Johanna Spyri
Heidis Lehr- und Wanderjahre
Johanna Spyri

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Eine Großmama

Am folgenden Abend waren große Erwartungen und lebhafte Vorbereitungen im Hause Sesemann sichtbar, man konnte deutlich bemerken, dass die erwartete Dame ein bedeutendes Wort im Hause mitzusprechen hatte und dass jedermann großen Respekt vor ihr empfand. Tinette hatte ein ganz neues, weißes Deckelchen auf den Kopf gesetzt, und Sebastian raffte eine Menge von Schemeln zusammen und stellte sie an alle passenden Stellen hin, damit die Dame gleich einen Schemel unter den Füßen finde, wohin sie sich auch setzen möge. Fräulein Rottenmeier ging zur Musterung der Dinge sehr aufrecht durch die Zimmer, so wie um anzudeuten, dass, wenn auch eine zweite Herrschermacht herannahe, die ihrige dennoch nicht am Erlöschen sei.

Jetzt rollte der Wagen vor das Haus, und Sebastian und Tinette stürzten die Treppe hinunter; langsam und würdevoll folgte Fräulein Rottenmeier nach, denn sie wusste, dass auch sie zum Empfang der Frau Sesemann zu erscheinen hatte. Heidi war beordert worden, sich in sein Zimmer zurückzuziehen und da zu warten, bis es gerufen würde, denn die Großmutter würde zuerst bei Klara eintreten und diese wohl allein sehen wollen. Heidi setzte sich in einen Winkel und repetierte seine Anrede. Es währte gar nicht lange, so steckte die Tinette den Kopf ein klein wenig unter Heidis Zimmertür und sagte kurz angebunden wie immer: »Hinübergehen ins Studierzimmer!«

Heidi hatte Fräulein Rottenmeier nicht fragen dürfen, wie es mit der Anrede sei, aber es dachte, die Dame habe sich nur versprochen, denn es hatte bis jetzt immer erst den Titel nennen gehört und nachher den Namen; so hatte es sich nun die Sache zurechtgelegt. Wie es die Tür zum Studierzimmer aufmachte, rief ihm die Großmutter mit freundlicher Stimme entgegen: »Ah, da kommt ja das Kind! Komm mal her zu mir und lass dich recht ansehen.«

Heidi trat heran, und mit seiner klaren Stimme sagte es sehr deutlich: »Guten Tag, Frau Gnädige.«

»Warum nicht gar!«, lachte die Großmama. »Sagt man so bei euch? Hast du das daheim auf der Alp gehört?«

»Nein, bei uns heißt niemand so«, erklärte Heidi ernsthaft.

»So, bei uns auch nicht«, lachte die Großmama wieder und klopfte Heidi freundlich auf die Wange. »Das ist nichts! In der Kinderstube bin ich die Großmama; so sollst du mich nennen, das kannst du wohl behalten, wie?«

»Ja, das kann ich gut«, versicherte Heidi, »vorher hab ich schon immer so gesagt.«

»So, so, verstehe schon!«, sagte die Großmama und nickte ganz lustig mit dem Kopfe. Dann schaute sie Heidi genau an und nickte von Zeit zu Zeit wieder mit dem Kopf, und Heidi guckte ihr auch ganz ernsthaft in die Augen, denn da kam etwas so Herzliches heraus, dass es dem Heidi ganz wohl machte, und die ganze Großmama gefiel dem Heidi so, dass es sie unverwandt anschauen musste. Sie hatte so schöne weiße Haare, und um den Kopf ging eine schöne Spitzenkrause, und zwei breite Bänder flatterten von der Haube weg und bewegten sich immer irgendwie, so als ob stets ein leichter Wind um die Großmama wehe, was das Heidi ganz besonders anmutete.

»Und wie heißt du, Kind?«, fragte jetzt die Großmama.

»Ich heiße nur Heidi; aber weil ich soll Adelheid heißen, so will ich schon Acht geben –«; Heidi stockte, denn es fühlte sich ein wenig schuldig, da es noch immer keine Antwort gab, wenn Fräulein Rottenmeier unversehens rief: »Adelheid!«, indem es ihm noch immer nicht recht gegenwärtig war, dass dies sein Name sei, und Fräulein Rottenmeier war eben ins Zimmer getreten.

»Frau Sesemann wird unstreitig billigen«, fiel hier die eben Eingetretene ein, »dass ich einen Namen wählen musste, den man doch aussprechen kann, ohne sich selbst genieren zu müssen, schon um der Dienstboten willen.«

»Werteste Rottenmeier«, entgegnete Frau Sesemann, »wenn ein Mensch einmal ›Heidi‹ heißt und an den Namen gewöhnt ist, so nenn ich ihn so, und dabei bleibt's!«

Es war Fräulein Rottenmeier sehr genierlich, dass die alte Dame sie beständig nur bei ihrem Namen nannte, ohne weitere Titulatur; aber da war nichts zu machen; die Großmama hatte einmal ihre eigenen Wege, und diese ging sie, da half kein Mittel dagegen. Auch ihre fünf Sinne hatte die Großmama noch ganz scharf und gesund, und sie bemerkte, was im Hause vorging, sobald sie es betreten hatte.

Als am Tage nach ihrer Ankunft Klara sich zur gewohnten Zeit nach Tisch niederlegte, setzte die Großmama sich neben sie auf einen Lehnstuhl und schloss ihre Augen für einige Minuten; dann stand sie schon wieder auf – denn sie war gleich wieder munter – und trat ins Esszimmer hinaus; da war niemand. »Die schläft«, sagte sie vor sich hin, ging dann nach dem Zimmer der Dame Rottenmeier und klopfte kräftig an die Tür. Nach einiger Zeit erschien diese und fuhr erschrocken ein wenig zurück bei dem unerwarteten Besuch.

»Wo hält sich das Kind auf um diese Zeit, und was tut es? Das wollte ich wissen«, sagte Frau Sesemann.

»In seinem Zimmer sitzt es, wo es sich nützlich beschäftigen könnte, wenn es den leisesten Tätigkeitstrieb hätte; aber Frau Sesemann sollte nur wissen, was für verkehrtes Zeug sich dieses Wesen oft ausdenkt und wirklich ausführt, Dinge, die ich in gebildeter Gesellschaft kaum erzählen könnte.«

»Das würde ich gerade auch tun, wenn ich so da drinnen säße wie dieses Kind, das kann ich Ihnen sagen, und Sie könnten zusehen, wie Sie mein Zeug in gebildeter Gesellschaft erzählen wollten! Jetzt holen Sie mir das Kind heraus und bringen Sie mir's in meine Stube, ich will ihm einige hübsche Bücher geben, die ich mitgebracht habe.«

»Das ist ja gerade das Unglück, das ist es ja eben!«, rief Fräulein Rottenmeier aus und schlug die Hände zusammen. »Was sollte das Kind mit Büchern tun? In all dieser Zeit hat es noch nicht einmal das Abc erlernt; es ist völlig unmöglich, diesem Wesen auch nur einen Begriff beizubringen, davon kann der Herr Kandidat reden! Wenn dieser treffliche Mensch nicht die Geduld eines himmlischen Engels besäße, er hätte diesen Unterricht längst aufgegeben.«

»So, das ist merkwürdig, das Kind sieht nicht aus wie eines, das das Abc nicht erlernen kann«, sagte Frau Sesemann. »Jetzt holen Sie mir's herüber, es kann vorläufig die Bilder in den Büchern ansehen.«

Fräulein Rottenmeier wollte noch einiges bemerken, aber Frau Sesemann hatte sich schon umgewandt und ging rasch ihrem Zimmer zu. Sie musste sich sehr verwundern über die Nachricht von Heidis Beschränktheit und gedachte, die Sache zu untersuchen, jedoch nicht mit dem Herrn Kandidaten, den sie zwar um seines guten Charakters willen sehr schätzte; sie grüßte ihn auch immer, wenn sie mit ihm zusammentraf, überaus freundlich, lief dann aber sehr schnell auf eine andere Seite, um nicht in ein Gespräch mit ihm verwickelt zu werden, denn seine Ausdrucksweise war ihr ein wenig beschwerlich.

Heidi erschien im Zimmer der Großmama und machte die Augen weit auf, als es die prächtigen bunten Bilder in den großen Büchern sah, welche die Großmama mitgebracht hatte. Auf einmal schrie Heidi laut auf, als die Großmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit glühendem Blick schaute es auf die Figuren, dann stürzten ihm plötzlich die hellen Tränen aus den Augen, und es fing gewaltig zu schluchzen an. Die Großmama schaute das Bild an. Es war eine schöne, grüne Weide, wo allerlei Tierlein herumweideten und an den grünen Gebüschen nagten. In der Mitte stand der Hirt, auf einen langen Stab gestützt, der schaute den fröhlichen Tierchen zu. Alles war wie in Goldschimmer gemalt, denn hinten am Horizont war eben die Sonne im Untergehen.

Die Großmama nahm Heidi bei der Hand. »Komm, komm, Kind«, sagte sie in freundlichster Weise, »nicht weinen, nicht weinen. Das hat dich wohl an etwas erinnert; aber sieh, da ist auch eine schöne Geschichte dazu, die erzähl ich heut Abend. Und da sind noch so viele schöne Geschichten in dem Buch, die kann man alle lesen und wieder erzählen. Komm, nun müssen wir etwas besprechen zusammen, trockne schön deine Tränen, so, und nun stell dich hier vor mich hin, dass ich dich recht ansehen kann; so ist's recht, nun sind wir wieder fröhlich.«

Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu schluchzen aufhören konnte. Die Großmama ließ ihm auch eine gute Weile zur Erholung, nur sagte sie von Zeit zu Zeit ermunternd: »So, nun ist's gut, nun sind wir wieder froh zusammen.«

Als sie endlich das Kind beruhigt sah, sagte sie: »Nun musst du mir was erzählen, Kind! Wie geht es denn beim Herrn Kandidaten in den Unterrichtsstunden, lernst du auch gut und kannst du was?«

»O nein«, antwortete Heidi seufzend; »aber ich wusste schon, dass man es nicht lernen kann.«

»Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinst du?«

»Lesen kann man nicht lernen, es ist zu schwer.«

»Das wäre! Und woher weißt du denn diese Neuigkeit?«

»Der Peter hat es mir gesagt und er weiß es schon, der muss immer wieder probieren, aber er kann es nie lernen, es ist zu schwer.«

»So, das ist mir ein eigener Peter, der! Aber sieh, Heidi, man muss nicht alles nur so hinnehmen, was einem ein Peter sagt, man muss selbst probieren. Gewiss hast du nicht recht mit all deinen Gedanken dem Herrn Kandidaten zugehört und seine Buchstaben angesehen.«

»Es nützt nichts«, versicherte Heidi mit dem Ton der vollen Ergebung in das Unabänderliche.

»Heidi«, sagte nun die Großmama, »jetzt will ich dir etwas sagen: Du hast noch nie lesen gelernt, weil du deinem Peter geglaubt hast; nun aber sollst du mir glauben, und ich sage dir fest und sicher, dass du in kurzer Zeit lesen lernen kannst, wie eine große Menge von Kindern, die geartet sind wie du und nicht wie der Peter. Und nun musst du wissen, was nachher kommt, wenn du dann lesen kannst – du hast den Hirten gesehen auf der schönen, grünen Weide –; sobald du nun lesen kannst, bekommst du das Buch, da kannst du seine ganze Geschichte vernehmen, ganz so, als ob sie dir jemand erzählte, alles, was er macht mit seinen Schafen und Ziegen und was ihm für merkwürdige Dinge begegnen. Das möchtest du schon wissen, Heidi, nicht?«

Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört, und mit leuchtenden Augen sagte es jetzt, tief Atem holend: »Oh, wenn ich nur schon lesen könnte!«

»Jetzt wird's kommen, und gar nicht lange wird's währen, das kann ich schon sehen, Heidi, und nun müssen wir mal nach der Klara sehen; komm, die schönen Bücher nehmen wir mit.« Damit nahm die Großmama Heidi bei der Hand und ging mit ihm nach dem Studierzimmer.

Seit dem Tage, da Heidi hatte heimgehen wollen und Fräulein Rottenmeier es auf der Treppe ausgescholten und ihm gesagt hatte, wie schlecht und undankbar es sich erweise durch sein Fortlaufenwollen und wie gut es sei, dass Herr Sesemann nichts davon wisse, war mit dem Kinde eine Veränderung vorgegangen. Es hatte begriffen, dass es nicht heimgehen könne, wenn es wolle, wie ihm die Base gesagt hatte, sondern dass es in Frankfurt zu bleiben habe, lange, lange, vielleicht für immer. Es hatte auch verstanden, dass Herr Sesemann es sehr undankbar von ihm finden würde, wenn es heimgehen wollte, und es dachte sich aus, dass die Großmama und Klara auch so denken würden. So durfte es keinem Menschen sagen, dass es heimgehen möchte, denn dass die Großmama, die so freundlich mit ihm war, auch böse würde, wie Fräulein Rottenmeier geworden war, das wollte Heidi nicht verursachen. Aber in seinem Herzen wurde die Last, die darinnen lag, immer schwerer; es konnte nicht mehr essen, und jeden Tag wurde es ein wenig bleicher. Am Abend konnte es oft lange, lange nicht einschlafen, denn sobald es allein war und alles still ringsumher, kam ihm alles so lebendig vor die Augen, die Alm und der Sonnenschein darauf und die Blumen; und schlief es endlich doch ein, so sah es im Traum die roten Felsenspitzen am Falknis und das feurige Schneefeld an der Schesaplana, und erwachte dann Heidi am Morgen und wollte voller Freude hinausspringen aus der Hütte – da war es auf einmal in seinem großen Bett in Frankfurt, so weit, weit weg, und konnte nicht mehr heim. Dann drückte Heidi oft seinen Kopf in das Kissen und weinte lang, ganz leise, dass niemand es höre.

Heidis freudloser Zustand entging der Großmama nicht. Sie ließ einige Tage vorübergehen und sah zu, ob die Sache sich ändere und das Kind sein niedergeschlagenes Wesen verlieren würde. Als es aber gleich blieb und die Großmama manchmal am frühen Morgen schon sehen konnte, dass Heidi geweint hatte, da nahm sie eines Tages das Kind wieder in ihre Stube, stellte es vor sich hin und sagte mit großer Freundlichkeit: »Jetzt sag mir, was dir fehlt, Heidi; hast du einen Kummer?«

Aber gerade dieser freundlichen Großmama wollte Heidi nicht sich so undankbar zeigen, dass sie vielleicht nachher gar nicht mehr so freundlich wäre; so sagte Heidi traurig: »Man kann es nicht sagen.«

»Nicht? Kann man es etwa der Klara sagen?«, fragte die Großmama.

»O nein, keinem Menschen«, versicherte Heidi und sah dabei so unglücklich aus, dass es die Großmama erbarmte.

»Komm, Kind«, sagte sie, »ich will dir was sagen: Wenn man einen Kummer hat, den man keinem Menschen sagen kann, so klagt man ihn dem lieben Gott im Himmel und bittet ihn, dass er helfe, denn er kann allem Leid abhelfen, das uns drückt. Das verstehst du, nicht wahr? Du betest doch jeden Abend zum lieben Gott im Himmel und dankst ihm für alles Gute und bittest ihn, dass er dich vor allem Bösen behüte?«

»O nein, das tu ich nie«, antwortete das Kind.

»Hast du denn gar nie gebetet, Heidi, weißt du nicht, was das ist?«

»Nur mit der ersten Großmutter habe ich gebetet, aber es ist schon lang, und jetzt habe ich es vergessen.«

»Siehst du, Heidi, darum musst du so traurig sein, weil du jetzt gar niemanden kennst, der dir helfen kann. Denk einmal nach, wie wohl das tun muss, wenn einen im Herzen etwas immerfort drückt und quält und man kann so jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und ihm alles sagen und ihn bitten, dass er helfe, wo uns sonst gar niemand helfen kann! Und er kann überall helfen und uns geben, was uns wieder froh macht.«

Durch Heidis Augen fuhr ein Freudenstrahl: »Darf man ihm alles, alles sagen?«

»Alles, Heidi, alles.«

Das Kind zog seine Hand aus den Händen der Großmama und sagte eilig: »Kann ich gehen?«

»Gewiss! Gewiss!«, gab diese zur Antwort, und Heidi lief davon und hinüber in sein Zimmer, und hier setzte es sich auf seinen Schemel nieder und faltete seine Hände und sagte dem lieben Gott alles, was in seinem Herzen war und es so traurig machte, und bat ihn dringend und herzlich, dass er ihm helfe und es wieder heimkommen lasse zum Großvater. –

Es mochte etwas mehr als eine Woche verflossen sein seit diesem Tage, als der Herr Kandidat begehrte, der Frau Sesemann seine Aufwartung zu machen, indem er eine Besprechung über einen merkwürdigen Gegenstand mit der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde auf ihre Stube berufen, und hier, wie er eintrat, streckte ihm Frau Sesemann sogleich freundlich die Hand entgegen: »Mein lieber Herr Kandidat, seien Sie mir willkommen! Setzen Sie sich her zu mir, hier« – sie rückte ihm den Stuhl zurecht. »So, nun sagen Sie mir, was bringt Sie zu mir; doch nichts Schlimmes, keine Klagen?«

»Im Gegenteil, gnädige Frau«, begann der Herr Kandidat; »es ist etwas vorgefallen, das ich nicht mehr erwarten konnte und keiner, der einen Blick in alles Vorhergegangene hätte werfen können, denn nach allen Voraussetzungen musste angenommen werden, dass es eine völlige Unmöglichkeit sein müsse, was dennoch jetzt wirklich geschehen ist und in der wunderbarsten Weise stattgefunden hat, gleichsam im Gegensatz zu allem folgerichtig zu Erwartenden –«

»Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr Kandidat?«, setzte hier Frau Sesemann ein.

In sprachlosem Erstaunen schaute der überraschte Herr die Dame an.

»Es ist ja wirklich völlig wunderbar«, sagte er endlich, »nicht nur, dass das junge Mädchen nach all meinen gründlichen Erklärungen, und ungewöhnlichen Bemühungen das Abc nicht erlernt hat, sondern auch und besonders, dass es jetzt in kürzester Zeit, nachdem ich mich entschlossen hatte, das Unerreichbare aus den Augen zu lassen und ohne alle weiter greifenden Erläuterungen nur noch sozusagen die nackten Buchstaben vor die Augen des jungen Mädchens zu bringen, sozusagen über Nacht das Lesen erfasst hat, und dann sogleich mit einer Korrektheit die Worte liest, wie mir bei Anfängern noch selten vorgekommen ist. Fast ebenso wunderbar ist mir die Wahrnehmung, dass die gnädige Frau gerade diese fern liegende Tatsache als Möglichkeit vermutete.«

»Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschenleben«, bestätigte Frau Sesemann und lächelte vergnüglich; »es können auch einmal zwei Dinge glücklich zusammentreffen, wie ein neuer Lerneifer und eine neue Lehrmethode, und beide können nichts schaden, Herr Kandidat. Jetzt wollen wir uns freuen, dass das Kind so weit ist, und auf guten Fortgang hoffen.«

Damit begleitete sie den Herrn Kandidaten zur Tür hinaus und ging rasch nach dem Studierzimmer, um sich selbst der erfreulichen Nachricht zu versichern. Richtig saß hier Heidi neben Klara und las dieser eine Geschichte vor, sichtlich selbst mit dem größten Erstaunen und mit einem wachsenden Eifer in die neue Welt eindringend, die ihm aufgegangen war, nun ihm mit einem Mal aus den schwarzen Buchstaben Menschen und Dinge entgegentraten und Leben gewannen und zu herzbewegenden Geschichten wurden. Noch am selben Abend, als man sich zu Tische setzte, fand Heidi auf seinem Teller das große Buch liegen mit den schönen Bildern, und als es fragend nach der Großmama blickte, sagte diese freundlich nickend: »Ja, ja, nun gehört es dir.«

»Für immer? Auch wenn ich heimgehe?«, fragte Heidi ganz rot vor Freude.

»Gewiss, für immer!«, versicherte die Großmama; »morgen fangen wir an zu lesen.«

»Aber du gehst nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi«, warf Klara hier ein; »wenn nun die Großmama wieder fortgeht, dann musst du erst recht bei mir bleiben.«

Noch vor dem Schlafengehen musste Heidi in seinem Zimmer sein schönes Buch ansehen, und von dem Tage an war es sein Liebstes, über seinem Buch zu sitzen und immer wieder die Geschichten zu lesen, zu denen die schönen bunten Bilder gehörten. Sagte am Abend die Großmama: »Nun liest uns Heidi vor«, so war das Kind sehr beglückt, denn das Lesen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die Geschichten laut vorlas, so kamen sie ihm noch viel schöner und verständlicher vor, und die Großmama erklärte dann noch so vieles und erzählte immer noch mehr dazu. Am liebsten beschaute Heidi immer wieder seine grüne Weide und den Hirten mitten unter der Herde, wie er so vergnüglich, auf seinen langen Stab gelehnt, dastand, denn da war er noch bei der schönen Herde des Vaters und ging nur den lustigen Schäfchen und Ziegen nach, weil es ihn freute. Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus weggelaufen, nun in der Fremde war und die Schweinchen hüten musste und ganz mager geworden war bei den Trebern, die er allein noch zu essen bekam. Und auf dem Bilde schien auch die Sonne nicht mehr so golden, da war das Land grau und nebelig. Aber dann kam noch ein Bild zu der Geschichte: Da kam der alte Vater mit ausgebreiteten Armen aus dem Hause heraus und lief dem heimkehrenden reuigen Sohn entgegen, um ihn zu empfangen, der ganz furchtsam und abgemagert in einem zerrissenen Wams daherkam. Das war Heidis Lieblingsgeschichte, die es immer wieder las, laut und leise, und es konnte nie genug der Erklärungen bekommen, welche die Großmama den Kindern dazu machte. Da waren aber noch so viele schöne Geschichten in dem Buch, und bei dem Lesen derselben und dem Bilderbesehen gingen die Tage sehr schnell dahin, und schon nahte die Zeit heran, welche die Großmama zu ihrer Abreise bestimmt hatte.


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