Carl Spitteler
Friedli, der Kolderi
Carl Spitteler

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«Was ist, Friedli», zischelte der Ueli, der unbemerkt herbeigekommen war, «hast du dich anders besonnen? Gehst du die Nacht durchs Fenster? Es wäre vielleicht das Gescheiteste von allem.»

«Wenn ich will, so gehe ich, und wenn ich gehe, so brauche ich keinem Menschen auf der ganzen Welt Rechenschaft abzulegen.»

Darauf zogen sie miteinander angestrengt durch den Wald dem Flückiger Mätteli zu.

Als sie auf dem Flückiger Mätteli anlangten, war alles so still, daß man hätte meinen sollen, man müßte die Sterne, wenn sie so büschelweise wie reife Walnüsse herunterhagelten, zischen und kläpfen hören.

«Ich hab' ihm doch deutlich genug zugejauchzt», machte der Friedli maßleidig. «Er hätte einfach brauchen stehenzubleiben.»

«Es ist mir fast vorgekommen, je verfluchter man ihm zujauchzte, desto verfluchter ist er weggelaufen. – Übrigens, der Mond kann nicht mehr weit sein; es muß sich jetzt bald weisen.»

Sie warteten den Mond ab, suchten dann mit den Augen unter sich und ließen miteinander gellende Jauchzer los.

«Jetzt fehlt sich nichts mehr, Friedli, jetzt ist er irgendwo hinuntergerollt. Es kann auf der ganzen Welt nirgends anders sein als höchstens in dem Krachen, dem Wasserfall zu.»

Der Wasserfall toste immer stärker. Die Bachhöhle obwärts davon brauste und donnerte. Blaue Mondlichter sprenkelten die Grotte. Der vorankletternde Ueli hielt plötzlich an, bückte sich und schrie: «Da liegt er! Es ist ihn! Unten im Bach! auf dem Grien!» Und Friedli, nachdem er herbeigesprungen, urteilte: «Der braucht keinen Doktor mehr! Lueg, wie er die gläsigen Augen aussperrt Es nimmt mich nur wunder, wie er in den Kessel hineingeraten ist. Wenn einer schon wollte, so hätte er die elendeste Mühe.»

«Es wird ihn halt über den Krachen heruntergeschnellt haben!»

Und wie sie nun auf- und abspähten, was für eine Sturzbahn er etwa möge genommen haben, hing ein Fetzen Zeug oben an einem Ast, und unten auf einer Platte lag eine Geldbörse mit aufgesperrtem Maul, und weit darum herumgestreut glitzerten viele Goldstücke.

«Donnerwetter!» entfuhr es dem Ueli, und sein Atem keuchte vor Aufregung.

Der Friedli starrte lange Zeit nach dem blinkenden Golde, dann schloß er traurig und mutlos: «Da ist jetzt nichts anderes zu machen; das muß man halt einfach alles zusammensuchen und wieder in den Geldsäckel tun; es gehört halt doch niemand anders als ihm. Und eine Schande für die ganze Gemeinde wäre es auch, wenn es hieße, es wäre ihm ein einziger Rappen verlorengegangen.»

Also suchten sie mühsam, mit verwegenem Klettern, ob nicht noch andere Goldstücke etwa noch einzeln sich verirrt hätten.

«Es ist nichts mehr», sprach endlich der Ueli bestimmt.

«Es ist nichts mehr», bestätigte der Friedli.

Hierauf wischten sie mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, hoben den Leichnam aus dem Bachkessel und trugen beides, den Körper und das Gold, vorsichtig nach dem Flückiger Mätteli hinauf. Dort betteten sie den Toten bedächtig auf das Gras, steckten ihm die volle Börse säuberlich in die Rocktasche zurück, setzten sich links und rechts neben ihn und jauchzten verzweifelt.

«Es wird's zuletzt wohl jemand hören.»

«Und aus dem Kurhause werden sie ihn wahrscheinlich auch suchen, wenn er nicht zum Nachtessen heimgekommen ist.»

Doch mit der Zeit wurde ihr Jauchzen seltener, ihr Atem aber lauter, und allmählich mit Brust und Kopf tiefer sinkend, glitten sie schlummernd längs dem Leichnam ins Gras.

Von beiden Seiten aber legte jeder im Schlaf den Arm schützend über die Rocktasche.

Laternenschein und Stimmengewirr schreckte sie aus den Träumen. Eine Schar Männer stand um sie herum, und eine junge, fremde, schöne, fürnehme Frau, wie eine Prinzessin aus dem Märchenbuch, warf sich mit gräßlichem Schreien auf den Leichnam und tat ganz unsinnig.

Die beiden Knechte, ganz verlegen, beteuerten unaufhörlich, es sein kein Rappen verlorengegangen, bis die Kurhausmannen die schöne Frau wegzogen und den Leichnam forttrugen, den Flückiger Hubel hinab durch den Gaißwald.

Solange man die Laternen sehen und das Jammergeschrei der jungen, fürnehmen Frau hören konnte, sagte keiner der Knechte ein Wort.

Dann fing der Ueli ernst an: «Die hat aber geweißget!»

Nach einigem Schweigen gab Friedli nachdrücklich zur Antwort: «Es ist halt doch schön, wenn einer wenigstens jemand auf der Welt hat, der um ihn weißget, wenn er auf dem Schragen liegt.»

Nach einer Weile, da ihn die vielen Sterne am Himmel so sonderbar anguckten, versetzte er: «Auf was für einem von allen denen dort oben er jetzt wohl herumstolpern mag?»

Über diese Frage geriet der Ueli in Verwunderung, und vor Verwunderung schlief er zum zweiten Male ein.

Eine Meise piepte traurig im Holz, und gleich darauf schlug eine Lerche an.

Der Ueli fuhr schnaufend in die Höhe, stöhnte tief auf und blickte sich fröstelnd um.

Der Friedli war verschwunden.

Lange staunte der Ueli auf den leeren Platz; endlich brummte er vor sich hin: «Aha! jetzt ist er also doch fort.» Und je mehr er auf dem Heimweg daran dachte, desto mehr begriff er, daß das Mareili jetzt frei sei und daß es mit seinem Stolz jetzt wohl nicht mehr so gefährlich beschaffen sein werde, jetzt, da es froh sein müsse, wenn sich überhaupt nur noch einer mit ihr abgeben wolle, sei er nun Bauer oder Knecht oder gar nur ein Jungknecht und Stallbursch.

Und oben auf dem Bödeli, als es schon heiterheller Tag war und er den Matthysenhof in den Weiden unter sich sah, sauber wie ein gemaltes Osterei in einem Garten, und das frische Gras roch, das dem Matthys gehörte, fiel ihm ein, wer des Matthysen Mareili zum Schatze habe, dem würde es schwerlich zum schlimmsten in dieser Welt gehen, so daß er sich witziger vorkam als sonst und stillestand, um sich das alles von oben gründlich anzusehen, ehe er heimginge.

Da jauchzte ihm jemand so ungattig ins rechte Ohr, daß er beinahe erschrocken zusammengefahren wäre.

«Ja was? Friedli, du bist's?»

«Denk' wohl, ich bin's. Oder ich müßte mich gewaltig verändert haben, seit drei Stunden, wenn ich's nicht mehr wäre.»

«Weißt du auch, was mir diese Nacht geträumt hat?»

«Was wird dir geträumt haben? Daß du in der ‹Eintracht› beim Vinzenz sitzest, vom Samstag sechs Uhr bis Sonntag nachts um zwölf Uhr, mit einem mordsmäßigen Rausch, bis du den letzten Rappen verspielt hast?»

«Nein, das hat mir nicht geträumt. Etwas anderes hat mir geträumt: Du seiest wie ein Ungeheuer durch die Luft geflogen, mit schwarzen Fledermausflügeln, die Augen außen vor dem Kopfe, und habest in einem fort gerufen: ‹Ueli, jetzt ist's gefehlt, jetzt habe ich ihn hingemacht.› Und der Fremde, aber eigentlich nicht der Fremde, sondern der Kalif, unten im Krachen, mit den gläsernen Augen, hat mir ein Zeichen gemacht und dann mit der Hand einen Hahn am Wasserfall gedreht, daß es lauter Dublonen spritzte. Aber wie ich mit dem Milchkessel drunterfahren will, so tanzt das goldene Zeug wie unsinnig in der Luft herum, wie ein Mückenschwarm in der Abendröte, wenn man mit der Geißel dazwischengeknallt hat.»

«Es träumt manchem Narren manches Narrenhafte.»

«Und dir, was hat denn eigentlich dir geträumt, Friedli, daß du so frühzeitig auf und davon bist?»

«Gelt, wenn ich dir's sagte, so würdest du's wissen? – Das gleiche wie dir, nur ganz anders. Aber es ist doch an allem auch nicht ein Brosämlein wahr, daß ich ihn hätte sollen hingemacht haben. Das kannst du ja selber am besten bezeugen. Oder sag selber?»

«Es ist mir lieber für dich, es sei nicht wahr. Denn wenn er hätte sollen hingemacht sein, so ist er ja jetzt doch hin, und dir ist wohler auf diese Art. Aber was ist jetzt eigentlich Trumpf bei dir?»

«Was jetzt bei mir Trumpf ist? Heimzu geht's jetzt. Das ist jetzt bei mir Trumpf. Zum Matthys, oder zum Mareili, wenn's dir besser gefällt. Lueg, das Fensterli ist noch offen.»

Nach diesen Worten hielt er beide Hände als Muscheln vor den Mund, schöpfte saugend die ganze gewaltige Brust voll Atem, hob sich auf die Zehen und ließ einen mordsmäßigen Jauchzer ins Tal, daß es an allen Flühen widerhallte bis zu den Holderbachfelsen.

Gleich darauf rührte sich etwas am Fensterli, und ein verschrockener, verweinter Jodler hauchte bebend und kaum vernehmbar: «Ju, ju!»

Friedli verzog glückselig den Mund.

«Das ist sie, das Mareili», erklärte er lachend.

Dann plötzlich mit gerunzelter Stirn und rollenden Augen knirschte er: «Aber heute hin ich am ersten auf. Heute will ich ihnen zeigen, was Mähen ist! Die traurigen, elendigen, miserablichten Schnaufer, die sie sind, nicht einmal das nichtige, jämmerliche Waldmätteli zu Boden mähen können, ihrer zwölfe, vom Morgen bis zum Abend! Aber zuerst trink' ich einen währschaften Kaffee! Lueg, wie es brodelt, zum Kamin heraus, dies Wölklein. Es ist das Mareili. Die Donnerskrott ist zum Bett ausgesprungen und barfuß in die Küche gelaufen, nur damit ich den Kaffee geschwinder bekomme.»

Damit marschierte er unter taktmäßigem Jodeln rüstig und lustig den Sturz hinab, im Sprungschritt, dem Matthysenhof zu.


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