Gärtner war diese Begegnung offenbar unangenehm; aber er machte eine möglichst gute Miene dazu und sagte lächelnd und zuvorkommend zu dem Geistlichen:

»Heute ist mal ein schöner Tag, Herr Rolles – ein schöner Nachmittag, wahrhaftigen Gott! Dies hier ist ein junger Freund von mir, er hatte Lust, sich mal meine Rosen anzusehen. Darum nahm ich mir die Freiheit, ihn hereinzulassen; denn ich dachte, keiner von den Mietern würde etwas dagegen haben.«

»Soweit ich in Betracht komme,« antwortete der Ehrwürdige Herr Rolles, »ist dies ganz gewiß nicht der Fall, und ich kann mir auch nicht denken, daß einer von uns etwas gegen eine solche Kleinigkeit einzuwenden hat. Der Garten ist ja Ihr Eigentum, Herr Raeburn, das dürfen wir doch nie vergessen; und weil Sie uns erlauben, im Garten spazierenzugehen, wäre es ja geradezu unhöflich, wenn wir etwas dagegen einwenden wollten, daß Sie Ihre Freunde einlassen. Aber ich glaube, dieser Herr und ich haben uns früher schon einmal gekannt, Herr Hartley, glaube ich? Ich sehe mit Bedauern, daß Sie gestürzt sind.«

Und er streckte ihm die Hand entgegen.

Eine Art von mädchenhafter Schüchternheit und ein Wunsch, die notwendige Erklärung solange wie möglich hinauszuschieben, veranlaßten Harry, diese Aussicht auf Hilfe zurückzuweisen, sondern im Gegenteil sich zu verleugnen. Er wollte lieber von der Gnade des Gärtners abhängig sein, der ihn doch wenigstens nicht kannte, als von der Neugier und vielleicht dem Mißtrauen eines Bekannten. Darum sagte er:

»Ich fürchte, hier liegt ein Irrtum vor. Ich heiße Thomlinson und bin ein Freund von Herrn Raeburn.«

»So?« sagte Rolles. »Die Ähnlichkeit ist verblüffend.«

Raeburn, der inzwischen sozusagen auf glühenden Kohlen gelegen hatte, fühlte jetzt, daß es hohe Zeit war, diesem Gespräch ein Ende zu machen, und sagte: »Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Spaziergang, Herr Rolles.«

Mit diesen Worten nahm er Harry an dem Arm und zog ihn mit sich in das Haus hinein, wo sie in eine Kammer gingen, die auf den Garten hinaussah. Hier ließ er vor allen Dingen den Fenstervorhang herunter; denn Herr Rolles stand immer noch mit einem ganz verblüfften, nachdenklichen Gesicht an der Stelle, wo sie ihn verlassen hatten.

Hierauf stülpte er die zerdrückte Schachtel auf den Tisch um und stand nun mit gierigen Blicken vor dem Schatz, der in seiner vollen Pracht dalag, und rieb seine Hände an seinen Schenkeln hin und her. Als Harry diese niedrigen Triebe auf dem Gesicht des Mannes sich abmalen sah, fühlte er einen neuen Schmerz zu den vielen, die ihn bereits peinigten. Es erschien ihm unglaublich, daß er, der einen so reinen Lebenswandel geführt und jede Berührung mit unangenehmen Dingen gescheut hatte, sich im Handumdrehen in schmutzige und verbrecherische Beziehungen verwickelt sah. Er konnte seinem Gewissen keine sündige Handlung vorwerfen, und trotzdem verspürte er jetzt die Strafe der Sünde in ihrer schärfsten und grausamsten Form: Angst vor Bestrafung, Mißtrauen der Guten, Kameradschaft und Berührung mit gemeinen und brutalen Menschen. Er fühlte, daß er gerne sein Leben hingegeben hätte, um aus diesem Zimmer und aus der Gesellschaft des Herrn Raeburn zu entrinnen.

»So,« sagte der Gärtner, nachdem er die Juwelen in zwei ungefähr gleiche Haufen geteilt und den einen Haufen näher zu sich herangezogen hatte, »so! Alles auf der Welt muß bezahlt werden, und manches recht teuer. Nun müssen Sie wissen, Herr Hartley – wenn das Ihr Name ist –, ich bin ein sehr gutmütiger Mensch; meine Gutmütigkeit hat mich in meinem Leben fortwährend zu Fall gebracht. Ich könnte ja, wenn ich wollte, diese ganzen hübschen Steinchen einsacken – aber ich muß mich ja wohl in Sie vernarrt haben; denn ich erkläre Ihnen, ich kann es nicht übers Herz bringen, so hart mit Ihnen umzugehen. So mache ich also – verstehen Sie, rein aus freundschaftlichem Gefühl – den Vorschlag, daß wir beide teilen; und wie ich es hier gemacht habe,« damit zeigte er auf die beiden Haufen, »scheint es mir eine gerechte und freundschaftliche Teilung zu sein. Darf ich Sie fragen, Herr Hartley, ob Sie etwas dagegen einzuwenden haben? Ich bin nicht der Mann, dem es auf eine Busennadel oder so ankommt.«

»Aber, mein bester Herr!« rief Harry; »was Sie mir da vorschreiben ist unmöglich! Die Juwelen gehören nicht mir, und ich kann etwas, das einem anderen Menschen gehört, nicht teilen; also ist es ganz gleichgültig mit wem oder in welchem Verhältnis!«

»Die Juwelen gehören nicht Ihnen? nein? und Sie können Sie mit keinem Menschen teilen? nein? Na, da muß ich sagen: das ist schade! Denn dann bin ich genötigt, Sie auf die Polizeiwache zu bringen. Auf die Polizei – bedenken Sie das! Denken Sie an die Schande für Ihre ehrenwerten Verwandten; denken Sie,« und er packte Harrys Handgelenk, »denken Sie an die Deportation nach den Kolonien und an den Tag des Jüngsten Gerichts!«

»Ich kann es nicht ändern!« jammerte Harry. »Es ist nicht meine Schuld! Sie wollen nicht mit mir nach dem Eaton-Platz gehen?«

»Nein, das will ich nicht, soviel ist sicher. Aber ich will diese Kinkerlitzchen hier mit Ihnen teilen!«

Mit diesen Worten preßte er plötzlich dem jungen Menschen das Handgelenk zusammen, daß diesem unwillkürlich ein Schrei entfuhr. Dichter Schweiß trat ihm auf die Stirn, vielleicht machten Schmerz und Angst, daß seine Gedanken schneller arbeiteten; jedenfalls sah er in diesem Augenblick die ganze Geschichte in einem vollkommen anderen Licht. Er sah, daß ihm weiter nichts übrigblieb, als auf den Vorschlag des Schurken einzugehen und zu hoffen, daß er das Haus wieder auffinden würde. Dann konnte er unter günstigeren Umständen, und wenn er selber frei von jedem Verdacht war, den Mann zwingen, seinen Raub wieder herauszugeben.

»Ich bin einverstanden,« sagte er demgemäß.

»Ein frommes Lämmchen!« sagte der Gärtner zu ihm. »Aber ich dachte mir, daß Sie Ihren Vorteil schließlich doch einsehen würden. Diese Pappschachtel werde ich mit meinem Müll verbrennen; so ein Ding könnten neugierige Leute vielleicht wiedererkennen. Und Ihnen gebe ich den Rat: kratzen Sie Ihre Kinkerlitzchen zusammen und stecken Sie sie in die Tasche!«

Harry gehorchte ihm; Raeburn sah ihm dabei zu und nahm alle Augenblicke, wenn seine Gier durch das Funkeln eines Steines neu entzündet wurde, ein anderes Schmuckstück von dem Haufen des Sekretärs weg und legte es zu den seinigen.

Als Harry damit fertig war, gingen Sie beide nach der Haustür, die Raeburn vorsichtig öffnete, um auf die Straße hinauszusehen. Diese war offenbar frei von Passanten; denn plötzlich packte er Harry hinten am Kragen und drückte ihm das Gesicht abwärts, so daß er nichts weiter sehen konnte als den Fahrdamm und die Türstufen der Häuser. Dann stieß er ihn gewaltsam vor sich her, eine Straße hinunter und eine andere hinauf. Es dauerte vielleicht anderthalb Minuten. Harry hatte drei Straßenecken gezählt, als der brutale Kerl ihn losließ und mit den Worten: »Nun pack dich!« dem Jüngling noch einen Stoß gab wie ein wohlgeübter Boxer.

Harry schlug einen Purzelbaum; als er sich wieder aufraffte, halb gebeugt und mit starkblutender Nase, war Raeburn vollständig verschwunden. Zum erstenmal überwältigten Wut und Schmerz den jungen Menschen so vollständig, daß er in einen Tränenstrom ausbrach und schluchzend mitten auf der Straße stehenblieb.

Nachdem er auf diese Weise seiner Aufregung etwas Luft gemacht hatte, begann er sich umzusehen und vor allen Dingen die Namen der Straßen zu lesen, an deren Kreuzung der Gärtner ihm den letzten Stoß gegeben hatte. Er befand sich in einem verkehrsstillen Teil von Westlondon, mitten unter Villen und großen Gärten; aber an einem Fenster konnte er einige Menschen bemerken, die offenbar sein Mißgeschick beobachtet hatten, und fast augenblicklich kam ein Dienstmädchen aus dem Hause herausgelaufen und bot ihm ein Glas Wasser an. Gleichzeitig kam von der anderen Seite her ein schmutziger Strolch, der sich irgendwo in der Nachbarschaft herumgetrieben hatte.

»Sie armer Mensch!« rief das Dienstmädchen; »wie roh man Sie behandelt hat! Oh, Ihre Knie bluten ja, und Ihre Kleider sind ganz zerfetzt! Kennen Sie den Menschen, der Sie so gemein mißhandelt hat?«

»Das tu ich!« rief Harry, der sich durch das Wasser etwas erfrischt fühlte; »und ich werde ihn, allen seinen Vorsichtsmaßregeln zum Trotz, ausfindig machen. Für diesen Tag soll er mir teuer zahlen, darauf können Sie sich verlassen!«

»Sie sollten lieber ins Haus kommen und sich waschen und abbürsten,« fuhr das Mädchen fort. »Haben Sie keine Angst, meine Gnädige wird nichts dagegen haben. Und sehen Sie, ich will Ihnen Ihren Hut holen. Ja, barmherzige Güte!« schrie sie plötzlich aus; »Sie haben ja Diamanten über die ganze Straße verstreut!«

So war es; die gute Hälfte von dem, was ihm nach den letzten Zugriffen des Herrn Raeburn noch geblieben war, war ihm bei dem Purzelbaum aus den Taschen geflogen und lag wieder glitzernd auf der Erde. Er segnete sein Glück, daß das Mädchen es so schnell gesehen hatte, und dachte: Es ist doch wirklich nicht so schlimm, daß es nicht noch schlimmer sein könnte.

Und die Wiedererlangung dieser paar Diamanten schien ihm beinahe ebenso bedeutungsvoll zu sein, wie der Verlust des ganzen Restes.

Aber, o weh! als er sich bückte, um seine Schätze aufzulesen, sprang der Strolch blitzschnell herzu, warf mit einer Bewegung seiner Arme Harry und das Dienstmädchen zugleich über den Haufen, raffte eine doppelte Handvoll von den Diamanten zusammen und lief mit ungeheurer Geschwindigkeit die Straße entlang.

Sobald Harry wieder auf seinen Füßen stand, lief er mit großem Geschrei hinter dem Spitzbuben her, aber dieser war zu leichtfüßig und wahrscheinlich auch zu gut mit der Örtlichkeit vertraut; denn schon an der nächsten Straßenecke konnte der Verfolger keine Spur mehr von dem Flüchtling sehen.

In tiefster Niedergeschlagenheit kehrte Harry an die Stelle seines Mißgeschicks zurück, wo das Dienstmädchen, das immer noch gewartet hatte, ihm sehr ehrlich seinen Hut und die übriggebliebenen Diamanten wiedergab. Harry dankte ihr von Herzen, und da ihm jetzt nicht mehr nach Sparsamkeit zumute war, ging er nach dem nächsten Droschkenstand und fuhr in einem Hansom nach dem Eaton-Platz. Als er dort eintraf, schien das Haus in einer Verwirrung zu sein, wie wenn eine Katastrophe die Familie betroffen hätte. Die Dienstboten drängten sich in der Halle zusammen und konnten, oder wollten auch vielleicht, ihre Heiterkeit nicht unterdrücken, als sie den Sekretär als Ritter von der traurigen Gestalt erblickten. Er ging so würdevoll, wie es ihm nur möglich war, an ihnen vorüber und begab sich stracks in das Boudoir.

Als er die Tür öffnete, bot ein erstaunlicher und sogar bedrohlicher Anblick sich seinen Augen dar: er sah den General und dessen Frau und unbegreiflicherweise auch Charlie Pendragon beieinander sitzen und mit Würde und Ernst ein offenbar wichtiges Thema besprechen. Harry begriff sofort, daß ihm wohl nichts anderes übrigblieb, als alles zu gestehen – denn offenbar war dem General bereits eine vollständige Beichte über den beabsichtigten Angriff auf seine Tasche abgelegt worden, sowie über das unglückliche Mißlingen des Planes, und sie hatten jetzt alle einer gemeinsamen Gefahr gegenüber gemeinsame Sache gemacht.

»Dem Himmel sei Dank!« rief Lady Vandeleur, »da ist er! Die Schachtel, Harry – die Schachtel!«

Aber Harry stand schweigend und niedergeschlagen vor Ihnen.

»Sprechen Sie doch!« rief sie. »Sprechen Sie, wo ist die Schachtel!«

Und die beiden Herren wiederholten diese Frage mit drohenden Gebärden.

Harry zog eine Handvoll Juwelen aus seiner Tasche. Er war sehr blaß und sagte:

»Dies ist alles, was davon übrig ist. Ich erkläre bei Gott im Himmel, es geschah nicht durch meine Schuld; und wenn Sie etwas Geduld haben wollen, so kann ein Teil davon sicherlich wieder zur Stelle geschafft werden, obwohl allerdings einige, wie ich fürchte, verlorengegangen sind.«

»O weh!« rief Lady Vandeleur, »alle unsere Diamanten sind fort, und ich schulde neunzigtausend Pfund Sterling für Kleider!«

»Madame,« sagte der General, »Sie hätten meinetwegen Ihren Plunder in den Rinnstein werfen können; Sie hätten fünfzigmal soviel Schulden machen können; selbst daß Sie mir das Diadem und den Ring meiner Mutter gestohlen haben, hätte ich Ihnen schließlich noch verzeihen können. Aber Sie haben den Diamanten des Radschahs genommen – ›Auge des Lichtes‹, wie die Orientalen ihn poetisch genannt haben –, den ›Ruhm von Kaschgar‹! Sie haben mir des Radschah Diamanten genommen,« rief er, seine Hände gen Himmel streckend, »und alles, Madame, ist zwischen uns aus!«

»Glauben Sie mir, General Vandeleur,« antwortete sie, »dies war eine der angenehmsten Reden, die ich jemals aus Ihrem Munde hörte; und da wir jetzt zugrunde gerichtet sind, möchte ich diesen Glückswechsel beinahe willkommen heißen, da er mich von Ihnen befreit. Sie haben mir oft genug vorgeworfen, ich hätte Sie wegen Ihres Geldes geheiratet; lassen Sie mich Ihnen jetzt sagen, daß ich diesen Handel stets bitterlich bereut habe; und wenn Sie noch geheiratet werden könnten und einen Diamanten hätten, der größer wäre als Ihr Kopf, so würde ich sogar meiner Kammerzofe abraten, eine so unappetitliche und unglückliche Ehe einzugehen. – Sie, Herr Hartley,« fuhr sie fort, indem sie sich zum Sekretär wandte, »Sie haben Ihre wertvollen Eigenschaften in diesem Hause zur Genüge betätigt; wir sind jetzt überzeugt worden, daß Ihnen sowohl Mannhaftigkeit wie Verstand und Selbstachtung fehlen, und ich sehe für Sie nur eine Möglichkeit, die Ihnen noch offensteht – nämlich sich sofort zu entfernen und sich, wenn möglich, niemals wieder sehen zu lassen. Ihr Gehalt können Sie als Gläubiger bei dem Bankerott meines früheren Gatten anmelden.«

Harry hatte kaum diese beleidigenden Worte begriffen, da fiel der General schon mit einer anderen Beleidigung über ihn her, indem er zu ihm sagte:

»Und mittlerweile gehen Sie mit mir zum nächsten Polizeiinspektor. Einen einfachen, harmlosen alten Soldaten können Sie vielleicht hintergehen! Aber das Auge des Gesetzes wird Ihr schmutziges Geheimnis zu lesen wissen. Wenn ich meine alten Tage in Armut verbringen muß, weil Sie im geheimen sich mit meiner Frau verschworen hatten, so gedenke ich doch wenigstens Sie nicht ungestraft bleiben zu lassen; und Gott würde mir eine sehr große Genugtuung versagen, wenn Sie nicht von heute an bis zu Ihrer Sterbestunde Werg zupfen müssen.«

Mit diesen Worten schleppte der General Harry aus dem Zimmer heraus, die Treppe hinunter und über die Straße bis zu der Bezirkspolizei.

*

Hiermit – sagt mein arabischer Autor – endigt diese traurige Geschichte von der Pappschachtel. Für den unglücklichen Sekretär aber war sie der Beginn eines neuen und mannhafteren Lebens. Die Polizei ließ sich leicht von seiner Unschuld überzeugen; und nachdem er bei der folgenden Untersuchung nach besten Kräften geholfen hatte, wurde ihm von einem der ersten Beamten der Geheimpolizei sogar ein Kompliment wegen seines rechtschaffenen und aufrichtigen Betragens gemacht. Mehrere Personen nahmen Anteil an einem so sehr vom Unglück verfolgten Menschen, und bald nachher erbte er von einer unverheirateten alten Tante in Worcestershire eine Summe Geldes. Im Besitze dieses Vermögens heiratete er Prudence und ging zu Schiff nach Bendipo oder, nach anderen Berichten nach Trincomali, mit seinem Schicksal außerordentlich zufrieden und unter den besten Aussichten für die Zukunft.


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