Johanna Spyri
Beim Weiden-Joseph
Johanna Spyri

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4. Kapitel.
Was der liebe Gott schenkt

Der November ging dem Ende zu. Der Schnee war noch viel höher geworden, und mit jedem Tag wurde jetzt die Kälte grimmiger. Die Großmutter in Altkirch zog an ihrer dünnen Bettdecke hin und her, sie konnte fast nicht mehr warm werden darunter. Die Stube war auch so kalt, denn da war nur ein sehr geringer Holzvorrat und in diesem tiefen Schnee konnte ja kein Zweig gefunden werden. Kaffee wurde nur selten gekocht, und die Bohnen mußten nun immer mit den Steinen zerrieben werden. Die Mühle war für immer unbrauchbar, und Geld zu einer neuen war keines da. Die arme Großmutter hatte viel zu klagen und zu jammern. Der Großvater saß meistens auf der Ofenbank, versuchte die Jammernde zu beschwichtigen und flocht seine kleinen Weidenkörbe.

Solange es geschneit hatte und der tiefe Schnee weich geblieben war, hatte der Großvater seine Körbe selbst zum Käsehändler hinauftragen müssen. Denn wenn er die Kinder geschickt hätte, so wären sie im Schnee steckengeblieben. Es gab keinen geräumten Weg den Berg hinauf. Sogar der Großvater hatte Mühe durchzukommen, so tief sank er manchmal in die Schneehaufen.

Aber jetzt war der Himmel hell geworden, und die hohen Schneefelder waren weit und breit so hart zugefroren, daß man darüber gehen konnte, wie über eine feste Straße. Nicht einmal unter den schweren Männern krachte das Eis. Nun konnten die Kinder wieder auf die Wanderung geschickt werden. Das Stanzeli band sich ein Tuch um, und der Seppli setzte die wollene Kappe auf, dann zogen sie aus, jedes sein Bündel Körbchen am Arm.

Als sie nach einer guten halben Stunde an die Kapelle kamen, legte das Stanzeli seine Körbe hin und nahm den Seppli an der Hand, um hineinzutreten. Aber der Seppli war einmal wieder störrisch. »Ich komme nicht, ich will jetzt nicht beten, es friert mich an den Fingern«, behauptete er und stemmte seine Füße in den Boden, damit ihn das Stanzeli nicht hineinziehen konnte. Aber es bat und zog ihn und erinnerte ihn daran, was der Pater Klemens gesagt hatte. Sie hatte Angst, daß der Seppli sie beide ins Unglück stürzen könnte. Das Stanzeli hatte schon so viel von Jammer und Elend gehört, daß es ihm als ein großes Glück und ein Trost erschien, sich hinknieen und zu einem Vater im Himmel beten zu dürfen, der allen armen Menschen helfen will.

Seppli gab endlich nach, und sie traten in die stille Kapelle. Das Stanzeli sagte leise und andächtig sein Gebet. Auf einmal ertönte ein sonderbarer Klagelaut durch die große Stille. Ein wenig erschrocken wandte sich das Stanzeli zu Seppli um und sagte leise: »Mach nicht so etwas in der Kapelle, du mußt still sein.« Ebenso leise, aber grimmig antwortete Seppli: »Ich mache nichts, du warst es.«

In diesem Augenblick ertönte der Klagelaut wieder, aber lauter. Der Seppli schaute forschend auf den Altar. Auf einmal packte er das Stanzeli am Arm und zog es mit solcher Macht von seiner Bank auf und dem Altar zu, daß es nicht anders als folgen konnte. Hier, am Fuß des Altars, halbbedeckt von der Altardecke, unter die es sich verkrochen hatte, lag ein weißes Schäfchen, zitternd und bebend vor Kälte. Es streckte seine dünnen Beinchen so von sich, als ob es vor Mattigkeit keine Bewegung mehr machen könne.

»Das ist ein Schaf. Jetzt haben wir einmal etwas geschenkt bekommen, das man sehen kann«, erklärte der Seppli erfreut.

Das Stanzeli schaute mit großer Verwunderung auf das Tierchen. Auch ihm waren gleich die Worte des Pater Klemens in den Sinn gekommen, und es glaubte, daß der liebe Gott, der jedem Betenden etwas schenkt, ihnen heute das Schäflein geschickt habe. Nur daß es so matt und wie halbtot dalag, war dem Stanzeli nicht recht begreiflich. Es fing an, das Tierchen zu streicheln, um ihm zu zeigen, daß es sich nicht fürchten müsse. Aber dieses regte sich kaum, und nur von Zeit zu Zeit ließ es einen ganz wehmütigen Klageton hören.

»Wir wollen heim mit ihm und ihm einen Erdapfel geben, es hat Hunger«, sagte der Seppli, denn er kannte nur dieses Übel, das ihn auch schon öfter zu Klagetönen gebracht hatte.

»Was meinst du denn, Seppli? Wir müssen ja zum Käsehändler hinauf«, erinnerte das gewissenhafte Stanzeli. »Aber so allein können wir es auch nicht hier lassen«, und nachdenklich schaute das Kind auf das unruhig atmende Tierchen. »Jetzt weiß ich etwas«, fuhr Stanzeli nach einigem Nachdenken fort, »so kann man es machen. Du hütest das Schäflein hier, und ich laufe, so schnell ich kann, zum Käsehändler hinauf und komme wieder, und dann gehen wir heim.«

Der Seppli war mit dem Vorschlag sehr zufrieden, und sofort lief das Stanzeli davon. Wie ein leichtes Reh rannte es das Schneefeld hinauf.

Der Seppli setzte sich auf den Boden und betrachtete mit Wohlgefallen sein Geschenk. Das Schäfchen war von so schöner dicker Wolle bedeckt, daß der frierende Seppli Lust bekam, seine kalte Hand da hineinzustecken. Sie wurde bald so schön warm, daß er schnell auch die andere hineinsteckte. Nun rückte er ganz nah an das Tierchen heran, und es war wie ein kleiner Ofen für ihn. Denn wenn es auch selbst vor Kälte zitterte, so war doch sein Wollpelz für den Seppli ein herrliches Wärmemittel.

In kaum einer halben Stunde kam das Stanzeli wieder herbeigerannt, und nun wollten die Kinder ihr Geschenk in Freude dem Großvater und der Großmutter heimbringen. Aber vergeblich versuchten sie, das Schäfchen auf seine Beine zu stellen. Es war so schwach, daß es gleich wieder hinfiel, wenn sie es wenig aufgerichtet hatten, und dann ganz kläglich wimmerte.

»Man muß es tragen«, sagte das Stanzeli, »aber es ist mir zu schwer, du mußt mir helfen.« Und es zeigte dem Seppli, wie er anfassen müsse, daß es dem Schäflein nicht wehe tue, und so trugen sie es miteinander fort. Es ging freilich ein wenig langsam, denn es war ziemlich unbequem, so zu zweit mit der Last zu gehen. Aber die Kinder waren so erfreut über ihr Geschenk, daß sie nicht nachgaben, bis sie bei ihrer Hütte ankamen und nun mit der Überraschung in die Stube hineinstürzen konnten.

»Wir haben ein Schaf bekommen, ein lebendiges Schaf mit ganz warmer Wolle«, schrie der Seppli schon vor der Tür, und als sie nun ganz in der Stube waren, legten die Kinder das Schäfchen neben den erstaunten Großvater auf die Ofenbank. Dann fing auch das Stanzeli an und erzählte, wie alles gegangen sei und wie das eingetreten wäre, was der Pater Klemens schon immer gesagt habe. Daß der liebe Gott einem jedesmal etwas schenke, wenn man betet, nur könne man es nicht immer gleich sehen.

»Aber heute kann man es sehen«, sagte der Seppli erfreut.

Der Großvater schaute die Großmutter an, was sie dazu meinte, und sie sah wieder ihn an und sprach: »Was sagst du denn dazu, Joseph? Sag auch ein Wort.«

Nach einigem Nachdenken sagte dann der Großvater: »Man muß jetzt zum Pater Klemens hinaufgehen und muß ihn fragen, wie das gemeint sei. Ich will, denke ich, selber gehen.« Damit erhob er sich von seinem Sitz, setzte die alte Pelzkappe auf und ging.

Der Pater Klemens kam mit dem Großvater zurück. Nachdem er die Großmutter begrüßt und ihr ein paar gute Worte gesagt hatte, setzte er sich neben das todesmatte Schäfchen und betrachtete es. Dann nahm er das Stanzeli und den Seppli bei den Händen und sagte freundlich: »Seht, Kinder, so ist's. Wenn ein Mensch betet, so schenkt ihm der liebe Gott ein fröhliches und zuversichtliches Herz, und das ist eine schöne Gabe. Und dazu kommen dann noch viele andere gute Gaben. Das Schäflein hier aber hat sich verirrt. Es wird wohl von der großen Herde sein, die noch spät im Herbst einmal durchzog, und der Hirt wird es schon suchen. Es muß schon lange entlaufen sein, denn es ist ganz ausgehungert und fast tot. Vielleicht bringen wir es nicht einmal mehr recht zum Leben. Zuerst muß man ihm ein wenig warme Milch geben und dann zusehen, womit man es noch füttern kann.«

Der gute Pater hatte bei den letzten Worten das Schäfchen etwas aufgehoben und ihm mitleidig die Hand unter das Köpfchen gelegt.

Jetzt sagte der Großvater zaghaft: »Wir wollen tun, was wir können. Stanzeli, geh und sieh nach, ob noch ein Tropfen Milch da ist.«

Aber der Pater Klemens verbot dem Stanzeli hinauszugehen und sagte: »Ich meine es nicht so. Wenn es euch recht ist, so nehme ich das Schäfchen zu mir, es hat Platz bei mir und ich kann es pflegen.«

Das war eine große Erleichterung für die beiden Alten, denn das Schäflein verhungern lassen, wollten sie ja nicht. Aber wo etwas hernehmen, um es zu füttern, wenn sie selbst kaum etwas hatten.

Jetzt nahm Pater Klemens das matte Tierchen auf seinen Arm und wanderte so mit ihm dem alten Kloster zu. Der Seppli guckte ihm lange nach und knurrte ein wenig.

Nach ein paar Tagen sah der Großvater schon wieder den Pater Klemens auf sein Häuschen zukommen und verwundert sagte er zur Großmutter: »Was meinst du, warum kommt der gute Vater schon wieder zu uns?«

»Das Schaf wird wohl umgekommen sein, und jetzt will er es uns sagen, daß wir nicht etwa vom Hirten vergebens einen Finderlohn erwarten«, meinte die Großmutter.

Pater Klemens trat ein. Man konnte ihm ansehen, daß er keine frohe Botschaft zu bringen hatte. Das Stanzeli und der Seppli kamen ihm gleich entgegengesprungen, um ihm die Hand zu geben. Er streichelte beide freundlich, dann sagte er leise zum Großvater: »Es wäre mir recht, wenn Ihr die Kinder ein wenig fortschicken würdet, ich habe mit Euch zu reden.«

Dem Großvater wurde es ein wenig bang zumute, und er dachte bei sich: »Wenn ich nur wenigstens die Großmutter ein wenig ablenken könnte, daß sie's nicht hört, wenn etwas Schlimmes berichtet werden muß.« Er gab nun dem Stanzeli die zinnerne Flasche in den Arm und sagte: »Geh mit dem Seppli und hol die Milch, und wenn es noch ein wenig zu früh ist, so könnt ihr oben beim Bauer warten, es ist warm im Kuhstall.«

Als die Kinder fort waren, rückte der Pater seinen Stuhl näher zum Bett der Großmutter und sagte: »Kommt auch ein wenig näher, Joseph, ich muß euch beiden etwas mitteilen, ich tue es aber ungern. Der Sepp hat etwas angestellt.«

Kaum war dieses Wort ausgesprochen, so jammerte die Großmutter laut und rief: »Ach du mein Gott, daß ich das noch erleben muß! Das war noch meine letzte Hoffnung, daß der Sepp noch einmal heimkommt und uns beisteht in unseren alten Tagen, und nun ist alles aus. Vielleicht müssen wir auch noch eine große Schande auf uns nehmen und haben doch ehrlich und redlich gelebt bis ins hohe Alter. Ach wie gern wollte ich auch über nichts mehr jammern und ohne Murren auf meinem harten Bett liegen und mein Leben lang keinen rechten Schluck Kaffee mehr bekommen, wenn nur das nicht sein müßte mit dem Sepp! Ach, wenn er nur nicht sich und uns ins Unglück und in die Schande hineingebracht hätte!«

Auch der Großvater saß sehr erschrocken und niedergeschlagen da. »Was hat er gemacht, Vater?« fragte er zögernd.

Der Pater antwortete, er wisse noch gar nicht, was es sei. Er habe nur erfahren, der Sepp habe drüben über dem Zillerbach etwas angestellt, und er habe es jetzt mit dem Herrn Oberamtmann auf dem Rechberg zu tun, der werde ihn wohl einsperren lassen.

»Ach, du mein Gott, dort drüben hat er's getan?« jammerte die Großmutter aufs neue. »Ach, wie wird es dem ergehen! Den werden sie gewiß scharf bestrafen, schon weil er einen anderen Glauben hat.«

»Nein, nein, das müßt Ihr nicht denken, Großmutter«, unterbrach sie der Pater, »das ist nicht so. Der Herr Oberamtmann ist nicht ungerecht, und was den Glauben anbetrifft, so hat er keine Vorurteile. Ich habe ihn selbst mehr als einmal sagen hören: ›Ein frommer und gottesfürchtiger Mensch auf dieser Seite vom Zillerbach und ein solcher auf der anderen Seite, die beten beide zu demselben Vater im Himmel. Das Gebet des einen ist diesem ebenso lieb wie das des anderen.‹ Den Herrn Oberamtmann drüben kenne ich schon seit vielen Jahren. Und ich kann Euch auch sagen, daß ich schon viele hundert Male in langen Gesprächen mit ihm und seiner Frau zusammengesessen bin. Wir haben uns so gut verstanden, daß es uns immer ganz wohl geworden ist dabei, so daß es mich oft hinüberzieht, wenn ich lang nicht dort gewesen bin. Jetzt habe ich auch vor, bald wieder hinüberzugehen und zu sehen, wie es mit dem Sepp steht. Vielleicht kann ich ein gutes Wort für ihn bei dem Herrn Oberamtmann einlegen.«

Über dieses Vorhaben waren die beiden Alten sehr froh und dankbar, aber die Großmutter sagte wieder klagend: »Wenn ich es nur nicht verschuldet habe, daß es jetzt so bös mit uns kommen muß, weil ich so viel gejammert und geklagt habe über die geringen Dinge. Ich will es aber gewiß nicht mehr tun und geduldig sein, Pater Klemens. Was meint Ihr, wird auch unser Vater im Himmel meine Buße annehmen und mich nicht so hart strafen?«

Der Pater tröstete die Großmutter noch und ermahnte sie, bei ihrem guten Vorsatz zu bleiben. Dann stand er auf und versprach ihr, wiederzukommen, sobald er auf dem Rechberg gewesen sei und von Sepp berichten könne.

Der Großvater begleitete den Pater bis vors Haus, da fragte er: »Und wie ist's mit dem kleinen Schaf? Lebt's noch oder ist's umgekommen?«

»Nichts, nichts von Umkommen«, antwortete fröhlich Pater Klemens, »rund und voll wird's und schon macht's wieder lustige Spränge. Und ein so zutrauliches Tierlein ist's, daß es mir leid tun wird, es herzugeben, wenn einmal der Hirt vorbeikommt. Ich habe ihn benachrichtigt, daß das Schäflein bei mir sei. So wird er's wohl dort lassen, bis er in die Gegend kommt. Und nun behüt' Euch Gott!«

Der Pater schüttelte dem Großvater die Hand und ging eilend davon, denn er hatte noch andere Kranke zu trösten, die sehnsüchtig auf ihn warteten: War doch in ganz Altkirch und noch weit darüber hinaus der gute Pater Klemens der Tröster aller Armen und Kranken.


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