Johanna Spyri
In sicherer Hut
Johanna Spyri

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2. Kapitel

Auf der Gemmi

Nicht weit von der Höhe des Gemmipasses führt der schmale Weg ins Gehölz hinein und kommt bald an die Stellen, wo der Wanderer nicht ohne Grauen über die steilen Felswände in den tiefen Abgrund hinunterschaut. Auf diesem Waldpfad kam an einem schönen Sommerabend ein kleiner Junge daher. Er hielt eine große rote Blume in der Hand, die er wohl drinnen im Gehölz gefunden hatte, und schaute sie von Zeit zu Zeit bewundernd an.

Nun trat er aus dem Wald heraus und schaute sich um. Er schien aber nichts Besonderes zu entdecken und setzte seinen Weg fort. Jetzt betrat er den schmalen Wiesenpfad, der zur Linken den grünen Abhang hinaufführt. Dort standen zwei Häuschen nicht weit voneinander entfernt, jedes mit einem kleinen Anbau nach hinten, der offenbar das Vieh beherbergte. Einer dieser Ställe war größer, auch das Häuschen selbst mit einer nagelneuen Haustür sah geräumiger und schöner aus. Es gehörte dem Fremdenführer Kaspar, der mit seiner Frau und seinen zwei Buben darin wohnte. Jedes Jahr konnte er etwas daran ausbessern, weil er den Sommer über als Fremdenführer einen guten Verdienst hatte.

In seinem Stall standen nicht nur zwei Geißen, wie bei allen Nachbarn, sondern seit zwei Jahren auch eine schöne Kuh, die ihm prächtige Milch und Butter lieferte. Das kleinere Häuschen drüben mit der alten, wurmstichigen Haustür und dem baufälligen Schindeldach gehörte dem Träger Martin. Er war ein großer Mann, der wegen seiner kräftigen Erscheinung nur »der feste Martin« genannt wurde. Er lebte mit seiner Frau und vier kleinen Kindern, und hinten im kleinen Stall standen seine zwei Geißen, deren Milch die ganze Familie ernähren mußte.

Den Sommer über, besonders wenn es schön war, hatte der feste Martin auch eine ordentliche Einnahme. Er trug dann den Fremden das Gepäck über die Gemmi, doch verdiente er lange nicht soviel wie der Nachbar Kaspar, der oft viele Tage mit den Herren Bergsteigern unterwegs war.

Vor der neuen Haustür standen die zwei Buben des Kaspar und hatten eine wichtige Sache zu besprechen. Sie besahen, befühlten und verglichen mit großem Ernst zwei Gegenstände, die sie in ihren Händen hielten. Und wenn sie endlich mit dem Vergleichen zu Ende zu sein schienen, fingen sie wieder von vorne an. Der kleine Junge, der eben vom Wald her auf das Häuschen zukam, stand jetzt still und schaute erstaunt auf den Vorgang vor der Haustür.

»Seppli, komm, sieh!« rief ihm nun einer der beiden Buben zu. Seppli kam näher. Starr und verwundert schauten seine Augen auf das, was ihm gezeigt wurde.

»Sieh, das hat der Vater uns vom Jahrmarkt in Bern mitgebracht«, rief der größere der Buben wieder dem Seppli zu, und jeder hielt sein Geschenk in die Höhe. Welch ein wunderbarer Anblick bot sich Sepplis Augen. Chäppi und Jörg hielten jeder eine große Peitsche in der Hand, hier zu Lande Geißel genannt. Der feste und doch biegsame Stock war mit roten Lederbändchen umwunden. Die lange weiße Schlinge war aus soliden Lederstreifen geflochten. An ihrem Ende hing ein fest gedrehtes, rundes Schnürchen von gelber Seide mit einer offenen Quaste. Dieses Ende, das einen wundervollen Knall hervorzaubern konnte, wurde der Zwick genannt. Seppli schaute sprachlos auf die Geißeln. Nie in seinem Leben hatte er etwas so Herrliches gesehen.

»Jetzt hör einmal«, sagte Chäppi, fing an, seine Geißel zu schwingen, und Jörg folgte seinem Beispiel. Nun knallte und donnerte es das Tal hinab und hinauf und hallte von allen Bergen wider, daß es dem Seppli vorkam, als gäbe es nichts Größeres und Herrlicheres auf der ganzen Welt.

»Wenn ich nur auch eine Geißel hätte mit einem gelben Zwick«, sagte er traurig, als die beiden das Knallen endlich eingestellt hatten.

»Ja, da kannst du warten«, erwiderte der Chäppi stolz, und mit einem letzten ungeheuren Knall lief er davon. Er wollte seine Geißel ja noch anderen Leuten zeigen. Jörg lief hinter ihm her. Der Seppli aber schaute den beiden nach und blieb unbeweglich stehen. Auf sein unbekümmertes Herz hatte sich eine schwere Last gelegt. Er hatte etwas gesehen, was er sich sehnlich wünschte wie sonst nichts auf der Welt. Und der Chäppi hatte vernichtend gesagt: »Ja, du kannst warten.«

Es war dem Seppli nicht anders zumute, als ob in seinem Leben alles verloren wäre, was ihm Freude machen konnte. Er packte seine rote Blume fest an und warf sie von sich. Denn nur eine rote Blume haben und niemals eine Geißel mit einem gelben Zwick besitzen, das vergällte dem Seppli die Blume. Sie flog weit in die Wiese hinab, und der Seppli schaute ihr mit stillem Zorn nach. Man kann nicht wissen, wie lange er noch so da stehengeblieben wäre, wenn sich nicht jetzt hinter ihm die Haustür geöffnet hätte. Eine Frau mit einem großen Besen in der Hand trat heraus.

»Wo sind die Buben, Seppli?« fragte sie.

»Fort mit den Geißeln«, war die Antwort, denn diese hatte er immer noch vor Augen.

»Lauf und ruf sie heim, aber schnell«, befahl die Frau. »Morgen früh müssen sie auf die Alm, und am Abend kommt die Herrschaft, da ist noch viel zu tun. Sag es ihnen, spring, Seppli!«

Der Junge lief jetzt mit aller Kraft in die Richtung, in der die beiden Buben verschwunden waren. Die Frau fing nun mit ihrem Besen an, in allen Winkeln zu kehren. Es war Kaspars Frau und die Mutter der beiden Buben Chäppi und Jörg.

Am Morgen war von Herrn Feland ein Brief angekommen, der ihn und seine Familie für den folgenden Abend anmeldete – daher die großen Vorbereitungen mit dem Besen, die übrigens nicht unnötig waren, denn Chäppi und Jörg trugen viel Schmutz mit ihren großen Schuhen ins Haus. Jetzt kamen die beiden unter fürchterlichem Peitschenknall dahergerannt. Nachbars Seppli lief ihnen immer noch nach, denn der Anblick der Geißeln zog ihn unwiderstehlich mit. Als aber nun die Mutter ihre Buben hereinrief, da sie ihr noch bei der Arbeit helfen sollten, kehrte Seppli endlich um und ging dem Häuschen seiner Eltern zu. Aber er ging ganz langsam, so wie einer, der einen großen Schmerz mit sich trägt. Und den trug der Seppli auch mit sich, denn die Geißeln mit dem gelben Zwick schwebten ihm unaufhörlich vor Augen. Und dazu hörte er Chäppis entmutigendes Wort: »Ja, du kannst warten!«

Vor der alten Haustür drüben auf dem Plätzchen, wo der Boden zu einer Tenne festgetreten war, stand der Vater Martin und war bemüht, mit einem schweren Beil einen großen, knorrigen Holzklotz in kleine Stücke zu zerspalten. Damit sollte die Mutter wieder das Feuer im Herd entfachen. In einer Reihe vor dem Vater standen das Martheli, der Friedli und das Betheli und schauten mit großen, ernsthaften Augen seiner Arbeit zu. Seppli, der Älteste, trat jetzt auch heran, stellte sich in die Reihe und riß die Augen auf, denn wo es etwas zu sehen gab, war er immer dabei.

Bald aber deutete der Vater auf die kleinen Stücke am Boden und sagte mit einer so sanften, freundlichen Stimme, wie man sie von dem großen, festen Mann gar nicht erwartet hätte: »So, Seppli, nimm immer zwei davon auf den Arm und bring sie der Mutter in die Küche hinein, so kann sie uns die Kartoffeln kochen.« Der Seppli tat sofort, was ihm der Vater sagte, und die Arbeit ließ ihn ein wenig seinen großen Kummer vergessen. Als er aber später neben dem Friedli auf dem schmalen Bett lag, da konnte er nicht gleich einschlafen. Das große Leid stieg wieder vor seinen Augen auf, und er mußte seufzen: »Oh, wenn ich nur eine Geißel hätte mit einem gelben Zwick!«


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