Johanna Spyri
Moni der Geißbub
Johanna Spyri

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4. Kapitel.
Moni kann nicht mehr singen

Moni kam am folgenden Morgen genauso still und niedergeschlagen wie am Abend vorher den Weg zum Badehaus daher. Leise holte er die Geißen des Wirts heraus und stieg weiter hinauf, aber er sang keinen Ton, er schickte keinen Jodel in die Luft hinauf. Er ließ seinen Kopf hängen und machte ein Gesicht, als fürchtete er sich vor etwas. Hier und da blickte er auch scheu um sich, ob ihm nicht jemand nachkomme und ihn etwas fragen wolle.

Moni konnte gar nicht mehr lustig sein. Er wußte erst selbst nicht so recht, warum? Er wollte sich freuen, daß er das Mäggerli gerettet hatte und einmal singen, aber er brachte nichts heraus. Der Himmel war heute mit Wolken bedeckt, und Moni dachte, wenn die Sonne komme, würde er schon wieder lustiger werden.

Als er oben angekommen war, fing es ganz tüchtig zu regnen an. Er flüchtete unter den Regenfelsen, denn es goß bald in Strömen vom Himmel herunter.

Die Geißen kamen auch heran und stellten sich da und dort unter die Felsen. Die vornehme Schwarze hatte gleich ihren schönen glänzenden Pelz schonen wollen und war noch vor dem Moni unter den Felsen gekrochen. Sie saß jetzt hinter dem Moni und schaute aus dem behaglichen Winkel vergnügt in den strömenden Regen hinaus. Das Mäggerli stand vor seinem Beschützer unter dem vorragenden Felsen und rieb zärtlich sein Köpfchen an seinem Knie. Und dann schaute es erstaunt zu ihm auf, denn Moni sagte kein Wort, das war das Zicklein nicht gewohnt. Auch seine Braune scharrte zu seinen Füßen und meckerte, denn er hatte den ganzen Morgen noch nichts zu ihr gesagt. Moni saß nachdenklich da. Er hatte sich auf seinen Stecken gestützt, den er bei solchem Wetter immer zur Hand nahm, damit er an den steilen Stellen nicht ausrutschen konnte. Denn an Regentagen zog er Schuhe an. Jetzt, da Moni stundenlang unter dem Regenfelsen saß, hatte er Zeit zum Nachdenken.

Jetzt überdachte Moni, was er dem Jörgli versprochen hatte. Und es kam ihm nun nicht anders vor, als ob der Jörgli etwas genommen habe und er selbst dasselbe tue. Schließlich hatte ihm der Jörgli doch auch etwas für sein Schweigen gegeben. Er hatte etwas getan, was unrecht war, und der liebe Gott war jetzt gegen ihn, das fühlte er in seinem Herzen. Es war ihm recht, daß es dunkel war und regnete und er unter dem Felsen verborgen war. Denn er hätte doch nicht wie sonst in den blauen Himmel hinaufsehen dürfen, er fürchtete sich jetzt vor dem lieben Gott. Aber auch noch andere Dinge mußte Moni denken. Wenn nun wieder das Mäggerli über einen steilen Felsen hinunterfiele, und er wollte es holen, und der liebe Gott würde ihn nicht mehr beschützen, wenn er auch nicht mehr zu ihm beten und rufen dürfte, dann hätte er keine Sicherheit mehr. Und wenn er dann ausrutschte und mit dem Mäggerli tief über die zackigen Felsen hinunterfiele und beide ganz zerrissen und zerschmettert unten im Abgrund lägen...

O nein, sprach er ängstlich zu sich, so durfte es doch nicht kommen. Er mußte dafür sorgen, daß er wieder beten und vor den lieben Gott kommen konnte mit allem, was ihm auf dem Herzen lag. Dann konnte er auch wieder fröhlich sein, das fühlte Moni. Er wollte sich von der Last befreien, die ihn bedrückte, er wollte gehen und alles dem Wirt sagen – aber dann? Dann wurde Jörgli seinen Vater nicht überreden, und der Wirt würde das Mäggerli totstechen. O nein! Das konnte er nicht aushalten, und er sagte: »Nein, ich tue es nicht, ich sage nichts.« Aber es war ihm nicht wohl dabei und sein schlechtes Gewissen wurde immer größer.

So verging dem Moni der ganze Tag. Er kehrte abends so lautlos heim, wie er morgens gekommen war. Und als unten beim Badehaus Paula stand und schnell zum Geißenstall herübersprang und teilnehmend fragte: »Moni, was fehlt dir? Warum singst du denn gar nicht mehr?« – da wandte er sich scheu ab und sagte: »Ich kann nicht.« Und so schnell wie möglich machte er sich mit seinen Geißen davon.

Paula sagte oben zu ihrer Tante: »Wenn ich doch nur wußte, was der Geißbub hat, er ist ja ganz verändert, man kennt ihn gar nicht mehr. Wenn er doch nur wieder sänge.«

»Es wird der schreckliche Regen sein, der den Buben so verstimmt«, meinte die Tante.

»Nun kommt auch alles zusammen. Wir wollen doch heimgehen, Tante«, bat Paula, »das Vergnügen hier ist aus. Erst verliere ich mein schönes Kreuz, und es ist nicht mehr zu finden. Dann kommt dieser endlose Regen, und nun kann man nicht einmal mehr den lustigen Geißbuben zuhören. Wir wollen fort.«

»Die Kur muß zu Ende gemacht werden, da kann ich dir nicht helfen«, erklärte die Tante.

Dunkel und grau war es auch am folgenden Morgen, und der Regen strömte unausgesetzt nieder. Moni brachte seinen Tag ebenso zu wie den vorhergegangenen. Er saß unter dem Felsen, und seine Gedanken gingen ruhelos immer im Kreise herum. Immer wenn er zu sich sagte: »Jetzt will ich gehen und das Unrecht gestehen, damit ich wieder zum lieben Gott aufsehen darf«, da sah er wieder das Zicklein unter dem Messer vor sich. Er dachte nach, und sein schlechtes Gewissen plagte ihn so sehr, daß er am Abend ganz müde war und im strömenden Regen heimschlich, als merkte er nichts davon.

Beim Badehaus stand der Wirt in der Hintertür und fuhr den Moni an: »Komm einmal mit den Geißen her, sie sind naß genug! Was kriechst du auch wie eine Schnecke den Berg hinunter! Ich wundere mich schon die ganze Zeit über dich.«

So unfreundlich war der Wirt noch nie gewesen, im Gegenteil, immer hatte er dem fröhlichen Geißbuben die freundlichsten Worte zugerufen. Aber Monis verändertes Wesen gefiel ihm nicht, und dazu war er noch schlechter Laune, denn Fräulein Paula hatte ihm ihren Verlust geklagt. Sie hatte behauptet, das kostbare Kreuz könne nur im Haus oder unmittelbar vor der Haustür verloren gegangen sein. Denn sie sei an jenem Tag nur herausgegangen, um abends den heimkehrenden Geißbuben singen zu hören. Daß man aber sagen sollte, es könne in seinem Haus ein so wertvolles Ding verloren gehen, ohne daß man es wieder erhalte, machte ihn sehr böse. Er hatte auch am Tag vorher das ganze Dienstpersonal versammelt, es verhört und bedroht und endlich dem Finder eine Belohnung ausgesetzt. Das ganze Haus war in Aufruhr über den verlorenen Schmuck.

Als Moni mit seinen Geißen an der Vorderseite des Hauses vorbeiging, stand Paula dort. Sie hatte auf ihn gewartet, es wunderte sie so sehr, ob er immer noch nicht wieder singen könne und lustig sei. Als er nun vorbeischlich, rief sie: »Moni! Moni! Bist du denn auch derselbe Geißbub, der vom Morgen bis zum Abend sang:

›Und so blau ist der Himmel,
Und ich freu mich fast zu Tod‹

Moni hörte die Worte, er gab keine Antwort, aber sie machten einen großen Eindruck auf ihn.

Oh, wie war's doch so anders, als er den ganzen Tag singen konnte und er so fröhlich war wie seine Lieder. Oh, wenn es doch wieder so sein könnte!

Wieder zog Moni zu seiner Anhöhe hinauf, still und freudlos und ohne Gesang. Der Regen hatte nun aufgehört, aber düster hingen ringsum die Nebel an den Bergen, und der Himmel war noch voll dunkler Wolken. Moni setzte sich wieder unter den Felsen und kämpfte mit seinen Gedanken. Gegen Mittag fing der Himmel an, sich aufzuklären, es wurde heller und heller. Moni kam aus seiner Höhle hervor und schaute umher. Die Geißen sprangen wieder lustig hin und her, auch das Zicklein war ganz übermütig vor Freuden über die wiederkehrende Sonne und machte die fröhlichsten Sprünge.

Moni stand draußen auf der Kanzel und sah, wie es immer schöner und heller wurde unten im Tal und oben über dem Berge. Jetzt teilten sich die Wolken und der lichtblaue Himmel schaute so lieblich und freundlich herunter. Es war Moni, als schaue der liebe Gott aus dem lichten Blau zu ihm nieder. Und auf einmal war es in seinem Herzen ganz klar, was er tun mußte, er konnte das Unrecht nicht mehr mit sich herumfragen. Er mußte es ablegen. Jetzt ergriff Moni das Zicklein, das neben ihm umhersprang, nahm es in seinen Arm und sagte mit Zärtlichkeit: »O Mäggerli, du armes Mäggerli! Ich habe gewiß getan, was ich konnte, aber es ist ein Unrecht, und das darf man nicht tun. Oh, wenn du nur nicht sterben müßtest, ich kann es nicht aushalten!« Und nun fing Moni so sehr zu weinen an, daß er nicht mehr weiter reden konnte. Und das Zicklein meckerte wehmütig und kroch tief unter seinen Arm, als wollte es sich ganz bei ihm verstecken und in Sicherheit bringen. Jetzt hob Moni das Geißlein auf seine Schultern.

»Komm, Mäggerli, ich trage dich noch einmal heim heute, vielleicht kann ich dich bald nicht mehr tragen.«

Als er mit seinen Geißen unten beim Badehaus war, wartete Paula schon auf ihn. Moni stellte das Junge mit der Schwarzen in den Stall hinein, und anstatt weiter zu ziehen, wollte er an dem Fräulein vorbei ins Haus gehen. Sie hielt ihn an.

»Immer noch ohne Gesang, Moni?«

»Ich muß etwas anzeigen«, erwiderte Moni.

»Anzeigen? Was denn? Darf ich's nicht wissen?«

»Ich muß zum Wirt, es ist etwas gefunden worden.«

»Gefunden? Was denn? Ich habe auch etwas verloren, ein schönes Kreuz.«

»Ja, das ist es gerade.«

»Was sagst du?« rief Paula in höchster Überraschung. »Ist es ein Kreuz mit funkelnden Steinen?«

»Ja.«

»Wo hast du's denn, Moni? Gib's doch her, hast du's gefunden?«

»Nein, der Jörgli von Küblis.«

Nun wollte Paula wissen, wer das sei, und wo er wohne, und auf der Stelle jemand nach Küblis hinunterschicken, das Kreuz zu holen.

»Ich will schon gehen, und wenn er's noch hat, will ich's bringen« sagte Moni.

»Wenn er's noch hat?« rief Paula, »warum sollte er's nicht mehr haben? Und woher weißt du denn von allem, Moni? Wann hat er's gefunden, und wie hast du's denn erfahren?«

Moni schaute zu Boden. Er durfte nicht sagen, wie alles zugegangen war, und wie er geholfen hatte, den Fund zu verheimlichen, bis er es nicht mehr hatte ertragen können.

Aber Paula war sehr gut zu Moni. Sie nahm ihn auf die Seite, setzte sich auf einen Baumstamm zu ihm hin und sagte mit der größten Freundlichkeit: »Komm, erzähl mir alles, wie es gegangen ist, Moni, ich möchte so gern alles von dir wissen.«

Nun faßte der Moni Zutrauen und fing an und erzählte die ganze Sache. Er berichtete auch, daß er sich um das Leben von Mäggerli Sorgen gemacht habe und wie er so alle Freude verloren hatte und nicht mehr zum lieben Gott aufschauen durfte. Heute, sagte er, konnte er es nicht mehr länger ertragen.

Jetzt redete Paula sehr freundlich mit ihm und meinte, er hätte nur gleich kommen und alles anzeigen sollen. Und es sei recht, daß er ihr jetzt alles so aufrichtig gesagt habe, er solle es nicht bereuen. Dann sagte sie, dem Jörgli könne er zehn Franken versprechen, wenn sie das Kreuz wieder in Händen habe.

»Zehn Franken?« wiederholte Moni voller Erstaunen. Denn er wußte ja, daß Jörgli es hatte verkaufen wollen. Jetzt stand Moni auf und sagte, er wollte noch heute nach Küblis hinunter, und wenn er das Kreuz bekäme, es gleich morgen früh mitbringen. Nun lief er davon und konnte wieder ganz große Sprünge machen, er hatte wieder ein viel leichteres Herz, das schlechte Gewissen belastete ihn nicht mehr.

Daheim stellte er nur seine Geiß in den Stall, sagte der Großmutter, er habe noch einen Auftrag auszurichten und rannte gleich nach Küblis hinunter. Er fand den Jörgli daheim und sagte ihm, was er getan hatte. Der war erst sehr aufgebracht, aber als er nun erfuhr, daß alles bekannt sei, zog er das Kreuz heraus und fragte: »Gibt sie mir auch etwas dafür?«

»Ja, jetzt kannst du sehen, Jörgli«, sagte Moni entrüstet, »auf dem ehrlichen Weg hättest du gleich zehn Franken bekommen und auf deinem Lügenweg doch nur vier.«

Jörgli war sehr überrascht. Jetzt reute es ihn, daß er nicht gleich mit dem Kreuz ins Badehaus gegangen war, nachdem er es vor der Tür aufgelesen hatte. Denn er hatte doch nun kein gutes Gewissen und hätte es anders haben können. Aber jetzt war's zu spät. Er übergab das Kreuz dem Moni, und dieser eilte damit heim, es war draußen schon dunkel geworden.


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