Johanna Spyri
Der Toni vom Kandergrund
Johanna Spyri

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4. Kapitel.
In der Heilanstalt

Der Arzt der Anstalt saß mit seiner Familie bei einem fröhlichen Gespräch abends um den Familientisch. Selbst die Dame aus Genf, die täglich einige Stunden mit der Familie verbrachte, schien heute von der Munterkeit der Kinder ein wenig angesteckt. So lebendig hatte sie sich noch nie an der Unterhaltung beteiligt, die über verschiedene Interessen der Schuljugend geführt wurde.

Der Dame war ein geliebter, sehr begabter Knabe vor nicht langer Zeit gestorben. Der Tod ihres Kindes hatte sie so mitgenommen, daß ihre Gesundheit schwer gelitten hatte und sie daher in die Anstalt gebracht worden war, um dort Genesung zu finden.

Die belebte Unterhaltung wurde plötzlich dadurch unterbrochen, daß dem Arzt ein Brief übergeben wurde.

»Ein Brief von einem Bekannten, der mir einen Kranken in die Anstalt schickt. Es ist ein Junge, kaum so alt wie unser Max – da lies.« Damit überreichte der Doktor den Brief seiner Frau.

»Ach, der arme Junge!« rief die Frau, »ist er denn da? Hol ihn doch her. Vielleicht tut es ihm gut, Kinder zu sehen.«

»Ich glaube, er ist ganz in der Nähe«, sagte der Doktor, ging hinaus, und bald kam er mit dem Küster und Toni wieder herein. Er zog den ersteren mit sich zu einer Fensternische und fing hier halblaut mit ihm zu sprechen an. Inzwischen näherte sich die Hausfrau dem Toni, der sich beim Hereintreten in die nächste Ecke gedrückt hatte. Sie sprach freundlich mit ihm und forderte ihn auf, an den Tisch zu kommen und mit ihren Kindern etwas zu essen. Toni rührte sich nicht. Jetzt sprang die kleine kecke Marie vom Sessel und kam mit einem großen Butterbrot zu Toni. »Da, beiß einmal hinein«, sagte sie ermunternd.

Toni blieb unbeweglich.

»Sieh, so mußt du's machen«, und die Kleine biß ein großes Stück von dem Brot ab. Sie hielt es ihm dann wieder hin, immer näher, er hätte jetzt nur hineinzubeißen brauchen. Aber er starrte vor sich hin und machte keine Bewegung. Dieser tonlose Widerstand wurde Marie unheimlich, sie zog sich leise zurück.

Jetzt kam der Doktor näher, nahm den Toni bei der Hand und ging, vom Küster gefolgt, hinaus.

Der arme Toni hatte auf die Kinder einen großen Eindruck gemacht, sie waren ganz still geworden. Später, als sie zu Bett gegangen waren und die beiden Frauen noch allein zusammensaßen, kam der Doktor wieder zurück. Er erzählte nun auf die drängenden Fragen der beiden alles, was ihm der Küster über den Verlauf der Krankheit und auch über das Leben des Toni mit seiner Mutter mitgeteilt hatte. Er sagte auch, daß man vorher nie etwas Krankhaftes an dem Jungen bemerkt habe. Er sei nur immer ein stilles und zahmes Kind und auch zarter gebaut gewesen als alle anderen.

Die Frauen fragten, wie er denn im Sommer auf der schönen Alm diese Krankheit bekommen hätte? Und der Doktor erklärte, das sei so unbegreiflich nicht, wenn man wisse, wie schrecklich die Gewitter oben in den Bergen seien. Noch dazu wäre er ein zartes Kind, das ganz allein, ohne Menschen in der Nähe, ganze Wochen, ja monatelang kaum einen Menschen gesehen hätte. »Da«, so schloß er, »kann vor Furcht und Grauen in der unheimlichen Einsamkeit ein Kind wohl so erschrecken, daß es gänzlich erstarrt.«

Jetzt geriet die Genfer Dame, die einen ganz ungewöhnlichen Anteil an dem Geschick des armen Toni nahm, in große Aufregung. »Wie kann eine Mutter zulassen, daß so etwas mit ihrem Kind geschieht. Es ist ja völlig unbegreiflich, ganz unfaßlich!«

»Sie können ja nicht ahnen«, erwiderte besänftigend der Arzt, »was arme Mütter oft mit ihren Kindern geschehen lassen müssen. Glauben Sie nur nicht, daß es ihnen weniger weh tut als anderen. Sie sehen daraus, wie vieles ertragen wird, wovon wir nichts wissen, und wie schwer die Armut drücken kann.«

»Wird man auch dem armen Jungen wieder helfen können?« fragte die Frau des Arztes.

»Wenn ich nur eine rechte Gemütsbewegung bei ihm hervorbringen könnte«, entgegnete er, »daß der Bann sich lösen würde, der ihn gefangen hält. Jetzt ist alles in ihm völlig starr und leblos.«

»Ach, helfen Sie ihm! Helfen Sie ihm!« bat die kranke Dame eindringlich. »Wenn ich nur etwas für ihn tun könnte!« Und in großer Aufregung ging sie hin und her und wollte helfen, denn Tonis Geschick ging ihr sehr zu Herzen.

Es war in der zweiten Woche des August gewesen, als Toni in die Anstalt gekommen war. Tag um Tag, Woche um Woche vergingen, der Doktor konnte den beiden Frauen, die jeden Morgen seinem Bericht mit großem Verlangen entgegensahen, immer nur dieselbe traurige Kunde bringen. Nicht die leiseste Änderung war zu merken. Alle Mittel wurden versucht, den Knaben zu erfreuen, ob er vielleicht lachen würde. Alle Mittel, ihn zu rühren, damit er weinen möchte schlugen fehl. Man machte ihm allerlei Künste vor, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Alles, alles war umsonst, keine Spur von Teilnahme oder Bewegung war bei dem Toni hervorzubringen. »Wenn er nur einmal zum Lachen oder zum Weinen zu bringen wäre«, wiederholte der Doktor immer wieder. Aber bald war er vier Wochen in der Anstalt, alle Hoffnung schwand, der Arzt hatte alle Mittel erschöpft.

»Jetzt will ich noch eines versuchen«, sagte er eines Morgens zu seiner Frau. »Ich habe an meinen Freund, den Pfarrer geschrieben und ihn gefragt, ob der Junge sehr an seiner Mutter gehangen habe. Wenn ja, so solle er sie in den nächsten Tagen herschicken. Vielleicht macht das Wiedersehen einen Eindruck auf ihn.«

Mit größter Spannung sahen die Frauen nun der Ankunft der Elsbeth entgegen.

In der ersten Septemberwoche hatten die letzten Gäste das Gasthaus in Interlaken verlassen, in dem Elsbeth den Sommer verbracht hatte. Sie machte sich gleich auf den Weg nach Hause, denn sie wollte alles in Ordnung bringen, bevor Toni von der Alm herabkäme. Sie dachte, daß er noch oben sei, und hatte keine Ahnung von allem, was vorgefallen war.

Als sie daheim ankam, ging sie gleich zu dem Mattenhof, um nach dem Toni zu fragen und ihre Geiß zu holen. Der Bauer war sehr freundlich, meinte, ihre Geiß sei jetzt weit und breit eine von den schönsten, weil sie so lang gut gefuttert hätte. Als die Elsbeth aber nun nach ihrem Toni fragte, brach er das Gespräch schnell ab und sagte, er habe noch so viel zu tun. Sie möge nur zum Herrn Pfarrer gehen, er wisse am besten Bescheid über den Buben. Es kam der Elsbeth gleich ein wenig sonderbar vor, daß der Herr Pfarrer am besten wissen sollte, was auf der Alm vorgehe. Und während sie die Geiß heimführte und darüber nachdachte, stieg ein ängstliches Gefühl in ihr auf und wurde immer stärker. Daheim band sie schnell die Geiß an, ging gar nicht ins Hüttchen hinein, sondern lief auf demselben Weg, den sie eben gekommen war, wieder bis nach Kandergrund hinunter.

Der Herr Pfarrer sagte ihr mit großer Schonung, der Toni habe das Leben auf der Alm nicht gut vertragen, man habe ihn herunterbringen müssen. Und da es am besten für ihn gewesen sei, daß er schnell zu einem guten Arzt in die rechte Pflege komme, so habe er den Buben gleich nach Bern geschickt.

Die Mutter war sehr erschrocken und wollte am nächsten Tag sofort hinunterreisen, um selbst zu sehen, ob ihr Kind sehr krank sei.

Der Herr Pfarrer aber meinte, das gehe nicht, sie müsse warten, bis der Arzt einen Besuch erlaube, sie könne jedoch sicher sein, daß ihr Toni die beste Pflege genieße.

Mit schwerem Herzen ging Elsbeth in ihr Hüttchen zurück. Sie konnte nichts tun, nur alles dem lieben Gott anvertrauen, er allein war ja ihr Trost seit so vielen Jahren. Es dauerte aber nur wenige Tage, so schickte der Herr Pfarrer ihr den Bescheid, sie solle gleich nach Bern reisen, der Doktor wünsche, daß sie komme.

Früh am folgenden Tag machte sich Elsbeth auf den Weg. Um die Mittagstunde hatte sie Bern erreicht, und bald stand sie vor der Pforte der Anstalt.

Sie wurde zu dem Wohnzimmer des Arztes geführt und hier mit großer Freundlichkeit von seiner Frau und mit einer noch lebhafteren Teilnahme von der Genfer Dame empfangen. Diese hatte sich so in die Geschichte des armen Toni und seiner Mutter hineingelebt, daß sie nur noch daran dachte, wie den beiden zu helfen sei. Sie hatte ja auch nur ein Kind gehabt und konnte sich den Kummer der Mutter gut vorstellen.

Sie hatte auch den Arzt gebeten, dabei sein zu dürfen, wenn er den Buben zu der Mutter führen wurde. Sie wollte sich auch daran erfreuen, wenn beim Wiedersehen die Freude bei dem armen Kind durchbrechen würde. So hoffte sie jedenfalls. Bald erschien auch der Doktor, und nachdem er die Mutter darauf vorbereitet hatte, daß Toni im ersten Augenblick noch nicht sprechen werde, holte er ihn. Er führte ihn an der Hand ins Zimmer, ließ ihn dann los und trat selbst zur Seite.

Die Mutter lief auf ihren Toni zu und wollte seine Hand fassen. Er zog sie zurück, kauerte sich in die Ecke und starrte ins Leere.

Die Frauen und der Arzt wechselten traurige Blicke.

Die Mutter ging ihm nach und streichelte ihn. »Toneli, Toneli«, sagte sie immer wieder mit zärtlicher Stimme, »kennst du mich denn nicht? Kennst du deine Mutter nicht mehr?«

Wie immer wich Toni in eine Ecke zurück, machte keine Bewegung und schaute starr vor sich hin.

Die zärtlichen Töne der Mutter gingen in jammernde Ausrufe über: »Ach, Toneli, sag nur ein einziges Wort! Sieh mich nur einmal an! Toneli, hörst du mich gar nicht?«

Toni blieb unbeweglich.

Noch einmal schaute die Mutter voller Zärtlichkeit auf ihn, sie sah seine völlig starren Augen. Es war zuviel für die arme Elsbeth. Das einzige Gut, das sie auf Erden besaß und an dem sie mit ganzer Seele hing, ihr Toni sollte ihr auf so traurige Weise genommen worden sein! Sie vergaß alles um sich her. Sie fiel neben ihrem Kind auf die Knie nieder, und während ihr die Tränen aus den Augen stürzten, betete sie laut aus dem Jammer ihres Herzens heraus:

»Ach lieber Gott, ach Vaterherz,
Mein Trost von so viel Jahren,
Wie läßt du mich so manchen Schmerz
Und große Angst erfahren!

Ach Herr, wie lange willst du mein
So ganz und gar vergessen?
Wie lange soll ich traurig sein,
Mein Brot mit Tränen essen?«

Tonis Augen hatten einen anderen Ausdruck bekommen, er schaute seine Mutter an. Sie sah es nicht und fuhr unter Tränen zu flehen fort:

»Nach dir, o Herr, verlangt mich
Im Jammer dieser Erden.
Mein Gott ich harr und hoff auf dich,
Laß nicht zuschanden werden.«

Plötzlich warf sich Toni auf die Mutter und schluchzte laut auf. Sie umschlang ihn, und ihr Jammern ging in lautes, freudiges Schluchzen über. Auch das Kind schluchzte laut.

»Es ist gewonnen«, sagte der Doktor in heller Freude zu den Frauen, die tiefbewegt auf die Mutter und den Buben schauten,

Jetzt öffnete der Doktor das Nebenzimmer und winkte der Elsbeth, mit dem Toni dort hineinzugehen. Er hielt es für gut, daß die beiden nun eine Weile allein seien. Drinnen fing nach einiger Zeit, der Toni ganz natürlich mit seiner Mutter zu sprechen an und fragte: »Gehen wir heim, Mutter, ins Steinhüttchen? Muß ich nicht mehr auf die Alm?«

Und sie beruhigte ihn und sagte, sie nehme ihn jetzt gleich mit heim, und da blieben sie beieinander. Bald konnte der Toni sich wieder an alles erinnere. Nach einer Weile sagte er: »Aber ich muß etwas verdienen, Mutter.«

»Kümmere dich jetzt nicht darum«, beruhigte Elsbeth ihn, »der liebe Gott wird schon einen Weg zeigen, wenn es Zeit ist.«

Dann fing sie an, ihm von der Geiß zu erzählen, wie schön und fett sie geworden sei, und Toni wurde nach und nach ganz lebendig.

Nach einer Stunde holte der Doktor die beiden ins Wohnzimmer zu den Frauen zurück. Toni war völlig verändert, seine Augen hatten jetzt einen ernsthaften, aber ganz verständigen Ausdruck. Die Genfer Dame hatte eine unbeschreibliche Freude. Sie setzte sich gleich zu ihm hin, und er mußte ihr erzählen, wo er in die Schule gegangen und was er gern gelernt habe.

Der Doktor aber winkte Elsbeth zu sich heran.

»Hört, gute Frau«, fing er an, »das Gebet hat einen tiefen, erschütternden Eindruck auf das Herz des Buben gemacht. Kannte er das Lied schon?«

»Ach du mein Gott«, rief die Elsbeth aus, »viele hundert Male habe ich es ja an seinem Bettlein gebetet, als er noch ganz klein war, oft unter vielen Tränen. Und er hat dann mit mir geweint, wenn er schon nicht wußte warum.«

»Er weinte, weil Sie weinten, er litt, weil Sie litten«, sagte der Doktor. »Nun begreife ich's, daß er bei diesem Gebet erwachte. Mit solchen Eindrücken schon in der frühen Kindheit ist es kein Wunder, daß er ein stiller und in sich gekehrter Junge wurde. Das erklärt mir noch manches an dem Vorgang.«

Jetzt trat die Genfer Dame heran, sie mußte unbedingt mit der Frau reden. »Liebe, gute Frau, er soll und darf nicht wieder auf die Alm, er paßt nicht dorthin«, sagte sie in großem Eifer. »Wir müssen etwas anderes für ihn suchen. Hätte er keine Lust zu irgendeiner anderen Arbeit? Aber es müßte etwas Leichtes sein. Er ist nicht kräftig und bedarf der Sorge.«

»Ach ja, er hätte große Lust etwas zu erlernen«, sagte die Mutter. »Schon von klein auf hat er es gewünscht, aber ich darf es fast nicht sagen.«

»Doch, doch, gute Frau, sagt's nur frisch heraus«, ermunterte die Dame und erwartete etwas Unerhörtes.

»Er möchte so gern Holzschnitzer werden und hat auch viel Geschicklichkeit dazu, aber das Kost- und Lehrgeld zusammen beträgt über achtzig Franken.«

»Ist das alles?« rief die Dame im höchsten Erstaunen, »ist das alles? Komm, mein Junge«, und sie lief wieder zu Toni hin, »wirst du wirklich gern Holzschnitzer werden?«

Die Freude, die in Tonis Augen leuchtete, als er die Frage bejahte, zeigte der Dame, woran sie war. Sie hatte ein solches Verlangen, dem Toni etwas Gutes zutun, daß sie am liebsten gleich noch in derselben Stunde handeln wollte. »Möchtest du's gleich erlernen, jetzt gleich zu einem Meister kommen?« fragte sie ihn.

Toni bejahte freudig.

Nun kam aber ein neuer Gedanke. Sie wandte sich an den Doktor: »Sollte er sich vielleicht erst erholen müssen?«

Der Doktor erwiderte, er habe auch schon darüber nachgedacht. Die Frau habe ihm aber gesagt, daß sie einen sehr guten Meister oben in Frutigen wisse. »Nun, denke ich«, fuhr er fort, »das Schnitzen ist keine anstrengende Arbeit, und die Hauptsache für den Toni ist, daß er eine Zeitlang gute, kräftige Nahrung bekommt. In Frutigen ist ein sehr gutes Gasthaus, wenn er nur hier und da...«

»Das übernehme ich, Herr Doktor, das übernehme ich«, unterbrach ihn die Dame. »Ich gehe mit, morgen reisen wir. In Frutigen werde ich Kost und Wohnung und alles, was er braucht, für den Toni besorgen.« Die Dame schüttelte in ihrer Herzensfreude der Mutter und dem Buben wiederholt die Hände und ging hinaus, um ihr Mädchen über die Reisevorbereitungen zu unterrichten.

Als dann die Mutter mit dem Buben zu ihrem Zimmer gebracht worden war, sagte der Doktor in großer Freude zu seiner Frau: »Wir haben zwei Gesunde. Auch unsere Dame ist geheilt. Ihr Leben hat einen neuen Sinn bekommen, du wirst sehen, sie wird neu aufleben in der Fürsorge für diesen Jungen. Das war ein schöner Tag.«

Am folgenden Morgen wurde die Reise nach Frutigen angetreten. Und die kleine Gesellschaft war so froh und glücklich zusammen, daß sie oben angekommen war, ehe sie sich's versah. Beim Holzschnitzer ließ sich die Dame alles sagen, was man zu der Arbeit brauche. Und nachdem der Schnitzer allerlei Instrumente vorgezeigt hatte, meinte er ein schönes Buch mit guten Bildern, nach denen man arbeiten könne, sei auch nicht zu verachten.

Nachdem ihn die Dame gebeten hatte, den Toni alles zu lehren, was ihm für die Zukunft nützlich sei, ging man zu dem Gasthaus. Hier mietete die Dame ein gutes Zimmer mit bequemem Bett und machte selbst mit dem Wirt den Küchenzettel für jeden Tag der Woche. Der Wirt versprach unter vielen Bücklingen, alles genau zu befolgen, denn er merkte wohl, mit wem er es zu tun habe.

Nun mußten die Mutter und Toni mit der Dame im Gasthaus speisen, und während der Mahlzeit hatte sie ihnen noch viel mitzuteilen. Sie gehe, sagte sie, nun bald heim nach Genf, da seien große Geschäfte, wo nichts als Schnitzereien verkauft würden. Dort werde sie gleich vermitteln, daß Toni alle seine Arbeiten hinschicken könne. Er möge nur mit frischem Mut zu arbeiten anfangen. Auch bestand sie darauf, daß Toni nicht zwei, sondern drei Monate beim Schnitzer bleibe, damit er alles von Grund auf erlerne. Er könne ja von hier aus sonntags die Mutter besuchen, oder sie könne zu ihm kommen. Elsbeth und Toni waren so erfüllt von Dank, daß sie gar keine Worte dafür fanden. Aber die Dame verstand sie trotzdem und trug ein fröhliches Herz heim, wie sie es seit langer Zeit nicht mehr gehabt hatte.

Wie der Doktor vorausgesehen hatte, so kam es. Die Dame, die nicht mehr an ihre Heimat hatte denken können und wollen, wollte nun nach Genf zurückkehren. Sie hatte nun so viele Pläne dort auszuführen, daß sie den Tag der Rückkehr kaum erwarten konnte.

Mit großer Freude willigte der Arzt in die baldige Abreise ein.

Toni, kaum bei seinem neuen Lehrmeister angekommen, machte sich mit solchem Eifer und Geschick an die Arbeit, daß der Schnitzer schon in der vierten Woche zu seiner Frau sagte: »Wenn der so fortfährt, so lernt er's besser, als ich es selber kann.«

Drei Monate waren zu Ende, da nahte das Weihnachtsfest. Durch tiefen Schnee watete Toni eines Morgens seiner Heimat zu. Er sah rund und frisch aus, und sein Herz war so fröhlich, daß er laut vor sich hinsingen mußte.

Als er aber nach langem Marsch plötzlich sein Steinhüttchen erblickte, mit der tiefverschneiten Tanne dahinter, da schossen ihm die Tränen in die Augen vor Freude. Er kam wieder heim, heim für alle Zeit. Er lief auf das Häuschen zu, und schon hatte ihn die Mutter gesehen und lief heraus. Und wer nun von beiden die größte Freude hatte, das kann kein Mensch wissen. Aber die beiden waren so glücklich, als sie wieder nebeneinander in ihrem Häuschen saßen, daß sie sich gar kein größeres Glück auf Erden hätten denken können. Ihre größten Wünsche waren erfüllt worden. Toni war Holzschnitzer und konnte sein Gewerbe daheim bei der Mutter ausüben. Und mit welchem Segen hatte außerdem der liebe Gott sie noch überschüttet! Von Genf her waren der Elsbeth solche Wohltaten zugekommen, daß sie keinen sorgenschweren Tagen mehr entgegensehen mußte. Und mit jeder Sendung kamen neue Zusicherungen für die bereitwillige Aufnahme von Tonis Arbeiten.

Ein Weihnachtsfest aber, wie zwei Tage nachher im Steinhüttchen gefeiert wurde, hatten weder die Elsbeth noch ihr Toni je erlebt. Denn die Festkerzen, die die Mutter angezündet hatte, beleuchteten nicht nur eine Menge Sachen, die Toni zum Anziehen erhielt. Sie erhellten auch eine ganze Anzahl der schönsten Messer zum Schnitzen und ein Buch mit so schönen, großen Bildern, wie es Toni in seinem Leben noch nie gesehen hatte. Das Buch seines Meisters war dagegen ein wahres Spielzeug. Auch für Elsbeth war liebevoll gesorgt worden. Alles hatte die Dame in Genf veranlaßt, und der lichte Widerschein davon fiel erhellend in ihr eigenes Herz zurück.

Die schönsten Gemsen und Jäger aber und die prächtigen Adler auf den Felsen, die in den großen Schaufenstern in Genf stehen, hat der Toni geschnitzt. Und wenn ihm ein Stück ganz besonders gut gelungen war, so kam es nicht zu dem Genfer Kaufmann, sondern zu der Dame, für die Toni sein Leben lang ein dankbares Herz bewahrte.


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