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Dritter Aufzug

Erster Auftritt

Isolde (liest aus einem Buch von Bölsche vor). »Eine der merkwürdigsten Übergangsformen zwischen Mischliebe und Distanzliebe ist der Kuß. Im Moment der körperlichen Kußberührung ist die Distanz zwischen den Personen des Liebesindividuums zweifellos nahe der Minimalgrenze. Wie nah der Kuß dem Schlußakt ist, zeigt klärlich der Umstand, daß er in seiner sinnlichsten Form das Wollustgefühl anzuklingen und erste Töne davon deutlich heraufzulocken beginnt.«

Nettel. Schon wieder Bölsche!

Isolde. Nicht schon erst wieder. Meiner Ansicht nach kann man Menschen, die ins Leben treten, vom Morgen bis zum späten Abend nichts Herrlicheres vorsagen als »das Liebesleben in der Natur«.

Artur. Wie führt diese prachtvolle Fernmalerei aus einem greulichen Pessimismus dualistischer Denkform in das Paradies des Monismus. »Das Tier hat den Menschen erfunden. Er war Fisch und Wurm und Urzelle.« Dann sehen wir ihn im Lauf der Jahrtausende von der Amöbe, dem Ichthyosaurus her real zur Sonne aufsteigen. Aber wie gibt uns dieser Geist nicht nur in unserem individuellen, sondern im sozialen Bewußtsein Rückgrat. (Er nimmt Isolden das Buch aus der Hand, schlägt auf und liest.) Zur Frage des Mutterschutzes: »Hier liegt ein Punkt, wo alle politischen Parteien einig werden müssen. Der Konservative muß hier fühlen wie der Sozialdemokrat. Es gilt das Volksmaterial als solches, das auf dem Spiel steht. Gegen das Kulturweibchen, das sich das Amusement der Dinge nicht durch Schwangerschaften unterbrechen lassen will, gegen den süßlichen Ästheten, der das Kindergebären dreckig findet, gilt es.«

Isolde. Fabelhaft! 50

(Nettel hat, während Artur und Isolde die Gesichter dicht beieinander ins Buch stecken, das Zimmer verlassen.)

Artur. Man muß die Weiber zwingen, die nicht wollen! Oder Bilder von riesiger Schlagkraft: »Vom Zeugungsakt selbst. Ich weiß nicht, ob es dir bei der Selbstbeobachtung des Zeugungsaktes auf der männlichen Seite einmal genügend aufgefallen ist, was für eine wirklich frappante Ähnlichkeit in gewisser Beziehung zwischen diesem Akt und einem anderen, dir höchst geläufigen deines Körpers besteht: nämlich dem schlichten Akt des Niesens.«

Isolde. Ganz fabelhaft!

Artur. Lassen wir die technischen und organisatorischen Leistungen, die Deutschland in diesem Jahrhundert aufweist, einmal ganz beiseite: Dies Werk, der Triumph naturwissenschaftlicher Vernunft über den theologisch synthetischen Gott ist ein Verdienst, um das uns nicht nur die Kulturvölker der Gegenwart, nein zwei europäische Jahrtausende beneiden müssen.

Isolde. Götzendämmerung! Du trägst das Ganze aber auch vor, hast eine Eindringlichkeit der Überzeugung!

Artur. Könnte mir über das Ideal der Sozialdemokratie noch etwas gehen, wärs der Monismus.

Isolde. Wieviel tiefer wird alles in uns anklingen, nimmt erst der eigene Leib an den erhabenen Vorgängen teil.

Artur. Freilich.

Isolde (mit einem Seufzer). Vierzehn Tage noch!

Artur. Nach dem Jubiläumstrubel schien es geraten, eine Pause im Feiern eintreten zu lassen.

Isolde. Und in der Ahnung der Herrlichkeiten, die mit dem Andämmern des Lebensquells bevorstehen! (Sie legt die Hand aufs Buch.) Diesem Manne danke ich viel. Von allen Zweifeln hat er mich gründlich befreit. Nicht blind gehe ich meinem Schicksal entgegen; ich darf sagen, durch ihn ist mir die ganze Technik des Zeugens und Gebärens geläufig. Welch kristallene Klarheit fürs Leben, Artur. Keine mystische Geheimniskrämerei, sondern 51 eindeutig und nackt stehen sich Mann und Weib gegenüber. Findest du nicht, irgendwie reicht dieser Bölsche an einen Gott?

Artur. Es scheint manchmal.

Isolde (großen Blicks und feierlichen Ernsts). Artur!

Artur (ebenso). Isolde!

(Händedruck.)

Beide (exeunt).

 

Zweiter Auftritt

Bertha tritt auf, nimmt das liegengebliebene Buch, beginnt zu lesen, lacht, liest und bricht in einen Lachsturm aus.

Ständer (tritt auf). Was gibts?

Bertha (zeigt mit krampfhaftem Lachen auf das offene Buch). Nein! da!

Ständer (nimmt das Buch und liest). Meinem Schwiegersohn?

Bertha (nickt). Herrn Artur.

Ständer (für sich). Idiot! (Laut). Schweig! Was erlaubst du dir?

Bertha. Ich kanns für zwanzig Mark monatlich nicht länger machen. Nach fünf Jahren Dienst hätte man Aufbesserung verdient.

Ständer. Es gibt keinen Dienst, kein Gehalt. Freiwilligen Vertrag.

Bertha. Den kündige ich zum Ersten.

Ständer. Gut. Was sonst?

Bertha. Aber Herr Ständer ist es denn möglich? Ich soll von Ihnen fortgehen?

Ständer. Du sollst. Gekündigt zum Ersten.

Bertha. Warum?

Ständer. Weil du sündhaft faul stets warst und bist. Dich von mir mästen willst.

Bertha. Das kann Ihr letztes Wort nicht sein, Herr 52 Ständer. Wo Sie mir versprochen haben, niemand außer mir soll einst Ihre Leiche waschen.

Ständer. Aus.

Bertha. Aber unser Verhältnis ist ein Gesellschaftsvertrag, den man nicht

Ständer. Gekündigt.

Bertha. Übereinkunft!

Ständer. Gekündigt.

Bertha. Ich will ja alles was Herr Ständer von mir armen Weibe mag. (Sie weint.)

Ständer. Nein, nein, nein. Ich habe es satt. Hinaus!

Bertha (schluchzend exit).

Ständer. Dieses war der erste Streich!

Wind weht durch den Morgen. Ausgelüftet wird von oben bis unten das Haus. Lunge, Hirn und Leber ausgelüftet. Den zwanzigsten Mai streichen wir rot im Kalender an. Frühlingsanfang in meinen Herbsttagen. Spät kommt er, doch er kommt. (Er zieht ein Schreiben heraus.) Es ist entschieden, wie ich es vorausgesehen. Ich habe mich zur Ruhe gesetzt. Die bodenlose Achtung, die man vor meinem Verzicht empfand, wurde von mir weit über meine Ansprüche zu einem Ruhegehalt ausgewalzt. Mit Zuschüssen aus einem Dutzend Kassen zahlt man mir an viertausend Mark jährlich. Bis ans Lebensende ist dafür, wie mich mein Anwalt versichert, das Gesetz auf meiner Seite. Kommen fast zwölfhundert Mark Kapitalzinsen dazu. Nach dieser Feststellung trete ich sechzigjährig, gehäutet auf den Weltenplan und sehe die Systeme um mich, die ich bisher heimlich und auf Umwegen bekämpfte, als ein freier Mensch an.

Doch der zweite folgt sogleich!

Als begönne ich zu schweben, habe ich das Gefühl. Der nächste, der mir gegenübertritt, lernt schon den gänzlich neuen, und, wie mich dünkt, den Originalständer kennen. 53

 

Dritter Auftritt

Der Arzt tritt auf.

Ständer. Guten Morgen, Herr Doktor.

Arzt. Sie baten mich, vorzusprechen. Da ich gerade Herrn Flocke sah

Ständer. Ist er unpäßlich?

Arzt. Liegt zu Bett.

Ständer. Befund?

Arzt. Bös.

Ständer. Wie?

Arzt. Marasmus. Ein spärliches Maschinchen, das zu ebener Erde eben lief, sollte plötzlich einen steilen Berg hinankeuchen. Jetzt stehts still. Von morgen ab rollts rückwärts.

Ständer. Sein neues Amt überbürdet ihn?

Arzt. Er ist ihm in nichts gewachsen. Nicht an Kenntnissen, nicht an Arbeitskraft. Was ihn tötet, ist das Maß der Verantwortung, das auf ihm ruht.

Ständer. Wirklich?

Arzt. Sein Hirn ist gesprengt, das Herz gebrochen. Am schmerzlichsten betrauert er den Verlust seiner Invalidenkarte, das fortgegebene Anrecht auf Kassenschutz. Als Arbeiter organisiert, fühlte er Person, Leben und Welt. Als führende Persönlichkeit isoliert, bleibt er gefühl- und leblos.

Ständer. Was prophezeien Sie?

Arzt. Schluß in vier Wochen.

Ständer. Unfehlbar?

Arzt. Bestimmt nach Menschenermessen.

Ständer. Ich dacht' mirs.

Arzt. Er hätte sichs versagen müssen. Bleib, Schuster, bei deinem Leisten. Verantwortung ist längst nicht für jedermann. Ultra posse nemo tenetur.

Ständer. Richtig.

Arzt. Ein beklagenswertes Schicksal. Nun zu uns. Was gibts? Wo fehlts?

Ständer. Mir fehlt nichts. Was ich will, ist ein 54 Gutachten. Dieser Tage wurde ich sechzig Jahr. Wie lange, ärztlicher Voraussicht nach, in welcher Kondition ich noch zu leben habe, wüßte ich gern.

Arzt. Brauchen Sie ein Kassenattest, handelt es sich um Renten?

Ständer. Mit dem heutigen zwanzigsten Mai bin ich zur Ruhe gesetzt. Die verpflichtenden Zusagen aller in Betracht kommenden Kassen besitze ich schon.

Arzt. Sie wollen die Wahrheit? Kein Attest?

Ständer. Runde Wahrscheinlichkeit.

Arzt. Viel, das wissen Sie, kann ich als Arzt nicht feststellen. Stehen Sie als Menschengebäude vor mir, sehe ich deutlich nur die Fassade. Die ist solid. (Befühlt ihm den Kopf.) Auch die Wetterseite, Schieferdachung. Der innere, grobe Mechanismus, Luft- und Heizungsschläuche (Er hat ihm das Instrument auf die Brust gesetzt.) Tief und ruhig atmen! Teufel Lungen wie ein Brabanter Roß. Das Herz? Ein Strombagger, Schiffspumpe. Nerven? Das System der Lebensreizempfänger und -verwerter? (Er schließt mit den Händen Ständers Augen und öffnet sie wieder.) Phantastisch jung und sprühend lebendig. Von da aus werden Sie hundert Jahr.

Ständer. Aber?

Arzt. Auch Niere, Leber und Magen streiken nicht, wie ich aus jahrelanger Behandlung weiß. Bleibt das Wesentliche, von dem ich gar nichts sagen kann.

Ständer. Nämlich?

Arzt. Das Maß Ihrer Neigung zu innerer Selbstvergiftung und die Fähigkeit des Blutes zur Verteidigung dagegen. Wie weit die Galle Fäulnis der Säfte und ihre Gärungen verhüten kann.

Ständer. Zerstörung durch Bazillen, Bakterien?

Arzt. Die brauchts nicht. Wir wissen nicht einmal, ob sie außer in medizinischen Lehrbüchern wirklich schädlich wirken. Vergiftung durch die Unfähigkeit, verbrauchte Stoffe, die gefährlich sind, aus dem Haushalt des Körpers auszuschleudern. 55

Ständer. Wie mache ich meinen Leib dazu fähiger?

Arzt. Vermeiden Sie die Laster!

Ständer. Körperliche?

Arzt. Zuerst! Trunksucht, Ausschweifung.

Ständer. Ich bin kein Wüstling.

Arzt. Dann seelische: Bosheit, Neid, Gram.

Ständer. Neid liegt mir fern. Gram suche ich nicht. Ein Schuß Bosheit hier und da bekommt mir.

Arzt. Wenn Sies so fühlen, gut. Vor allem aber fege Selbstgefühl, das Bewußtsein der Freiheit und eigenen Willens durch die Blutbahnen.

Ständer. Das ists, Doktor! Verlassen Sie sich darauf, nur das! Und hängts davon ab, vom festen Entschluß dazu, von der Gewißheit, ihn immer und in jedem Augenblick zu besitzen, werde ich, das versichere ich Sie über hundert Jahr.

Arzt. Ich sehe nichts, das Ihre Voraussage ausschlösse.

Ständer. Und wozu dient die Bauchspeicheldrüse?

Arzt. Niemand weiß es.

Ständer. Wozu die Milz?

Arzt. Man ahnt es kaum.

Ständer. Und der Bazillen sind Sie nicht einmal gewiß?

Arzt. Die Bakteriologie ist eine Suppe, die man nicht anrührt, ohne sich zu verbrennen. Man schütte sie weg.

Ständer. Doktor, wann sind Sie wissenschaftlich einmal sicher?

Arzt. Liegt der Kranke tot vor uns, dürfen wir ruhig versichern, er lebt nicht mehr.

Ständer. Nicht immer ist der Arzt des Sterbens Grund?

Arzt. Meist Blutvergiftung.

Ständer. Ich danke Ihnen. Jedoch der gute alte Flocke unbedingt?

Arzt. Leider. Unfähig, Antitoxine zu bilden. Zuviel Sorge und Gram. Guten Morgen. (Exit.)

Ständer (vor dem Spiegel). Mit fünftausendzweihundert, Schieferdachung und gesunder Blutbereitung habe ich mindestens fünfundzwanzig rüstige Jahre vor mir. Es lohnt! 56

 

Vierter Auftritt

Isolde (mit einem Tablett tritt auf und setzt es auf den Tisch). Das Frühstück! Ein Hühnchen mit Tomatentunke. (Sie läßt den Vorhang herunter, verhängt die Schlüssellöcher.)

Ständer (setzt sich zum Tisch). Zieh den Vorhang hoch!

Isolde. Den Vorhang? (Sie tuts.)

Ständer. Die Türen mach' auf.

Isolde. Auf? (Sie tuts.)

Ständer. Stell' dich als Abundantia wie am Festabend dorthin. Üppig, üppig!

Isolde (tuts).

Ständer. Stillgestanden! Graziöser das Bein. Hoch! Öffne das Haar. Laß deine Mittel spielen.

Isolde (entfesselt ihr Haar).

Ständer. Ich möchte, in einer Zeitung, in Büchern wäre fettgedruckt von mir die Rede. Ich wollte zum Bersten bin ich mit Buntheit und Kräften angefüllt.

 

Fünfter Auftritt

Artur (tritt auf und sieht Isolde in ihrer Stellung). Was bedeutet der Auftritt?

Ständer. Abundantia. Die Fülle. Erinnerst du dich?

Artur. Ich verbiete meiner Braut, sich irgendwem in solchen Stellungen zu zeigen.

Ständer. Ernsthaft?

Artur. Deine Nichte gehört fortan ausschließlich mir und zu mir.

Isolde (auf ihn zu, umschlingt ihn).

Ständer. Ihr seid, sieht man euch an, im wesentlichen übereinstimmend, wirklich mit gleichem Maß zu messen.

Isolde. Ich fühle ganz wie Artur.

Ständer. Das muß ein Vergnügen sein. 57

Artur. Was soll die Redensart? Willst du eine Auseinandersetzung, findet sie allerdings besser vor der Hochzeit als nachher statt.

Ständer. Hast du etwas gegen mich?

Artur. Nein.

Ständer. Es schien mir so.

Artur. Durchaus nicht.

Ständer. Isolde?

Isolde. Aber Onkel!

Ständer. Ihr gebt mir das Zeugnis, bis zu diesem Augenblick besteht in euch keinerlei Abneigung gegen mich und meine Art?

Artur. Ich schätze dich als großzügigen Charakter außerordentlich hoch, das weißt du.

Isolde. Ich liebe dich doch, Onkel!

Ständer. Seid ihr vollkommen ehrlich?

Isolde. Ja.

Artur. Vollkommen.

Ständer. So bin ichs auch. Leider kann ich von meinen Gefühlen für euch nicht dasselbe sagen. Anschauungen und Urteile, die ihr habt, und die euch fürs Leben vereinen, sind mir konträr.

Artur. Wie?

Ständer (zu Artur). Geradezu widerlich. Vom Augenblick an, da ich dich genauer kenne, kämpfe ich eigentlich bei jedem deiner Worte mit Brechreiz.

Isolde. Onkel!

Artur. Aber das ist ja

Ständer. In deiner Person verkörpert sich für mich der zähe Schleim der tausend Gemeinplätze und Redensarten, mit dem der nach Eigentümlichkeit durstende europäische Mensch betropft und zu einer klebrigen Masse geknebelt wird.

Artur. Unerhört!

Ständer. Was aus deinem Mund kommt, hat die Absicht, der Erbärmlichkeit von überall her zum Sieg zu helfen. Christentum, Sozialismus, jeden ursprünglich heiligen 58 Protest des Menschentums, zu einer geschmacklosen Bettelsuppe zu verdünnen, die den Lebensnerv reiner Gottesgeschöpfe bricht.

Artur. Hören Sie auf! Das ist !

Ständer. Hinaus! Nehmen Sie mein Mündel, das mit Mondsüchtigkeiten fettgeschwemmte Mädchen, mit.

Isolde. Artur! (Mit Aufschrei an seine Brust.)

Artur. Ich ! Ah ! Das !

Ständer. Verpestet draußen das eigene und anderer Leben weiter mit sozialer Hinaufentwicklung, mit Mutterschutz, Schlagsahne und Bourgeoisschleim.

(Da Artur fuchtelnd Miene zu irgend etwas macht, brüllt)

Ständer. Hinaus!!

Artur und Isolde (umschlungen exeunt).

Ständer (reißt das Fenster auf). Luft herein. Wie wohl das tut!

 

Sechster Auftritt

Sturm nach einem Augenblick tritt auf.

Ständer. Das ist eine Überraschung. Was tust du wieder hier?

Sturm. Einmal lockt mich die Neugier, das Schlußbild der kürzlich aufgeführten Lokalposse am Ort selbst zu sehen: Flocke im Schweiße seines kleinen Angesichts als verantwortlicher Werkdirektor.

Ständer. Die Posse wird zum Trauerspiel. Er stirbt daran.

Sturm. Ich dachte mirs ungefähr.

Ständer. Das war keine Kunst.

Sturm. Du hast ihn vorgeschlagen.

Ständer. Ohne böse Absicht für ihn. Mich im Augenblick zu retten. Er hätte auch ablehnen können, ablehnen müssen.

Aber da saß schließlich der Haken: unter einem Wust unverstandener Ideen drängte stürmisch genug simple 59 Bürgersehnsucht. Der Knoten entrollte zur Katastrophe.

Sturm. Ein warnendes Beispiel. Und du Ständer?

Ständer. Und du, Sturm?

Sturm. Meinen Weg gehe ich weiter; warne und beschwöre die mir anvertrauten Massen unablässig durch Wort und Schrift vor den Ködern, die ihnen die kapitalistische Bourgeoisie überall legt. Suche, sie zu behüten vor dem Verlust ihrer elementaren Stoßkraft durch Annahme einer Halbbildung, die sie weiter begehrlich und unentschieden macht. Halte sie im Mißtrauen gegen Volksschulen in Sandstein und Mahagonihölzern, in denen man allen Lehrstoff großbürgerlich fälscht, gegen Kasernen mit Sprungfedermatratzen und Wasserspülung, gegen den Aufenthalt in Marmorpalästen mit Wagnermusik durch ein verstärktes Symphonieorchester bei einer Tasse Kaffee in Meißner Porzellan für dreißig Pfennig.

Ständer. Um sie endlich zu führen wohin?

Sturm. Im gegebenen Moment die Staatsgewalt zu ergreifen.

Ständer. Was ist Staatsmacht? Schutzwille des Eigentums.

Sturm. Alle Klassenunterschiede aufzuheben.

Ständer. Was schafft Klassengegensätze? Kapital.

Sturm. Um schließlich

Ständer. Nicht wie Artur Flocke im Weg friedlicher Entwicklung

Sturm. Durch blutige Gewalt!

Ständer. Dennoch die Erbschaft des bevorrechtigten Bürgers anzutreten. Sich in seine Güter und Ideen festzunisten. Im Weg, Sturm, unterscheidest du dich von Flocke, und ich gebe deiner Art schließlich den Vorzug. Aber am Ziel angekommen mit einer Menge, die für ihren Bürgerberuf durch tausend Kanäle schon vorgebildet, in Volksschulen, durch Zeitung, Kino und Theater bourgeoismäßig mit dem einzigen Begriff der Kapitalsanhäufung und Verteidigung vergiftet ist, müssen deine und 60 Flockes Massen unfehlbar die gleichen Götter wieder aufstellen, die ihr stürzt.

Sturm. Wir werden's nicht! Niemals!

Ständer. Wie hoffst du, unübersehbare, auf immer tollere Fruchtbarkeit gestellte Menschheit mit einem Fischzug zu heben aus dem Teich jahrtausendalter Zwangsvorstellungen; wie sie zu erlösen von Begriffen, die durch geschickte Bildung endgültig scheinen? Wie kannst du die Männer vom Weg ihrer historisch beglaubigten Tugenden, Weiber aus den Schlupfwinkeln der ihnen zugewiesenen Vortrefflichkeiten locken? Wer spült die Milch im Frauenleib rein von den Giftkeimen des nicht Sein-, sondern Scheinenwollens, die, dem Säugling eingeflößt, ihn später zwingt, eine bürgerliche Geltung zu behaupten, der keine menschliche Bedeutung entspricht? Und doch bekennen wir vor unserem Gewissen, wir besseren Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, daß alle geerbte Lehre nicht mehr wirksam ist unter Hundertmillionengruppen, die einzig der Sinn der Selbsterhaltung durch Zusammenschluß noch bewegt. Für den Volksführer aber ist es besonders sündhaft, weiter Ideale zu predigen, die das Gewissen des Einzelnen zur Voraussetzung haben. Geht hin und formt voraussetzungslos die Sittenlehre, in der zum erstenmal die Masse des Volks als das zu hegende Einzelwesen erscheint.

Sturm. Wir wollen nichts anderes. Aber wie, wo ist da für uns der Anfang? Hast du auch darüber nachgedacht?

Ständer. Ich bin ein alter Mann und durchaus noch von der Art jener Menschen, die im Grund nur sich selbst ohne jeden Vergleich und das Wohl der eigenen Seele wollen. Durch Sorge ums Brot wurde ich bis an mein sechzigstes Jahr verhindert, ausschließlich darauf zu achten, und konnte nur durch maskierte Vorstöße, durch zeitweilige Empörung irgendwelcher Art, die Verbindung zur inneren Richtlinie festhalten. Den letzten Ausbruch hast du miterlebt. Von heute an aber habe ich freie Möglichkeit und trenne 61 mich entschieden von allem, was als Menschengesetz mir hier gepredigt wird. Unabhängig von Zunft und Gemeinschaftsidealen, will ich nur noch mein eigenes Herz durchforschen, die Lehrer suchen, die meine Natur verlangt, und sollte ich sie in China und in der Südsee finden.

Sturm. Ob dein Recht auf dich selbst oder die Pflicht aller für alle Gottes Ratschluß mit uns ist, werden wir heute nicht entscheiden. Doch fällt dir deine Überzeugung spät im Leben ein.

Ständer. Da liegt der Haken! Wäre ich zwanzig, mein Junge, und täte, was ich jetzt tue, viele würde mein Aufbruch mitreißen. Dann müßte Prophetie sein, was jetzt nur den Propheten rührt: der uns alle geschaffen und unterschieden, will auch von jedem die anvertraute Person unverfälscht zurück.

In meiner Façon, durchschnittlich begabt in die Welt gestellt, kann ich mir das Heiligsein erst als kleiner Rentner mit sechzig Jahren leisten, doch bleibt es immer noch Verdienst, meine ich, feste Bezüge erst seit Stunden in der Tasche, in das eigene Selbst unverzüglich aufzubrechen.

Sturm (nach kurzer Pause). Leb wohl! (Er zeigt nach oben zu Flocke.) Stirbt oben der Alte die Kinder sind allein das älteste Mädchen, ein einfaches Ding, hat mirs vielleicht angetan. Ich will hinauf. (Er gibt ihm die Hand.)

Ständer. Du hast mich nicht verstanden!

Sturm (sehr kühl). Ich habe dich gehört. Und wills Gott wirklich, zeigt sich auch irgendwie und -wann der Effekt. (Exit.)

Ständer. Bei seinen geringen Einkünften erlebe ichs nicht mehr. (Er setzt den Hut auf.) Und nun auf Wanderschaft zum Ziel am ruhigen Ort. Für mich, Ständer, stehe ich. Welch Glück, daß man keine Kinder hat! (Exit.)

(Vorhang.)

 


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