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Seit Johannes Teuber von seinem Lehramte pensioniert war, hatte man ihn vollends vergessen. Er bewohnte in einem abgelegenen Hause drei Zimmer, deren Fenster über das wellige Feld hin nach dem nahen Gebirge sahen. In seinen Stuben herrschte eine so vollkommene Stille, daß es niemand einfiel zu denken, es lebe da irgendwer. Gegen den halben Vormittag stieg er mit seinem geräuschlosen Schritte die Treppe herunter. Die Hände mit dem Stock auf dem Rücken, das Gesicht sinnend geneigt, eilte er auf das Feld, das er kreuz und quer durchmaß, von Zeit zu Zeit stehen bleibend und mit dem Stock in dem Boden stochernd, wie jemand tut, der mit sich nicht ins Reine kommen kann. Er durfte nicht fünfhundert Meter entfernt sein, so wirkte er im Felde nicht anders wie ein niedriger Pfahl, so dünn und zierlich war er. Redete ihn jemand an, so hob er das Gesicht und gab mit einer jungen, hellen Stimme Bescheid über das Wetter, den Weg, die Ernte oder was der Neugierige immer für ein Gespräch anfing und lächelte mit seinen übergroßen Augen so überlegen, daß niemand ein zweites Mal versuchte, mit ihm eine Unterhaltung anzuknüpfen. Immer, wenn er so ziellos umherging, mit etwas Verborgenem in leidenschaftlichem Verkehr, trug er dieselben grauen Kleider, die er aus seiner Amtszeit herübergenommen hatte, Sonntag und Woche, als ob die Festtage der übrigen ohne Bedeutung für ihn seien. Er machte einen ganz unwirklichen Eindruck, und kaum, daß seine Gestalt den Blicken entschwunden war, hielt es schwer, sie sich leibhaftig vorzustellen: so vollständig schien er fern von allem zu sein, was der anderen Menschen Leben bewegt.

Niemand konnte auch genau angeben, wann er nach Weißenhagen gekommen war. Als man den kleinen Mann bemerkte, wie er eilig, fast schüchtern durch die volkreiche Straße huschte, lebte er schon einige Jahre am Ort, und niemand war imstande, etwas anders von ihm anzugeben, als daß er vorher als Substitut in Bechtelsdorf gewirkt habe und ganz »ohne Anhang« sei. –

Einstmals, noch in seiner Amtszeit, vor vielen, vielen Jahren, nach den großen Ferien, erschien er mit einer stillen, zarten Frau am Arme. Über seinem Wesen lag Zuversicht, sein Gang wurde fester und steter, seine Augen sahen freier in die Welt. Aber, nach wieviel Zeit konnte niemand sagen, ging er wieder allein, noch eiliger, leiser und schüchterner als vorher. Es hieß, die stille, zarte Frau liege zu Hause und sterbe. Lange Monde rang sie sich los, von niemand gesehen und bewacht als von ihrem leisen, wunderlichen Manne. Endlich schritt er hinter ihrem Sarge: einsam, blaß und unbegreiflich. Trockenen Auges schüttelte er die drei Schäufelchen Erde auf ihren Sarg, ließ einen Denkstein auf dem Grabe errichten und entfernte sich, als er die Arbeit der Steinmetzen besichtigt hatte, um den Kirchhof nie wieder zu betreten. Das Grabmal, ein weißes Marmorkreuz, trug nichts als die Inschrift: Marie Teuber. Die Frauen, die vorübergingen und die Worte lasen, erbitterten sich in ihrem Herzen, daß ein Weib von ihrem Manne so lieblos eingescharrt und so bald vergessen werden könne. So kam es, daß der Pfarrer von Weißenhagen auch ungehalten wurde über die Herzenshärte Johannes Teubers, der doch als Christ und Lehrer in jeder Hinsicht einem vorbildlichen Wandel ergeben sein müßte. Um ihn an seine Pflicht der Verstorbenen gegenüber zu mahnen, bestellte er ihn eines Tages zu einer Strafpredigt zu sich. Als er seine Ermahnungen beendet hatte, saß Teuber still, das Gesicht kalkweiß, verzweifelt, die Augen unverwandt auf die schmalen Hände gerichtet, die er verschlungen zwischen den Knien hielt. Plötzlich fuhr er in die Höhe und trat erhobenen Armes an den Schreibtisch, vor welchem der Pfarrer saß, stotterte etwas und schrie endlich in großer Qual: »Sie wissen gar nichts!« Dann nahm er seinen Hut und ging leise zur Tür hinaus.

Der Geistliche gestand, es habe ihn etwas wie Furcht gepackt, als dieser schwache Mann auf ihn zugesprungen sei, und noch Stunden nachher habe seine Seele eine Öde erfüllt, als beschwerte ihn die Verfehlung an einer reinen Macht. Er war nunmehr der Meinung, Teuber habe durch die Leiden und den Tod seines Weibes ein namenloses Unglück betroffen, das er wie ein Held auf eine Weise trage, die nichts beweise, als daß ein hartes Schicksal wunderliche Menschen noch wunderlicher mache. Bald aber sollte ein Ereignis dies milde Urteil erschüttern.

Der Sohn eines Gutsbesitzers aus dem Nachbardorfe hatte zu der einzigen Tochter eines steinreichen Bürgers von Weißenhagen eine heftige Neigung gefaßt, die von dem Mädchen erwidert wurde, das ebenso durch Schönheit als durch anmutigen Geist ausgezeichnet war. Einige Zeit lang genossen die beiden das unruhige Glück einer geheimen Liebe. Endlich überwältigte den jungen Mann die Sehnsucht nach dem Besitz seiner Angebeteten, und er hielt, alle Bedenken in den Wind schlagend, um ihre Hand an. Er wurde als »Nacktsack und Mitgiftspießer« mit Spott überhäuft und verließ, in seiner

Mannesehre tief gekränkt, das Haus des hartherzigen Reichen, ohne die Treue seines Mädchens weiter zu erproben. Die Arme war todestraurig, sich so leicht verlassen zu sehen, konnte aber nicht anders, als ihm im Herzen ergeben zu bleiben und auf eine jener wunderbaren Fügungen zu vertrauen, die den unglücklich Liebenden so oft zu Hilfe kommen. Ihre Hoffnung war vergeblich. Die Sterne, die allen Beladenen Trost spenden, erblindeten für sie, und da sich niemand ihrer Not erbarmte, nahm sie die Zuflucht zum Tode, der so lange bei Tag und Nacht neben ihr gegangen war, bis sie sich eines Abends willig von ihm durch die Lindenallee führen und in den Teich stoßen ließ. Am andern Tage zog man den entseelten Körper ans Land.

Eine unabsehbare Menge begleitete das beklagenswerte Opfer ihrer Liebe zu Grabe, und da der Vater, ein bigotter Mann, als Wohltäter der Schule bekannt war, sangen die Lehrer an ihrem Grabe einen vierstimmigen Männerchor. Sie standen neben dem Geistlichen, der mit seinem tiefen Baß die ergreifenden Totenklagen psalmodierte. Johannes Teuber war unter ihnen. Die Worte des Pfarrers hatten aller Schmerz erlöst, und es war ein Schluchzen über den Kirchhof. Nun traten die Träger an das offene Grab. Die Stangen, auf denen

der Sarg über der Grube gestanden hatte, wurden weggezogen, und die Männer faßten die Leinentücher. Der Gesang setzte ein, und schwankend versanken die sterblichen Überreste für immer in die Erde. In diesem beklemmendsten Augenblicke, da der Schmerz der Mutter zur erschütternden Klage sich steigerte, verfärbte sich Johannes Teuber in tödlicher Verzweiflung. Einen Augenblick versuchte er, von seinem Nachbar angestoßen, der Erregung Herr zu werden, und knüllte das Papier in seinen Händen zusammen. Der magere Körper schlotterte wie in großem Frost, und dann fiel er mit einem gellen Schrei zu Boden. Er stürzte mit dem Gesicht zur Erde, und als man ihn aufrichten wollte, griff er mit den Händen in den Acker und stöhnte nur immer: »Martha! Martha! Martha!«

Ein Mann aus dem Volke war über diesen wilden Schmerzensausbruch erbost, faßte ihn am Genick, drückte seinen Kopf auf den Boden und erstickte so seine verzweiflungsvollen Rufe.

Seit dieser Zeit wurde Johannes Teuber noch scheuer. Wenn er früher bei außergewöhnlichen Anlässen noch unter den Menschen erschienen war, so wich er ihnen jetzt aus und gewöhnte sich seine einsamen Streifereien in Feld und Wald an. Nicht anders benahm er sich, als habe er vor allen sein bestes Geheimnis bloßgestellt. Niemand aber verstand sein Betragen auf dem Gottesacker. Er konnte mit seinen Rufen weder seine Frau, noch auch die Tote gemeint haben, denn beide trugen andere Vornamen, und da es bekannt war, daß er seit je gegen Frauen die gleiche Verschlossenheit bewiesen hatte wie gegen Männer, so müßte man leider den Gedanken an eine geheime Liebschaft aufgeben.

Nur das war denkbar, daß er in früher Jugend die tiefe Wunde einer unglücklichen Liebe erhalten, sie all die Jahre verschwiegen in sich getragen habe und nun am Grabe dieses jungen Opfers der schönsten Menschenleidenschaft von der Erinnerung bis zur Bewußtlosigkeit erschüttert worden sei.

Einem Kollegen, der an derselben Schule wie Johannes Teuber wirkte, kam diese Erleuchtung zuerst. Er erfreute sich ihrer infolge eines angeborenen Instinktes, der überall da sein starkes Interesse am Leben der Nebenmenschen wachrief, wo sich brüchige Verhältnisse offenbarten. Aber es waren keine tieferen Gründe, die ihn verleiteten, seine scharfen Augen forschend nach dem Leid der Menschen zu richten, sondern ihn stachelte die niedere Freude an der

Aufdeckung eines Skandals allein. Dabei besaß er Energie und Geduld genug, seinen Verdacht durch ein Gewirr widersprechendster Erscheinungen unbeirrt zu verfolgen. Dieser Mann, den die stete Aufregung seiner hämischen Seele vorzeitig hatte ergrauen lassen, machte sich daran, Erkundigungen einzuziehen über die Familie Teubers, sein Leben während des Studiums und vor allem über den Bekanntenkreis während seiner Bechtelsdorfer Wirksamkeit. Er heimste eine recht karge Ausbeute ein, und es zeigte sich, daß der Lebensgang Johannes Teubers so gleichmäßig verlaufen war, wie er nur je einem Manne aus sehr engen Verhältnissen beschieden ist, der den Ehrgeiz nicht unterdrücken kann, einst den Katheder einer Volksschule zu besteigen. Außerdem maß dieser Kriminalist aus Neigung auch alles zu sehr nach dem äußeren Gewicht. Infolgedessen fand nur die Tatsache als verdächtiges Vorkommnis vor seinem Spürsinn Beachtung, daß Johannes Teuber in Bechtelsdorf in ziemlich nahem Verkehr mit dem damaligen Oberamtmann Müller gestanden hatte, der als Wüstling und bösartiger Draufgänger gesellschaftlich fast ganz isoliert gewesen war. Knall und Fall, ohne ersichtlichen Grund, hatte sich Teuber von dem Gutsherrn zurückgezogen und seine Stelle als Amtsschreiber quittiert.

Genau zu dieser Zeit war die einzige Tochter, die als eine schlanke, melancholische Schönheit noch allen Bechtelsdorfern heute im Gedächtnis war, verschwunden, um nicht lange danach in einer entfernten Provinz dem Direktor einer Zuckerfabrik angetraut zu werden.

Es war gewagt, an die Möglichkeit eines Liebesverhältnisses eines Lehrers zur Tochter eines Großagrariers zu denken, ja geradezu grotesk, wenn man sich dieses verschüchterte, magere Männchen vorstellte, dessen ganze Macht in den großen Augen lag. Allein, die junge Dame hatte Martha Müller geheißen, und das war das einzige Moment, das den Späher nicht ganz verzweifeln ließ, hinter das Geheimnis des Kleinen zu kommen.

Mit einer Zuversicht, die er sich gerade in Augenblicken zulegte, in denen seine Kombinationsgabe ins Arge geraten war, überraschte er Johannes Teuber auf seiner einsamen Streife und begann von einer fingierten Reise zu reden, auf der ihm allerhand Außergewöhnliches zugestoßen sein sollte. So wollte er auch auf der Station Thale im Harz mit einem Domänenbesitzer a. D., mit Namen Müller, zusammengetroffen sein, der in selbstloser Weise als feiner, gütiger Kavalier sich seiner angenommen habe, da ihm, dem

Reiseunkundigen, sein Gepäck abhanden gekommen war. Nun pürschte er sich immer näher, erzählte auch von dessen Tochter und ihrem Manne, einem unnötig pompösen Menschen, und beobachtete, neben dem Kleinen hergehend, aufmerksam dessen Mienen und Gebärden.

Teuber hörte gelassen zu, stach dann und wann den Stock tief in den Boden und hob bei einer Pause, die der Sprecher eintreten lassen müßte, weil ihm seine Phantasie ausgegangen war, das Gesicht, heftete seine Augen fest auf ihn und sagte mit sanfter Bestimmtheit: »Ja, da haben Sie allerdings recht erfahren; zu meiner Zeit saß auf der Domäne in Bechtelsdorf ein Oberamtmann Müller. Seine Tochter trug auch den Namen Martha, genau denselben, den ich in meinem Nervenschock auf dem Kirchhofe genannt habe. – Aber, ich bitte Sie, ist das eine Schande?«

Dann schüttelte er mit einem bösen Lächeln den Kopf, nahm den Stock auf den Rücken und verfiel in grüblerische Einsamkeit.

Diese Versunkenheit legte sich wie ein Nebel um ihn, so daß der Ausfrager außer jeden inneren Kontakt mit ihm geriet, eine Flut von Entschuldigungen und Versicherungen herausstieß, sich in banale Wortmacherei verlor und endlich von ihm ging mit der Empfindung, sehr dumm gewesen zu sein, aber auch in dem hartnäckigen Glauben, zwischen Johannes Teuber und Martha Müller müsse irgendwas vorgegangen sein.

Und während er den steinigen Weg nach dem Dorfe zu hinschritt, sah er immer die schmerzlich großen Augen des kleinen Emeriten auf sich gerichtet und müßte dem Pfarrer recht geben, daß eine stille Dämonie in ihnen wohne. Gott, und wenn sie auf ihn Eindruck gemacht hatten, warum sollte es so ganz unmöglich sein, daß sie einem jungen, dummen Dinge gefährlich geworden waren, noch dazu in der Jugend, als ihre dringende Glut sicher stärker geleuchtet hatte als heute. Solches sinnend, geriet der verunglückte Inquisitor in immer eiligeres Stolpern. Er mochte sich mit dem Willen ärgerlich noch so sehr dagegen stemmen, ihm war, als fliehe er. Wäre er mit der feinen Empfindungsfähigkeit Nervöser behaftet gewesen, er hätte wohl den bitter höhnischen Blick Johannes Teubers mit dem Rücken gefühlt. Denn der kleine Mann stand an der Lisiere des Waldes und verfolgte den Davonstolpernden mit den Augen. Er legte eine böse, verwundende Kraft in seine Augen, mit der er ihn zur Flucht trieb, und es war, als erschöpfe er sich mit diesem starr- feindseligen Blick, denn der Ausdruck seines Gesichtes wurde immer leerer. Es erblaßte und erstarrte endlich in jener verzweiflungsvollen Wehmut, die der Schatten von düsteren, schlaflosen Erinnerungen ist. Er war von der plumpen Neugier des Kollegen mitten in die heimlichen Strudel seines Lebens gestoßen worden. Das Fieber aus den Schluchten seiner Vergangenheit überfiel ihn. Umsonst brach er in lautes Lachen aus, um es abzuschütteln; umsonst begann er eilig zu laufen, seine Not nach außen zu erlahmen: es war wieder, als säße der glühende Alp auf ihm und wollte ihn zu Tode reiten. Am Abend kehrte er unter dem Schutze der Dämmerung blaß und abgehetzt in seine Wohnung zurück, die Kleider beschmutzt, mit dürren Nadeln und dem haardünnen Gras der Waldblößen übersät, als sei er von einem Widersacher im Kampf niedergerungen und über den Boden geschleift worden. Seine melancholisch-fette Wirtin stieß einen Schreckensruf aus. Teuber, dessen Kopf wie der eines Trunkenen nach hinten hing, lachte bei seinem Eintritt heiser-laut gegen die Decke. Über sich lallend: »Ich mag nichts essen, nichts, gar nichts«, schwenkte er schlotternd seinen Hut und verschwand in seiner Stube, deren Tür er fest hinter sich zuzog. Frau Nissig hörte seinen Stock über die Diele poltern und

vernahm das Krachen des Lehnsessels, erlauschte noch einige stöhnende Atemzüge und begab sich dann auf den Stuhl zwischen Küchenschrank und Anrichtetisch, um zu ergründen, welche Umstände den ehrenfesten Mann zu solch tiefem, sündigen Falle gebracht haben könnten. Denn daß ihm der Haarbeutel vom Weindunst schwankte, war nicht zu verkennen. In ihrem Eifer, unter der lockeren Männerwelt des Ortes den Schuldigen herauszufinden, der die Arglosigkeit dieser einsamen Kinderseele zu seinem Spaß mißbraucht haben könnte, geriet sie immer tiefer in das Gebiet weltlicher Schandhaftigkeit und hing mit Wollust diesen betrübsamen Meditationen nach, bis sie, die gerungenen Hände sorgsam untergeschoben, ihre Stirn zu gesegnetem Schlaf neigte. Tief in der Nacht erwachte sie, und auffahrend grinste sie von der gegenüberliegenden Wand ein langes, linnenweißes Gesicht an, das in der Gebärde verzweifelten Schreiens ganz lang geworden war. Nach kurzem Schreck fand sie sich wieder, rückte den weißen Porzellanseiher aus dem Mondlicht und strich mit benäßtem Finger die Haare hinter die Ohren. Aus Teubers Stube drang leises Räuspern. Frau Nissig schlich geräuschlos hinein, um sich zu vergewissern, ob ihre Hilfe vielleicht noch notwendig sei.

Die Vorhänge waren nicht herabgelassen, das Bett unberührt, das Zimmer von dunstigem Vollmondlicht erfüllt, in dem eine Unruhe lag. Von schwachen Pulsen ward die milchige Helle zitternd gegen die Wände getrieben, daß alle Gegenstände wie unter dem Fluten von Wasserwellen hin und her zu schwanken schienen. Endlich gewahrte sie Teuber, noch immer im Lehnsessel, den er offenbar die ganze Zeit über nicht verlassen hatte.

Sein schmaler Körper hing aufgereckt an dem äußersten Saume des Sitzes, und sein Gesicht hielt er unbeweglich gegen die Eintretende gewendet, wie einer, der durch eine unvermutete Erscheinung zwischen Aufspringen und Bangen gebannt wird.

Als Frau Nissig noch einen Schritt vorwärts tun wollte, streckte Teuber abwehrend die Rechte gegen sie aus und sagte mit unendlich trauriger Stimme: »Marie, du weißt es doch! Komm nicht näher, sie blüht noch immer über mir, stärker und lebendiger als je.« Frau Nissig, die Alma hieß, ersah wohl, daß sie nicht gemeint sei, und dachte, es handle sich hier um Halluzinationen, wie sie ein Übermaß von Alkohol gerade in völlig Abstinenten hervorbringt. Aber seine Stimme! Seine Stimme war so seltsam klar und sicher!

Darum ermannte sie sich und sagte: »Herr, es ist tiefe Nacht...«

Aber sie müßte abbrechen, denn ihre Worte erklangen ihr dumm und unwirklich zugleich, von der Stimme eines Fremden mit heißem Munde ins Ohr gesprochen, und Teuber hatte sich noch mehr gereckt. Alles an ihm, sein stillstehendes Gesicht, seine weit geöffneten Augen, sein Mund: war krankhaft gespanntes Horchen.

»Sprich weiter«, sagte er und schlang hörbar in schmerzvoller Erwartung.

Da sie vor Furcht seiner Aufforderung nicht nachkam, senkte er enttäuscht das Haupt und sah auf seine würgend gefalteten Hände zwischen den Knien. Frau Nissig benutzte diesen günstigen Moment und schlich aus dem vollen Mondstrahl in das Dunkel zurück, um in seinem Schutze zu entweichen. Sie erhob eben die Hand nach dem Türgriff, als die Stimme Teubers wieder laut wurde.

Noch immer über seine Hände gebeugt, sagte er in bitterer Anklage: »Herr, immer der Herr!«

Dann hob er sein Gesicht, bohrte die Blicke auf die Stelle, die sie eben verlassen hatte, und frug lauernd jenes Wesen, mit dem er seine Wirtin verwechselt hatte, seine verstorbene

Frau, deren Geist er vor sich zu haben glaubte: »Ja, warum mag dich der Herr nicht, da du doch bei ihm bist? – Oder, warum bleibst du nicht bei ihm, sondern hetzest meine Tage, daß sie vor mir laufen wie Hunde mit glasigen Augen? Und meine Nächte, meine Nächte, die doch nicht mein sind?... Der Herr, hmhm. – Geh und klage ihm, daß du ein zweites Mal neben mir sterben würdest, wenn du ein zweites Mal neben mir leben müßtest.«

Plötzlich richtete er sich auf und redete scharf und überstürzt immer auf die alte Stelle ein:

»Was bleibst du nicht in den Wohnungen hinter dem Grabe! Nein, beim Himmel, du warst nicht mein Weib!! Ich habe dich nicht berührt, weder mit dem Körper noch mit der Seele! Und bist du daran gestorben, so war es deine Schuld, da du von mir erwartetest, was ich dir nicht geben durfte, solange ihr Bild, ihr schöner Schatten, schön, süß wie ihr Leben Tag und Nacht über mir blühte!«

Bei den letzten Worten hob er sein Gesicht langsam nach der Decke und verharrte so mit verklärter Miene, als sei es ihm gelungen, den feindseligen Schatten zu verscheuchen, und als schimmere die ersehnte Gestalt nun näher. Während dieser Entrücktheit des Unglücklichen gelang es Frau Nissig, unbemerkt aus dem Zimmer zu schlüpfen. Ehe sie aber in dem Dunkel auf dem Küchentisch zwischen dem Geschirr den Schlüssel zu ihrer Schlafstube finden konnte, ertönte die Stimme Teubers schon wieder aus dem Nebenraum. Sie schien bald aus der hinteren Ecke zu kommen, bald hörte sie ihn hart an der Tür sprechen. Er müßte also lautlos in dem Zimmer umherschweifen oder, auf derselben Stelle verharrend, sich bald da, bald dorthin wenden. Auf jeden Fall hatte er sich beruhigt. Seine Worte flössen mit der gewohnten milden Stimme leicht hin. Nur dann und wann wurden sie von etwas wie einem unterdrückten Schluchzen unterbrochen. Und da die weibliche Neugier immer stärker ist als die Furcht, zog gerade dieser Laut noch einmal das Ohr an die Tür. Er müßte gerade in der Stube herumwandeln, denn sie hörte ganz deutlich die Worte: »Alles würde aufspringen, was liegt und dorrt in mir. Oh, alles, alles würde vergessen sein.«

Darauf war es steinstill. Sie hörte das Knirschen ihres Fußgelenkes, als sie von der Tür zurücktrat, und dachte, nun habe er sich angekleidet aufs Bett geworfen und werde bald eingeschlafen sein. Wider Erwarten begann er Unverständliches zu stammeln: mit flackernder Inbrunst, in Qual, zerrüttet, jubelnd, wie die alternde Frau es nur einmal für sich in der Jugend genossen hatte, und immer drang aus dem wirren Strom in höchster Ekstase ein Ruf, den sie nicht verstehen konnte. Er klang wie: warte, harre oder Martha. Aber jedesmal trat ihr das Bild eines Jünglings vor die Seele, der in glühendem Mittagslicht rasenden Laufes dahineilt und verzückt einen blühenden Zweig über seinem Haupt schwenkt.

Nun erst recht voll Angst – denn was konnte geschehen, wenn er herauskam und sie fand! – flüchtete sie ihre Unschuld ins Bett.

Am andern Tage bat sie um die Entlassung, da ihre Mutter erkrankt sei und ihrer Pflege bedürfe. Teubers Gesicht war blaß und übernächtigt. Die Augen lagen wie zwei große blaue Wunden unter der Stirn. Er nickte zustimmend und lächelte unendlich traurig, als er zum Abschiede seine feine, immer leise bebende Hand in ihr gutgepolstertes Greiforgan legte.

»Ich wünsche Ihrer Mutter herzlich baldige Genesung und danke Ihnen für die treuen Dienste«, sagte er und sah dabei mit einem so tiefernsten Blick auf, daß sie aus unerklärlicher Scheu nicht wagte, in Weißenhagen deutlich über den Grund ihres plötzlichen Abganges zu sprechen. Trotzdem tauchte nach einiger Zeit im Dorfe das Gerücht auf, Johannes Teuber habe, einer heimlichen Liebschaft halber, seine Frau, diesen Engel an Güte und Schönheit, ums Leben gebracht. Besonders jene, die sich einst über sein unbegreiflich rohes Betragen nach dem Tode der Seligen erbost hatten, brachten die öffentliche Meinung eine Zeitlang in leidenschaftliche Entrüstung.

Der, den es betraf, erfuhr von all der Aufregung wohl nichts. Denn Johannes Teuber wohnte als Emeritus schon draußen in dem abseitigen Hause. Nach dem plötzlichen Weggange der braven Nossigin hatte ein rapider Verfall seiner Kräfte eingesetzt. Sein Schlaf wich einem fiebernden Halbschlummer, seine Ruhe sah wie Stumpfsinn, seine Heiterkeit wie Raserei aus. Sein Gedächtnis erlosch teilweise, und auf dem Heimwege von der Schule blieb er oft mitten im flutenden Verkehr stehen, sah sich ängstlich um und ging dann in ein fremdes Haus. In der Klasse gefährdete er mit plötzlich ausbrechender Heftigkeit die ihm anvertrauten Kinder. Der Zorn raste in ihm, bis er apathisch auf den Stuhl sank. So beschloß die Behörde seine Pensionierung.

»Sie haben wohl viel nächtlich gearbeitet und Ihre Kräfte in der Schule nicht geschont?« fragte ihn der untersuchende

Arzt und setzte als unverbesserlicher Philosoph hinzu: »Denn der rechte, gesunde Fleiß erhält sich selbst.« Johannes Teuber hob den gesenkten Blick und antwortete mit schmerzvoll glücklichem Lächeln:

»Ja, Herr Doktor, manche schöne Nacht. O, wie viele. Davon mag's sein. Aber ich mache mir keine Vorwürfe, denn Erschöpfung bedeutet doch auch Ausschöpfen.«

»Ja, aber man hat doch nur ein Leben«, war die Entgegnung des Arztes, der sich zu einer Disputation in Positur setzte, aus der für ihn manches lehrreiche Faktum über Psychopathie zu gewinnen war.

»Eben deswegen bin ich nicht traurig«, antwortete Teuber einfach und empfahl sich.

So verhielt es sich auch. Der Frühgealterte trug von nun an stets einen hellen Schimmer im Gesicht, als wandle er immer an einer weißen Wand hin, und immer lag in seinen großen Augen das tiefe Staunen über einen nicht zu enträtselnden Traum. In jenem ersten Jahr nach seiner Amtsentlassung bemühten sich auch seine Feinde, durchaus den Grund zu finden, weshalb er, im Felde umherschweifend, mit sich selbst rede und in dieser Gebärde der Ratlosigkeit mit der Spitze des Stockes den Acker umwühle. Nach manchem

Schwanken drang die Ansicht durch: Zur Strafe für das Verbrechen an seiner Frau habe ihm Gott den Verstand genommen und er müsse nun nach der Toten graben, wo er stehe und gehe. Kein Unbefangener glaubte aber diesen Böswilligen, auf dem das Wunder dieser schönen, greisen Augen geruht hatte.

Nur ganz scharfe Beobachter bemerkten schon damals um seine Augensterne einen farblosen Ring, stumpf und leblos, der aussah wie beginnendes Erblinden. In der Reihe der Jahre fraß dies Erblassen immer weiter, bis endlich anstelle des seelentiefen Blaus eine milchige, opalisierende Scheibe auf dem altersgelben Weiß des Augapfels schwamm. Zwanzig Jahre dauerte es, bis der Schimmer seiner Augen von innen versengt war, die starr, scheinbar ohne Blick, wirklich denen der Blinden glichen. Dennoch hatte er seine Sehkraft nicht eingebüßt. Denn wie sonst sah man den winzigen Mann, nur etwas gebeugter und unsicherer, auf dem Felde. Nur grub er mit dem Stocke nicht mehr nach der Toten, sondern hielt in nie müder Erwartung seine erblaßten Augen unendlichen Fernen hin, indem er umherging. Redete ihn jemand an, so wehrte er mit einer leidenschaftlichen Handbewegung ab und wandelte lauschend davon. Von Gipfeln, weit hinter allen

Bergen, mußten sich für ihn wohl Stimmen aufmachen, deren Nahen nur seine hingebundenen Augen vernahmen.

In manchen Frühlingsnächten klangen sie ihm wohl stärker. Dann antwortete er ihnen. Man hörte ihn mitten in der Nacht ein leises, süßes Lied singen. Die jungen Töchter des Wirtes, die unter seinem Zimmer schliefen, meinten, es klinge, so seltsam es auch sei, wie der Gesang eines Liebenden, und sie würden jedesmal von einem solchen Bangen ergriffen, daß sie sich umarmen und unter Tränen küssen müßten.

Im Winter seines einundsiebzigsten Jahres stellte Johannes Teuber seine gewohnten Spaziergänge ein und verbrachte die Tage an jenem Fenster, von dem aus man die vorüberfahrenden Eisenbahnzüge erblicken konnte. Er versäumte es nicht, jeden Zug, der aus der Grafschaft Glatz kam, mit einer Aufmerksamkeit zu mustern, als erwarte er die Ankunft eines geliebten Menschen. In der Zwischenzeit blätterte er eifrig in dem gelben Fahrplan umher wie einer, der eine lange Reise plant, und breitete wohl auch seine alten Fahrkarten vor sich aus. Versunken darauf starrend, reiste seine ungeduldig gewordene Seele in alle Welt. So ging der Winter vorüber.

Eines Tages hörte seine neue Wirtin ihn früher als sonst das

Bett verlassen. Mit einer Unruhe und einem Gepolter, wie sie es nie von ihm gewohnt war, kleidete er sich an und erschien bald darauf in seinem veralteten schwarzen Festtagsanzug auf der Schwelle, zum schreckhaften Staunen der Haushälterin mit bestimmter Stimme fragend, ob ein Brief angekommen sei. Trotz des verneinenden Bescheides verließ er gleichwohl, gebürstet, den hohen Hut auf dem weißen Haar, den nie gebrauchten Stock mit der Silberkrücke in der Hand, das Haus.

Nachdem er in einer Blumenhandlung einen Zweig roter Rosen erstanden hatte, schlug er den Weg nach dem Bahnhofe ein und schritt in Unruhe, das Geleise hinaufspähend, den Perron hin und her. Donnernd brauste der Zug unter das Dach der Rampe, die Türen wurden aufgerissen, und die Reisenden strömten heraus. Teuber, in komischer Ängstlichkeit unter fortwährendem »Bitte« die Blumen hochhaltend, drängte sich ungestüm durch den Schwarm. Erblickte er eine greise Dame, so stutzte er einen Augenblick, nahm einen kleinen Anlauf, sie anzusprechen, und ließ traurig ab, wenn er bemerkte, daß es die Erhoffte nicht sei. Vor der Weiterfahrt musterte er nochmals die Gesichter der herauslehnenden Passagiere und warf dann die Rosen auf die Schienen, wo

sie bald von den Rädern vernichtet wurden. Zuletzt stand er noch lange und starrte den davoneilenden Wagen nach, bis er sich aus dem Hinsinnen aufraffte, verlegen um sich spähte und hüstelnd davonging.

Das wiederholte sich zum Vergnügen der Bahnbeamten nun in gleicher Weise alle Tage. Manchmal erschien der komische Greis am Vormittag, manchmal gegen Abend. Immer aber spielte sich der Vorgang vor den Zügen der Gebirgsbahn ab. Nachdem er sich durch den Reisetrubel des Juli gekämpft hatte, war seine Erschöpfung unverkennbar. Von jetzt ab nahm er nach dem Betreten des Perrons auf der Bank neben dem Ausgange Platz und, den unvermeidlichen Rosenzweig schonend auf den Knien, musterte er den Menschenstrom oft mit der Miene letzter Trostlosigkeit. Allein keine Vorstellung, keine Bitte brachte ihn zum Verzicht auf sein unbegreifliches Treiben. Auf alles hatte er als Antwort das Lächeln des Wissenden, der seines Erfolges sicher ist.

Vielleicht war dann auch wirklich sein letztes Erlebnis die Erfüllung seiner letzten Hoffnung.

Es war im August desselben Jahres, an einem Tage, an dem diesen blendenden Monat gleichsam eine Ahnung des nahen Herbstes überfällt. Das weiße Sonnenlicht lag wie fliehend in ganz weite Entfernungen gerückt. Um alle Dinge floß schimmernder Dunst, so daß sie ohne Schatten dastanden. Seines gewohnten Wesens beraubt, schien sich alles in wahrer Verwunderung zu recken. Gedämpft erklangen und verhallten die Rufe der Vögel. Das Bahnhofsgebäude lag riesig und versunken da, und die ein- und ausgehenden Leute schrien unnötig laut im Kampfe gegen den Druck, der auf allem lastete, und vermehrten damit nur die beklemmende Stille.

Johannes Teuber, der heut auf dem gewohnten Wege öfter als sonst hatte müssen stehen bleiben, war gleich in teilnahmsloses Zusammenkauern verfallen, nachdem er den Platz auf seiner Bank eingenommen hatte. Der Rosenzweig lag neben ihm auf den Latten des Sitzes, und seine Hände hielt er unausgesetzt zwischen den Knien, ihre Flächen genau aufeinanderpassend. In Zwischenräumen nur bewegte er die Zeigefinger gegeneinander und regte verneinend sein weißes Haupt. Auch als der erwartete Zug zögernd einlief, veränderte er seine Haltung nicht. Nur einige Türen klappten, und die wenigen Reisenden eilten wie flüchtend über den vereinsamten Platz.

Zuletzt trat eine alte Dame säumig aus einem Abteil zweiter

Klasse. Während der Träger ihr Gepäck zu dem in fünfzehn Minuten abgehenden Fernzuge auf den anderen Perron schaffte, lenkte sie ihre Schritte nach dem unbedachten Teile der Rampe, um sich dort im milden Lichte zu ergehen. Es war eine schlanke Gestalt mit schönem, ruhigem Gesicht. Die aufgewellten Scheitel ihres reichen, blühweißen Haares im Verein mit den jungen Augen verliehen ihr einen fast mädchenhaften Zauber. Kaum hatte sie ihr harmonischer Gang zehn Schritte weit in der Richtung auf den alten Teuber zu getragen, so fuhr der dürftige Greis aus seiner Lethargie auf, hielt einen Moment kurzen Stutzens den Kopf visierend hin und stand bald darauf, feierlich-aufgeregt, den hohen Hut in der Hand, vor der Dame, die, sei es aus Überraschung über die Kühnheit eines Wildfremden, sei es im ersten Schreck der Erinnerung, leicht zusammenfuhr und vorsichtshalber nach dem Stationsgebäude hinsah, in dessen offener Tür ein Assistent lehnte. Der verstand ihren fragenden Blick und fuhr unter Lächeln mit der Hand über die Stirn, um anzudeuten, daß es sich um einen Mann mit einem gutmütigen Span im Kopfe handle. Dann zog er sich durch das Telegrafenzimmer in die kleine Wärterbude zurück, die, in den Platz hineingestellt, einen bequemen Horcherposten abgab. Kaum hatte er sich dort in die Ecke gedrückt, so schritten die beiden auf die Bank Teubers zu. Des kleinen Greises Gesicht war blaß von tödlichem Glück. Die Dame nahm Platz und Teuber blieb durchaus neben ihr stehen, indem er in großer Erregung wirr durcheinander sprach.

»Aber warum setzen Sie sich denn nicht lieber?« fragte die Fremde zum zweiten Male.

»Martha, warum ›Sie‹ zu mir? Warum jetzt noch ›Sie‹?« fragte Teuber bestürzt wieder, hielt seinen Kopf eine Weile schief und setzte sich dann schnell neben sie. Nach kurzem Sinnen über seine Hände hin fuhr er fort:

»Bist Du glücklich gewesen, Martha?«

»Nicht immer.«

»Und jetzt?«

»Ich bin eine Greisin. – Und Sie?«

Teuber sah sie voll gramvollen Vorwurfes an, dann antwortete er zögernd:

»Ich bin eine Flamme gewesen, die sich für diesen Augenblick aufgespart hat. Für nichts habe ich gelebt, als für diese Minute, da meine Lippen vor dir zittern können. Ich wußte, oh, ich wußte ganz genau, daß ich nicht sterben werde, ehe ich dich nicht noch einmal gesehen habe.«

Die Dame machte eine Bewegung, sich zu erheben.

»Willst du auch jetzt so übereilt aufstehen, wie in der Laube zu Bechtelsdorf, und zerreißen, was nun in alle Ewigkeit vorbei sein muß?«

Die Fremde legte mahnend ihre Finger auf seine bebende Hand und mahnte liebreich: »Nicht aufregen!«

Vergeblich gegen den Schauer kämpfend, den diese Berührung über ihn brachte, stammelte er:

»Ja. Aber ich wäre nicht fünfzig Jahre der Stein gewesen, der immer geworfen wird und immer zerbirst und doch nie zerstört wird...«

»Was sagst du?«

»Johannes, sprich Johannes zu mir, Martha, einmal noch, um Gottes willen!« flehte er in höchster Aufregung.

»Was sagst du, Johannes?« fragte die Fremde in erbarmendem Gehorsam. Nach kurzem Zögern antwortete Teuber mühsam: »Weil mir Dein Vater damals diesen Schimpf antat vor dir und mich ins Gesicht schlug...«, saß da und sprach mit verfärbten Lippen das übrige stumm, bis seine Worte wieder laut wurden. »Aber meiner Hand und meinem Munde war die Rache verboten wegen dir und später auch wegen deiner Kinder. Dein Ruf war mir heiliger als mein Leben.«

»Bist du verheiratet, Johannes, und freust dich deiner Kinder?« fragte die Fremde, ihn gütig weiter lenkend.

»Oh, ich war verbunden, aber nicht verheiratet. Sie ging neben mir und ward nicht mein Weib. Sie starb an dir, die alle Nacht mich besuchte –.« Der Greis ergriff die Hände der Dame und bedeckte sie mit fiebernden Küssen.

Mit einem Ruck riß sich die schöne Frau los und verschwand hochaufatmend im Bahnhofstor, aus dem die Glocke des Abrufers gellte. Teuber machte einige vergebliche Versuche, sich auch zu erheben. Bald aber saß er still, mit weit nach hinten hängendem Kopfe, das Gesicht dem blassen, fliehenden Lichte des Himmels zugewendet.

Als der Assistent nach Abfertigung des Zuges hinzutrat, fand er einen Toten mit dem Ausdruck höchsten Glückes im Gesicht und in den offenen Augen.

Mit offenen Augen müßte Johannes Teuber auch begraben werden, weil deren Lider im Schauen erstarrt waren.


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