Johanna Spyri
Rosenresli
Johanna Spyri

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3. Kapitel.
Rosenreslis Kummer

Einige Tage später schien es, als habe sich eine seltsame Veränderung zugetragen. Es sah so aus, als hätten die Sorgenmutter und das Rosenresli ihr Wesen miteinander vertauscht. Die Frau saß mit stillem, fröhlichem Gesicht an ihrem Spinnrad. Da trat Resli bei ihr ein und sah so betrübt aus, als habe es etwas erlebt, das ihm für alle Zeit jede Fröhlichkeit genommen hätte.

»Was hast du, Resli, was hast du?« fragte die Sorgenmutter erschrocken.

»Ich habe ein Loch im Rock«, sagte sie traurig, »und in der Schule haben die Kinder mich ausgelacht. Sie sind hinter mir hergelaufen und haben alle laut gesungen:

›Rosenresli, Rosenstock,
Rosenresli, Loch im Rock.‹«

Und bei der Erinnerung an die Schande, die es erdulden mußte, liefen dem Resli große Tränen die Wangen herunter.

»Es ist nicht schön, wenn die Kinder dich auslachen. Vielleicht war's aber nicht so böse gemeint. Komm her, Resli, zeig mir den Schaden! Wir wollen ihn wieder in Ordnung bringen«, tröstete die Sorgenmutter.

Resli trat zu ihr, und sie brauchte nicht lange nach dem Loch zu suchen, denn es war sehr groß. Das Kind mußte sich auf einen Schemel setzen, die gute Alte holte Faden und Nadel und fing sofort mit der Arbeit an.

Aber Resli konnte seinen Kummer immer noch nicht vergessen und schluchzte laut.

»Sei nicht traurig, Resli«, sagte die Sorgenmutter freundlich. »Solches Leid soll dir nie mehr widerfahren. Ich will jeden Abend dein Röcklein genau ansehen und jedes kleine Loch gleich zunähen. Und wenn du mal hängen bleibst und es reißt, so komm nur schnell zu mir, dann mache ich's gleich wieder zu. Kannst du jetzt wieder fröhlich sein?«

»Ja, so kann ich schon«, sagte Resli erleichtert und wischte seine Tränen fort, »aber ich habe gedacht, jeden Morgen könnte ich wieder ein Loch haben, und dann laufen sie mir alle Tage nach und singen hinter mir her:

›Rosenresli, Rosenstock‹

Und dann habe ich gedacht, ich wollte nie mehr in die Schule gehen.«

»Doch, doch, Resli, das mußt du, das ist ein Gesetz und ein gutes, sonst würdest du ja nichts lernen. Und siehst du, keiner darf gleich davonlaufen, wenn ihn ein Leid trifft. Wir müssen auch stillhalten und es tragen, weil der liebe Gott uns dadurch immer etwas lehren will, was wir sonst nicht lernen würden. Denn wenn wir traurig sind, dann suchen wir Rat und Trost bei ihm und lernen ihn kennen. Dann kommt eine Zuversicht in unser Herz, weil wir merken, wir haben einen Vater im Himmel, der uns beisteht und hört, wenn wir rufen. Betest du auch zu ihm, Resli?«

Das Kind dachte nach, dann sagte es: »Ja, in der Schule.«

»Was betest du in der Schule?«

Resli fing an, ohne Atem zu holen, so als hätte es Angst, den Text zu vergessen, sagte es schnell hintereinander:

»Lieblich ist die Morgenstunde,
Wenn man sie mit Gott beginnt.
Freud im Herzen, Dank im Munde
Gehört sich für ein Menschenkind.«

Nun wußte das Resli nicht mehr weiter.

»Es ist ein schönes Verslein, du hast es nur ein wenig geschwind gesagt, Resli. Hast du auch bedacht, was es dir sagen will?«

»Nein, das habe ich nicht«, erwiderte Resli.

»Siehst du, das heißt, daß du am Morgen, wenn du erwachst, zuerst an den lieben Gott denken und dich freuen und ihm danken sollst. Denn er hat dich die ganze Nacht durch behütet. So betet man am Morgen. Aber weißt du auch ein Gebet für den Abend?«

»Nein, ich weiß keines.«

»Dann kannst du nur aus deinem Herzen zum lieben Gott beten und ihn um Verzeihung bitten, wenn du am Tag etwas Unrechtes getan hast. Du mußt beten, daß er dir helfe, daß du's nicht wieder tust. Siehst du, Resli, wenn man so zum lieben Gott hat beten können, wird man wieder ganz froh. Und wenn ich das nicht immer täte, so wäre ich schon lange vor Kummer gestorben.«

»Warum?« fragte Resli verwundert.

»Ja, siehst du, ich habe Grund genug. Ich bin ja sehr arm und habe kaum genug zum Leben. Auch habe ich ein Kind draußen in der Welt, einen Sohn, und weiß nichts von ihm. Vielleicht stirbt er im Elend, oder er ist schon umgekommen. Und wenn ich ihn nicht, wie in der ersten Stunde seines Lebens, jetzt jeden Abend dem lieben Gott anvertrauen und ihm sagen könnte: ›Er ist doch dein, hilf du ihm‹, so könnte ich vor Angst und Sorge nie einschlafen. Aber wenn ich so gebetet habe, dann kommt wieder Trost und Zuversicht in mein Herz.«

»So will ich auch für ihn beten«, sagte Resli.

»Das freut mich, Kind, das freut mich. Und wenn du für den Joseph betest, so wird es auch dir zugute kommen, das weiß ich. Und du kannst es brauchen, wenn du beten kannst.«

»Warum?« fragte Resli wieder.

»Sieh, Kind«, begann die Sorgenmutter liebevoll, aber ein wenig ängstlich an, »dein Onkel hat schlecht gewirtschaftet. Man sagt, Haus und Acker werden ihm bald genommen. Dann mußt du zu fremden Leuten, und da gibt's viel Arbeit und wenig gute Worte. Das kennst du noch nicht, und da ist's gut, wenn du den Weg zum lieben Gott weißt, daß du ihm alles klagen und Trost holen kannst.«

»Ich will dann zu Ihnen kommen und bei Ihnen wohnen«, sagte Resli, eher erfreut als verängstigt.

»Ach, du gutes Kind, ich könnte dich ja gar nicht ernähren, es wird alles ganz anders kommen. Aber wir wollen dich dem lieben Gott anvertrauen, der wird dich versorgen. So, nun ist alles geflickt, Resli«, sagte die Sorgenmutter, die während des Gesprächs das Röcklein des Kindes untersucht und ausgebessert hatte. »Wenn's nun wieder reißt, so komm zu mir, dann helfe ich wieder.«

Resli bedankte sich schön und sprang mit erleichtertem Herzen davon. Nun konnte es in der Schule nie wieder ausgelacht werden. Diese Sicherheit beglückte Resli so sehr, daß es darüber ganz die Worte der Sorgenmutter vergaß, daß es vielleicht bald zu fremden Leuten gehen und viel Arbeit verrichten müsse.

Sein Versprechen vergaß Resli nicht, denn als es sich zum Schlaf niederlegte, betete es ganz laut und von Herzen. »Lieber Gott, hilf auch dem Joseph!«

Es folgte ein langer harter Winter. Die Sorgenmutter mußte zwar oft frieren, aber nie hungern wie in den Jahren vorher, und so blieb sie gesund. Rosenresli war ihre Stütze und ihr Ernährer. Es hatte im Spätherbst gesehen, daß die Sorgenmutter mit der größten Anstrengung ein Bündelchen Holz heimgeschleppt hatte. Seitdem war es jeden Tag in den Wald gelaufen und hatte so viel Holz gesucht, daß die Sorgenmutter alle Tage in ihrem Stübchen Feuer machen und in dem kleinen Ofen ihre Brotsuppe kochen konnte.

Jeden Abend nach der Schule, trotz Kälte, Sturm und Schneegestöber, erschien Rosenresli bei der Kreuzwegbäuerin. Manchmal war sie ganz blau vor Kälte und zitterte an allen Gliedern. Denn es hatte zwar ein anderes Röcklein für den Winter bekommen, aber kein warmes. Außerdem hatte es nur ein dünnes Tuch um Hals und Schulter gebunden. Wenn dann die Bäuerin das Kind vor Kälte so zittern und klappern sah, dachte sie, es müsse Hunger leiden, da es wegen des Stückchen Brots durch Sturm und Unwetter gelaufen komme. Das erweckte ihr Mitleid, und sie schnitt tief ins Brot hinein, so daß das Stück größer wurde, als je eines im Sommer gewesen war. Aber das Kind trug alles zur Sorgenmutter und schlug deren Bitte, die Hälfte selbst zu essen, beharrlich aus. Wenn Resli auch oft hungrig zu Bett ging, so freute es sich, daß die Sorgenmutter keine Not litt und betete: »Lieber Gott, hilf auch dem Joseph!« Dann schlief sie fröhlich ein.

Sein Röcklein wurde auch den ganzen Winter hindurch von der Sorgenmutter genäht, und kein Schulkind lachte und spottete mehr über das Rosenresli.


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