Stendhal
Schwester Scolastica
Stendhal

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Anmerkungen

Die Handschrift zur Suora Scolastica, aus Stendhals Nachlaß, ist im MS-Band R. 291 der Grenobler Stadtbibliothek erhalten. Bruchstücke hat zuerst Casimir Stryienski im I. Bande der Soirées du Stendhal -Club (Paris 1905) veröffentlicht; eine vollständigere Ausgabe, von Henri Debraye, ist 1921 bei Andre Coq in Paris erschienen (8°, XXIII + 130 + 6 Seiten mit 4 Holzschnitten von J. G. Daragnès). Die Quellenfrage ist ungeklärt. Stendhal berichtet, die Geschichte von der Schwester Scolastica sei ihm 1824 in Neapel erzählt worden. In der Tat (vgl. das Itinerarium zu Beyles Leben in: Ausgewählte Briefe Stendhals,Berlin 1923,S.XXV) weilte der Dichter im Januar oder Februar 1824 in Neapel. Er berichtet weiterhin, acht Tage später habe man ihm eine 310 Seiten starke Handschrift eingehändigt. Unzweifelhaft geht seine Novelle auf eine handschriftliche Neapler Quelle zurück.


Seite 7ff.: Ludwig XIV. setzte 1700 seinen Enkel, den Herzog von Anjou, den späteren König Philipp V. (1700-1746), auf den spanischen Thron, einen frömmlerischen Narren. König Karl II. von Spanien (1665-1700) war kinderlos gestorben. Dies gab Anlaß zum Spanischen Erbfolgekrieg (1700-1713). Im Utrechter Frieden (1713) verzichtete Philipp V. auf die Niederlande und die spanischen Besitzungen in Italien zugunsten Österreichs. Gegen Rückgabe von Parma und Piacenza erkannte er 1731 die Pragmatische Sanktion an. Hierdurch kam sein ältester Sohn aus zweiter Ehe, Don Karlos (1716-1788), in den Besitz von Parma. Im Polnischen Thronfolgekrieg schickte Philipp V. 1733 ein Heer von 130.000 Mann nach Italien, mit deren Hilfe Don Karlos 1735 den Thron von Neapel und Sizilien eroberte, der ihm dann im Wiener Frieden 1738 in aller Form überlassen ward. Philipp V. verheiratete sich in zweiter Ehe, durch die Vermittlung des Kardinals Alberoni, Residenten von Parma, 1717 mit Isabella Farnese (1692-1766),der Letzten ihres Hauses. Hieraufstützte sich sein Anspruch auf Parma. Don Karlos (Karl VII.) war seit 1736 mit Amalia von Sachsen (Tochter des Polenkönigs August III.) verheiratet. Philipp V. starb 1746. Ihm folgte sein ältester Sohn Ferdinand VI. (1746-1759), diesem Don Karlos als Karl III. (1759-1788). Er war ein aufgeklärter Herrscher, der die Einführung der Inquisition in Neapel verhinderte und 1769 die Jesuiten aus Spanien auswies. Unter ihm begannen die Ausgrabungen in Pompeji (1736) und in Herculaneum (1748).

Seite 22: sie werde dies Haus nur verlassen, wenn sie das Gelübde als Nonne ablege. Dazu folgende Stelle aus dem Vorwort über die Sittenzustände in Neapel aus dem ersten italienischen Drucke (1821) der berühmten Chronik des Klosters Sant Arcangelo a Bajano (vom Ende des 16. Jahrhunderts): Barbarisch ist der Brauch bei dem feierlich vollzogenen Nonnengelübde. Acht Tage vorher verläßt die Novize das Kloster. In den schönsten und kostbarsten Kleidern eines Weltkindes genießt sie zum letzten Male allerlei Vergnügungen. Eltern, Verwandte, Freunde, alle wetteifern, besondre Zerstreuungen zu bieten. Mitten in diesem Taumel kommt der Tag der endgültigen Entsagung und ewigen Gefangenschaft. Man kleidet die Novize in den Prunk der Braut eines reichen vornehmen Mannes und geleitet sie in glänzender Equipage und unter Aufgebot zahlreicher Diener in Galalivree ins Kloster zurück, wo sie von Herren und Damen der Gesellschaft überschwenglich empfangen wird. Man reicht Wein und Erfrischungen, während sich alle Welt mit dem jungen Mädchen in weltlicher Art unterhält. Dann schlägt die Schicksalsstunde. Unter dem Spiel einer Musikkapelle, geleitet vom Zuge der Gäste und einer Menge Neugieriger aus allen Ständen, betritt die junge Dame die Klosterkirche. Vor dem Altar kniet sie nieder. Die Hände gefaltet, gesenkten Hauptes, Tränen in den Augen, ergibt sie sich ihrem schmerzlichen Schicksale. Alles schweigt, und aus der tiefen Stille wirbelt, vom Orchester begleitet, eine virtuose Stimme empor: Veni, Creator Spiritus! Wiederum wird alles totenstill. Die Novize kehrt sich den Zuschauern zu. Vor den Augen aller werden ihr die Prunkgewänder genommen. Im einfachen knapp anliegenden weißen Unterkleide steht sie nun da. Ihr Haar fällt unter der Schere; man verhüllt ihr Haupt mit einem weiten weißen Schleier. Vor dem Altar, zu Füßen eines Kruzifixes, legt sie das Gelübde der Weltentsagung ab. Wie eine Tote wird sie schließlich auf eine Bahre gelegt, aufgehoben und nach ihrer Zelle getragen.

Stendhal besaß eine Abschrift der Chronik des Klosters von Bajano; diese Abschrift ist durch Mérimées Vermittlung 1851 mit zwölf anderen Folio- Handschriftenbänden in die Pariser Nationalbibliothek (Cod. ital. No. 179) gekommen.


Auch wenn es nicht die Absicht Henri Beyles war, den Lesern dieser Novelle die von ihm geschilderten Menschen und Zustände in einem Sittenspiegel zu zeigen, so erlaubt sie doch unserem heute kritisch geschulten Auge den Blick in eine Gesellschaftsschicht, wie sie uns treuer auch jene Chronik nicht würde haben darstellen können, der Stendhal seinen Stoff verdankt. Diesen Anatomen der menschlichen Seele reizte, Renner und Genießer aller ihrer Raffinements, der er war, die Darstellung des leichtsinnigen Lebens einer privilegierten Klasse, die ihren Wohlstand gedankenlos hinnahm und im Gaukelspiel der Liebe und Intrige das Glück und die Erfüllung ihres Daseins sah. Noch ahnte das Zeitalter nicht, daß es den Richterspruch der Geschichte vorbereiten half, der allem Glanz und Taumel einmal ein Ende setzen würde.


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