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Sie ließ die Stickerei, an der sie während der letzten halben Stunde eifrig gearbeitet hatte, in den Schoß sinken und seufzte tief, um alsbald in ein leises fröhliches Lachen auszubrechen.

Gott, Käthe, was bist du dumm! sagte sie vor sich hin. Natürlich hat er auf Rügen zu thun, wenn wir uns auch am letzten Abend ein bißchen gezankt haben. Als ob du nur einen Augenblick daran zweifeln könntest, daß er –

Sie vollendete den Satz nicht; griff, wieder ganz ernsthaft geworden, nach dem Buch neben dem Nähkorb, in welchen sie die Stickerei gelegt; begann zu lesen; klappte nach kurzer Zeit, als sie bemerkte, daß sie von dem, was sie las, keine Ahnung hatte, das Buch zu und murmelte, diesmal ganz ärgerlich: Du bist wirklich zu dumm.

Das Kinn in die linke Hand gestützt, blieb sie noch ein Weilchen nachdenklich sitzen; blickte zum Himmel auf, an dem nach Osten ein paar rote Abendwolken standen; legte das Buch zu der Stickerei in das Körbchen; erhob sich und trat aus der Laube in den langen breiten Gang, der durch den Garten nach dem Hause führte. Auf dem halben Wege kam ihr Male entgegen.

Ich wollte man fragen, Fräulein, wann der Herr nach Hause kommt.

Ich weiß es nicht; er sagte, es würde ziemlich spät werden.

Sollen wir denn warten?

Ist Herr Brunnow zu Hause?

Er ist zu Förster Lübbenow. Das ist auch ein ganzes Ende.

Dann warten wir jedenfalls. Ich habe so wie so keinen Hunger. Da, Male, nimm das mit hinein und stelle es in mein Zimmer! Oder ins Wohnzimmer!

Was sollen wir denn essen, Fräulein?

Was du willst.

Male machte kehrt, bei sich denkend: Wenn eines eine Liebschaft im Kopfe hat, ist einem alles gleich.

Käthe hatte sich wieder in den Garten gewandt.

Den durchschritt sie jetzt ganz und ebenso die Baumschule, die sich hinter dem Garten lang und schmal in den Wald hinein bis unmittelbar an den Holzweg streckte, von dem sie durch ein hohes Lattenstacket und einen Graben getrennt war. Sie nahm einen Schlüssel aus der Tasche, schloß die Pforte auf und wieder hinter sich zu, trat über das Brückchen auf den Weg, blickte den Weg nach links hinauf – nur um sich zu überzeugen, daß er, wie gewöhnlich, völlig einsam war – und schlug die Richtung nach rechts ein.

Es geht sich da besser, murmelte sie, und wieder lachte sie leise und fröhlich vor sich hin.

Wem wollte sie denn das weismachen? Sich selbst? Das war doch zu albern. Der Weg war hier nicht besser und nicht schlechter als auf der andern Seite. Nur daß er hier bald aus dem Walde führte bis zu der großen Eiche, von der man so schön nach Möllenhof hinübersehen konnte.

Weiter hat es keinen Zweck, rief sie lustig laut und schreckte zusammen, als es rechts neben ihr hoch in dem Geäst einer Tanne krachte und ein großer Vogel, der da gesessen hatte, tiefer in den Wald flog. Es mußte ein ganz großer Vogel gewesen sein, nach dem starken Geräusch zu schließen – ein Uhu oder Bussard. Das Raubzeug nimmt wieder überhand, hatte gestern abend der Vater zu Herrn Brunnow gesagt.

Dabei wandten sich ihre Gedanken zu dem Forstkandidaten.

Sie hatten die ersten Wochen so gut miteinander gestanden, und auch Hans hatte jetzt gesagt: »Er ist wirklich ein netter Mensch.« Das war er ja sicher: höflich, dienstwillig, jederzeit bereit, sie auf dem Flügel zu begleiten oder mit Hans auf den Anstand zu gehen. Papa sagt: »Kein großes Licht!« Das geht mich nichts an; verstehe ich auch nicht. Aber diese alberne Verliebtheit! Kein gleichgültiges Wort kann man zu ihm sagen, ohne daß er rot oder blaß wird! Und das gräßliche Cornet à Piston In Deutschland bekannt unter dem Namen »Kornett«, ein trompetenähnliches Blechblasinstrument mit drei Pumpventilen, das besonders in Blaskapellen und in der frühen Jazzmusik (z.B. Louis Armstrong) Verwendung fand.! Er bläst es jetzt freilich nur im Walde: »Behüt dich Gott, es wär' zu schön gewesen –« Arie aus der Oper »Der Trompeter von Säckingen« (1884) von Victor Ernst Nessler; Text nach Joseph Viktor von Scheffel von Rudolf Bunge. seit vierzehn Tagen Abend für Abend! Gott sei Dank, daß Hans es nicht ernst nimmt! Aber die Mädchen in der Küche! Die sind furchtbar. Gestern abend – sie kreischten ordentlich vor Vergnügen. Wie kann man sich das nur so merken lassen! Uns hat gewiß noch keiner was angemerkt. Was für große Augen Papa machen wird. Erfahren muß er es ja doch einmal. Das heißt –

Sie war stehen geblieben und blickte nachdenklich auf den Boden zu ihren Füßen, wo ein großer, grüner Käfer durch das Gras und den Lattich des Weges hastete.

Wenn er es nicht am Ende doch schon gemerkt hat! Er war in der letzten Zeit noch außergewöhnlich still und nicht so freundlich und vertraulich zu Hans. Aber das bilde ich mir auch wohl nur so ein. Wie könnte er gegen Hans etwas haben!

Der grüne Käfer war verschwunden. Jetzt ein leises Knacken oben links von einem Eichkätzchen, das zu der himmelhohen Tanne hinaufhastete, nun an dem schlanken Stamm hängen blieb und mit seitwärts gebogenem Köpfchen auf sie hinabäugte.

Käthe lächelte zu ihm empor. Das war ein gutes Zeichen! Eichkätzchen, ihre Lieblinge, ihre Schützlinge, die der Papa bloß ihretwegen schonte!

Lieber Himmel! Er ist so gut zu mir, thut mir alles zu Gefallen. Und sollte mir meinen Hans nicht gönnen? Das ist menschenunmöglich.

Wieder emporblickend, bemerkte sie das Tierchen nicht mehr, wohl aber, daß der rote Abendsonnenschein bis zu den Spitzen der Tannen hinaufgestiegen war; unten aus dem fast überwölbten Wege dunkelte es bereits. Sie hätte eigentlich umkehren müssen. Aber nun war der Ausgang des Waldes so nahe, und durch die thorwegartige Oeffnung zwischen den letzten Bäumen fiel das Licht stark herein. In wenigen Minuten hatte sie den Ausgang erreicht und stieg den mäßigen, sich nach drüben in die Ebene etwas steiler absenkenden kahlen Hügel hinauf bis zu der einsamen Rieseneiche oben und ihrem Lieblingssitze auf der Bank, die um den mächtigen Stamm herumlief.

Ihr erster Blick war nach dem Schlosse – seinem Schlosse, das sich weiß aus den grünen Baummassen des Parkes hob. Sie mußte die Augen mit der Hand bedecken gegen die Sonne, die ein wenig weiter links dicht am Horizonte hing, so tief, daß sie auf der Ebene, über welche die schrägen Strahlen liefen, vor allem Glitzern und Flimmern kaum etwas erkennen konnte. Dann aber war auf den Wiesen unmittelbar unter und vor ihr nur noch ein matter, rötlicher Schein; hinter den Wiesen trat ein langgestrecktes schmäleres Haferfeld, das noch auf dem Halm stand, deutlich hervor; hinter dem Haferfeld bis zu der weißen Parkmauer und nach links weit über sie hinaus die mächtige Weizenbreite, auf der sie die Hocken und zwischen den Hocken die Erntewagen und die um sie beschäftigten Arbeiter mit ihren scharfen Augen wohl unterschied. Hans hatte mit dem Papa gewettet, daß sie bis zu seiner Rückkehr morgen abgeerntet sein werde; der Papa, daß es unmöglich sei. Der Papa würde wohl recht behalten: es waren noch gar zu viele Hocken da, trotzdem Oberinspektor Wenhak offenbar alle seine Wagen und die ganze Mannschaft aufgeboten hatte, über die er selbst zu Pferde die Aufsicht führte.

Plötzlich richtete sich Käthe halb auf mit scharf gespanntem Blick. Sie hatte jetzt statt des einen Reiters zwei gesehen, von denen der zweite durch den ersten oder einen der Wagen bis dahin verdeckt gewesen sein mochte. Ihr Herz begann zu klopfen. Lächerlich! Weshalb sollten, wo es eine so wichtige Sache galt, die in der Abwesenheit des Herrn ausgeführt werden mußte, sich nicht die beiden Inspektoren beritten gemacht oder sich ein Nachbar als Zuschauer eingefunden haben? Wirklich lächerlich!

Aber sie lachte keineswegs, sondern hatte sich jäh vollends erhoben, während das Herz nur noch heftiger zu klopfen fortfuhr, als sie sah, daß der zweite Reiter sich von dem ersten trennte, im Galopp – sie schloß auf Galopp aus der raschen Bewegung – über das nach dieser Seite bereits von Hocken freie Stoppelfeld in der Richtung des Weges ritt, der von Möllenhof nach dem Wald gerade auf sie zulief, in den Weg bog und in demselben schnellen Tempo herankam, gefolgt von einer Wolke Staubes, welche die flüchtigen Hufe auf und hinter sich her wirbelten.

Das konnte nur Hans sein.

Sie lief den Hügel hinab auf die Brücke zu, welche fünfzig Schritte weiter rechts über den breiten Grenzgraben den Feldweg mit dem Waldweg verband. Und hatte die Brücke kaum erreicht, als er auch schon ganz nahe war. Noch ein paar mächtige Sätze. Dann hatte er den Rappen pariert, sich aus dem Sattel geschwungen, dem Pferde die Trense über den Kopf gestreift, um seinen rechten Arm hindurchzustecken, und kam nun auf sie, die ihm vollends entgegenlief, mit ausgestreckten Händen zu.

Käthe! Geliebtes Mädchen!

Du wilder Hans! Du sollst nicht so toll reiten!

Wenn ich dich da oben sehe!

Du hast mich erkannt?

Ich sah einen hellen Punkt. Wer hätte das anders sein sollen!

Ich bin ja auch nur so ein Punkt im Vergleich zu dir.

Sie blickte glückselig lächelnd zu der hohen Gestalt hinauf. Er beugte sich lächelnd auf das holde Gesicht herab, hätte für sein Leben gern die roten Lippen geküßt, wagte es aber nicht und berauschte sich statt dessen an dem Glanz der lächelnden braunen Augen.

Du bist meine Welt, mein Alles!

Wie kommt es, daß du heute schon wieder hier bist?

Ich hatte solche Sehnsucht nach dir.

Und ich nach dir. Ach, Hans, ich habe diese beiden Tage so trübe Gedanken gehabt! Daß du mich nicht mehr liebtest –

Herz, das ist doch mit deiner Erlaubnis Unsinn.

Freilich! Aber Papa! Seine Miene gefällt mir seit einiger Zeit gar nicht. Ich glaube, er ahnt oder weiß, wie es mit uns steht.

Ich glaube es auch.

Das sagst du so ruhig?

Ja, Herz, einmal mußte er es doch wissen, ich meine: von uns. Und – und – ich habe es an ihn geschrieben.

Was hast du gethan?

Vorhin, als ich nach Hause gekommen war. Ich habe den Brief durch Paul hinübergeschickt.

Papa ist nach Grünwald.

So wird er ihn finden, wenn er zurückkommt. Du bist mir bös, Herz?

Nein, Hans. Aber ich dachte immer, du würdest –

Es mündlich mit dem Papa abmachen. Du hast ja ganz recht: das wäre die richtige Ordnung gewesen, und ich habe auch nie eine andre Absicht gehabt, bis – Herz, ich will ganz ehrlich sein. Du weißt, wie sehr ich deinen Papa liebe, wie grenzenlos ich ihn verehre. Das ist ja selbstverständlich. Hat er doch von jeher Vaterstelle bei mir vertreten, ist mein Freund, Berater, mein Vorbild und Ideal gewesen. Aber ich habe auch einen heillosen Respekt vor ihm – auch selbstverständlich. Und der würde mich schließlich nicht gehindert haben. Nur – sieh, Kind! ich verdanke ihm so viel, ich möchte sagen: alles. Nun soll ich vor ihn hintreten und sagen: Jetzt gieb mir auch doch das Letzte, Beste; das Einzige, woran dein einsames Herz hängt – deine Käthe! Ihm das in die großen, traurigen Augen sagen! Sieh, Käthe, da habe ich es ihm lieber geschrieben und brauche morgen, wenn ich komme, mir sein Ja zu holen, keine langen Reden zu halten.

Der junge Mann hatte mit eindringlicher Lebhaftigkeit gesprochen; Käthe, nur manchmal die gesenkten Augen zu ihm nachdenklich aufhebend, schweigend zugehört. Jetzt, als er nicht mehr sprach, holte sie einen tiefen Atemzug und sagte: Mir ist alles recht, Hans. Und nun adieu! Es ist die allerhöchste Zeit.

Ich soll dich doch nicht allein durch den dunklen Wald gehen lassen!

Wer sollte mir was thun! Und die kurze Strecke!

Gleichviel! Wenigstens bis zur Baumschule. Du bist doch von dort gekommen?

Natürlich! Aber wo bleibst du mit dem Pluto?

Wenn du nichts dagegen hast, wird er hinter uns her marschieren und sich sehr vernünftig benehmen. Nicht wahr, Pluto?

Er steckte jetzt den linken Arm durch die Trense und bot Käthe den rechten.

Käthe lachte.

Ich glaube, Hans, es stolpert sich im Walde besser allein, als zu zweien.

Wie du meinst.

Die Dunkelheit im Walde war nicht so groß, dank dem Vollmonde, der inzwischen heraufgestiegen war und, wenn auch nur matt, doch gerade in den Weg hineinschien. Nur wenn er bei einer seltenen Krümmung hinter die Bäume trat, wurde es unbequem dunkel, und Hans bot Käthen die Hand, die sie zuletzt auch auf den lichten Stellen festhielt. Pluto benahm sich so »vernünftig«, wie sein Herr von ihm erwartet hatte. Er folgte willig Schritt vor Schritt; nur wenn ein trockenes Zweiglein unter seinen Hufen knackte oder ein kleines Getier durch Moos und Lattich raschelte, zuckte er ein wenig zusammen und ließ ein kurzes ängstliches Schnaufen hören. Sonst kein Geräusch in dem schweigenden Walde, als dann und wann ein Säuseln des Windes in den obersten Wipfeln. Zwischen den Liebenden wurden nur wenige geflüsterte Worte gewechselt. Und da standen sie auch schon an dem Brückchen über den Graben nach der Pforte im Lattenzaun der Baumschule.

Käthe hatte sich unterdessen überlegt, daß Hans' Brief an den Vater eigentlich etwas sehr Vernünftiges sei und die schwierige Sache wesentlich erleichtere, ihm aber für seine Eigenwilligkeit eine kleine Strafe zukomme.

Himmel! Nun habe ich den Schlüssel verloren! rief sie.

Sieh noch einmal ordentlich nach!

Sie schien ängstlich zu suchen.

Ich habe ihn wirklich nicht mehr. Was machen wir?

Wir gehen weiter bis zum nächsten Wege links, dann ein Stück in der Schneise, dann –

Ein Umweg von einer halben Stunde mindestens! Und zu Hause ängstigen sie sich.

Es bleibt aber nichts andres übrig.

Wenn du mich zu dir aufs Pferd nähmest! Dann können wir es in zehn Minuten holen. Ich will mich auch ordentlich fest an dich klammern.

Das ist eine Idee! Probiert hab' ich's freilich noch nie; aber es wird schon gehen. Ich will nur eben den Sattelgurt fester ziehen.

Du dummer Hans! Du glaubst mir doch alles. Hier ist er ja!

Schade! Es wäre famos gewesen!

Meinst du?

Du nicht?

Denke nicht daran!

Also gefoppt tout simplement. Wissen Sie, mein gnädiges Fräulein, daß das –

Was?

Hans hatte die Trense hoch auf die Schulter hinaufgestreift.

Käthe, dafür muß ich einen Kuß haben.

Nicht, bis wir richtig verlobt sind. Du hast es mir versprochen!

Dir keinen zu stehlen. Aber wenn du ihn mir freiwillig giebst –

Das Herz schlug beiden bis in die Kehle; ihr Sprechen war nur ein kaum verständliches Murmeln, während die geliebten kleinen Hände in der seinen zitterten. Er hatte sich so tief zu ihr hinabgebeugt, daß sein Atem ihre glühende Wange streifte.

Käthe!

Die Hände hatten sich gelöst, die Arme verschlungen, die Lippen aufeinander gepreßt.

Dann war sie ihm entschlüpft, über das Brückchen geeilt; der Schlüssel drehte sich im Schloß, und die zierliche Gestalt war hinter der wieder zuklappenden Thür verschwunden.

Er stand noch ein kleines Weilchen, Arm und Kopf an das Pferd gelehnt, versunken in ein Glücksgefühl, das kein Gedanke faßte.

Ein leises Schnauben auf seine Schulter weckte ihn aus dem seligen Traum. Er klopfte zärtlich den schlanken, zu ihm hingebogenen Hals des Tieres; stieg auf und ritt langsam durch die Mondesnacht den Weg zurück, den er mit der Geliebten gekommen war.


Käthe aber eilte fast laufend die Baumschule hinab, dann durch den Garten auf dem langen geraden Wege, über den nur hie und da eine Hecke oder höhere Pflanzengruppe ihre seltsamen Schatten warfen, dem Hause zu, aus dessen beiden Fenstern zu ebener Erde rechts ihr das Küchenlicht entgegenschimmerte. Wenn der Papa auch erst später nach Hause kam, ihr längeres Ausbleiben mußte aufgefallen sein; die treue Male hatte sich sicher schon geängstigt. Dazu ihr schlechtes Gewissen! Nicht daß sie Hans getroffen! Dafür konnte sie nichts; das hatte sie nicht ahnen können! Und nachdem sie sich einmal getroffen, war das andre selbstverständlich. Bis auf den Kuß! Den seligen, seligen Kuß! Nach dem sie sich schon längst gesehnt und sich gewundert, wie er sich das dumme Versprechen hatte abnehmen lassen können, mit einem gelegentlichen Handkuß zufrieden, während sie selbst doch schon mehr als einmal auf dem Punkte gestanden, ihm um den Hals zu fallen. Wenn sie gewußt hätte, daß es so süß war! Gott sei Dank, daß sie es nicht gewußt und dem Papa heute abend nicht mehr zu beichten hatte! Natürlich nur, wenn er danach fragte! Sonst nicht. Bewahre! Ob er wohl schon eine andre vor ihr geküßt? Als Student? Und Offizier! Verzeih mir, lieber geliebter Hans! Das kommt von den dummen Novellen, wo die Leute nichts zu thun haben, als ineinander verliebt zu sein und sich in einer Weise zu betragen, die sich für ein anständiges junges Mädchen und einen anständigen jungen Mann gar nicht schickt.

Sie war ins Haus und von dem Flur gleich in die Küche getreten, wo Male an einem hellen Herdfeuer hantierte, und nun, als sie die Thür gehen hörte, das rote Gesicht halb über die breite Schulter zu ihr wandte.

Aber, Fräulein Käthe, wo sind Sie man so lange geblieben! Und der Herr ist schon seit einer halben Stunde zurück!

Wo ist er?

Auf sein Zimmer gegangen.

Herr Brunnow?

Hat der Herr mitgebracht.

Ist – ist sonst jemand dagewesen?

Keine Menschenseele. Na ja: der Paul von dem Herrn Baron, der einen Brief für den Herrn gebracht hat. Mine hat ihn gleich auf den Herrn sein Zimmer getragen.

Male hatte den Eierkuchen, der in der Pfanne brodelte, obgleich er noch zu wünschen übrig ließ, auf die Schüssel zu den bereits fertigen gestülpt und sich umgewandt, die Wirkung zu erproben, welche ihre letzte Mitteilung auf Fräulein Käthe haben würde. Aber sie war nicht schnell genug gewesen – Käthe war schon zur Küche hinaus.

Wir haben in acht Wochen Hochzeit, murmelte Male, einen neuen Eierkuchen anrührend.

Was wird Papa sagen? sprach Käthe bei sich, während sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer eilte, sich für das Abendbrot ein wenig zurechtzumachen. Sie brauchte kein Licht anzuzünden; der Mond leuchtete blendend hell durch die geöffneten Fenster. Dafür erschien ihr denn ihr Gesicht, das sie in dem großen Spiegel zwischen den beiden Fenstern sah, geisterbleich.

Wie soll man denn im Mondschein anders aussehen? sagte sie halblaut. Ueberhaupt, es ist ganz dumm, mich so zu ängstigen. Als ob es ein Verbrechen wäre, daß Hans mich liebt und ich ihn! Natürlich hat Papa den Brief sogleich gelesen. Da kommt er!

Es war nicht der Vater; nur Mine.

Der Herr lassen sagen, er habe noch etwas zu arbeiten; Fräulein Käthe und Herr Brunnow möchten immer anfangen zu essen.

Hast du Herrn Brunnow gerufen?

Er ist schon unten.

Ich werde gleich kommen.

Das Mädchen war gegangen; Käthe stand mitten im Zimmer, wie betäubt.

Wie war das? Der Vater hatte Hans' Brief gelesen – ganz zweifellos. Und er kam nicht; ließ sie auch nicht rufen und – sie möchte immer mit Herrn Brunnow zu essen anfangen!

War denn das alles nur ein böser Traum? eine Strafe dafür, daß sie sich von ihrem Hans hat küssen lassen? Das ist doch am Ende so schlimm nicht. Vorläufig weiß Papa es ja auch gar nicht. Ach, was! Ich gehe zu ihm.

Sie eilte die Treppe hinab und klopfte an seine Thür.

Wer ist da?

Ich wollte dir guten Abend sagen, Papa. Darf ich hereinkommen?

Ich habe noch ein paar Minuten zu thun. Fangt inzwischen immer an!

Aber du wirst doch kommen?

Fangt nur immer an!

Käthe traute ihren Ohren kaum. Also wirklich! Der Vater wollte sie nicht sehen, nicht sprechen in diesem Augenblick, wo er wissen mußte, wie innig sie danach verlangte, ließ sie vor der Thür stehen mit ihrem klopfenden Herzen! Das war schlecht von Papa! Das hätte sie nie von ihm geglaubt!

Ich fasse es nicht; ich fasse es nicht, murmelte sie, während sie über den Flur nach dem gegenüberliegenden Speisezimmer ging. Dort stand sie ein Weilchen vor der Thür, hastig das Taschentuch ein paarmal auf die Augen tupfend: Herr Brunnow durfte nicht sehen, daß sie geweint hatte. Dann trat sie ein.

Herr Brunnow wandte sich von dem offenen Fenster zu ihr und machte seine Verbeugung. Mit einer Ruhe, über die sie sich wunderte, sagte sie, daß der Papa noch beschäftigt sei.

Er bittet, wir möchten ohne ihn anfangen; aber ich denke, wir warten noch ein wenig.

Herr Brunnow verbeugte sich abermals.

Wie haben Sie den Nachmittag verbracht? fragte Käthe, nur um etwas zu sagen.

Ihr Herr Vater hatte mich mit einem Auftrage auf die Försterei geschickt; von dort hat er mich vor einer Stunde abgeholt.

Hat Papa einen Verdruß gehabt?

Einen Verdruß? Nicht daß ich wüßte. Weshalb meinen gnädiges Fräulein?

Ich finde Papa in den letzten Tagen ungewöhnlich still, erwiderte Käthe ausweichend.

Es ist mir nicht aufgefallen. So recht gesprächig ist Ihr Herr Vater ja nie. Sie werden nicht annehmen, gnädiges Fräulein, daß es ein Vorwurf sein soll. Gott bewahre! Im Gegenteil! »Das arme Haus ist offen, das reiche zu,« heißt es in der Frithjofssage von Tegnér Esaias Tegnér (1782-1846), schwedischer Lyriker und lutherischer Bischof. Seine » Frithiofs saga« (1825), bei der er eine Thematik aus den altnordischen Sagenstoffen behandelte, hatte im 19. Jh. in Schweden eine Verbreitung wie kaum ein anderes literarisches Werk und wurde in etliche Sprachen übersetzt, ins Deutsche mehrfach.. Es ist auch mein Wahlspruch.

Gratuliere!

Wozu, gnädiges Fräulein?

Zu dem reichen Hause.

Ach, gnädiges Fräulein, was habe ich nur gethan, daß Sie immer so grausam gegen mich sind!

Käthe wurde die Antwort erspart. Mine kam herein mit einer Schüssel voll Eierkuchen, die sie auf den gedeckten Tisch setzte. Und der Herr könne nicht zu Tisch kommen und lasse Fräulein Käthe und Herrn Brunnow eine gute Nacht wünschen.

Es thut mir leid, sagte Käthe; aber auch ich muß Sie bitten, mich zu entschuldigen. Ich habe schon den ganzen Tag so furchtbare Kopfschmerzen gehabt.

Mein Gott, ja, rief Herr Brunnow. Ich habe es Ihnen angesehen, als Sie ins Zimmer traten!

Sie nehmen mir es also nicht übel?

Aber wie könnte ich!

Dann also, gute Nacht! Und Mine, daß du Herrn Brunnow ordentlich bedienst!

Gute Besserung! gute Besserung, gnädiges Fräulein!

Herr Brunnow hatte die Thür hinter Käthe geschlossen und begann im Zimmer auf und ab zu gehen, wobei er sich wiederholt über das dichte, kurzgeschorene Haar strich.

Wollen der Herr Kandidat nicht Platz nehmen, sagte Mine, nachdem sie vom Büffet aus dem jungen Herrn eine Weile schweigend zugesehen hatte; die Eierkuchen werden sonst eiskalt.

Herr Brunnow zuckte zusammen, wie jemand, der aus tiefem Schlaf aufgeschreckt wird.

Was sagten Sie? Ja so! Ich habe ebenfalls keinen Appetit. Nicht den mindesten. Ich habe ebenfalls sehr heftiges Kopfweh – sehr heftiges. Sie können wieder abdecken, Stine – entschuldigen Sie: Mine! Und was ich sagen wollte – ich möchte noch etwas frische Luft schöpfen. Sie sind wohl so freundlich, die Hinterthür nicht zu verriegeln, im Fall ich länger draußen bliebe.

Der junge Mann war zum Zimmer hinausgestürzt.

Als ob's brennte, sagte Mine für sich, während sie den Tisch abzuräumen begann. Die Sache hat einen Knacks. Auf so was versteht sich unsereine.

Oben in ihrem Zimmer lag Käthe auf dem Sofa, in Thränen aufgelöst. Nun war es sonnenklar: Papa wollte es nicht; wollte nicht, daß sie Hans liebte, mit Hans glücklich wurde; wollte, daß seine Käthe, sein Eichkätzchen, sein Liebling sich totweinte! Es war nicht auszudenken; aber es war so. Sie weinte auch gar nicht um sich; nur um Hans, ihren geliebten, geliebten Hans, Der arme Junge! Wenn er das morgen hörte! Nicht von ihr! Der Papa mochte es ihm selber sagen. Sie würde ihm darum doch treu bleiben. Bis in den Tod. Der dann auch gewiß nicht lange auf sich warten ließe. Wie sollte sie weiter leben ohne Hans? und Hans ohne sie? Gestern noch, heute morgen noch – vielleicht. Aber seit heute abend, nachdem sie sich geküßt – nimmermehr!

Sie richtete sich halb auf. Durch die offenen Fenster vom Walde her kam es, melodisch leis, wie Aeolsharfenklang: »Behüt dich Gott! es wär' zu schön gewesen –« Die Tage vorher hatte sie, wenn Herr Brunnow ihr wieder einmal sein Ständchen aus der Ferne brachte, gelacht, oder sich wohl gar geärgert. Heute konnte sie nicht lachen, nicht ärgerlich auf den närrischen Menschen sein; heute nicht, wo sie erfahren, wie weh unglückliche Liebe thut. Und sie hatte noch vorhin ihn so grausam verspotten können! Morgen wollte sie es ihm abbitten. Morgen! Die Nacht war so schön; kein Wölkchen am tiefblauen Himmel, über den der Mond seine goldene Bahn zog. Morgen würde die Sonne strahlend aufgehen und – mein armer geliebter Hans!

Sie hatte mit fiebernder Hand die Fenster geschlossen und sich angekleidet auf das Bett geworfen, den Kopf in die Kissen vergrabend, nichts mehr zu hören und zu sehen.


Als Käthe an seine Thür klopfte, war der Oberförster, der mit langen Schritten, die Hände auf dem Rücken, in dem Zimmer hin und wider ging, zusammengefahren, wie ein ertappter Verbrecher. Daran hatte er nicht gedacht, daß sie noch vor Tisch zu ihm kommen würde; gemeint, die Auseinandersetzung werde stattfinden, nachdem Herr Brunnow sich zurückgezogen, wie er in seiner Bescheidenheit zu thun pflegte, und er mit ihr allein war. Dann wollte er sie fragen, ob sie mit ihren siebzehn Jahren es sich auch wohl recht überlegt; und so noch vieles, vieles, was er sich selbst erst überlegen mußte, bis er in das Eßzimmer hinüberging. Da war sie gekommen und – er hatte sie weggeschickt! Feig! feig und kindisch! Was sollten die paar Minuten, nachdem er ein Vierteljahr Zeit gehabt hatte, einen Entschluß zu fassen! Und jahrelang, daß es einmal so kommen könne, vorhergesehen!

Er hatte die Hand auf dem Thürdrücker, als er erst bemerkte, daß er noch war, wie er aus dem Wagen gestiegen: in seinem Dienstanzug, über und über bestäubt; nicht einmal den Hirschfänger hatte er abgeschnallt in der Eile, an den Brief zu gelangen, der auf seinem Schreibtische liegen sollte.

Er nahm die Lampe vom Tisch und begab sich in sein Schlafzimmer nebenan, sich zurechtzumachen, ärgerlich, daß es ihm so langsam von der Hand ging. Plötzlich mußte er sich setzen; es war ihm dunkel vor den Augen geworden; um ein weniges wäre er hingestürzt. Das dauerte nur ein paar Sekunden; dann konnte er wieder aufstehen und mit einem Glase frischen Wassers von der Waschtoilette sich völlig kräftigen. Seltsam! Nur einmal in seinem Leben erinnerte er sich, einen solchen Anfall gehabt zu haben: in der Campagne von siebzig nach einem fürchterlich anstrengenden Marsche! Heute konnte es von einer derartigen Veranlassung nicht gekommen sein; heute war es die Qual der Angst, es könne in dem Exempel trotz des sorgfältigsten Rechnens doch ein Fehler stecken. Unwahrscheinlich – fast unmöglich; aber doch nicht ganz. Dann aber durfte er sich heute abend nicht zu einem Ja drängen lassen, das er morgen bitter bereuen würde. Sein armes Kind würde die Nacht in Thränen verbringen, und Gott wußte, wie gern er sie ihr erspart hätte. Es waren die ersten und sollten auch die letzten sein, die sie ihre junge Liebe kostete. Das Exempel würde stimmen; mußte stimmen. Mochte die Natur der Eltern Sünden an den Kindern rächen – in der moralischen Welt gilt ein so brutales Gesetz nicht. Und hier konnte die Rede nicht sein von einer Sünde, einem Verbrechen; hier –

Er öffnete die Thür, um Mine, die er aus der Küche über den Flur nach dem Speisezimmer gehen hörte, den Auftrag zu geben, ihn bei dem Abendessen zu entschuldigen. Dann riegelte er die Thür ab, auch die, welche aus seinem Arbeitszimmer auf den Flur führte; zog die Vorhänge an den Fenstern zu; ging wieder in das Schlafzimmer, wo am Fußende des Bettes der große eiserne Schrank stand. Den schloß er auf und nahm aus einer besonders verwahrten Abteilung ein umfangreiches Heft, mit dem er sich an seinen Arbeitstisch setzte, nachdem er sich überzeugt, daß die Lampe in Ordnung war.

Eine Zeitlang saß er schweigend, den Kopf herabgebeugt, die Hände über dem Heft gefaltet, wie ein Beichtender. War dies doch auch seine Beichte. Nur daß er sie nicht einem Priester in das Ohr geraunt, sondern sich selbst abgelegt und dem, was er Gott nannte, nach bestem Wissen und Gewissen.

Er hatte die Aufzeichnungen der vielen Jahre nie im Zusammenhang gelesen, und so sich überzeugen können, daß eines zu dem andern und alles zum Ganzen stimmte. Er wollte es in dieser entscheidenden Stunde thun. Es sollte die Probe auf das große, verwickelte Exempel sein.


2. April 74.

Da wären wir: Monsieur, Madame et Bébé! Man hat mir bereits erzählt, daß mein Vorgänger, als er das Haus verließ, einen greulichen Fluch ausgesprochen hat über den, der es nach ihm betreten würde. Ich glaube nicht an die Wirksamkeit von Flüchen, besonders wenn sie, wie hier, von einem kommen, der gehen mußte, weil er tout simplement zu einem unverbesserlichen Trinker herabgesunken war, mithin in seinem moralischen, physischen und nun auch ökonomischen Zusammenbruch vollauf Ursache zum Fluchen hatte. Dafür hat uns denn der gute alte Oberforstmeister, als ich mich in Sundin bei ihm meldete, seinen Segen gegeben, wenn es auch ein bißchen ominös klang: Ich wünsche Ihnen und hoffe zu Gott, lieber College, daß Sie auf dem schönen Posten lange Jahre zum Nutzen des Staates in Frieden, Freuden und Ruhe leben!

In Frieden und Freuden – à la bonne heure! Aber lange Jahre und in Ruhe? Das klingt beinahe, als hätte mich der Schritt vom Forstassessor zum Oberförster nicht bloß ein hübsches Ende weiter – was ich dankbar anerkenne – sondern auch gleich an das Endziel meiner Carriere gebracht, was mir denn doch einigermaßen leid thun sollte. Nicht meinetwegen! Ich glaube nicht gerade unbescheiden zu sein, – für meine Person notabene! Aber wenn ich schon einmal dem »Racker von Staat« nutzen soll, will mich bedünken, ich hätte das Zeug dazu, es in einer größeren Sphäre zu können, als in der eines simpeln Oberförsters. Nun, wie Gott will, ich halte still, schon deshalb, weil es mir schlechterdings nichts helfen würde, wollte ich mich ungebärdig stellen.

Und auch vorläufig dazu wahrhaftig keinen Grund habe. Vorgestern und gestern habe ich benutzt, mein Revier zu Wagen, zu Roß und zu Fuß zu durchstreifen. Dreißigtausend pommersche Morgen, Wiesen, Bruch und Haideland eingerechnet, die beiden Seeen, den größeren und kleineren, nicht zu vergessen! Das spricht und schreibt sich so leicht: dreißigtausend Morgen; aber in Wirklichkeit ist es ein ungeheures Terrain, aus dem mir ein köstliches Leben erblühen wird, wenn seine Köstlichkeit denn wirklich in Mühe und Arbeit besteht. Ja, werter Herr Vorgänger: bei aller schuldigen Rücksichtnahme auf Ihre alkoholischen Neigungen – dergestalt brauchten Sie Ihren Forst nicht verwildern zu lassen; und, verehrter Herr Chef – bei allem schuldigen Respekt, ich glaube, es würde dem Staat nicht zum Schaden gereichen, wenn Sie etwas weniger gelehrt und etwas weniger gutmütig wären. Ich habe mir das Wort darauf gegeben, mit dieser Ihrer liebenswürdigen Schwäche auch nicht den mindesten Mißbrauch zu treiben, und Sie können sich darauf verlassen, daß ich mein Wort halte.

* * *

Wäre das Wetter nur besser! Es ist freilich nicht schlechter, als es Anfang April zu sein pflegt: sehr viel kalter Regen und sehr wenig nicht übrig warmer Sonnenschein, aber wenn man, wie ich, fast vom Morgen bis zum Abend sich draußen bewegt, ist es recht unbequem und die Gegend wird dadurch auch nicht gerade schöner. Elfriede freilich wünscht zu wissen, wann und wie diese Gegend überhaupt schön werden könne. Die arme Elfriede! Sie gibt sich alle Mühe, ihre gewohnte Heiterkeit zu bewahren, aber ich sehe ihr an, daß sie manchmal hart mit den Thränen kämpft, und bin gar nicht sicher, daß, wenn ich vom Hause bin, sie sich rechtschaffen ausweint. Es zieht sie sehnsuchtsvoll nach ihren blauen Thüringer Bergen; ach, und die sind fern, so fern! Vergebens habe ich sie mit der Versicherung zu trösten versucht, es werde alles ganz anders aussehen, wenn wir den großen verwilderten Garten hinter dem Hause erst in Ordnung gebracht hätten, und im Mai alles knospete und blühte, und die prächtigen Hallen des Buchwaldes sich über uns wölbten, prangend mit jungem, zartgrünem Laub; von dem herrlichen Nadelholz gar nicht zu sprechen, das den weitaus größten Teil meines Forstes ausmacht und bekanntlich auch im Winter grüne, wenn es schneit. Und dann gebe ich eine wundervolle Schilderung von den Reizen der pommerschen Landschaft im Hochsommer mit ihren endlosen wogenden Aehrenfeldern, über denen die Lerchen im blauen Himmel trillerten, und den saftigen Wiesenbreiten, auf welchen zahllose Herden breitgestirnter Rinder behaglich weideten. Ich hatte die Schilderung allerdings einem Roman entlehnt, den ich eben erst ad hoc gelesen; und so mochte es kommen, daß Elfriede ungläubig das hübsche Köpfchen schüttelte und mit einem satirischen Anflug, der bei ihr ganz selten ist, bemerkte: das möge ja so weit ganz gut für das liebe Vieh sein; für Menschen genüge es doch wohl kaum. Aber vielleicht gebe es dergleichen hier zu Lande nicht; gesehen hätte sie wenigstens noch keine.

Eine frauenhafte Uebertreibung, wenn ich auch zugeben muß, viel sind es bis jetzt noch nicht gewesen; kaum jemand außer unsern Leuten und meinen Förstern. Doch das sind lauter neue wildfremde Gesichter, und denen man etwas besonderes Anziehendes nicht nachsagen kann, wenn ihre Inhaber auch brave Menschen zu sein scheinen. Dazu ihr Platt, das sie beständig sprechen, wenigstens wenn sie unter sich sind. Ich höre es gern, gebe mir die erdenklichste Mühe, es zu verstehen; radebreche es sogar schon ein wenig. Die kleine eigensinnige Frau findet es abscheulich; und sie werde und sie wolle es niemals lernen.

Ich fürchte, sie führt diese Drohung aus: fremde Sprachen lernen ist gar nicht ihre Sache. Dafür will ich wetten, es vergeht kein Monat, und sie steht mit allen diesen Leuten auf dem besten Fuß, kennt ihre Verhältnisse bis ins kleinste, weiß ganz genau, wo sie der Schuh drückt, und: Höre, Raimund, du mußt wirklich beantragen, daß Förster Amsberg eine Zulage erhält … was ich sagen wollte, Raimund, ich war heute bei Chausseeaufsehers; sie gehen uns eigentlich nichts an; aber …

Die Liebe, Gute! ach, daß sich alle aus der Fülle der Liebe die Sorte Menschenhaß tränken!

* * *

Einen Punkt habe ich doch entdeckt – und sogar in mäßiger Nähe der Oberförsterei – von dem selbst Elfriede zugeben muß, daß »sich über ihn reden lasse«.

Wenn man den langen schmalen Garten zu Ende gegangen ist, gelangt man an ein großes breites Terrain, das eine Baum- und Pflanzenschule zu sein beansprucht und von der bis jetzt vielleicht die Buschhasen im Winter einigen Vorteil gehabt haben. Dann ein versumpfter Graben, über den ein geländerloser vermorschter Steg unmittelbar in den Wald (hier ausschließlich Nadelholz) und auf einen verwilderten Holzweg führt, der so ziemlich geradlinig den Forst von Osten nach Westen durchschneidet. Bis zur östlichen Visiere ist es eine geraume Strecke; nach Westen hat man kaum zehn Minuten, um ins Freie zu gelangen. Und nun ein seltsames Naturspiel, wenn, wie ich fast annehmen möchte, der Hügel, welcher sich unmittelbar neben dem Ausgang des Weges aus dem Walde hart an dessen Rande zu der Höhe eines mäßigen Hauses erhebt, nicht doch ein Werk von Menschenhand ist – ein riesiges Hünengrab vielleicht, wie sie in dieser Gegend häufiger vorkommen sollen. Zu dieser Annahme stimmt allerdings nicht das Fehlen der erratischen Blöcke, mit denen solche ehrwürdigen Male umgeben zu sein pflegen; aber sie mögen während der langen Zeit in den weichen Boden gesunken oder in dieser steinarmen Gegend als gute Beute verschleppt und als Baumaterial verwertet sein. Wie die kolossale Eiche, die von dem Gipfel des Hügels aufragt, dahin gekommen ist, habe ich noch nicht enträtseln können. Vielleicht, daß meine Vermutung sich bestätigt und sie ein Ueberbleibsel des Eichenurwaldes ist, der einstmals diese Gegend bedeckte und sich durch Selbstumforstung in einen Nadelholzwald verwandelt hat. Aus der Zeit der Hünengräber stammt sie keinesfalls; sie ist nach meiner Schätzung höchstens fünfhundert Jahre alt.

Dem sei, wie ihm wolle: das Ganze ist eine Merk- und Sehenswürdigkeit in diesem mitleidlosen Flachlande, von dem man, oben stehend, ein gewaltiges Stück überblicken kann. Ein Halbrund allerdings nur, denn rückwärts zieht sich nach beiden Seiten die Visiere des Waldes in gerader kaum absehbarer Linie. Und viel Merkwürdiges bietet es just auch nicht, man müßte denn die mit Pappeln bepflanzte, nach Sundin führende Chaussee so nennen, an der meine Oberförsterei liegt, und die, in Büchsenschußweite rechts vom Hügel aus dem Walde tretend, sich in einem großen Bogen nordwärts wendet; oder das halbe Dutzend größerer und kleinerer Gehöfte, welche hie und da inselgleich aus dem grauen, zur Zeit nur gelegentlich von grünen Streifen durchzogenen Meer der Ebene aufragen. Da muß denn wohl das stattliche schloßartige Herrenhaus, das in der Entfernung von etwa dreitausend Schritten sich mit ganzer Front präsentiert, als pièce de résistance den Blick auf sich ziehen. Im Sommer wird es wohl im Baum- und Buschwerk seines Parkes halb begraben sein, den eine ebenfalls weiße, in gemessenen Abständen mit Vasen oder dergleichen auf erhöhten Pilastern ornamentierte Mauer vornehm von der gemeinen Welt ringsum abschließt. Das Gut heißt Möllenhof, wie ich von Amsberg weiß, und gehört einem Baron von Kardow, der auch sonst noch in der Umgegend und auf dem benachbarten Rügen reich begütert sein soll. Vielleicht ist es ein Verwandter von dem Kardow, der vor Paris ein paar Tage lang zusammen mit mir einen kombinierten Vorposten kommandierte. Es war, wie ich mich erinnere, ein auffallend hübscher, eleganter Mensch, ein paar Jahre, glaube ich, jünger als ich, dem ich trotz der nahen dienstlichen Beziehungen und der gemeinschaftlichen Todesgefahr der Bomben von Fort Varrien nicht näher getreten bin. Er ärgerte mich durch seine dienstwidrigen Tollkühnheiten, in denen ich nur junkerlichen Uebermut sah. Bei einer Gelegenheit kam mir freilich der Gedanke, daß er den Tod suche, aber wohl nur, weil er auf mich trotz seiner Jugend den Eindruck eines Menschen machte, der das Leben schon allzureichlich genossen hatte. Er ist mir dann aus den Augen gekommen. Möglicherweise erfahre ich etwas über ihn, wenn wir in Möllenhof unsre Antrittsvisite machen. Es ist höchste Zeit, daß wir uns den Nachbarn präsentieren, wäre es auch nur, um Elfriede zu zerstreuen, bevor sie mir noch ganz melancholisch wird.

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Nun ist für sie eine Zerstreuung gekommen, die ich ihr am allerwenigsten gewünscht hätte: unser kleiner Bernhard ist ein paar Tage ernstlich krank gewesen. Eine wirkliche Gefahr hat nicht stattgefunden, versichert mich heute der junge Arzt, den ich mir aus Grimm auf gut Glück habe kommen lassen und der mir durch seine große Ruhe und Klarheit in erfreulichster Weise imponiert. Der plötzliche Wechsel des Klimas, vielleicht auch der gewohnten Lebensweise sei für einen so zarten Organismus immer bedenklich. Er schien über die geistige Entwickelung des eben erst Vierjährigen erstaunt; wenigstens hat er mir sehr auf die Seele gebunden, ja dafür Sorge zu tragen, daß seine natürliche Reizbarkeit und Lebendigkeit nicht noch künstlich gesteigert werde. Es wird schwer sein, das Elfrieden begreiflich zu machen, zu deren hervorragenden Eigenschaften pädagogisches Talent gerade nicht gehört, und die in unserm vorläufig einzigen ein Wunderkind sieht.

Als ob nicht jedes Kind ein Wunder wäre, ein himmlisches Gefäß, angefüllt mit tausend köstlichen Gaben, die ebenso viele unendliche Möglichkeiten sind! Ach, und wie wenige davon werden Wirklichkeiten! Es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Jawohl! Aber man sollte es nicht mit spöttischem Achselzucken, mit Thränen in den Augen sollte man es sagen.

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Nun haben die Fremdlinge den ersten schüchternen Versuch gemacht, mit der Nachbarschaft Fühlung zu gewinnen. Seien wir offen: er ist nicht übermäßig glänzend ausgefallen. Ich war darauf gefaßt, und eigentlich thut es mir nur Elfriedens wegen leid, daß die Ausbeute so gering ist. Das Beste war eigentlich die Fahrt bei dem schönen mildwarmen Wetter in dem Jagdwagen, den ich, ebenso wie die beiden Pferde, von meinem Vorgänger übernommen habe, wie ich meinte: für einen Spottpreis, wie mich Herr Specht auf Katznow versichert, für doppelt so viel als »die ganze Bescherung« wert sei. Das war vielleicht wenig freundlich, und ich bin nicht überzeugt, daß es ganz ehrlich war. Wenigstens erschienen mir die beiden Braunen, die er mir zum Austausch anbot (wenn ich noch zweihundert Mark zulegte) nicht um einen Deut besser als meine Füchse. Uebrigens versicherte mich Herr Specht über einem Glase recht mäßigen Rotweines wiederholt seines Wohlwollens, und daß, wenn ich einer Auskunft, eines Rates bedürfe, ich mich getrost an ihn wenden möge. Ich denke, ich werde von dieser Erlaubnis nur bescheidenen Gebrauch machen.

Dann ging es weiter, erst auf Feldwegen, über die Chaussee hinüber, wieder auf Feldwegen zu einem andern Gut, das Ungnad heißt und einem Herrn Lachmund gehört. Nie traf für einen Menschen das Omen in nomine weniger zu: Herr Lachmund ist die mürrische Schweigsamkeit selbst und wird in dieser unliebsamen Eigenschaft von seiner langen, hageren Ehehälfte womöglich noch übertroffen. Uebrigens hatte uns Herr Specht, der nebenbei – was wir nicht wußten – Junggesell ist, darauf vorbereitet. Zu verwundern sei es nicht: eine große Kinderschar und ein Gut, das einen miserabeln Boden habe und jämmerlich rentiere. Die arme Elfriede! Unter den harten Blicken der grämlichen Frau saß sie auf dem harten Sofa angstvoll wie ein Vögelchen, dem die Schlange ins Nest starrt! Ich erlöste uns, sobald es nur irgend der Anstand erlaubte, aus dieser peinlichen Situation, und wir atmeten hoch auf, als wir wieder im Wagen saßen, um – abermals auf Feldwegen – nach Griebenitz zu fahren, dem Hauptgut des Grafen Grieben, wo wir das Nest leer von den vornehmen Vögeln fanden: der Herr Graf war nach Berlin zu einer wichtigen Herrenhaussitzung, die Frau Gräfin auf Besuch bei einer verheirateten Tochter irgendwo hier herum. Dafür hatten wir die Ehre, zwei Komtessen begrüßen zu können – vornehme, schlanke Gestalten, die in Begleitung eines Kavaliers und eines Grooms uns zu Pferde begegneten, als wir durch den Park zurückfuhren.

Damit hatten wir unser Pensum erschöpft, so weit es die östlich von meinem Revier befindliche nächste Nachbarschaft anging. Elfriede verlangte nach Hause; aber es restierte noch ein guter Teil vom Vormittag, das Wetter war so schön, und wenn uns auch nach einer Fortsetzung der bisher gemachten Erfahrungen nicht gerade gelüsten konnte – wir waren einmal unterwegs und vielleicht lag westwärts das nachbarliche Glück, das wir ostwärts vergebens gesucht hatten.

Wir hätten von Griebenitz die Grünwalder Chaussee benutzen können bis zu dem Punkte, wo sie sich von unsrer – der nach Sundin – abzweigt; aber dann an unserm Hause vorüber gemußt, wo mir die Wahrscheinlichkeit, daß wir nicht weiter kommen würden, allzu groß schien. Ich ließ deshalb von der Chaussee in den Wald einlenken auf einen Weg, der ihn, ziemlich parallel mit dieser, durchquert. Der Weg hätte beträchtlich besser sein können – ein richtiger Holzweg im Geschmack meines Vorgängers, mit fußtiefen Geleisen stellenweise und fürchterlichen Schlaglöchern – dennoch war die Fahrt entzückend. Der Hochwald stand freilich noch braun; aber in dem Unterholz nach dem warmen Regen der letzten Tage grunelte Ein Goethe-Wort: synästhetischer Ausdruck eines Heilungs-, Verwandlungs-, Erneuerungsvorgangs: nach (vom Regen) erfrischtem Grün, der Entstehung neuen (vegetabilen) Lebens duften. es bereits; auf tiefer gelegenen Stellen und die vom alten Laube nicht bedeckt waren, sproßte Gras und Kraut schon ganz kräftig; und Vogelsang, in welchem der Fink die Oberstimme hatte, begleitete uns während der ganzen Zeit. Elfriede, die diesen Teil des Reviers noch nicht kannte, kam ordentlich in eine gehobene Stimmung, besonders als wir den nördlichen Rand des Sees passierten, der von der Stelle aus in seiner ganzen respektablen Ausdehnung zu übersehen ist. In der That ein reizendes Bild wie aus einem Märchen: die regungslose, selbst im Sonnenschein fast schwarze Fläche, in der sich Schilf und Röhricht des Ufersaums und die ringsum ragenden Buchen bis in das kleinste Detail abspiegeln.

Als wir aus dem Walde auftauchten, lag ein stattlicher Gutshof vor uns, unser nächstes Ziel: die Domäne Brandshagen. Herr Moen, der das Rollen unsres Wagens auf dem holprigen Pflaster des Hofes gehört hatte, empfing uns am Fuße der Doppeltreppe, die zu dem kleinen Altan vor der Hausthür hinaufführt, in einem Kostüm, das zu wünschen ließ, aber mit gastfreundlicher Miene und etwas plumper, wie mir schien, ehrlich gemeinter Zuvorkommenheit, während er inzwischen wiederholt mit überlauter und doch ängstlicher Stimme nach Emilie rief, die denn auch alsbald erschien: eine hochgewachsene, blonde, junge – ich denke höchstens fünfundzwanzig Jahre alte – Frau mit einem beinahe schönen, jedenfalls sehr sympathischen Gesicht, dessen Wangen sich leicht mit einer intensiven Röte bedecken, und aus dem zwei große blaue Augen gütig und klug zugleich blicken. Wir waren in ein einfaches, aber behagliches Wohnzimmer linker Hand geführt, und die Damen hatten kaum auf dem Sofa, wir auf Stühlen an dem runden Tisch Platz genommen, als auch schon zwei Flaschen Rotwein zwischen uns standen, die Herr Moen mit einem Pfropfenzieher, den er aus der Tasche nahm, entkorkte, um mit uns auf gute Nachbarschaft anzustoßen. Wir thaten höflich Bescheid, wobei mir die Mahnung wurde, »auszutrinken«, was ich nicht wohl verweigern konnte, da mir der gastfreundliche Mann darin mit solcher Entschiedenheit voranging. Leider verließen uns nach einigen Minuten die Damen, da Frau Moen Elfriede ein wenig in ihrer Wirtschaft herumführen wollte; ich blieb mit Herrn Moen allein und begriff jetzt, warum er gleich die beiden Flaschen entkorkt hatte. Denn obgleich ich nicht mehr »auszutrinken« brauchte, war die erste doch im Nu geleert; es währte nicht lange, bis die zweite von demselben Geschick ereilt wurde, und sicherlich wäre es einer etwaigen dritten und vierten – sie waren schon beordert – nicht anders ergangen, hätte ich nicht entschiedenen Protest eingelegt. Glücklicherweise kamen in diesem Augenblick auch die Damen zurück und wir durften aufbrechen, nachdem man sich gegenseitig versichert, daß man einander recht oft zu sehen hoffe.

Wir waren kaum von dem Hof fort, als mir Elfriede zwei große Neuigkeiten mitteilte; erstens: daß sie komplett in Frau Moen verliebt und zweitens, Baron Kardow auf Möllenhof wahr und wahrhaftig mein Kriegskamerad vom Winter siebzig vor Paris sei. Der Baron selbst hatte es Frau Moen mitgeteilt, als er sie gestern auf dem Markte in Grimm traf, und daß er und die Baronin sich wunderten, weshalb wir sie »bis jetzt geschnitten« hätten.

Das klingt ja ganz nett, sagte Elfriede; aber ich möchte dich doch bitten, den Besuch auf ein andres Mal zu verschieben. Ich fühle mich ein wenig angegriffen.

Ich befahl Karl, direkt nach Hause zu fahren.

* * *

Drei Tage sind vergangen und der Besuch ist noch immer nicht gemacht. Elfriede hat die Lust dazu verloren, seitdem ihr Frau Moen, jetzt ihre Intima, anvertraut hat, daß die Frau Baronin, eine geborene Komtesse Drewenitz von Rügen, »fürchterlich adelstolz« sei und jeglichen Verkehr mit den bürgerlichen Gutsbesitzers- und Domänenpächtersfrauen auf das sorgfältigste vermeide. Ob ich den Besuch nicht allein machen wolle? Ich stelle ihr vor, es möchte das, nachdem wir in Schloß Griebenitz unsre Karten abgegeben hätten, als eine Demonstration erscheinen, die nach der, wenn auch nur indirekten Aufforderung des Barons, uns in Möllenhof vorzustellen, sich doppelt seltsam ausnehmen würde. Bis jetzt habe ich die sonst so Fügsame nicht überreden können.

Offen gestanden: meine Sehnsucht, die Bekanntschaft mit dem Baron zu erneuern, ist ebenfalls nicht groß. Je klarer ich mir das Bild zu machen suche, das mir von ihm in Erinnerung geblieben ist, desto mehr wächst mein Widerwille, wieder mit jemand in Verbindung zu treten, den mir selbst die gemeinschaftliche Gefahr, welche sonst die Menschen so leicht aneinander bindet, nicht näher gebracht hatte.

Und dann ist da noch etwas, das durch diese begreifliche Scheu nicht erklärt wird, entschieden aus tieferen Regionen des Gemüts kommt und für das ich keinen Namen habe, wenn ich es aber doch benennen soll, als abergläubische Frucht bezeichnen muß: es werde mir aus diesem Besuch ein schweres Unheil erwachsen. Ich ärgere mich über eine Empfindung, die mir völlig fremd ist, völlig albern erscheint, und von der ich mich dennoch nicht losmachen kann. Ich hüte mich, gegen Elfriede davon zu sprechen. Es würde sie nur in ihrer Opposition bestärken. Und gemacht werden muß der Besuch. Jetzt unweigerlich. Gespenster kann ich in meinem Leben nicht dulden.

* * *

Der Knoten ist gelöst; der Baron hat das Präveniere gespielt: heute nach Tisch (für uns) fuhr ein offenes Wägelchen vor, in welchem ein Herr und ein kleiner bildhübscher Knabe saßen. Ich stand gerade am Fenster meines Arbeitszimmers. Der Herr sah mich stehen, grüßte, winkte, sprang mit einem Satze aus dem Wagen und kam so schnell durch das Vorgärtchen, daß ich ihm eben noch in der Hausthür entgegentreten konnte.

Sie kennen mich natürlich nicht mehr. Ich bin Baron Fritz Kardow.

Es wurde mit so liebenswürdiger Freundlichkeit gesagt; ich hätte ein Barbar sein müssen, die dargebotene Hand nicht gern zu ergreifen.

Elfriede war im Garten; ich wollte sie rufen lassen; der Baron wollte davon nichts wissen: wir könnten ja die gnädige Frau dort aufsuchen; wenn ich erlaube, wolle er nur eben seinen Jungen aus dem Wagen holen.

Er lief nach dem Wagen, kam mit dem schönen Knaben, den er Hans nannte, zurück, und wir begaben uns zu drei in den Garten, wo wir Elfriede, die in dem entferntesten Teil über eine dort zu errichtende Lattenlaube mit dem Tischler beratschlagte, nicht sogleich finden konnten. Der Baron frischte unterdessen Reminiscenzen aus unserm Vorpostenleben auf, dessen geringfügigste Details er wohl behalten hatte. Dabei machte er die sonderbare Bemerkung: ich hätte es durch meine stolze Zurückhaltung verschuldet, daß wir uns nicht schon damals näher getreten wären. Auch sei es an mir gewesen, als an dem Aelteren, der überdies zur Zeit sein Vorgesetzter war, ihm Avancen zu machen, was ich, wie ich wohl nachträglich zugeben werde, keineswegs gethan habe.

Sollte ich ihm für diese Freundlichkeit sagen, daß er mir als ein übermütiger Junker erschienen sei von der Sorte, welcher ich möglichst aus dem Wege gehe?

Nun, an Uebermut schien er noch keinen Mangel zu leiden; und wenn der Junker nicht verschwunden war, so kehrte er ihn wenigstens heute nicht heraus. Dazu hatte er einen Anwalt neben sich, der beredter für ihn sprach, als alle seine Freundlichkeit. Schöne Kinder haben für mich etwas völlig Unwiderstehliches, ja, Anbetungswürdiges; und einen schöneren Knaben als seinen Hans hatte ich wohl kaum je gesehen; einen anmutigeren gewiß nicht. Die großen, hellbraunen, glänzenden Augen; das holde Lächeln auf dem lieblichen Gesicht; die für seine sechs Jahre reichlich große und dabei wie eine Gerte schlanke Gestalt; die Grazie seiner raschen Bewegungen – ich war ganz hingerissen und konnte kaum den Augenblick erwarten, wo ich Elfriede meine neueste Requisition würde zuführen können, worunter ich nicht den Baron, sondern seinen Knaben verstand.

Endlich fanden wir sie, und hier muß ich mich zu einer Schwäche bekennen, der ich mich aufrichtig schäme. Es war mir bei den Besuchen, die wir neulich machten, nicht in den Sinn gekommen, mich zu fragen, wie die guten Leute Elfriede finden möchten; heute, als ich sie dem eleganten Kavalier vorstellte, spähte ich ihm prüfend in die Augen nach dem Eindruck, den sie auf ihn machte. Ich durfte zufrieden sein; er schien sogar ein wenig betroffen; offenbar hatte er die simple Oberförsterfrau so nicht erwartet. Auch hatte Elfriede heute ihren besonders hübschen Tag und sah mit ihren dreiundzwanzig Jahren wie ein Mädchen von siebzehn aus. Der Baron behauptete, sich erst durch den Augenschein überzeugen zu müssen, daß wir einen Jungen von vier Jahren hätten; und als das kleine angezweifelte Menschenkind mit seiner Wärterin aus einem andern Teile des Gartens herbeigerufen war, freute ich mich – zweiter Schwächeanfall – daß der Oberförsterjunge sich neben dem bildschönen Baronssohn sehr wohl sehen lassen konnte. Es wurden dann die obligaten Vergleiche zwischen den Kindern angestellt; die Differenz des Alters (von zwei Jahren) konstatiert, und daß Hans die braunen Augen von der Frau Mama, unser Bernhard sie von dem Herrn Papa habe.

Da es mir im Garten trotz des hellen Sonnenscheins bei manchmal lebhaftem Ostwind für die Kinder zu kühl zu werden schien, schlug ich vor, hineinzugehen, und Elfriede bot eine Tasse Kaffee oder sonstige Erfrischung au. Außer einem Glase Wasser für seinen Hans lehnte der Baron alles dankend ab: er sei noch vor Tisch und pflege um diese Zeit nichts zu genießen. Auch müsse er jetzt, wolle er keine Schelte bekommen, durchaus aufbrechen, nicht ohne sich vorher eines Auftrags seiner Frau entledigt zu haben, bestehend in der Bitte: wir möchten morgen fünf Uhr ein einfaches Mittagessen bei ihnen einnehmen, »ganz sans gêne, ganz en famille«. Er würde auch den jungen Herrn einladen, nachdem er seine ihm höchst erfreuliche Bekanntschaft gemacht, fürchte aber den Einspruch der Frau Mama von wegen der wohl zu späten Stunde.

Die Regelung des gesellschaftlichen Verkehrs ist Sache der Damen. Elfriede hatte ihre Abneigung gegen einen Besuch in Möllenhof so deutlich ausgesprochen – offenbar lag die Entscheidung nun bei ihr. Es erfüllte mich mit einiger Schadenfreude, daß sie jetzt die Einladung ohne weiteres, ja, mit sichtbarem Vergnügen annahm. Der Baron küßte ihr dankend die Hand; versicherte auch, die Erneuerung der Bekanntschaft mit dem alten Kriegskameraden sei ihm ein wahres Fest gewesen; sprach die Hoffnung aus, daß unsre Jungen nicht minder gute Kameraden werden würden; hob seinen Hans in den Wagen; legte ihm ein seidenes Deckchen über die Kniee; setzte sich zu ihm – und fort waren sie.

Es ist also beschlossene Sache: wir werden morgen in Möllenhof antreten. Elfriede und ich haben uns darüber verständigt, daß der Herr Baron ein höchst charmanter Mann ist, und daß wir uns vor der »fürchterlich adelsstolzen« Frau Baronin, geborene Komtesse Drewenitz von Rügen – nicht fürchten wollen. –

Nachdem ich dies geschrieben, habe ich, mitten im Zimmer stehend, das Angstgespenst, das mich alle diese Tage umschlich und mir zugeraunt hat, es werde mir aus dem Besuch drüben ein böses Unheil erwachsen, feierlich heraufbeschworen. Ich konstatiere hier der Wahrheit gemäß, daß es, trotzdem ihm doch die Spukezeit der Nacht günstig sein mußte, nicht gekommen ist.

* * *

Seit meinen Studentenjahren führe ich doch nun dies Tagebuch; aber ich wüßte nicht, daß mir die Aufzeichnungen der Fakta und Gesta so viel Vergnügen gemacht hätten, wie jetzt, obgleich andre Partieen, zum Beispiel die während und unmittelbar nach der Campagne, entschieden viel interessanter sind. Es scheint, ich bin in meinen Ansprüchen an das Leben genügsamer geworden. Ich mache mir auch manchmal Vorwürfe, so viel Zeit auf diese Blätter zu verwenden. Aber die leidige Schlaflosigkeit, welche, ein Erbteil meiner lieben Mutter, mich schon in so jungen Jahren heimgesucht und zu diesem Auskunftsmittel, die qualvollen Nächte zu kürzen, hat greifen lassen – sie ist noch, wie sie war, womöglich noch schlimmer geworden. Ich stehle die Stunden ja niemand. Und daß ich's nur gestehe: ich wäre so gern ein großer Schriftsteller geworden! Es war der Traum meiner Knaben-, meiner Jünglingszeit, die Welt mit meinem Lichte zu erfüllen. Bis mir – Gott sei Dank, noch früh genug – erst die Ahnung, dann die Gewißheit aufging: was du für eine Riesenflamme hieltst, ist ein bescheidenes Flämmchen, nicht dazu angethan, nach außen zu leuchten, höchstens in dich hinein, daß du in seinem bescheidenen Schein dich selbst erkennst, dein eigenes Innere, wie es ist nach deinem besten Wissen und Gewissen.

Ich darf sagen: ich habe mir rechtschaffen Mühe gegeben, diesen Vorsatz getreulich auszuführen; aus Furcht vor Selbstüberschätzung mich gelegentlich lieber zu klein als zu groß gemessen. Das eine ist freilich so gefährlich wie das andre, das rechte Maß zu finden unsäglich schwer. Und doch, wo soll man es finden, als in sich selbst? Ich lebe doch mein eigenes Leben, nicht das eines andern. Wie es in dem andern aussieht, ich kann es nicht wissen; er nicht, wie es mit mir steht. Ich muß mich vielleicht verurteilen, wo er mich freispricht, mich freisprechen, wo er mich verurteilt. Und so umgekehrt. Die Welt freilich, die Gemeinschaft der Menschen, richtet nach einem andern Gesetz und muß es. Muß gut heißen, was ihr frommt, verdammen, was ihr schädlich ist. Darüber läßt sich im einzelnen streiten; im großen und ganzen kann man sich wohl darüber verständigen. Läuft es doch, alles in allem, auf den christlich-sozialen Grundsatz hinaus: was du nicht willst, daß dir die Leute thun, das thue ihnen auch nicht. So fällt es dem Verständigen nicht schwer, der Welt gegenüber ein gerechter Mann zu sein. Man ist es eben, sozusagen, in Bausch und Bogen. Selbstgerecht, vor sich selbst gerecht zu sein – ja, das ist etwas unsagbar viel andres, unsagbar viel Schwereres. Im Grunde kann es keiner von sich behaupten. Aber sich selber Richter sein, das kann jeder und soll jeder. –

So oder so ungefähr habe ich gestern der Baronin gegenüber meinen moralischen Standpunkt erklärt und verteidigt. Sie wollte anfänglich davon nichts wissen; sie meinte –

Aber ich muß wirklich den denkwürdigen Besuch der Ordnung gemäß schildern; gehört er doch entschieden zu den Silberblicken in meinem daran nicht überreichen Lebenslauf.

Ich hatte darauf bestanden, daß wir, trotz der Einladung auf das einfache Mittagessen en famille, im Gesellschaftsanzuge zu erscheinen hätten. Meine, wie es sich dann herausstellte, hochnötige Vorsicht hat mir nachher einen beinahe enthusiastischen Dank von Elfriede eingetragen. Doch das nebenbei.

Wir fuhren mit dem Glockenschlage fünf in den Schloßhof, um ein großes, mit Vasen auf mäßig hohen Pilastern geschmücktes Rasenrondel herum, die sanftgeböschte, in flacher Hufeisenform sich langhin streckende Rampe hinaus und hielten vor dem stattlichen Portal, in welchem uns ein paar Diener (Livree: Schnallenschuhe, weiße Strümpfe, schwarzsamtene Kniehosen, gelbgrüne Seidenweste, braunroter Frack) in Empfang nahmen, beim Ablegen halfen und uns über den hohen, mit Teppichläufern belegten Flur nach einem schönen, hellen Gemache führten, in welchem uns der Baron und die Baronin entgegentraten.

Hier nun war der Moment, wo Elfrieden jenes helle Licht über meine Toilettenweisheit aufging und mir gleichzeitig ein andres, wohl noch helleres. Es mit einem Worte zu sagen: ich habe eine schönere Frau als die Baronin nie gesehen. Ganz vergeblich würde ich mich abmühen, diese Schönheit zu beschreiben. Große, dunkelklare, mandelförmige Augen; blauschwarzes, leichtgewelltes Haar; reinste, klassisch schöne und doch liebliche Gesichtszüge; edelschlanke Gestalt, die sich gar nicht anders als anmutig bewegen kann – das sind ja alles nur Worte, Worte; kindliches Lallen von etwas, das eben unsagbar ist; sich auch schwerlich rein in Farben und Linien wiedergeben, vielleicht nur in Musik andeuten ließe. Wie denn auch der etwas dunkle weiche Ton ihrer Stimme köstlichste Musik ist.

Das klingt verdächtig, aber klingt auch nur so. Ich bin ganz sicher, daß sich in meine Bewunderung für die schöne Frau auch nicht eine Spur von dem mischt, was man Verliebtsein nennt. Dagegen glaube ich so ziemlich gefeit zu sein, weil in mir ein tiefstes leidenschaftliches Bedürfnis nach Liebe immerfort lebendig ist, ich mir auch wohl eine einseitige Liebe vorzustellen vermag mit dem Motto: Was geht es dich an, daß ich dich liebe? aber doch nur unter der Bedingung der – wie immer die äußeren Verhältnisse feindlich widerstreben mögen – klar erkannten inneren Harmonie und seelischen Wahlverwandtschaft. Die jedoch kann in Ewigkeit zwischen der Baronin und mir nicht bestehen; was uns je zu einander zöge, könnte höchstens die Attraktion gegensätzlicher Pole sein. Als solche sind die Baronin und ich mir erschienen: sie Aristokratin vom Wirbel ihres schönen Hauptes bis zur Sohle ihrer schlanken Füße so sehr, daß sie in dem Kaiser völlig ihresgleichen sieht; ich, der ich freilich dem Kaiser gebe, was des Kaisers ist, aber in dessen Adern kein Tropfen rollt, der nicht demokratisch wäre. Wir stehen einander so fern, sind uns gegenseitig so fremd, daß ich sie mit voller Objektivität und Gelassenheit studieren kann wie ein wundervolles Naturprodukt, zu dem ich für mein Teil nicht die mindeste Beziehung habe. Auch macht sie das Studium insofern leicht, als sie sich mit einer Offenheit gibt, die wie eines Kindes wäre, wenn sie ihre Quelle nicht in einer Ueberzeugung hätte, die keinen Zweifel kennt. Sie ist überzeugt, daß die Aristokraten (zu denen sie übrigens längst nicht alle rechnet, die ein Von vor den Namen führen) eine Rasse sind, so streng geschieden von den bürgerlichen Menschen, wie nur immer eine Rasse von der andern sein kann. Das sei keine Ungerechtigkeit weder der Natur, noch der Geschichte, sondern eben ein Stück Naturgeschichte, wie andre auch. Sie hatte mehr Worte der Art, die ich nicht gerade geistreich nennen möchte, welche aber doch in die Werkstatt eines regen, selbständig denkenden Geistes blicken lassen.

Nur in einem Punkte darf ich mich rühmen, ihre wenn auch bedingte Zustimmung erlangt zu haben: als ich für den Satz plädierte, daß in höherem Sinne der Mensch nur sich selbst als seinen Richter anerkennen könne. Sie wollte es gelten lassen unter der Bedingung, daß es eine Geheimlehre bleibe, die nur wenigen Auserwählten mitgeteilt werden dürfe.

Jawohl, gnädige Frau, sagte ich, ganz wenigen. Und die eine Aristokratie ausmachen, vornehmer als die, von welcher wir vorhin sprachen.

Das war keck, und sie sah mich mit einem Blick an, wie eine Königin ihren Vasallen, der sich eine Ungebühr erlaubt; erwiderte aber nichts.

* * *

Mein Oberforstmeister war zwei Tage unser Logiergast; ich habe in ihm – was mich schon die erste flüchtige Begegnung in Sundin erwarten ließ – einen wahrhaft verehrungswürdigen Mann kennen gelernt. Ob er just viel in die Kirche geht, weiß ich nicht und glaube es kaum; aber ein besserer Christ dürfte nicht leicht gefunden werden. Mit seinen beinahe sechzig Jahren hat er das Gemüt eines Kindes voller Einfalt, Treuherzigkeit, Freundlichkeit, und zugleich ist er ein Gelehrter mit einer solchen Wissensfülle, daß eine ganze Akademie davon zehren könnte. Ein großer Praktiker ist er freilich nicht. In seiner Stellung, noch dazu einem Untergebenen gegenüber, darf er das natürlich nicht offen zugeben; aber mit dem reizendsten Humor läßt er gelegentlich durchblicken, wie gut er seine Schwäche kennt. Er hat noch eine andre, über die er sich nicht minder klar ist und der er sich in einer rührenden Weise anklagt, wenn die üblen Folgen sich gar zu greifbar vordrängen. So, als wir durch das Revier fuhren, in welchem die greulichen Spuren der langen Mißwirtschaft meines Vorgängers überall zu Tage liegen. Der brave Mann schüttelte ein und das andre Mal den schon ergrauenden Kopf, seufzend, in sich hinein murmelnd: Ja, ja! das kommt davon! und Aehnliches, bis er bei einer besonders flagranten Gelegenheit nicht länger au sich halten konnte und, sich im Wagensitz zu mir wendend, mit zitternder Stimme sagte: Es ist himmelschreiend. Ich hätte den Mann längst, längst von seinem Posten entfernen sollen. Es war meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Aber, lieber Busch, versetzen Sie sich in meine Lage! Ich wußte, daß, wenn er seine Stelle verlor, es seinen und seiner Familie Untergang bedeutete. An ihm war ja, Gott sei es geklagt, nicht viel gelegen. Er war ein unverbesserlicher Trinker und, was die Trinker sonst nicht zu sein pflegen, ein im Grunde schlechter Kerl: brutal, tückisch, rachsüchtig. Was konnte die arme brave Frau dafür, die sich schier zu Tode plackte und mit Augen, die schon das Weinen verlernt hatten, in die dunkle Zukunft starrte! was die unglückseligen unschuldigen Kinder! sechs an der Zahl, und das älteste, ein liebes blondes Mädchen, erst vierzehn Jahre! Bitten Sie Gott, lieber Freund, daß er Sie nie in die gräßliche Lage bringt, auf Kosten der Barmherzigkeit Ihre Pflicht thun zu müssen.

Dabei standen dem guten Manne die Augen voll Thränen; ich drückte ihm schweigend die Hand, die ich ihm gern geküßt hätte.

Das konnte ich freilich nicht; aber ich kann etwas andres: die Schulter ans Rad stämmen, den festgefahrenen Karren wieder in Gang zu bringen und dem guten Manne den Beweis zu liefern, daß seine Mildherzigkeit nichts angerichtet hat, was nicht wieder gut zu machen wäre. Das kann ich und das will ich.

* * *

Der Baron und die Baronin haben jetzt unsern Besuch offiziell erwidert und sich unser bescheidenes Heim angesehen, das freilich mit dem ihren einen seltsamen Kontrast bildet. Nun, zu einem Vestibül mit Marmorfliesen; vergoldeten Prunkgemächern; einem Ahnensaal, von dessen Wänden sämtliche Kostüme schauen, die seit vier Jahrhunderten von vornehmen Herren und Damen in Deutschland getragen wurden; einem Ballraum von den Dimensionen einer ganz stattlichen Kirche; einer Bibliothek, in welcher zwanzig Gelehrte arbeiten könnten, ohne einander zu stören – zu solchen Herrlichkeiten werden wir es ja wohl nicht bringen; aber noch bevor der Sommer zu Ende ist, soll sich – dank der Munifizenz unsres lieben Oberforstmeisters – unsre Spelunke denn doch ein wenig besser für den Besuch so vornehmer Gäste schicken.

Auch sind wir schon wieder drüben gewesen, diesmal am Vormittage und in Begleitung unsres Bernhard, der allerliebst war und sich sehr wohl neben dem jungen Baron sehen lassen konnte, was immerhin etwas sagen will. Schade, daß die Differenz von zwei Jahren doch etwas zu groß ist; ich glaube, die beiden Kinder würden sonst gute Kameraden werden.

Bessere als die Väter je zu werden versprechen, trotzdem mir der Baron mit einer Freundlichkeit entgegenkommt, von der ich manchmal wünsche, sie wäre geringer. Ich kann nun einmal keine Komödie spielen und Gefühle äußern, von denen mein Herz nichts weiß. Mein Herz weiß nichts von einem Gefühl der Freundschaft für einen Mann, vor dem mich etwas in mir warnt, das ich Instinkt zu nennen mich schäme, und das doch auch nicht klar genug ist, um es Vernunftgrund nennen zu dürfen. Und, recht bedacht, sind sie doch mehr zu beklagen als anzuklagen, jene Aermsten, welche von Kindesbeinen an das Glück in seinem Schoße gewiegt hat, und die nun in der ganzen Welt eine blühende Wiese sehen, über welche sie ihr Schmetterlingsdasein verflattern dürfen. Es muß wohl auch Schmetterlinge geben. Nur daß sie so harmlos nicht sind, wie sie scheinen. Davon wissen wir Forstleute ein Lied zu singen.

Wie denn auch sein mag: ich traue diesem Wasser nicht. Es sind da flache Stellen genug, in denen man leichtlich bis auf den Grund sehen kann. Wer weiß, ob zwischen und hinter ihnen nicht andre tiefe, dunkle sind, in denen es nichts weniger als geheuer ist.

Eines scheint mir sicher: dieser frivole Genußmensch (und wäre er nichts Schlimmeres) – er ist nicht wert, ein solches Weib, ein solches Kind zu haben. Hier ist ein Mißverhältnis, das mein moralisches Gefühl, ja, und auch meinen ästhetischen Sinn beleidigt. Ein Tempel der Venus Urania, vor dem ein Faun Wache hält!

* * *

Wieder einmal eine Stunde lang mit Elfriede über die Möllenhofer Herrschaften vergeblich disputiert. Wir können uns durchaus nicht einigen, ja, gehen, wie es scheint, in unsern Ansichten mit jedem Tage weiter auseinander. Daß sie Baronin Helene (wie gut der Name zu ihr paßt!) nicht so schön findet – aber auch nicht annähernd –, wie ich mir die Erlaubnis nehme, möchte hingehen: wir Männer suchen und sehen in den Frauen eben etwas andres als diese selbst und vice versa – aber sie findet sie kalt, hochmütig, rechthaberisch, mit einem Worte: gründlich unliebenswürdig. Von einem intimeren Verhältnis zwischen ihr und der Dame, wie ich es zu wünschen scheine, könne gar keine Rede sein. Das sei schon durch die Differenz der gesellschaftlichen und materiellen Lage ausgeschlossen. Eine Gastfreundschaft, die man nicht zu erwidern im stande – nicht im allerentferntesten –, habe immer etwas Peinliches. Das möge ein Mann nicht so empfinden; eine Frau überlaufe es dabei heiß und kalt. Uebrigens müsse die Frau Baronin sich doch auch wohl zu dem Grundsatz bekennen, daß Gleiches sich am besten zu Gleichem geselle; sie wisse sonst nicht, weshalb sie – nach Frau Moens Versicherung – ihren Fuß noch nie über eine bürgerliche Schwelle in der Nachbarschaft gesetzt habe.

Aber über unsre hat sie ihn doch gesetzt; und trotz meines stolzen, Titels und meines Eisernen Kreuzes erster Klasse, je suis vilain et très vilain.

Bitte! Du bist, Gott sei Dank, aus einer sehr respektablen Försterfamilie!

Und du die Tochter eines Oberjustizrates!

Das wird in den Augen der Frau Baronin recht was sein!

Jedenfalls hat sie mir über dich die schmeichelhaftesten Dinge gesagt.

Um dir zu schmeicheln.

Das sähe ihr wenig ähnlich. Und welchen Grund hätte sie dazu?

Vielleicht den: wieder eine Schmeichelei zu hören.

Indem ich logischerweise den Baron herausstrich?

Gegen den du sehr ungerecht bist.

Wie du gegen sie. –

Wenn ein ehelicher Meinungsaustausch bis zu diesem Punkt gelangt ist, zupft Athene einem am Haar und flüstert: gib klein bei, alter Sohn!

Ich that es, indem ich einräumte, daß ich an die Erneuerung der Bekanntschaft mit dem Baron nicht unbefangen herangetreten sei, und mir alle Mühe geben werde, den guten Seiten, die er gewiß habe, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

* * *

Der Baron hat zweifellos seine guten Seiten. In dieser Welt, in der es von Clowns und Calibans wimmelt, ist es immer ein Vergnügen, einen Menschen zu sehen, der sich mit vollendeter Anmut bewegt, als ob Ariel Figuren aus Shakespeares »Der Sturm«; der Luftgeist Ariel und Caliban (als Anagramm von ›Canibal‹) das Naturwesen in seiner ungebildeten, triebgesteuerten Energie. ihm dazu aufspielte.

Fritz Kardow ist solch ein glückhafter Mensch. Er kann, wenn er will, einfach bezaubernd sein. Und uns gegenüber will er es offenbar sein. Er überschüttet uns mit Freundlichkeiten. Mir gegenüber hat er sich auf einen Fuß gestellt, als ob wir nicht acht Tage, sondern acht Jahre lang Schulter an Schulter gekämpft, in einem Zelt geschlafen, aus einem Becher getrunken hätten. Elfrieden, nachdem er gehört, daß sie die Blumen so liebt, schickt er täglich aus seinen Treibhäusern die schönsten Bouquets. Am Montag trifft er Doktor Barth hier und hört, daß Bernhard noch immer großer Schonung bedürfe, möglichst viel in der freien Luft sein solle, aber vor Anstrengung sorgsam behütet werden müsse. Heute langt ein allerliebstes Wägelchen an, vor das ein prächtiger, völlig lenksamer Ziegenbock gespannt ist. Hans, der kerngesund sei, habe einen Ponywagen. Da sei es doch nur recht und billig, daß unser Bernhard, zu groß, um getragen zu werden, zu schwach, um lange herumzulaufen, auch das passende Gefährt haben müsse.

Wer kann da widerstehen? singen sie im Don Juan.

Ich nicht, ich werde durch eine so zarte Aufmerksamkeit einfach entwaffnet. Wie wenig exemplarisch das Leben dieses Mannes gewesen sein mag, ein schöner Rest des von Haus aus guten Herzens ist ihm doch geblieben. Und, lieber Himmel, wir sind allzumal Sünder! Wer wagt es, den ersten Stein auf seinen Bruder zu werfen! Nein, nein! Er hat so freundlich in meinen Wald gerufen; ich will ihm freundlich antworten. Seine fürstliche Freigebigkeit werde ich nie erwidern können. Aber so ein vornehmer Löwe verstrickt sich ja wohl manchmal in Lagen, aus denen ihn kein zweiter Löwe, wohl aber eine armselige Maus retten mag. Freilich, lieber möchte ich denn doch sein Schuldner bleiben, als ihn und mich in dieser fabelhaften Situation sehen.

* * *

Die Nachbarn haben jetzt sämtlich unsern Besuch erwidert; auch Graf Grieben, der aus Berlin zurück ist, und die Frau Gräfin haben ihre Karten abgegeben. Zwischen dem hochgeborenen Paar und uns wird es wohl beim Austausch dieser Höflichkeiten bleiben; war doch auch von vornherein nichts andres beabsichtigt. Im übrigen hatte ich allerdings auf einen reicheren Fang bei unserm Fischzuge gerechnet. Herr Specht auf Kutzow mit dem verschmitzten Fuchsgesicht und der aufdringlichen Geschwätzigkeit mißfällt mir ausnehmend, und die mürrischen Herrschaften Lachmund auf Ungnad gewinnen bei näherer Bekanntschaft auch nicht. Ein und der andre Besuch, den wir anstandshalber sonst noch in der Nachbarschaft machen mußten, wie der bei dem Pastor Schmidt in Voigtshagen, war ebensowenig als ein Erfolg zu verzeichnen. Herr Moen auf Brandshagen scheint ein braver Kerl, aber Lessing sagt ja wohl: man ist doch auch verzweifelt wenig, wenn man weiter nichts ist? Und dann das ewige: Trinken Sie aus, Oberförster! – c'est plus fort que moi. Dennoch darf ich hier nicht den Ueberempfindlichen spielen, will ich Elfriede nicht die Freude schmälern oder gar rauben, die sie aus dem Verkehr mit Frau Moen schöpft, – einem wirklich in jeder Beziehung vortrefflichen Wesen, vor dem ich die größte Hochachtung empfinde. Die beiden Damen sind in der kurzen Zeit Hand und Handschuh geworden. Bei der Vereinsamung, die sonst – für die Lebensfrohe doppelt fürchterlich – hereindrohte, ist mir das ein großer Trost.

* * *

Ich habe noch einen Nachbar, auf den mich mein Förster Amsberg aufmerksam gemacht hat aus Gründen, die nicht durchweg erfreulich sind. Es ist Herr Stephan Riek, Besitzer der »Waldschenke« an der Kreuzung des Holzweges, der hinter der Oberförsterei das Revier von Ost nach West durchquert, und der Chaussee nach Grimm, die dann ein paar Büchsenschuß weiter in die große Sundiner mündet. Mein Wald war ehedem Lehngut eines schwedischen Grafengeschlechts Banner, fiel aber bereits Ende vorigen Jahrhunderts als erledigt an die Krone zurück, von der es dann, als die Provinz preußisch wurde, zu unserm Fiskus kam. Die Waldschenke scheint eine Art von Erbpacht gewesen zu sein in der Familie besagten Herrn Rieks, ausgestattet mit verschiedentlichen, für den Inhaber ganz schätzenswerten Gerechtsamen, die abgelöst werden mußten, nachdem der Vater von Ehren Riek einen langwierigen Prozeß gegen unsern Fiskus gewonnen. Zu diesen Gerechtsamen gehörte unter anderm, daß der jedesmalige Wirt sich jährlich ein Dutzend Rehe aus dem Walde schießen durfte, und nun behauptet Amsberg, die so reichlich auf Staatsunkosten abgefundene Katze lasse noch immer das Mausen nicht und es verschwänden alljährlich aus dem Revier in die Küche der Waldschenke diverse Stück Wild, die in unsern Listen nicht gebucht wären. Trotz aller darauf verwandten Mühe ist es freilich dem Wackern nicht gelungen, die Katze in flagranti zu ertappen; aber die Sache hat leider viel für sich.

Zuerst die für den Zweck wie ausgesuchte Lage der Schenke, welche mit der Vorderseite an der Chaussee liegt, auf der etwaige Abnehmer leicht das Weite suchen können, und mit Hof, Garten, Hintergebäuden tief in den Forst hineinragt, so daß es eine bequemere Kommunikation nicht geben kann.

Ein zweites ist der üble Leumund, in welchem – immer nach Amsbergs Aussage – Waldschenke und Waldschenkenwirt stehen. Den letzteren schildert er mir als einen höchst geriebenen Burschen, der mit seiner jovialen Laune und seinen drolligen Einfällen die Gäste in Atem zu halten versteht, unter denen sich gelegentlich recht angesehene befinden sollen: substanzielle Kaufleute aus dem benachbarten Städtchen, Pächter und Gutsbesitzer der Umgegend, Liebhaber eines guten Glases Wein und eines kleinen harmlosen Kartenspiels in einem gegen den Eintritt Profaner streng gehüteten Hinterzimmer. Die Honneurs dieses gastfreundlichen Hauses macht neben dem jovialen Wirt nach dem Tode seiner Frau seine einzige Tochter, als »die rote Marie« in der ganzen Landschaft bekannt und – wenn ich die zarten Andeutungen Amsbergs recht verstanden habe – berüchtigt.

Von dieser ganzen Geschichte interessiert mich natürlich nur das behauptete atavistische Verhältnis des p. p. Riek zu meinem Wildstand. Not kann es nicht sein, die den Mann, wie sonst wohl einen armen Schelm, die Büchse über der Schulter mit dem Morgenstern zu Holze ziehen läßt. Um so weniger hätte ich Ursache, ihn zu schonen. Jedenfalls ist es angezeigt, das Terrain ein wenig zu rekognoszieren. Ich habe übermorgen die passende Gelegenheit dazu. Herr Riek hat die Honoratioren in der Runde wie alljährlich zu einem Frühlingsscheibenschießen eingeladen und auch mich mit einer Aufforderung beehrt. Der Stand, der vortrefflich eingerichtet sein soll, liegt neben seinem Gehöft an der Waldlisiere auf seinem Grund und Boden, Ich werde hingehen und sehen, ob ich meine alte Kunst noch nicht verlernt habe.

* * *

Heute abermals drüben in Möllenhof zu einem Mittagessen, weniger feierlich als das neulich: es war ausdrücklich »Ueberrock« befohlen worden.

Ich glaube, eine Entdeckung gemacht zu haben, die mich recht traurig stimmt und, wenn sie, wie ich fürchte, sich bestätigen sollte, die Erklärung für manche Beobachtungen bringen würde, welche sich mir bereits früher als befremdlich aufdrängten: der melancholische Zug in dem sonst so klaren, festen Wesen der Baronin; die Rastlosigkeit und Zerfahrenheit, welche ihn so unliebsam charakterisieren. Die Ehe ist nicht glücklich. Schon wiederholt hatte ich aus seinem Munde bis zum Cynismus frivole Aeußerungen über die Ehe gehört, denen ich aber eine spezielle Beziehung nicht beimaß, die ich vielmehr als schlechten Kavalierton und Reminiscenzen aus den schlimmen Tagen seines lockeren Junggesellenlebens zu nehmen geneigt war. Hatte er mir doch von der Sorte schon in den Tagen vor Paris überreichlich aufgetischt!

Heute nun fiel mir wiederum und stärker als zuvor die eisige Höflichkeit auf, mit der sich die Gatten gegenseitig behandelten, und die entschieden nicht für vornehme Reserve in Gegenwart fremder Leute gelten kann. Nein! Hier ist Abneigung, Zerwürfnis, Feindschaft, die schon Mühe hat, nicht offen aufzutreten. Deutlich sah ich, wie es bei einer gelegentlichen Aeußerung von ihr in ihm gärte, er kaum eine bittere Antwort, die ihm schon auf der Zunge schwebte, zurückhielt; wie bei einem unbedachten Wort von ihm ein höhnischer Zug um ihren Mund zuckte, der ihr schönes Gesicht seltsam entstellte.

Wie hat das nur so kommen können? Durch Elfriede, die es von Frau Moen gehört, weiß ich, daß Helene Drewenitz eine blutarme Komtesse gewesen ist. Aber ein so stolzes, hochgemutes Geschöpf gibt sich nicht für Geld und Geldeswert. So muß sie ihn also doch geliebt haben, und wenn einer einem Mädchenherzen gefährlich werden mochte, war er es. Aus der Ehe ist ein holdestes Kind entsprossen, und dies Kind ist ein Knabe, nach Menschengedenken also die direkte Nachfolge im Majorat gesichert. Was denn ist geschehen, einen Bund zu lösen, den alle Götter und Göttinnen gesegnet zu haben schienen?

Die schlimmste Scheidung ist die Scheidung der Gedanken, sagt Achim von Arnim. Ich bin seiner Meinung; und daß die Gedanken der beiden Gatten weit, weit auseinandergehen, ich glaube es gern. Auch in ihrer maßlosen Ueberschätzung von dem Wert des Adels und andern einem freisinnigen Menschen unbegreiflichen Velleitäten ist sie eine Idealistin; ja, sie könnte ihre Steckenpferde nicht so tollkühn reiten, wäre sie es nicht. Auch er ist, wenn er ihn auch versteckt, so oft es ihm beliebt, von Adelstolz erfüllt; aber es ist der ganz gewöhnliche, ohne Aspirationen, ohne ein Gefühl der Verpflichtung. Sie würde für ihre Richter nur ein verächtliches Lächeln haben; auch er würde vielleicht nicht um Gnade bitten, aber mit seinen Henkern, wenn sie wollten, Pikett spielen, sich die Langeweile der letzten Stunde zu vertreiben.

Ich sehe wohl, ich komme auf diesem Wege nicht zu einer Lösung des Rätsels. Man wird, liegt man in einem solchen Scheidungsprozeß der Gedanken und Empfindungen, wohl gleichgültig gegeneinander, geht einander aus dem Wege; aber haßt sich nicht, wie hier offenbar der Fall ist. Auch einige weitere Notizen über die Eigenheiten des Barons (aus den vertraulichen Mitteilungen der Frau Moen – an Elfriede selbstverständlich!) scheinen mir nicht ausschlaggebend. Er soll trotz des großen Vermögens so verschuldet sein, daß die Gläubiger die Sequestration der Einnahmen des Majorats beantragt haben. Die Schulden stammten allerdings zum Teil noch von seinem Vater, einem ebenfalls sehr flotten Kavalier; die größere Masse habe er aber selbst veranlaßt durch seine unausrottbare Spielsucht. Es werde überhaupt in der Gegend ganz entsetzlich gespielt.

Mir fiel dabei ein, was mir Amsberg über das Treiben in der Waldschenke gesagt hatte. Das Thema war mir peinlich; ich lenkte das Gespräch auf ein andres.

Beruhen diese Mitteilungen auf Wahrheit, könnte allerdings die ökonomische Lage des Barons eine bedenkliche sein. Auch das größte Vermögen ist auf die Dauer vor den Klauen des Spielteufels nicht sicher. Aber daß der vornehme Herr mit dem Krethi und Plethi der Umgegend seinem Laster frönen sollte, glaube ich nimmermehr. Weshalb auch? Berlin, selbst Paris sind ja unschwer zu erreichen; und ich höre, daß er jedes Jahr größere Reisen macht.

Nehmen wir also das Traurige an: er ist ein Spieler; hat durch das Spiel sein stolzes Vermögen zerrüttet.

Davon wiederum wäre die Folge die Zerrüttung seines ehelichen Verhältnisses.

Diese letztere Konsequenz scheint denn doch unsicher; notwendig ist sie keinesfalls. Ich überschätze die Baronin vielleicht. Aber bis ich den strikten Beweis habe, glaube ich nicht, daß Furcht vor Vermögensverlust oder, wenn der in diesem Falle ausgeschlossen ist, vor pekuniären Verlegenheiten, ökonomischen Einschränkungen, überhaupt irgend ein materielles Motiv das Herz dieser Frau in seinen Regungen bestimmen könnte. Hat sie es von dem Gatten gewandt, den sie einst liebte, so ist da ein andrer tieferer Grund.

Das steht bei mir fest.

Und doch, wieviel gäbe ich darum, wenn ich mich irrte, und was ich für schwere Wetterwolken gehalten, nichts war als ein Dunst, den der heiße Tag aufgesogen und der über Nacht sich in einem milden Regen herabsenken wird.

Und morgen strahlt vom blauen Himmel wieder die hellste Sonne.

* * *

Das war ein Tag, der mich seltsame Beobachtungen hat machen lassen.

Um dies vorweg zu nehmen: er hat meinen Ruf, einer der besten Büchsenschützen der Umgegend in weiter Runde zu sein, vorläufig festgestellt.

Ich habe so oft Zentrum, so viel Ringe herausgeschossen, daß selbst mein nächster Konkurrent, ein Gutsbesitzer Blank irgendwo hier herum, bis zu diesem Tage der anerkannte Matador, weit hinter mir blieb, von den diis minorum gentium gar nicht zu sprechen. –

Wie haben Sie es um Himmels willen zu dieser Fertigkeit gebracht?

Aber, meine Herren, ich habe als Infanterieoffizier und Forstmann von Beruf doch doppelte Veranlassung, ein passabler Schütze zu sein. –

Was mich zu einem mehr als passablen gemacht hat, konnte ich ihnen doch nicht sagen.

Nicht sagen, daß, als ich als Forsteleve ein von mir angeschossenes Stück nach zweitagelangem rastlosen Suchen noch lebend im Walde fand, ich einen heiligen Eid geleistet, das Metier, und sollte es mich meine ganze Zukunft kosten, aufzugeben, wenn es mir nicht gelänge, während einer Frist, die ich mir keineswegs sehr reichlich bemaß, ein völlig firmer Schütze zu werden.

Ein scharfes Auge, eine feste Hand, die frühe Gewohnheit, meine Nerven zu kommandieren, haben das übrige gethan.

Aber zurück zu den Aventüren des Tages! –

Als ich zur bestimmten Stunde eintraf, fand ich den großen Vorplatz der »Waldschenke« mit Gefährten aller Art bereits angefüllt. Auch auf der Chaussee hielt noch eine ganze Wagenreihe. Nur wenige Pferde konnten in den Stall gezogen werden; die vielen andern mußten sich mit fliegenden Krippen behelfen.

Es mochten wohl hundertfünfzig Menschen anwesend sein, zumeist Gutsbesitzer und Pächter; dann aber auch ein starkes Kontingent Städter: Kaufleute, Rechtsanwälte – was weiß ich! alles in allem eine etwas gemischte Gesellschaft, in welcher zwei von meinen Förstern, auf deren Erscheinen ich bestanden hatte, eine gute Figur machten. Der Adel war nur schwach vertreten, quantitativ und qualitativ. Erst als man mit dem Schießen beinahe zu Ende war, erschien, zu meiner nicht geringen Verwunderung, der Baron – unser Baron auf dem Plan. Doch davon später.

Da ich selbstverständlich in Uniform war, konnte man mich nicht wohl übersehen, und so war ich denn in der ersten halben Stunde oder so der Gegenstand allgemeiner, nicht gerade erquicklicher Aufmerksamkeit. Man begnügte sich meistens, mich aus der Ferne anzustieren, wie jemand, von dem man einmal gröblich insultiert wurde, man kann sich nur nicht mehr erinnern: wann und wo und bei welcher Gelegenheit. Andre schienen mich in Verdacht zu nehmen, ich habe es auf ihre Taschen abgesehen. Nur einige wenige, die nach kurzem Bedenken an mich herantraten und sich mir mit einiger Verlegenheit in Blick und Ton vorstellten. War dann erst das Eis gebrochen, stellte sich meistens heraus, daß es ganz charmante, wohl auch unterrichtete Leute waren, mit denen sich ein vernünftiges Wort sprechen ließ. Später freilich, als ich erst meine Proben abgelegt und das Examen glücklich bestanden hatte, wollte jeder meine Bekanntschaft machen, jeder mir die Hand schütteln, daß es des Guten fast zu viel wurde.

Ich benutzte die erste stille Zeit, mir das Lokal anzusehen. Die Waldschenke selbst ist ein alter, aber ganz geräumiger, solid gebauter Kasten, der zu den hundert Jahren, die er wohl bereits gestanden haben wird, gern noch weitere hundert stehen mag. Das Haus liegt nicht unmittelbar an der Chaussee, sondern etwas abgerückt, so daß ein mäßiger freier Platz entstanden ist, auf welchem das Gros der Wagen hielt. Der Wirtschaftshof hinter dem Hause, zu dem man durch einen hohen Thorweg zur Seite des Hauses gelangt, von ebenfalls alten Gebäuden umgeben, gewährte im Nachmittagssonnenschein, der schräg auf die verwitterten Ziegeldächer fiel, mit seiner bunten Staffage von abgesträngten Pferden, trinkenden Knechten, Mägden, die von dem Haupthause nach den Nebengebäuden und zurück eilten, einen ganz originellen Anblick. Man hatte glauben können, einen Teniers oder sonstigen alten Niederländer zu sehen. Der große Garten hinter dem Hof war wohlgepflegt. Er streckt sich, von einem Lattenzaun umschlossen, weit in den Wald hinein. Wer den Schlüssel zu der Pforte an der Hinterseite hat, kann im Umsehen in den Wald, aus dem Wald zurück in den Garten und das Gehöft gelangen.

Auf dem Rückwege von meiner kleinen Exkursion nahm ich den Rückweg durch das Haus. Es verlangte mich danach, endlich die Bekanntschaft des Herrn Wirtes zu machen. Wirklich traf ich ihn in dem geräumigen Vorflur, der, ebenso wie die große Gaststube, von Menschen vollgepfropft war, die an glattgescheuerten eichenen Tischen zechten oder sich, die Bierseidel in der Hand, zwischen den Tischen drängten. Er kam sofort auf mich zu und stellte sich mir vor: ein untersetzter, breitschultriger Mann in mittleren Jahren mit bereits ergrauendem dichten Haar und einem leidlichen Gesicht, dessen jovialer Ausdruck durch das leise Schielen des linken Auges nur wenig beeinträchtigt wird. Neben ihm fand sich ein junger Mensch – in der Mitte der Zwanzig etwa –, den ich auf einen Pächtersohn richtig taxierte und er mir als seinen Schwiegersohn in spe: Karl Dreek, oder so ungefähr, präsentierte: ein vierschrötiger Bursch mit einer brutalen Miene, der mir äußerst mißfallen hat. In diesem Moment kam eilfertig, in jeder Hand ein halbes Dutzend leerer Seidel, aus der weit offenen Thür des Gastzimmers ein Mädchen, dessen Erscheinung mich höchlich frappierte. Eine schönere Frauensperson in ihrer Art dürfte sich schwerlich finden. Mit titianisch braunrotem Haar, das zu mächtig ist, sich in eine Frisur zwängen zu lassen und in krausen Löckchen Stirn und Schläfen umflattert; einem Gesicht, dessen wilder Schönheit die paar Sommersprossen auf den vollen Wangen und dem kräftigen Kinn nichts anhaben können; großen blauen, blitzenden verräterisch lachenden Augen, üppig und dabei doch schlank und hoch gewachsen – einem Maler oder Bildhauer, der um das Modell zu einer Bacchantin oder Mänade verlegen ist, kann ich »die rote Marie« bestens empfehlen.

Der Vater rief sie an; sie kam herbei, lächelnd, ohne Verlegenheit.

Sie sehen, Herr Oberförster, die Hand kann ich Ihnen nicht geben.

Dafür darf man sich wohl einen Kuß nehmen! rief der Bräutigam in spe, sein widerwärtiges Gesicht dem ihren nähernd.

Sie prallte zurück, daß die Gläser in ihren Händen klirrten, purpurrot, mit zornig flammenden Augen; bevor sie in einem Nebenraum verschwand, ihm über die Schulter ein derbes Wort zurufend.

Ich hätte dem rohen Burschen eine kräftigere Züchtigung gewünscht.

Nun tauchte aus der Menge Herr Moen aus, hocherfreut, jemand zu finden, der eine Flasche Rotwein mit ihm trinken würde. Ich vertröstete ihn auf später; vorläufig habe ich alle Ursache, mir einen klaren Kopf zu bewahren. Er schien das nicht recht einzusehen, blieb aber an meiner Seite. Ich glaubte, die Gelegenheit benutzen zu sollen, den kundigen Mann über den Wirt, der mir so weit gut gefallen habe, und über die Wirtschaft, die mir in vorzüglichem Stande scheine, etwas auszuholen. Ob denn wirklich das scheinbar so solide Haus eine heimliche Spielhölle sei?

Zu meiner Verwunderung wollte der sonst so Redselige mit der Sprache nicht recht heraus. Er habe davon gehört; und daß Herr Specht auf Katznow, der hier viel verkehre, in dem Ruf eines leidenschaftlichen Spielers stehe. Genaueres wisse er nicht.

Woher denn aber sonst der böse Ruf stamme, in welchem die Waldschenke doch stehen solle?

Herr Moen zuckte die runden Schultern.

Wie das schöne Mädchen, die rote Marie, zu diesem Tölpel von Bräutigam komme?

Herr Moen begann eine unbestimmte Melodie zu pfeifen.

Der Bursche sei wohl reich?

Herr Moen schlug nach einer Pferdebremse, die ihm um den Kopf flog.

Wie man es nehmen wolle. Er sei der einzige Sohn des wohlhabendsten der Außenbauern von Katznow, in beständigem Streit mit seinem Alten; überhaupt ein mauvais sujet, das sicher »vor die Hühner gehen« werde, wie seine drei oder vier Vorgänger.

Welche Vorgänger?

Die früheren Bräutigams der roten Marie.

Die sind sämtlich –

»Vor die Hühner« gegangen.

Das interessante Gespräch mußte hier abgebrochen werden. Das Schießen begann und nahm den schon geschilderten Verlauf.

Als es bereits zu Ende ging, sah ich plötzlich in der mich umdrängenden dichten Corona den Baron. Er war noch Zeuge meiner beiden letzten Treffer.

Die Augen fallen mir zu. Es muß von dem feurigen Sekt sein. Freilich, drei ganze Flaschen – oder waren es vier –

* * *

Bei greulichem Wetter schwerste Tage, dank der verlotterten Wirtschaft, die ich vorgefunden habe. Mein Vorgänger soll an der Waldschenke zu Grunde gegangen sein. Möglich. Aber, so oder so – zu Grunde wäre er doch gegangen.

* * *

Ich muß den Rest meiner Relation Hier im Sinne von »Berichterstattung«. des Schützenfesttages nachtragen, bevor mir die Einzelheiten verschwinden. Bin ich doch jetzt schon über die Legitimität der Brüderschaft, die ich mit dem Baron getrunken habe, nicht mehr ganz sicher.

Also, wie war es? Wie kam es?

Nach dem Schießen hatte er alsbald meinen Arm genommen, so die Schar meiner Bewunderer etwas in Schach haltend. Der gesellschaftliche Abstand des vornehmen Herrn von dem vulgus profanum machte sich deutlich geltend, trotzdem ich zugeben muß, daß er gegen jedermann die Höflichkeit und Freundlichkeit selber war. Wir saßen dann mit Herrn Moen und einigen andern über dem Rotwein in einem separaten Zimmer. Auch Herr Specht steckte sein Fuchsgesicht herein, zog es aber zurück, – ich vermute, als er mich in der Gesellschaft erblickte. Starke Antipathieen pflegen auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Die Unterhaltung drehte sich wesentlich um die Ereignisse des Tages. Der Baron war sehr einsilbig und nippte, seine Cigarre rauchend, nur von Zeit zu Zeit an dem Glase. Da ich mir einbildete, daß er die Langeweile, die schlechte Luft und den Tabaksrauch, der kaum noch dichter werden konnte, nur nur meinetwillen so lange aushielt, fragte ich, ob wir aufbrechen wollten, worauf er sich sofort erhob. In der großen Gaststube, durch die wir mußten, trafen wir den Wirt, dem er ein paar Worte sagte, welche ich nicht verstand in dem Lärmen ringsumher; in der Halle saß die rote Marie an dem Ende eines Tisches ihrem Galan gegenüber. Sie hatte uns den Rücken zugewandt und sah uns nicht; der Bursch warf uns einen bösen Blick zu. Besser wohl: einen seiner bösen Blicke. Ich glaube nicht, daß der Mensch anders aus seinen Raubtieraugen blicken kann.

Schade um das schöne Geschöpf, sagte ich unwillkürlich halblaut.

Der Baron antwortete nicht; hatte es auch wohl kaum gehört. Er schien sehr präoccupiert.

Mittlerweile war es doch ziemlich spät geworden; die Dunkelheit brach schon herein; der halbe Mond kam über die Ebene herauf.

Das Gewirr der Wagen hatte sich inzwischen gelichtet. Wir fanden die unsern schnell; sie hielten nebeneinander.

Wie wär's, wenn Sie Ihren nach Hause schickten? sagte der Baron. Ich fahre Sie dann durch den Wald – für mich der nächste Weg – und setze Sie hinter Ihrem lucus non lucendo, Redewendung, die abwegige Etymologien, etwa Volksetymologien, karikiert. In ihr wird unterstellt, das Wort für Hain ( lucus) sei mit dem ähnlich lautenden Wort für Leuchten ( lucere) verwandt, auch wenn die Verbindung nur mühsam hergestellt werden kann (wörtlich: »Das Wort für Hain kommt vom nicht Leuchten«). Sie wird aber auch in der allgemeineren Bedeutung einer unlogischen Erklärung o.ä. verwendet. - Hier jedoch in ironischer Wörtlichnahme des Nomens. ich meine: Ihrer Baumschule, ab. Ein Sprung über den Graben im Notfall, und Sie sind in der Wüstenei, die sonst einzuzäunen Ihr Vorgänger aus leicht begreiflichen Gründen nicht für nötig erachtet hat.

In der frischen Abendluft schien er seine gewohnte übermütige Laune wiedergewonnen zu haben; gern willigte ich ein.

Aber während wir durch den Wald fuhren – es war ziemlich hell, da der Mond, der mit jeder Sekunde einen stärkeren Schein warf, gerade hinter uns stand und der Weg fast schnurgerade ist – verfiel er wieder in die vorige Schweigsamkeit. Mir aber gingen allerlei Gedanken durch den Kopf: an die verstörte Ehe da drüben, und die schöne Frau, der, wie sie jetzt einsam in ihrem Prunkgemache auf- und niederschritt und an den offenen Flügel trat, ein paar Takte zu greifen, vielleicht die Melodie von »Ach, wie so bald verhallet der Reigen« »Herbstlied«, von Karl Klingemann, vertont von Felix Mendelssohn Bartholdy. in die schlanken Finger kam. Und dann streiften meine Blicke wieder den Mann, der, wie er so still, verdrossen an meiner Seite saß, schmerzvoll über das zerbrochene Glück von Edenhall brüten mochte und – da hielt der Wagen an der dem Kutscher im voraus bezeichneten Stelle.

Der Baron richtete sich lebhaft aus seiner Ecke auf.

Wollen Sie mir einen Gefallen – einen großen Gefallen thun?

Wenn ich kann – herzlich gern.

Ich habe ein unaussprechliches Verlangen nach guter Gesellschaft, Fahren Sie noch auf eine Stunde oder so mit mir nach Möllenhof! Ich lasse Sie dann zurückfahren – natürlich auf der Chaussee. Ihre Frau Gemahlin erwartet Sie hoffentlich nicht.

Jedenfalls habe ich mich nicht auf eine bestimmte Stunde verpflichtet.

Und ich mich offiziell für den Abend verabschiedet. Wir werden also ganz unter uns Junggesellen sein. Wollen Sie?

Sehr gern.

Fort, Johann!

Wenige Minuten brachten uns nach Möllenhof, Der große schöne Vorplatz lag dunkel; in der laugen Front des Schlosses war kein Fenster erhellt; nur in der Halle dämmerte ein matter Lichtschein. Man mochte die Rückkehr des Herrn nicht so früh erwartet haben. Er geriet über die schlechte Beleuchtung in einen großen Zorn, der mit der unbedeutenden Veranlassung in einem für mich peinlich komischen Mißverhältnis stand. Ich erinnerte mich, daß nach Frau Moens Aussage dergleichen zornige Wallungen bei ihm nichts Seltenes sein sollen. Ich, der ich den Mann nur immer freundlich, höflich, liebenswürdig gesehen, hatte es nicht glauben mögen. Hier wurde mir der Beweis. Glücklicherweise ging der Ausbruch so schnell vorüber, wie er plötzlich gekommen war. Er fühlte, daß er sich in meinen Augen etwas vergeben hatte, und entschuldigte seine Heftigkeit durch eine starke Verstimmung, die ihn schon seit Tagen beherrsche, obschon er zugeben müsse, daß er keinerlei Veranlassung dazu habe. Ich ließ das gut sein und dachte mir mein Teil.

Er hatte mich in seine Privatzimmer zu ebener Erde rechter Hand vom Vestibül geführt, die ich noch nicht kannte und er mich nun sehen ließ, während zwei Diener eilfertig Lampen und Lichter anzündeten: vier Gemächer, wenn ich mich recht erinnere, von denen das letzte das Schlafgemach war, alle mit ebensoviel Geschmack wie Komfort ausgestattet. Ich machte ihm mein Kompliment über die schöne Einrichtung.

Ich kann das annehmen, sagte er, denn, wie das hier sich findet – ich habe jedes einzelne Stück bis auf die Nippes selbst ausgesucht und das Arrangement getroffen – noch in meiner Junggesellenzeit. Später muß man ja zu andern Göttern beten.

Ihr Junggesellentum kann doch nicht eben lange gewährt haben, bemerkte ich. Sie sind nach meiner Rechnung dreißig –

Bitte, einunddreißig!

Seid sieben Jahren etwa verheiratet. So kommen wir glücklich bis auf vierundzwanzig.

Und war seit meinem achtzehnten Jahre völlig selbständig. Das ist eine lange Zeit. –

Wieder dachte ich mir mein Teil: seit seinem achtzehnten Jahre! Das erklärte viel.

In einem der Zimmer, das halb als Dining-, halb als Smoking-Room gedacht war, und an dessen Wänden zwischen Jagdemblemen mancherlei Art einige schöne Stillleben hingen, hatten die Diener inzwischen eine kleine Abendtafel bereitet, zu der wir uns nun niederließen.

Sie sehen: kalte Küche – rien de plus: Hoffentlich genügt es Ihnen.

Ich pflege zur Nacht wenig zu essen. Und wenn auch – hier ist die Fülle.

Immerhin mehr, als auf unsern Tisch zu kommen pflegte in dem zerschossenen Bauernhaus vor Paris, als uns die Granaten vom Mont Valerien über die Köpfe sausten. Aber was trinken wir? Ich denke, wir fangen gleich mit dem Sekt an.

Er drehte, während er das sagte, bereits eine Flasche in dem Eiskübel zu seiner Rechten und füllte, ohne meine Antwort abzuwarten die Gläser.

Dem Schützenkönig das erste! rief er, mit mir anklingend.

Ich dankte und fragte, weshalb er, wenn er uns doch einmal die Ehre seiner Gegenwart schenken wollte, so spät gekommen sei?

Sicher nicht aus Hochmut, auf den die etwas ironische Form Ihrer Frage hindeuten zu wollen scheint. Nein! die Wahrheit ist: ich bin passionierter Jäger, aber ein sehr mäßiger Büchsenschütze. Weshalb sich coram publico blamieren?

Wir hatten unser Mahl bald beendet, die Diener die Schüsseln abgetragen, Licht und Cigarren vor uns hingestellt und sich auf einen Wink des Herrn entfernt.

Ich halte es mit Karl dem Zwölften in Bender Beim »Handgemenge von Bender« 31.1./1.2.1713 zwischen osmanischen Truppen und dem Gefolge des schwedischen Königs Karl XII. in seinem Lager in Bender (heute Republik Moldau) verweigerte der Monarch den vom osmanischen Sultan befohlenen Abmarsch und verteidigte sieben Stunden lang das Königshaus mit etwa 50 Soldaten und Offizieren. Mit der blanken Waffe in der Hand hatte er sich zum Haus durchgeschlagen, ein Schuss riss ihm einen Teil seines Ohrs weg. Als das brennende Haus in der achten Stunde des ungleichen Gemetzels den Rest der Schweden mit ihrem König zum Ausfall zwang, stürzte der König zu Boden und wurde schließlich gefangen., sagte er. Man bedient sich am besten selbst. Es gibt ja auch wirklich nichts Lästigeres als diese feierlichen Kerle mit den langen, neugierigen Ohren, wenn mau sich vertraulich unterhalten will.

Unsre Unterhaltung war bis setzt kaum so zu nennen: lauter Dinge, die jeder hören konnte. Und änderte auch vorläufig ihren Charakter nicht: Reminiscenzen aus der Campagne; Erkundigungen nach Kameraden, die man aus dem Auge verloren hatte und ähnliches, höchst Unverfängliches. Bis wir zur zweiten Flasche gelangten und die Rede, ich weiß nicht wie, auf das Spiel und die Spielerleidenschaft gekommen war. In Erinnerung dessen, was mir über des Barons Spielwut gesagt war, hätte ich das Thema gern gewechselt. Er ließ nicht davon ab. Zuletzt verlangte er direkt, zu hören, wie ich zu der Sache stünde? Ich erwiderte ungefähr:

Wir sprechen natürlich vom Hazard, denn von einem landläufigen Boston oder Whist, das in meinen Augen nur eine nicht gerade geistreiche Weise ist, die Zeit totzuschlagen, kann nicht wohl die Rede sein. Also das Glücksspiel! Es hat, soviel ich sehe, zwei Motive, von denen jedes für sich mir ein zureichender Grund scheint, wenn sie auch – ich befürworte noch einmal, daß ich nicht aus Erfahrungen spreche – in praxi wohl oft genug ineinander übergehen mögen. Das eine ist ein materielles: die Gier, im Handumdrehen reich zu werden, oder doch ohne sonstige Anstrengung aus einer momentan bedrängten Lage schnell herauszukommen. Das zweite möchte ich ein pathologisches nennen: die Lust, die aus der Aufregung, aus dem Nervenkitzel resultiert und so in Konkurrenz mit jedem beliebigen andern Sinnenrausch tritt. Ich nun habe niemals ein Verlangen – ein heftigeres sicher nicht – verspürt, reich zu sein, oder es zu werden. Der Reichtum erschien mir stets als ein mehr als problematisches Geschenk, das an Wert auch nicht im entferntesten den Vergleich aushält mit dem unsäglich Vielen und Großen, zu dessen Genuß uns das Leben einladet. Gehört uns doch alles, so weit unsre Sinne, unser Verständnis, unsre Phantasie reichen: die Natur, die Wissenschaft, die Kunst! – Auf der andern Seite: der Rausch! die Betäubung! Allen Respekt! Es ist nichts Geringes, an der goldenen Tafel der Olympier zu sitzen, sich wohl gar einer ihrer zu wähnen! Wenn hinterher nur nicht der greuliche Katzenjammer käme! Vor dem ist mein Respekt noch viel größer, nachdem er mir, wie wohl jedem von uns, gelegentlich in einer oder der andern, immer gleich widerwärtigen Gestalt erschienen ist. Hier haben Sie betreffs des Spiels und seines Teufels mein Glaubensbekenntnis. Es ist sehr nüchtern, ich gebe es zu; sehr bürgerlich. Aber, was wollen Sie? Mein Großvater – über ihn hinaus verliert sich meine Genealogie in Dunkelheit – war herrschaftlicher Förster: mein Vater ditto. Ich habe es zu der erhabenen Stellung eines königlichen Oberförsters gebracht, das heißt: zu einem Apfel, der eben auch nicht weit von seinem Stamm gefallen ist.

Er war bereits, während ich so sprach, aufgestanden und mit ungleichen Schritten in dem Gemach umhergegangen. Als ich schloß, wandte er sich mit jäher Heftigkeit zu mir und rief, fast schreiend:

Das ist ja alles nichts, sagt nichts, beweist nichts! Höchstens, daß Sie ein Glücklicher sind und nicht wissen, keine Ahnung davon haben, wie einem Unglücklichen zu Mute ist!

Damit hatte er sich in einen Fauteuil au dem kleinen Kamin geworfen und saß, lag vielmehr so da, die rechte Hand gegen Stirn und Augen gedrückt, mit der linken die Stuhllehne umklammernd, stöhnend, während der schlanke Körper ein paarmal krampfhaft zusammenzuckte.

Der Ausbruch war so gewaltsam und so plötzlich gekommen – ich war ernstlich erschrocken. Dieser Mann hatte nie gelernt, sich zu beherrschen; aber wie heftig mußte es ihn gepackt haben, daß er sich einem Halbfremden gegenüber so gehen lassen konnte!

Ich trat an ihn heran und legte ihm leise die Hand auf die Schulter. Er blickte auf; Thränen standen in seinen Augen. Jedes andre Gefühl in mir wurde von dem des Mitleids überflutet.

Verzeihen Sie! sagte ich; ich habe da unwissentlich eine schmerzhafte Stelle in Ihrer Seele berührt. Wer von uns hätte dergleichen nicht! Noch einmal: verzeihen Sie mir! Und lassen Sie uns von etwas anderm sprechen!

Er erhob sich wieder, trat an den Tisch, schenkte sich ein Wasserglas voll Sekt, das er auf einen Zug leerte; reichte mir die Hand und sagte, jetzt schon wieder mit einem Versuch zu lächeln:

Da ist nichts zu verzeihen. Im Gegenteil: Sie haben mich zu großem Dank verpflichtet. Es war eine derbe Lektion. Ich konnte sie brauchen. Was mich so außer mir brachte, war bloß die Ueberzeugung, die sich mir sofort aufdrängte, daß sie mir doch nichts helfen würde.

Sie dürfen so nicht reden, erwiderte ich. Wenn hier etwas anders und besser werden muß –

Etwas? unterbrach er mich. Alles! alles!

So ist auch dann kein Grund, zu verzweifeln. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Ich hab's im Leben oft genug an mir selbst erprobt.

Aber wenn kein Wille da ist? da sein kann? Wenn man ihn erst geknebelt; dann alles – Hölle und Himmel – sich verschworen hat, ihn in Willkür zu verkehren, die keinen Zügel duldet – wie dann? Wenn Sie mein Leben kennten –

Wir saßen wieder am Tisch einander gegenüber. Er stürzte Glas auf Glas hinunter. Ich nahm ihm die Flasche aus der Hand und setzte sie vor meinen Platz. Es war ein starkes Stück in Anbetracht der unerprobten Neuheit unsrer gegenseitigen Beziehungen. Aber er verstand mich sofort und sagte lächelnd: Ich danke Ihnen.

Mir fuhr es durch den Sinn: du könntest dem Manne etwas, vielleicht sehr viel werden.

Erzählen Sie mir ein wenig aus Ihrem Leben, sagte ich. Sie würden einen dankbaren und diskreten Zuhörer haben.

Ich verlange nichts Besseres, erwiderte er lebhaft. Hier, hier – dabei drückte er die geballte Faust wiederholt auf die Brust – liegt eine Last –

Die vielleicht leichter wird, wenn Sie sich aussprechen.

Er fing an zu erzählen –

Ob ich's wohl wieder zusammenbringe –

Er hat freilich eine seltsame Art des Erzählens, nicht ohne Geist und sogar Humor; aber sprunghaft, vom Hunderten ins Tausende kommend, so daß es nicht leicht ist, ihm zu folgen. Menschen, die nicht gewohnt sind, ihre Gedanken zusammenzunehmen. Ich will sehen. Die Hauptsachen habe ich doch wohl behalten –

Mein Vater war eine tyrannische Natur: egoistisch durch und durch, brutal, grausam. Er hatte mit meiner Mutter, einer geborenen Baronesse Feldern, in unglücklichster Ehe gelebt. Ob der Verdacht, der gegen sie vorgebracht wurde, begründet war, – das Gericht, welches sich mit der Sache zu beschäftigen hatte, war nicht der Meinung. Dennoch trennten sich die Gatten, Meine Mutter lebte nur noch wenige Jahre. Immer in Italien. Ich habe sie nicht wieder gesehen.

Ich war dem Vater verblieben. Er hat mich wohl kaum jemals für sein Kind gehalten, obgleich sein Stolz ihm nicht gestattete, es vor der Welt anzudeuten, geschweige einzuräumen. War ich es nicht, so reichte meine Abstammung allerdings in Regionen hinauf, auf die Rücksicht genommen werden mußte. Jedenfalls ließ der Vater den Haß, den er öffentlich nicht zeigen durfte, im geheimen an mir aus. Ich könnte da haarsträubende Dinge erzählen. Bei einer Gelegenheit rettete mich nur die Entschlossenheit eines braven Kammerdieners vor dem sicheren Tode. Sobald es anging, wurde ich in eine Kadettenanstalt gesteckt. Er war mich auf diese Weise los, und meine Erziehungsgelder schrumpften auf ein Minimum zusammen, ein Profit, immerhin mitzunehmen von ihm, der, verschwenderisch, wie er war, trotz der Größe des Majorats, stets mit seinen Gläubigern in grimmer Fehde lag.

Mit siebzehn ein halb Jahr wurde ich Offizier bei den ersten Gardedragonern. Sie wissen: ein sehr kostspieliges Regiment. Ich hatte da nur eintreten können in der auf allen Seiten geteilten Voraussetzung, daß mein Vater standesgemäß für mich sorgen würde. Er dachte nicht daran. Natürlich machte ich Schulden, für die der Vater nicht aufkommen wollte. Ich mußte meinen Abschied nehmen.

Bald darauf starb mein Vater.

Ich hätte jetzt wieder eintreten können. Man wußte, bei dem, was vorgegangen, traf mich eine eigentliche Schuld keineswegs. Aber in den paar ersten Monaten wirklicher Freiheit, die ich, von meinen Vormündern reichlich ausgestattet, hatte verleben dürfen, war mir mein überdies nicht starker Geschmack am Waffenhandwerk vollends verloren gegangen. Ich hielt es für durchaus angezeigt, das bisher Versäumte in aller Eile nachzuholen und mir vorerst einmal die Welt ein wenig anzusehen. Ich war in Paris, London, Italien – weiß nicht, wo überall; am liebsten da, wo die Gelegenheit zu hohem Spiel fand. Sie haben vorhin die Motive, die im Spielen wirksam sind, scharfsinnig auseinandergesetzt. Ich hatte unnatürlich darben müssen; nun wollte ich genießen, schwelgen. Im Spiel liegt eine Wollust, die nur der Spieler kennt. Sodann: Wein, Weiber, Würfel – sie kosten heidenmäßig viel Geld. Und das hatte ich nicht, auch nachdem ich großjährig geworden, dank meinem Vater, der mit seinen Gläubigern Abmachungen getroffen, die auch mich vinkulierten Vinkulieren: ein Wertpapier dadurch binden, dass es ohne Genehmigung des Emittenten nicht auf einen Dritten übertragen werden kann.. Gegen das Gesetz. Aber ich wollte unsern alten Namen nicht in Schmutz schleifen lassen.

Dann heiratete ich –

Er war wieder aufgesprungen und durchschritt das Zimmer ein paarmal, bevor er an den Tisch zurückkam.

Mich hatte die Geschichte bis dahin wohl interessiert; aber ohne mich besonders zu erregen. Eine Alltagsgeschichte im Grunde, und die ich mir aus den Daten, die mir bereits zugetragen waren, zur Not selbst hätte konstruieren können.

Und seltsam! In dem Augenblicke, wo die schöne Frau in Scene treten sollte, in deren Gesellschaft ich jetzt genau dreimal gewesen war, um mit ihr – vielleicht einen Fall ausgenommen – besonders interessante Gespräche nicht zu führen, fing mir das Herz lebhaft an zu klopfen. Ich sah sie so deutlich, als ob sie da im Zimmer gewesen wäre: ihren schönen Kopf mit dem reichen blauschwarzen Haar, das sie in einer wenig modischen, aber für sie außerordentlich kleidsamen Frisur zu tragen pflegt; den eigentümlich bestrickenden, ich möchte sagen, mystischen Aufschlag ihrer großen dunklen Augen; das vornehm graziöse, etwas skeptische Lächeln, das jezuweilen den ausdrucksvollen Mund umschwebt; das seltene, so gefällige Spiel ihrer schlanken weißen Hände – die Illusion war so stark, mein Staunen darüber so groß – ich wagte nicht aufzublicken aus Furcht zu verraten, was in mir vorging. Ich vernahm die ersten Worte, die er wieder sprach, wie aus weiter Ferne. Auch wurde sein Bericht von diesem Moment an immer desultorischer Sprunghafter.. Keine Erzählung mehr – abgerissene, selten zu Ende gebrachte Sätze – Klage, Anklage, Selbstverherrlichung, Selbstverhöhnung – alles wirr durcheinander:

Hätte nicht heiraten sollen – mochte das Majorat zum Teufel gehen; immer besser, als daß ich selbst –. Weiß nicht, wie Sie über die Ehe denken –. Natürlich sehr gut – haben ja auch alle Ursache – Ausnahme, lieber Freund, Ausnahme – ein Treffer unter tausend und abertausend Nieten, – Kann es anders sein? – Zwei Wesen, verschieden in Geschlecht, Alter, Charakter, Erziehung, Gewohnheiten, Neigungen –. Freilich, die Liebe – jawohl! sie duldet alles, verzeiht alles, glaubt alles –. Wenn sie es thäte! – Nach meiner Erfahrung: nichts duldet sie, nichts verzeiht sie, nichts glaubt sie – meine heiligsten Versicherungen, Schwüre –. Mag sein: ich bin kein guter Mensch – wie habe ich's werden sollen – vater-, mutterlos – schlimmer als das: mit dem Vater, der Mutter! – kein Bruder, keine Schwester, kein Freund! Ah! – Dann kam der Krieg – habe ihm entgegengejauchzt – Deutschland – Frankreich – ich liebe Frankreich, die Franzosen; in Paris habe ich meine vergnügtesten Stunden verlebt – dennoch – nun, Sie haben mich ja da gesehen, sich über mich geärgert, meinen Mangel an Disziplin, die marktschreierische Tollkühnheit, mit der ich mein Leben aufs Spiel setzte. – Wissen Sie, was ich wollte? Es auf eine anständige Weise los werden – genau dasselbe, was noch einer und der andre wollte, die ich Ihnen mit Namen nennen könnte. – Und die mehr Glück hatten, als ich – –

So ging das eine geraume Zeit. Meine Erwartung, den eigentlichen Grund des ehelichen Zwistes zu erfahren, blieb unerfüllt. Aber weshalb hier nach einem besonderen Grunde suchen, wo so vieles in derselben verderblichen Richtung arbeitete! Mochte sein, daß er den größeren, den weitaus größeren Teil der Schuld trug. Aber: »Innerhalb der trojanischen Mauern und außerhalb« Iliacos intra muros peccatur et extra: »Es wird innerhalb und außerhalb der Mauern von Ilium (Troja) gesündigt«, d. h. es werden auf beiden Seiten (überall) Fehler gemacht (Horaz' Epist., I, 2, 16) – ganz ohne Schuld war sie sicher nicht. Ich hatte es wohl herausgehört: »sie«, die nichts duldete, nichts verzieh, nichts glaubte, damit hatte er nicht die Liebe gemeint, sondern »sie« persönlich, die Unnahbare mit den stolzen Augen und dem hochmütigen Lächeln. Die wahrscheinlich im Leben so wenig einen selbstlosen Freund, einen treuen Berater gehabt hatte, wie er. Wenn ich ihnen, ihnen beiden dieser Freund, dieser Berater würde; ihnen, die an des Lebens reichster Tafel verschmachteten in ihres Sinnes Thorheit –

Wie ich es jetzt in Ruhe bedenke – die Thorheit war sehr stark auf meiner Seite. Aber ich war nicht in Ruhe; war tief erregt, mein Herz von Mitleid durchflutet. Ich sah vor mir eine Mission, der ich mich nicht entziehen durfte, wollte ich denn wirklich ein Mensch sein, dem nichts Menschliches fremd war –

Das sagte ich nun freilich nicht; aber was ich sagte, ergriff, erschütterte ihn.

Er saß da, bleich, mit glänzenden Augen, zuckenden Lippen.

So reichte er mir die Hand über den Tisch herüber und sagte, leise anhebend:

Das war mein Traum, mein Wunsch, meine Hoffnung. Das war es, weshalb ich Sie so inständig bat, mit mir zu kommen: mir, wenn Gott wollte, einen Freund zu erobern, einen Bruder. Wollen Sie – willst du es sein?

Ich will es.

Also du von heute an?

Und für immer.

Unsre Hände, die noch einander festhielten, lösten sich. Der Bund war geschlossen.

Gereut es mich?

Ich weiß es nicht.

Ich weiß nur: wir haben uns seitdem – seit vier Tagen – nicht gesehen. Freilich, ich war beinahe fortwährend draußen und das Wetter miserabel –.

Wenn wir uns das nächste Mal wiedersehen, werde ich es wissen.

* * *

Nein, es gereut mich nicht, und ich schäme mich meines Kleinmuts.

Als ich heute mittag nach Hause kam, war er vor einer halben Stunde gekommen und mit Elfriede im Garten. Ich verspürte bei dieser Meldung eine gewisse Beklemmung in der Herzgegend und brauchte, mich nach dem heißen staubigen Morgen zurecht zu machen, mehr Zeit, als notwendig. Hatte ich doch von dem geschlossenen Bunde kein Sterbenswort gesagt! Wie nun, wenn alles nur Weinlaune, Champagnerdunst gewesen? er die feierliche Scene vergessen hatte, oder als eine Komödie, eine Farce belächelte, die ein vernünftiger Mensch unmöglich ernsthaft nehmen konnte? Und ich mich mit meinem naiven brüderlichen »Du« gelinde blamierte? In Elfriedens Gegenwart?

Indessen, hier blieb keine Wahl. Ich warf noch einen Blick auf das ratlose Gesicht im Spiegel und begab mich in den Garten.

Sie promenierten in dem langen Gange. Als sie meinen Schritt hinter sich hörten, wandten sie sich; er kam mir entgegen mit heiterer Miene und weit vorgestreckter Hand:

Endlich! Deine Frau hat sich schon ordentlich um dich geängstigt.

Mein erster Blick war nach Elfriede. Sie hatte die Augen niedergeschlagen, lächelnd, ein reizendes Rot auf den lieben Wangen.

Die Situation ließ an Klarheit nichts zu wünschen: der Baron hatte die Delikatesse gehabt, Elfriede von dem, was vorgefallen zu unterrichten, um so jede etwaige Verlegenheit unsres ersten Wiedersehens aus dem Wege zu räumen. Restierte nur noch einiges Dunkel über Elfriedens Stellungnahme zu dem großen Ereignis, Ich machte mich auf eine gelinde Strafpredigt gefaßt.

Die erfolgte dann auch programmmäßig, nachdem der Baron fortgefahren war, was nach einer halben Stunde geschah, die er zumeist mit Bernhard im Garten vertollt hatte.

Es sei das wieder einer von meinen Schwabenstreichen, die ich ja wohl auch nach dem vierzigsten Jahre nicht lassen würde. Der Baron habe allerdings mein Lob in einer Weise gesungen, daß sie sich ordentlich geschämt habe, erst heute und bei dieser Gelegenheit zu erfahren, welchen Ausbund von tugendhaften und schmucksamen Eigenschaften sie an ihrem Gatten besitze. Aber mit großen Herren sei nun einmal schlecht Kirschen essen; ich werde das mit der Zeit schon einsehen u. s. w. u. s. w.

Ich hatte bei dem allen das Gefühl, daß die Gute es so gar ernsthaft nicht meine und eigentlich ein wenig stolz auf meinen Erfolg war, Nur eine ihrer Bemerkungen machte mich stutzig.

Und wie meinst du nun, daß die Frau Baronin die Sache nehmen wird? Wird es nicht etwas komisch sein, wenn ihr Männer euch du und womöglich Raimund und Fritz nennt, während die Gnädige fortfährt, auf deine kleine Frau mit ihren hochmütigen Augen herabzusehen und sie de haut en bas zu behandeln?

Ich bin überzeugt, auch zwischen euch wird sich mit der Zeit ein freundlicheres Verhältnis herausstellen.

Darin dürftest du doch irren. Vorläufig sind wir nur immer weiter auseinander gekommen. Meine Schuld ist es nicht. Zur Liebe kann man niemand zwingen, und wie man in den Wald ruft, so lautet die Antwort.

O, diese Frauen! diese Frauen! Wir Männer, wie leicht verständigen wir uns! Dann treten sie feierlich herzu und erheben ihren Kassandraruf. Von Vertrauen zu dem Leben, hoffnungsfrohem Blick in die Zukunft, Glauben an die eingeborene Güte der Menschennatur keine Spur! Alle sind sie eingefleischte Pessimistinnen.

Die Gnädige drüben in erster Linie. Wenn sie das Leben leichter nähme, mehr Nachsicht mit ihm hätte – mein Gott, ja, er hat seine Schwächen, seine großen Schwächen – gewiß! Aber er ist nicht schlecht. Vor allem: er ist bestimmbar, lenksam. Da muß man anknüpfen; ihn, ohne daß er es merkt, auf andre, bessere Wege führen.

Der Versuch muß gemacht werden.

Mögen Sie, Frau Baronin, darüber noch so höhnisch lächeln – wenn es gelingt, Sie sind die erste, die es mir danken wird!

* * *

Ich bin überzeugt, ich habe den richtigen Punkt gefunden, wo der Hebel zuerst anzusetzen ist.

Seine Andeutung heute, daß seine schwierige finanzielle Lage von Anfang an einen schweren Schatten in sein eheliches Verhältnis geworfen habe, war nicht mißzuverstehen.

Es ist begreiflich genug.

Sie ist von Haus aus blutarm: eine von fünf Schwestern, zu denen zwei Brüder kommen, die alle mit den Eltern von den Revenuen eines mäßig großen Gutes leben wollen, heute, wo die Landwirtschaft längst nicht mehr rentiert. Da die Kardower Herrschaft Majorat ist, bleibt ihr, im Todesfalle des Gatten, nur ihr Witwenteil, das nicht eben groß bemessen scheint, und was bei seinen Lebzeiten etwa für sie zurückgelegt wurde. Wie aber kann von Sparen die Rede sein, wenn es so schon nach keiner Seite reicht! Und wollte sie auch an sich nicht denken – in diesen alten Familien pflegt ein starkes Gefühl der Solidarität zu herrschen. Gewiß ist die Baronin eine pietätvolle Tochter, eine gute Schwester, die mit vollen Händen geben würde, nur – daß sie leider nicht zu geben hat. Ein grausam böses Ding für ein empfindliches Herz! Eine schlimme Qual, für die sie – ihren Gatten verantwortlich macht!

Mit wieviel Recht, kann ich heute noch nicht entscheiden.

* * *

Er hat sich, ohne daß ich eigentlich in ihn gedrungen wäre, mit großer Offenheit über seine ökonomische Situation ausgesprochen.

Sie würde geradezu fürstlich sein, nur daß es da so verzweifelt viele leidigste Wenn und Aber gibt. Von den großen jährlichen Revenüen aus den Gütern hier, auf Rügen, in Schlesien und verschiedenen von dem Majoratsstifter festgelegten Kapitalien gelangen höchstens zwei Drittel in seine Hände; den Rest absorbieren die Gläubiger. Nun wäre, was bleibt, für unsereinen ja ein ganzes Vermögen; hier will es nicht für das standesgemäße Leben eines Jahres reichen. Was gehört freilich dazu nicht alles: das fürstlich eingerichtete Schloß Möllenhof mit dem Train von Dienern, Mägden; der prachtvolle Marstall mit seinen so und so vielen Wagenpferden, Reitpferden und den obligaten Kutschern, Jockeys und Stallknechten; der ungeheure Park; die herrlichen Gewächshäuser mit dem Obergärtner, den Untergärtnern und Gärtnerburschen. Ein Jagdschloß auf Rügen, das er vielleicht einmal im Jahre besucht; ein drittes auf den schlesischen Besitzungen, das er noch nie mit Augen gesehen hat. Das Haus in der Wilhelmstraße in Berlin, das sich der Anwesenheit seiner Herrschaft nur wenige Winterwochen hindurch erfreut, wenn der Baron, der königlicher Kammerherr ist, bei den Hoffesten erscheinen muß. Die Instandhaltung eines so großen und komplizierten Besitzes würde selbstverständlich Tausende und Abertausende verschlingen bei der besten, sparsamsten Verwaltung; und der Baron sagt: ich mag gar nicht wissen, was mir von meinen Intendanten und Kastellanen jahraus jahrein veruntreut wird.

Aber der wahre Krebsschaden sind doch die Schulden, zum größten Teil Wucherschulden schlimmster Sorte. Hier muß Abhilfe geschafft werden und sofort. Ich rate zu einem mäßigen Accord, auf den die Herren Gläubiger (oder doch die meisten von ihnen) schon deshalb eingehen müssen, weil sie ihre Forderungen gerichtlich nicht geltend machen können, ohne mit den Gesetzen in einen schlimmen Konflikt zu kommen. Die Transaktion ist freilich ohne eine starke Anleihe nicht möglich; aber einmal ist das Geld jetzt billig; das Kapital kann nach und nach amortisiert werden; auf jeden Fall kommt Klarheit in eine Situation, die jetzt das vollständige Tohuwabohu ist und deren Ende totaler Zusammenbruch sein muß.

Ich habe Baron Fritz versprochen, einen vollständigen Plan auszuarbeiten, den ich zu größerer Sicherheit von einem mir befreundeten Rechtsanwalt (ich denke an Tr. in Berlin) begutachten lassen wolle. Er ist voller Dankbarkeit und verspricht, nur in allem treulich zu folgen; ich ihm dagegen, daß binnen fünf Jahren alles reguliert und arrangiert sein wird.

Dann kam ein delikater, sehr delikater Punkt, an den ich erst nach langem, schweren Bedenken zu rühren wagte.

Das sei ja nun alles so weit ganz gut; aber was so in Monaten und Jahren mühsam aufgebaut werde, könne eine Nacht wieder umreißen, – eine einzige unglückliche Spielnacht.

Er wurde sehr verlegen.

Ich spiele schon jetzt so gut wie gar nicht mehr, erwiderte er.

Sehr schön, sagte ich. Aber, ob viel, oder wenig, du gibst zu, daß du noch immer spielst. Ein Spiel, das bescheiden angefangen hat, kann leicht sehr bedenkliche Dimensionen annehmen. Es ist das sogar die Regel.

Du, lieber Himmel! Hier zu Lande!

Es kann doch nicht so ganz unmöglich sein. Man hat mir wenigstens gesagt, daß Herr Specht auf Katznow ein sehr verwegener und gefährlicher Spieler ist.

Ich hatte das ohne jede Beziehung und Nebenabsicht vorgebracht. Er verfärbte sich sichtbar und warf einen ganz eigentümlichen, halb ängstlichen, halb zornigen Blick auf mich, um ihn sogleich wieder abzuwenden. Ein seltsamer Verdacht stieg jäh in meiner Seele auf. Die Waldschenke sollte den Spielern der Gegend zum Rendezvous dienen. Was hatte der Baron auf dem Schützenfest zu suchen, das ihn offenbar nicht im mindesten interessierte? Und bei dem er dann doch zu so später Stunde erschien? Was wollte das Fuchsgesicht von Herrn Specht, das plötzlich zur Thür der Trinkstube hineingrinste und sofort wieder verschwand, sobald er mich neben dem Baron bemerkte? Und wenn sich Fritz damals nur so fest an mich geklammert hätte, um wenigstens für diesen Abend seinem Versucher zu entgehen und hernach, stolz auf seine Enthaltsamkeit, das Lob des Spiels zu singen, des herrlichen Narkotikums einer gequälten Seele?

Mit Blitzesschnelle fuhr mir das alles durch den Kopf.

Es konnte das Ende unsrer jungen Freundschaft sein. Mochte es denn!

Fritz, sagte ich, du warst neulich abend in die Waldschenke gekommen, um zu spielen. Und Herr Specht sollte der Bankhalter sein.

Diesmal sprühten seine Blicke offenen Zorn. Ich glaubte, der Bruch sei da.

Dann war der Zornesblitz verschwunden; auf seinem schönen Gesicht stand ein verlegenes, aber freundliches Lächeln.

Machen wir es kurz! sagte er. Du willst mein Wort, daß ich nicht mehr spielen werde.

Wenn du mir das geben könntest!

Da hast du es!

Er hatte mir beide Hände gereicht. In der Freude meines Herzens habe ich ihn umarmt.

Dieser Mann ist nicht schlecht. Des Kindes Wille ist des Windes Wille, sagt Longfellow. Henry Wadsworth Longfellow (1807-1882), amerikanischer Schriftsteller. » The Song of Hiawatha« (1855) war auch in der deutschen Übersetzung von Ferdinand Freiligrath (Der Sang von Hiawatha, 1857) populär. Die Textstelle (» a boy's will is the wind's will«) stammt aus Longfellows Gedicht » My Lost Youth«; Longfellow selbst hatte sie Herders Übertragung eines lappländischen Gedichtes entlehnt (»Die Fahrt zur Geliebten«, in: Stimmen der Völker, 1807): »Knabenwille ist Windeswille«.

Er ist ein Kind.

* * *

Wochenlang nicht zum Schreiben gekommen – notabene hier an meinem Tagebuch. Sonst! Lieber Himmel, heutzutage wird jeder Beamte, er mag wollen oder nicht, zur Schreiberseele. Wie habe ich es mir so herrlich geträumt, wenn ich erst einmal Oberförster wäre und vom Morgen bis zum Abend in meinem geliebten Walde lebte! Und dann ein hübsches Haus, draußen mit Epheu umrankt, drinnen ohne Putz und Prunk, aber behaglich durch und durch. Und ein wenig (nicht zu viel!) ländliche und Gartenwirtschaft. Und auf dem Hof in den schmucken Ställen zwei flinke Pferde; diverse breitstirnige Kühlein; Federvieh quantum satis; Hunde selbstverständlich. Und zu diesen und über all diesen Herrlichkeiten meine holde Elfriede, die sich aus dem verwöhnten Stadtkind zu einer ländlichen Wirtschafterin par excellence entpuppt! Und unser Junge, der sich in Garten, Feld und Wald zu einem Jung-Siegfried tummelt!

Das war der Traum.

Und die Wirklichkeit?

Stubenhocken, Aktenschmieren; eine wahre Spelunke von Haus, das einfach niedergerissen zu werden verdient, und an dem statt dessen meine sparsame Regierung vorne, hinten, oben, unten herumflicken läßt, daß einen all das Gehämmere und Geklopfe närrisch machen könnte; Unannehmlichkeiten aller Art in der Wirtschaft, die, fürchte ich, der armen kleinen Frau längst über das reizende Köpfchen gewachsen ist; Verdrießlichkeiten ditto im Amt mit meinen Förstern, von denen nur der eine, Amsberg, ein wirklich tüchtiger Mensch ist; jetzt nun gar mit meinem lieben alten Oberforstmeister, der durchaus von meiner in Vorschlag gebrachten neuen Methode des Holzschlages nichts wissen will.

Und so geht das ohne Grazie fort in infinitum.

* * *

Muß ich aber neulich in schlechter Laune gewesen sein!

So schlimm ist es denn doch nicht. Besonders das Lamento über die Verdrießlichkeiten im Amt finde ich stark übertrieben: ich habe trotz alledem viel Freude an meinem Beruf und möchte, ja könnte ihn mit keinem andern vertauschen. Ist doch jeder Tropfen in meinen Adern unvermischtes Forstmannsblut! Auch mit dem Hause macht es sich recht nett; und wenn erst alles fertig ist (hoffentlich vor Einbruch der schlechten Jahreszeit), wird just kein Palais, aber ein ganz behagliches Heim dastehen. Selbst meine neue Baumschule, an der ich anfangs fast verzweifelte, gewinnt bei dem schönen Wetter mit jedem Tage ein besseres Aussehen. Ich hoffe, ich werde mit ihr Ehre einlegen vor Meister und Gesellen.

Ach, die Natur läßt schon mit sich reden und nimmt willig Vernunft an. Aber die Menschen! die Menschen!

Was habe ich mit l'ami Fritz ein Kreuz und eine Not! Mein Projekt zur Aufbesserung und Ordnung seiner Finanzen ist von dem Berliner Rechtsfreund approbiert; er selbst nennt es »geradezu genial«, und – noch steht alles auf dem Papier heute nach sechs Wochen! Wie ist es möglich, daß ein übrigens gescheiter Mensch, dem noch dazu das Messer, sozusagen, an der Kehle sitzt, sich gegen seine Rettung sträubt, als stünde man im Begriff, ihm das schlimmste Leid anzuthun? Und sträubte er sich noch offen, ehrlich! Damit würde man zur Not fertig. Aber was beginnen mit einem Menschen, dessen Rede stets ja, ja! und dessen Handeln stets nein, nein! ist! Ein dutzendmal bin ich schon auf dem Punkte gestanden, ihm die ganze Geschichte vor die Füße zu werfen und ihn seines Weges allein gehen zu lassen. Dann braucht er mich nur mit seiner sonnigen Liebenswürdigkeit zu umstricken, und ich bin wieder eingefangen, tröste mich mit Rom, das auch nicht an einem Tage erbaut sei, und dem Gefangenen auf Salas y Gomez, Ballade von Adelbert von Chamisso, in: Gedichte (1836). - A. Korschke schreibt 1989 in Kindlers Literaturlexikon: »In dem Terzinengedicht Salas y Gomez, einem seiner bedeutendsten Werke, setzt Chamisso der Tradition der bürgerlichen Robinsonade ein desillusionierendes Ende. Ein Schiffbrüchiger überlebt auf einem kahlen Felsen, sich von Vogeleiern ernährend, unfähig, ein modellhaftes Inselleben im Stil von Defoes Robinson Crusoe zu gestalten, und zeichnet zuletzt nur noch die Geschichte seiner leer verbrachten Zeit auf Steintafeln auf. Chamisso benutzt diese Situation, um seine ganze Moral eines gottergebenen Ausharrens in der Fatalität aufzubieten. Er baut sie zugleich zu einer poetologischen Chiffre aus: Entwurf eines monologischen Schreibens, das keinen Adressaten und letztlich keinen Inhalt mehr hat, durch das sich der schiffbrüchige Schreiber sogar auf die Leere der Welt einzuschwören versucht, um seinen Erinnerungen und der Drohung des Wahnsinns nicht zu erliegen. Von den vielen Bildern der Handlungslähmung, die Chamisso erfand, ist dies das konsequenteste, und man hat deshalb sein Gedicht Salas y Gomez, das zur romantischen Ausfahrt in die Ferne und zum Traum von der Unendlichkeit ein resigniertes Gegenbild bietet, ein » Dokument des endgültigen Abschieds von der Romantik« genannt (Metzner) - eine Charakteristik, die sein lyrisches Werk im ganzen trifft.« der den ehernen Himmel über ihm um Geduld anfleht.

Gewiß! Der Rattenfänger von Hameln hat nichts gebraucht, die Kinder hinter sich herzuziehen, als seine bezaubernde Liebenswürdigkeit. Und doch hätte er vielleicht in diesem Kardinalpunkte an l'ami Fritz seinen Meister gefunden.

Das mit der Eiche war doch ein Meisterstreich.

Da liegt seit zwanzig Jahren und darüber Fiskus mit den Baronen von Kardow auf Möllenhof in einem grimmen Rechtsstreit über den Hügel mit der Rieseneiche, den jede der beiden Parteien als sein gutes Eigentum reklamiert. Der Fall ist schwierig. Die Eiche, die freilich jetzt hundert Meter von dem Forste steht, ist einmal doch sein integrierender Teil gewesen, sagt Fiskus. Jawohl, sagt der Gegner; aber nicht dieses Forstes, sondern eines, der schon so lange nicht mehr existiert, daß er sich inzwischen aus einem Eichenwald in einen Tannenwald hat umwandeln können. Eine meiner ersten Arbeiten hier war ein Sachverständigengutachten über diese Angelegenheit, die im Laufe der Jahre schon mindestens einem Dutzend Forstakademieen vorgelegen hatte. Und Wunder über Wunder! Dieses Elaborat eines simplen Oberförsters hat den Ausschlag gegeben! Vor acht Tagen hat die höchste Instanz ihr letztes Wort gesprochen: Hügel und Eiche gehören fürderhin erb- und eigentümlich denen von Kardow; Fiskus hat zu dem Schaden noch die Prozeßkosten zu bezahlen, die ein ganzes Vermögen repräsentieren sollen.

L'ami freut sich über diese Errungenschaft, als seien ihm zu seinen vierzig Gütern noch vierzig zugefallen, besonders weil – ich weiß nicht aus welchen Rechtsgründen – der neue Besitz nicht zu dem Majorat gekommen, sondern seiner freien Verfügung überlassen sei. Er zieht Elfriede, deren Lieblingsplatz der Eichenhügel ist, zu Rate und läßt nach ihrem Wunsch und ihrer Angabe bequeme Wege hügelauf, hügelab anlegen, den Baum mit geschmackvollen Bänken umgeben.

Gut.

Gestern ist Elfriedens Geburtstag.

Um elf Uhr kommt l'ami vorgefahren mit Hans. Er selbst bringt einen prachtvollen Blumenstrauß und Grüße von der Baronin (als vermutlich eigene Erfindung, etwas undeutlich gemurmelt). Hans überreicht »Tante Elfriede«, sich zierlich verneigend, einen großen versiegelten Brief, der sich als ein notarielles Dokument entpuppt, in welchem der Baron Fritz von Kardow für sich und Erben auf das Eigentumsrecht auf den (weitläufig und genau beschriebenen) Eichenhügel verzichtet zu Gunsten der Frau Oberförster Elfriede Busch, geborene Marbach, unter der einzigen Bedingung, daß sie besagtem Baron Fritz und seinem Sohne Hans jedem einen huldigenden Handkuß gnädig verstatte.

Elfriede hatte den Takt, ein Geschenk, das in so herzlicher Weise geboten war und als Wertsache für den reichen Herrn wirklich der Tropfen am Eimer ist, ohne Ziererei freundlich anzunehmen. Mich beschwichtigte er nachher durch die Versicherung, daß ohne meine Intervention Hügel und Eiche rettungslos in den unersättlichen Schlund des Fiskus gefallen wäre.

Am Abend saßen wir bei einer Flasche guten Weines auf den neuen Sitzen unter der »Elfriedeneiche« und sahen die Sonne über Möllenhof untergehen.

* * *

L'ami ist jetzt fast jeden Tag bei uns, oft stundenlang. Früher pflegte Hans ihn zu begleiten. Der aber hat, an Stelle der französischen Gouvernante, einen richtigen Gouverneur bekommen, in Gestalt eines jungen Kandidaten der Theologie, und soll sich an ihn gewöhnen. Ich vermisse den herrlichen Jungen sehr. Er ist mir so lieb, als wäre er mein eigen Kind. Auch hat er das Band zwischen seinem Vater und mir wacker befestigen und kräftigen helfen.

Fritz entschuldigt sich bei mir wegen seines häufigen Kommens: drüben fürchte er, wahnsinnig zu werden. Er würde auf eine lange Reise gehen, möglichst weit weg: nach Aegypten, Indien, Südamerika, wenn seine Verhältnisse es gestatteten. Offen gestanden, ich sehe nicht recht ein, wie ihn die halten sollten. Eine Generalvollmacht, mir und unserm Rechtsfreund ausgestellt, würde bessere Dienste leisten als seine Gegenwart, die nicht selten geradezu hinderlich ist. Dennoch habe ich nicht das Herz, ihm offen zuzureden. Muß man doch in jedem Menschen das Gefühl seiner Verantwortlichkeit, als den besten moralischen Halt, auf jede Weise wach zu erhalten, und, wo es nicht ist, zu wecken suchen! Wie lange ist es her, daß seine ewige verzweifelte Klage war: er sei zu nichts auf der Welt nütze, und thäte am besten, sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen!

Meine Ueberzeugung ist: er betet seine schöne Frau an, obgleich er es nicht Wort haben will, und sein heimlicher Jammer ist, daß die spröde Gattin ihre Huld von ihm abgewandt hat.

Ich muß fürchten, für immer; jetzt aber auch annehmen, daß nicht, wie ich anfangs glaubte, auf seiner, sondern auf ihrer Seite der größere Teil der Schuld liegt. Sein ernsthafter Wille, ein andrer und besserer Mensch zu werden, kann ihr doch nicht mehr zweifelhaft sein, nachdem ich ihr in einer Unterredung, um die ich sie in seinem Auftrage bat, unser Finanzprojekt ausführlich dargelegt und, die Gelegenheit beim Schopf ergreifend, von unsrer jungen Freundschaft und den sicheren Hoffnungen, die ich daran knüpfte, in wärmsten Ausdrücken gesprochen habe. Nun denn! Sie ließ mich reden, ohne mich zu unterbrechen, ohne ein Zeichen der Teilnahme, ich hätte denn etwa ein ironisches Lächeln, das ein paarmal um ihre Lippen zuckte, dafür nehmen müssen.

Schließlich, obgleich mehr als halb entmutigt, wagte ich zu fragen, ob sie meine Hoffnungen denn gar nicht teile?

Ein kurzes kaltes Nein war die Antwort.

Die Audienz war zu Ende. Ich erhob mich und sagte, innerlich empört:

Da hätte ich denn freilich wieder einmal die Erfahrung gemacht, daß die Freude, die im Himmel herrscht über den reuigen Sünder, auf Erden selten gefunden wird, nicht einmal bei denen, deren Herz doch dafür offen sein müßte.

Sie stand, als ich das sagte, halb von mir abgewandt und veränderte diese Stellung auch nicht, während sie erwiderte:

Ich danke Ihnen für die Wohlthat Ihrer Belehrung. Darf ich Sie als kleinen Entgeld an das Wort erinnern, daß man nicht soll Feigen pflücken wollen von dem Dornstrauch?

Darauf ich:

Ich habe von einem lieben alten Freunde, der danach zu handeln pflegte, ein andres Wort:

Thue das Gute
Und wirf es ins Meer;
Sieht es der Fisch nicht,
Sieht es der Herr.

Der Reim ist schlecht; aber es ist eine gute Philosophie.

In der sich möglichst zu befestigen, ich Ihnen dringend raten möchte. Sie werden es brauchen.

Ich verbeugte mich schweigend und trollte mich.

So denn, wenn es nach ihr ginge, hätte das Verderben seinen Lauf. Sie will nicht im Bunde sein, nicht mithelfen. Und doch, wäre es auch nur um den herrlichen Sohn, den sie augenscheinlich ganz eifersüchtig liebt, müßte sie es wollen.

Verstehe das, wer kann.

* * *

Die Frau Baronin hat nach dieser Unterredung keinen Fuß mehr über unsre Schwelle gesetzt. Es ließ sich voraussehen, und Elfriede hat den Verlust leicht verschmerzt. Sie hatte vom ersten Augenblick an eine herzhafte Antipathie gegen die Dame gefaßt; ich habe sie ein paarmal im Verdacht gehabt, sie trage sich mit finsteren Gedanken an die Möglichkeit, ich könne ein zu lebhaftes Interesse an der schönen Nachbarin nehmen. So finde ich es denn ganz begreiflich, daß diese Wendung der Dinge ihr eine heimliche Genugthuung bereitet, die sich merken zu lassen sie sich wohl hütet, die kluge kleine Person.

Ein andres begreife ich weniger, vielmehr ganz und gar nicht.

So sehr sie sich von der Baronin abgestoßen fühlte, ebenso lebhaft fühlte sie sich, ebenfalls von Anfang an, zu Frau Moen hingezogen, die ja auch wirklich eine in jeder Beziehung achtungswerte, liebenswürdige kluge Dame ist. Welch lebhafter Verkehr war das in den ersten Wochen, ja Monaten! Frau Moen hüben, oder Elfriede drüben! Ein idealer Freundschaftsbund mit den obligaten Empfangs- und Abschiedsküssen und schwesterlichem Du! Für Elfriede war Baronin Helene die dunkle Folie, von der sich das Bild ihrer geliebten Emilie in lichten Farben absetzte! Bereits seit einiger Zeit machte ich die Bemerkung, daß diese Farben einzudunkeln begannen. Elfriede fand nie zuvor bemerkte Flecken in ihrer Sonne. Es schien, daß Frau Moen plötzlich launenhaft geworden war, rechthaberisch; mit ihrem nur auf das Praktische gerichteten Sinn, ihren ewigen Haushaltungsgesprächen, alles in allem, doch nicht der rechte Umgang für sie.

Und dann habe Frau Moen eine so böse Zunge! Spreche so schlecht von ihren Nachbarn und Nachbarinnen! Das könne sie nun schon gar nicht leiden!

So nahm denn der Verkehr zwischen den beiden Damen rapid an Lebhaftigkeit ab, wurde aber doch noch immer aufrecht erhalten.

Schließlich muß eine Katastrophe stattgefunden haben. Elfriede ist seit vierzehn Tagen nicht drüben gewesen; ebensowenig hat sich Frau Moen hier sehen lassen.

Elfriede schweigt sich aus.

Es sollte mir aufrichtig leid thun, wenn dies alles mehr wäre als eine vorübergehende Verstimmung. Ich schätze Frau Moen sehr, und sie war, nachdem der Versuch mit der Baronin so gründlich gescheitert ist, für Elfriede doch der einzig passende Umgang.

Ich denke, ich bringe auch das noch heraus und – in Ordnung.

* * *

Eigentlich habe ich nicht das Recht, Elfriede zu schelten, daß sie so gar keinen weiblichen Verkehr hat. Stehe ich denn unter den Männern hier nicht ebenso isoliert! Freilich, sie sind auch danach! Aber kann Elfriede vice versa für sich nicht dasselbe plädieren, wenn denn wirklich auch Frau Moen nicht gehalten hat, was sie anfangs versprach? Dieser Erdenwinkel ist wirklich in geistiger Kultur ein halbes Jahrhundert hinter der übrigen Welt zurück. Von litterarischen Interessen keine Rede; nicht einmal die Musik, die doch sonst die Menschen über den Mangel andrer seelischer Genüsse wegzutrösten pflegt, hat hier eine Stätte. Ovid hätte seine Tristien, die ich als Sekundaner so eifrig las, hier mit größerem Fug dichten können, als in Tomi. Die Tristia (›Trauriges bzw. Klagelieder‹), in fünf Büchern überlieferte poetische Briefe in elegischer Form, die der Dichter Ovid aus seinem Verbannungsort Tomis am Schwarzen Meer ungefähr in den Jahren 8 bis 12 u.Z. an verschiedene Adressaten richtete.

Das einzige, worüber man noch etwa mit den Leuten reden kann, ist die Politik. Vielmehr reden könnte, hätte man nicht die bange Wahl, nach zehn Minuten das Gespräch abbrechen zu müssen oder – grob zu werden. Der Deutsche kann den Charakter des alten Gefolgsmannes bis auf den heutigen Tag nicht verleugnen. Das ist nicht so schlimm, hat sogar sein sehr Gutes, wenn die Gefolgschaft Sache der Ueberzeugung ist und sein darf. Aber wenn sie ganz gedankenlos auftritt, ganz nur als Instinkt des Herdentieres, das hinterherläuft und -springt, nur weil ein Leithammel vorhergelaufen und gesprungen ist – das ist furchtbar, kann einen denkenden Menschen zur Verzweiflung treiben. Einen Menschen, dem, etwas zu sagen oder zu thun, wozu sein Gewissen nein sagt, als die Sünde gegen den heiligen Geist erscheint, welcher die innere Wesenheit und Wahrhaftigkeit ist. Der es Freude macht, übereinzustimmen mit dem Urteil der Welt, um im Zweifelfalle zu appellieren an das Gesetz, das sie in sich selbst trägt.

* * *

Ich habe Frau Moen im Verdacht, daß sie Elfrieden über den häufigen Verkehr des Barons in unserm Hause interpelliert Interpellieren: jemanden um Auskunft in einer bestimmten Sache angehen. Heute nur noch politisch (Parlament gegenüber Regierung) gebräuchlich. und damit wohl bei einer anstoßen mußte, die sehr empfindlich und deren Herz rein ist, wie das Herz der Wasser.

Elfriede hat ihn gern – das ist keine Frage. Und ebensowenig eine, daß dies Wohlgefallen von seiner Seite erwidert wird. Ich möchte den Mann auch sehen, dem Elfriede nicht gefiele! Ist sie doch mit ihrer kleinen sylphenhaften Gestalt, der Leichtigkeit ihrer Bewegungen, ihrem fröhlichen Lachen, ihrem harmlosen Geplauder, ihren drolligen Einfällen die Grazie und Anmut selbst! Und Fritz! Daß er kein Heiliger ist, brauche ich von Frau Moen nicht zu erfahren. Aber er ist ein Gentleman. Und diese Eigenschaft, verehrte Frau Moen, möchten Sie in Ihrem Vollwert vielleicht nicht zu schätzen wissen. Denn, sehen Sie, ein Gentleman kann mit der Frau eines Freundes – eines wirklichen Freundes, verstehen Sie! – täglich verkehren, mit ihr spazieren gehen, musizieren, ihr Bouquets spenden, ja gelegentlich eine ganze große Eiche, ohne mehr zu begehren, als ihre Freundschaft.

Sie glauben das nicht? Sehr schmerzlich für mich; aber in meinem Urteil über den Baron oder gar meinem Verhalten gegen ihn kann es nicht das mindeste ändern. Ich werde fortfahren, ihn Freund zu nennen und ihm mein Haus zu öffnen, das nebenbei ein sehr behagliches Heim geworden ist, wie Sie sich selbst überzeugen könnten, wenn Sie uns wieder einmal die Ehre erweisen wollten.

* * *

Nun höre ich auch noch von andrer Seite – das heißt: man will es ebenfalls nur gehört und selber nichts gesagt haben – bei Leibe nicht! – daß die Intimität des Barons mit uns in der Umgegend übel vermerkt wird und besonders die Schenkung der Eiche richtig böses Blut gemacht hat. Hole der Teufel die Geschichtenträger und Gebärdenspäher! Erst öden sie einen mit ihrer Langweiligkeit und ihrem Stumpfsinn, daß man am Leben verzagen möchte; und kommt dann einer, mit dem sich leicht leben läßt, der einem durch die Anmut seines Wesens, geistreiche Sicherstelligkeit, gesellschaftliche Talente mannigfaltiger Art über des Daseins trostloses Einerlei freundlich wegtäuscht – soll das wieder nicht gelten, gegen Sitte und Anstand sein, den guten Ruf untergraben! Noch einmal: Hole euch alle der Teufel!

* * *

Was ich da vorgestern von dem trostlosen Einerlei des Daseins geschrieben habe, ist, bei Licht besehen, eine recht thörichte Phrase, ja, eine schnöde Undankbarkeit. Jetzt, wo der Sommer zur Rüste geht und ich auf die hier verlebte Zeit im Zusammenhang zurückblicken kann, muß ich sagen, daß ich eine inhaltsreichere, schönere nie verlebt habe. Es ist wahr: ich habe für zwei gearbeitet; aber wie herrlich ist mir auch meine Arbeit gediehen! Wie sah mein Revier aus, als ich es übernahm! Und jetzt! Da sind die alten Gräben reguliert, neue ausgehoben, sumpfige Stellen trocken gelegt; die Wege, die ein positiver Skandal waren, reinlich und glatt; überall im Walde spürt man die ordnende, bessernde Hand; meine Baumschule würde einer Akademie Ehre machen; der Wildstand, vorderhand wenigstens, mäßigen Ansprüchen genügend; meine Förster, trotzdem ich große Forderungen an sie stelle, jetzt die Willigkeit selbst; und mein guter alter Oberforstmeister reibt sich, so oft er kommt, mit immer innigerem Behagen die weißen, welken Hände.

Das wäre der Forstmann.

Und der Freund?

Nun, kann mit mir zufrieden sein. Die Karre, die so fest saß, fängt an, sich zu bewegen. In noch nicht fünf Jahren ist alles glatt und schier wie meine Waldwege.

Und der pater familias?

Unser Bernhard gedeiht in der würzigen Garten-, der weichen Waldluft, daß es eine Wonne ist; und die kleine Frau fragt mich ängstlich, ob man es ihr wirklich nicht ansehe?

Nein, Madame, bei meiner oberförsterlichen Ehre, bei der Treue, die ich Ihnen am Altare geschworen, wirklich und wahrhaftig nicht! Sie können, wenn Sie wollen, noch jede Nacht im Mondschein, als die schlankeste der schlanken, mit den übrigen Elfen tanzen; ja, ohne zu erröten, sich von dem schönsten Märchenprinzen die glühendste Liebeserklärung machen lassen!

Mit dir kann man doch kein ernsthaftes Wort sprechen.

Nun, man hält mich sonst für einen fast über Gebühr ernsthaften Menschen. Aber Sie wissen ja: desipere in loco! Horaz Od., IV, 12, 28: angenehm ist's, gelegentlich ausgelassen zu sein.

Was heißt das?

Alleweil kann man nicht ernsthaft sein. Wendung des Volksliedes »Alleweil kann mer net lustig sein« in sein Gegenteil. Begreifen Sie das, Madame?

* * *

Daß gestern der schöne Abend so trübselig enden mußte?

Mein Oberforstmeister war da, um den Holzeinschlag, der demnächst beginnen soll, noch einmal an Ort und Stelle mit mir zu durchsprechen. Wir waren den ganzen Tag auf den Beinen; kamen erst gegen drei Uhr heim; aßen zu Mittag (ganz vortrefflich – Male ist eine glänzende Acquisition Erwerbung.). Nach Tisch zog sich der alte Herr auf ein Stündchen zurück; dann Kaffee im Garten, zu dem sich auch Fritz einfand. Die Herren kennen einander schon lange und sehen sich gern. Um sieben wollte der Chef fahren; der Abend ließ sich so schön an; wir baten ihn, eine Stunde zuzulegen, die wir im Walde verbringen wollten. Wir könnten ihm so noch ein hübsches Streckchen das Geleit geben: bis zu dem Waldsee, den er in seinem abendlichen Zauber jedenfalls noch nicht kenne. Der liebe Mann, der sich in unserm kleinen Kreise augenscheinlich äußerst behaglich fühlte, war sofort bereit. Ein Korb mit ein paar Flaschen Wein und einer kleinen Kollation war schnell gepackt, und fort ging's in nicht weniger als drei Wagen, von denen der von Fritz leer blieb, da ich mit dem Chef fuhr, er mit Elfriede in meinem. Ich hatte den südlichen Teil des Sees gewählt, der mit dem nördlichen durch einen breiten Kanal, über den die Chausseebrücke führt, verbunden ist. Elfriede findet ihn romantischer. Jedenfalls ist hier, im Tannenwald, der Uferrand trockener als drüben; zur Vorsorge wurden noch ein paar Plaids und Decken mitgenommen. Ich ließ auf der Brücke halten, von der man nach rechts und links den See in seiner ganzen Ausdehnung übersehen kann. Dann fuhren die Wagen die paar hundert Schritte weiter bis zur Försterei, wo sie unsre Rückkehr erwarten sollten, während wir uns in den Wald wandten, hinter uns Arnsbergs beide Jungen, die, als sie die Wagen auf der Brücke sahen, herbeigelaufen waren, mit den Decken und dem Korb.

Am westlichen Rande des Sees hin gelangten wir bald zu einem Platz, den ich in Aussicht genommen hatte und der für unsern Zweck nicht passender sein konnte. Ein kleiner lichter Platz hart am etwas erhöhten Ufer, sanft zum Walde aufsteigend, überwölbt von den breiten Kronen einiger ganz besonders schöner und stattlicher Fichten. Die Plaids wurden zum Ueberfluß auf dem noch von der Sonne des Tages durchwärmten, mit trockenem Moos und Nadeln bedeckten Boden ausgebreitet, der Korb ausgepackt: das Bacchanal konnte beginnen.

Welch wundervolle Stunde! Die Sonne stand hinter uns; aber ihr Wiederschein traf noch die Waldwand uns gegenüber, hier einen Stamm anglühend, dort einen vorspringenden Ast; um die Kuppen goldgrünen Schimmer webend; unter uns der schwarze Spiegel des Sees, den Zauber mystisch vertiefend. Wenn unser Gespräch einmal stockte, mochten wir einer Amsel lauschen, die von der Höhe eines Baumes in der Nähe unermüdlich ihr süßes Abendlied in den dämmerigen Wald hinein und hinauf zum Himmel sang, dessen Dunkelblau auch nicht das kleinste Wölkchen trübte.

Aber solcher Pausen kamen nicht viele. Der Wein brauchte unsre Zungen nicht zu lösen; unsre Herzen waren voll von »Waldesruhe, Waldeslust, bunten Märchenträumen«. Ich kannte das schöne Gedicht Freiligraths Ferdinand Freiligrath (1810-76), »Im Walde«, vertont von Joseph G. Rheinberger (1839-1901). auswendig und recitierte es. Poetische Reminiscenzen aller Art umschwebten uns. Ich glaube, hätte sich da aus dem stillen schwarzen Wasser ein weißer Nixenleib gehoben, wäre dort aus dem Tannendunkel das mystische Einhorn hervorgeschritten – keiner von uns würde sich sonderlich gewundert haben. Elfriede und Fritz sangen ein paar Mendelsohnsche Duetts. Fritz' Baryton ist eigentlich ein wenig hart; heute klang er seltsam weich, und die hundertmal gehörten Lieder schienen zum erstenmal ihre lieblichen Schwingen zu entfalten. Unser alter Herr war der Frohsinn und die Liebenswürdigkeit selbst. Unter uns so viel jüngeren Menschen fühlte er sich wieder jung; die Erinnerung trug ihn weit in seine Vergangenheit zurück; es erschien mir unglaublich, daß diese blauen Augen, die im Feuer der Erzählung so hell aufleuchteten, York und Stein und Arndt Johann David Ludwig von Yorck (1759-183), preußischer Generalfeldmarschall, der in Napoleons Russlandfeldzug 1812 das preußische Hilfskorps anführte. Am 5. Februar 1813 rief er die versammelten Stände in Königsberg zum Volksaufstand gegen Napoleon auf und leitete damit die Befreiungskriege ein. - Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein (1757-1831), preußischer Beamter, Staatsmann und Reformer. Wegen seiner antinapoleonischen Haltung musste er bereits 1808 ins Exil gehen. - Ernst Moritz Arndt (1769-1860), deutscher nationalistischer und demokratischer Schriftsteller, Historiker und Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung. Als Publizist und Dichter widmete er sich hauptsächlich der Mobilisierung gegen die Herrschaft Napoleon Bonapartes in Deutschland. Er gilt als bedeutender Lyriker der Epoche der Befreiungskriege. gesehen haben sollten.

Nur auf den höchsten Wipfeln uns gegenüber dämmerte noch ein letztes schwaches Abendrot; auf dem See waren die purpurnen und grünen Lichter längst erloschen. Im Interesse des alten Herrn mußte ich an den Aufbruch mahnen.

Der aber hätte ja kein pflichtgetreuer preußischer Beamter sein müssen, wäre ihm jetzt nicht eingefallen, daß er die kleine Schleuse noch nicht gesehen habe, die ich hatte bauen lassen, den Abfluß des Sees weiter nach Norden zu regulieren. Wie weit es bis dahin sei? Ich war dumm-ehrlich genug, die wirkliche geringe Entfernung anzugeben. Nun war der Pflichttreue nicht zu halten; wir mußten durchaus den Abstecher machen zu großer Belustigung von Elfriede und Fritz, die natürlich sahen, wie wenig gelegen mir die Sache kam, und sich über das dumme Gesicht, das ich jedenfalls machte, heimlich totlachen wollten.

Wie ich es vorausgesehen, dauerte unsre Exkursion nur allzu lange. Nicht als ob ich die Entfernung zu kurz gemessen hätte, sondern weil die kleine Anlage den Chef so interessierte, daß er mir einen langatmigen Vortrag über Bewässerung und Entwässerung des Waldes halten mußte, den ich aus seinem ebenso betitelten Werke auswendig kannte. Peinliche Momente für einen Untergebenen, besonders wenn er fühlt, wie es anfängt, kühl und kühler aus dem Walde zu wehen, und daran denkt, daß es für seine kleine Frau die höchste Zeit sei, nach Hause zu kommen!

Zum Unglück muß nun noch Amsberg, aus dem Revier nach Hause gehend, auf dem Plan erscheinen und vom Chef in die Unterhaltung gezogen werden. Endlich sind wir so weit. Natürlich hat es nun der alte Herr sehr eilig. Mich ein wenig zurückhaltend, raunt mir Amsberg zu, er habe wieder einmal im Revier am Eingang der Schneise C das Gescheide Magen und Gedärme des Wildes. eines Rehbocks gefunden, der sicher erst die Nacht vorher oder in der ersten Morgenfrühe des Tages geschossen sei. Ich gebe ihm einen Wink, die unliebsame Sache nicht in Gegenwart des Chefs zu erwähnen.

Da kommt uns Fritz auf dem halben Wege entgegen: Elfriede fühle sich nicht wohl; es scheine keine Bedeutung zu haben; er habe aber doch geglaubt, mich herbeirufen zu sollen.

Ich stürze vorauf und finde Elfriede, noch auf ihrem erhöhten Sitz von vorhin, aber an den Stamm der Fichte gelehnt, sehr bleich, mit einer Ohnmacht kämpfend. Ich flöße ihr etwas Wein ein, reibe ihre kleinen kalten Hände; sie versucht ein Lächeln und flüstert kaum hörbar: es sei gar nichts – eine momentane Schwäche – ich solle ihr in die Höhe und zum Wagen helfen.

Wirklich stand sie schon wieder auf den Füßen, als die andern herbeikamen. Amsberg lief nach meinem Wagen,, der dann, als wir aus dem Walde kamen, auf der Chaussee bereit war.

Ich konnte mich um alles andre nicht bekümmern, da Elfriede jeden Beistand, außer dem meinen, fast mit Heftigkeit zurückwies. Amsberg hat für das übrige gesorgt: daß der Chef in seinen Wagen kam und die Sachen, die außer ein paar Decken für Elfriede auf unsrer Lagerstätte liegen geblieben waren, in die Försterei geschafft wurden.

Heute morgen schickte ich nach Grimm zum Doktor. Er hat mich völlig beruhigt. Es ist schlechterdings nichts als ein vorübergehender Schwächezustand, bei jungen Frauen in diesem Anfangsstadium nicht ungewöhnlich. Selbstverständlich unbedingte Ruhe, am besten im Bett.

Ich habe das versprochenermaßen an meinen Chef berichtet.

Heute morgen von Fritz ein Billet, daß er in einer Angelegenheit, über die er mir demnächst ausführlich berichten werde, auf eine Woche oder so Hals über Kopf nach Berlin habe reisen müssen. Er muß es sehr eilig gehabt haben. Kein Wort der Erkundigung nach Elfriede.

Ich zerbreche mir den Kopf, welche so überaus dringliche Angelegenheit das sein kann. Welche es auch sei – die Angelegenheiten von l'ami können in keine schlimmeren Hände fallen, als in seine eigenen.

* * *

Eine fatale, recht fatale Sache! Der erste Fall der Art in meiner Praxis. Einmal würde er eintreten – solange es Forsten und Wild gibt, werden die Holz- und Wilddiebe nicht aussterben – und solange es ein Staatseigentum gibt, muß es geschützt werden – dennoch –

Ich habe Amsberg gebeten, es vorderhand geheimzuhalten. Das ist pflichtwidrig – gewiß! Aber den alten würdigen Mann so bitterlich weinen zu sehen – an dem Halunken von seinem Sohn wäre wahrhaftig nichts gelegen –

Amsberg hatte ihn schon längst in Verdacht gehabt. Ich erinnere mich, daß er von Anfang an behauptete, der Waldschenkenwirt möge wohl gelegentlich den Hehler abgeben; aber der Stehler sei ein andrer. Schon deshalb, weil Riek erbärmlich schieße und die Opfer des Diebes jedesmal unter dem Schuß fielen. Jedenfalls habe er nie, wenn ihm ein Stück gefehlt habe, Schweiß gespürt, oder einen Kümmerer Männliches Tier von gehörn- oder geweihtragendem Schalenwild, das »kümmert«, d. h. kränkelt oder allgemein in schlechter körperlicher Verfassung ist. gefunden. Mit dem Namen des ihm Verdächtigen hielt er zurück. Er könne sich ja irren, möchte doch lieber erst seiner Sache gewiß sein.

Der brave Kerl! Ich glaube bestimmt, er ist seit zwei Nächten nicht in sein Bett gekommen. Heute morgen gegen drei Uhr, als er wieder auf der Lauer liegt, fällt ein Schuß so nahe bei ihm, daß er zuerst gemeint hat, es sei auf ihn geschossen. Er bricht durch das Stangenholz, gelangt auf die Schneise und sieht, keine hundert Schritt von der Stelle, wo er vorvorgestern das Gescheide gefunden, einen Kerl, der auf dem Stück kniet, das Messer, mit dem er es ausweiden will, zwischen den Zähnen. Der Mensch springt auf; aber Amsberg hat die Doppelbüchse, die jener an einen Stamm gelehnt hat, ergriffen, hinter sich geschleudert und liegt im Anschlage, bis der das Messer von sich geworfen und sich gefangen gibt.

Um sich dann auf Bitten und Betteln zu legen. Amsberg möge ihn laufen lassen, ihn nicht unglücklich machen in dem Augenblicke, wo er in Begriff sei, nach Amerika auszuwandern und schon seinen Paß in der Tasche habe.

Ich hatte davon sprechen hören, sagte Amsberg; und dachte, dann würden wir ihn ja so wie so los. Da habe ich nun bloß seine Büchse konfisziert und ihn laufen lassen. Wir können ihn ja jeden Augenblick wieder haben.

Dem braven Mann widerstrebte es offenbar nicht weniger als mir, einen Menschen, und war er auch ein solches mauvais sujet, wie der Karl Dreek, ins Zuchthaus zu bringen. Wir blickten einander verlegen an.

Wenn der Herr Oberförster sich den Alten einmal kommen ließen? sagte Amsberg.

Das war ein guter Gedanke. Man würde doch so wenigstens sicher erfahren, wie es sich mit der Auswanderung verhielt.

Sagten Sie nicht, Amsberg, der alte Dreek sei ein durchaus unbescholtener, achtbarer Mann?

Gewiß, Herr Oberförster. Ich kenne ihn seit zwanzig Jahren.

Dann holen Sie ihn mir!

Nach zwei Stunden kam er mit dem Alten. Ich ließ Amsberg abtreten.

Vater Dreek machte auf mich den besten Eindruck: ein nicht gerade kluges, aber biederes Gesicht, das wahre Gegenteil von dem brutalen Fleischerhundsgesicht des Sohnes.

Kein Versuch, den Jungen zu entschuldigen. Schon seit Jahr und Tag, eigentlich von jeher, habe er gefürchtet, daß es mit ihm noch einmal ein schlechtes Ende nehmen werde. In der Schule sei er sündhaft faul gewesen, immer der Letzte trotz seines offenen Kopfes. Wozu man was zu lernen brauche, wenn man einen reichen Vater habe? Du lieber Himmel! Er sei ja soweit in guten Verhältnissen, und die beiden Töchter, seine einzigen Kinder außer dem Jungen, hätten ordentliche Männer; aber der Junge habe ihm ein Heidengeld gekostet, als er seine drei Jahre dienen mußte und hernach auf der landwirtschaftlichen Akademie, von der er nachher mit Schimpf und Schande weggeschickt sei. Ihn als Inspektor unterzubringen, sei unmöglich gewesen: einmal habe er nichts Ordentliches gelernt, und dann wisse alle Welt, daß er nichts tauge. Wer hätte ihn da nehmen wollen! Zuletzt sei ihm (dem Vater) nichts übrig geblieben, als den Jungen bei sich im Hause zu behalten, wo er auf der Bärenhaut gelegen und dem lieben Herrgott die Zeit gestohlen habe.

Eine lange, traurige Geschichte, die der alte Mann so, manchmal mit Thränen in den Augen, erzählte. Mit jedem Jahr ist es schlimmer und schlimmer geworden; den Rest hat dem Jungen die nahe Waldschenke gegeben. Da hat er halbe, ganze Tage lang gesessen und getrunken; der Marie den Hof gemacht und mit ihrem Vater endlose Partieen Sechsundsechzig gespielt. Von der Waldschenke aus hat er auch seiner Hauptleidenschaft, der Jagd, bequem nachgehen können und Riek hat ihn dabei unterstützt insofern, als er die Augen zugedrückt und von dem Kommen und Gehen des Jungen nie etwas gesehen und gehört hat.

Uebrigens sind auch das eigentlich wieder nur Vermutungen des alten Mannes. Gefürchtet, daß der Junge ein Wilddieb sei, hat er seit Jahren; der wirkliche Beweis dafür ist ihm erst jetzt geworden. So hat er auch aus dem Verhältnis der Marie zu seinem Sohn niemals ganz klug werden können. Einmal hat das Mädchen von ihm als von ihrem Verlobten gesprochen, und wenn man sie darauf angeredet und gefragt hat, ob denn nun nicht endlich die Hochzeit sein solle, lachend erwidert, ob man sie für verrückt halte, einen Menschen zu heiraten, der bei ihrem Vater das Gnadenbrot esse, nachdem ihn der eigene zum Hause hinausgeworfen? Kein Mensch weiß, wie es mit der Marie steht. Ein braves Mädchen ist sie keinesfalls; die meisten behaupten, sie sei grundschlecht; mit den verschiedenen Bräutigams, die sie bereits gehabt, streue sie den Leuten nur Sand in die Augen. In Wirklichkeit sei sie die Geliebte eines vornehmen Herrn, der sie auch von Zeit zu Zeit mit auf die Reise nehme, während sie den Leuten weismache, sie besuche eine Tante in Berlin.

Weiter erzählte der alte Mann:

Der Junge habe immer gefürchtet, daß ihn das Mädchen an der Nase führe, und deswegen greuliche Scenen mit ihr gehabt, bis es an dem Abend des Schützenfestes zu einem endgültigen Bruch gekommen sei und sie ihm das Haus verboten habe. Der Junge habe sich darüber wie verrückt angestellt und plötzlich erklärt, er wolle nach Amerika. Das sei ja denn auch wohl das beste für ihn, eine Möglichkeit wenigstens, aus ihm einen ordentlichen Menschen zu machen. So habe er (der Vater) seine Einwilligung gegeben, für alles gesorgt: Ausstattung an Kleidern und Wäsche, Geld, selbst für den Paß. Am Sonnabend solle das Schiff, auf das schon das Billet für die Überfahrt genommen sei, von Bremen abgehen; und nun müsse dies gräßliche Unglück passieren!

Hier brach der alte Mann in so bittere Thränen aus, daß ich mich abwenden mußte, damit er nicht sah, wie bewegt ich selber war. Die Sünden der Eltern sollen nicht an den Kindern gerächt werden, will die Humanität; aber wie oft werden es die der Kinder an den Eltern! Hier wäre nicht der Sohn, den sein wüstes Leben längst gegen jedes bessere Gefühl abgestumpft hat, gestraft worden, sondern der würdige alte Mann, den keine Schuld trifft, höchstens die einer zu großen Nachsicht gegen den mißratenen Buben.

Wir haben also ausgemacht: Amsberg und ich werden schweigen. Den Rehbock nehme ich auf meine Rechnung, die konfiszierte Büchse wird dem Alten ausgeliefert, sobald der Junge abgereist ist. Das soll übermorgen geschehen. Bis dahin hat er sich streng zu Hause zu halten; darf sich von niemand sehen lassen.

Der Alte wußte nicht, wie er mir danken sollte. Ich machte die Sache kurz und schob ihn sanft zur Thür hinaus.

Darüber habe ich vergessen, ihn zu fragen, ob man wisse oder zu wissen glaube, wer der vornehme Liebhaber der roten Marie gewesen sei? Aber es wäre sicher vergeblich gewesen. Diese Menschenfischerin scheint mir zu jener gefährlichen Sorte zu gehören, die ihr Metier in einem undurchdringlichen Dunkel treibt.

* * *

Der Bursche ist fort – heute schon – einen Tag früher als verabredet. Er hat auf seine sofortige Abreise bestanden. Ich kann mir denken, daß ihm hier der Boden unter den Füßen brannte; und doch glaube ich, was ihn von dannen trieb, ist nicht sowohl die Furcht vor der Strafe gewesen, der er ja entgehen sollte, als der Wunsch, aus der Nähe der treulosen Geliebten zu kommen. Das wäre doch wenigstens eine menschliche Regung, mit der man allenfalls sympathisieren könnte; der erste Schimmer vielleicht eines Tages, über dem drüben eine freundlichere Sonne aufgeht.

Mir ist ordentlich ein Stein vom Herzen gefallen.

Und wenn ich das Für und Wider meiner Handlung abwäge: ich habe einem würdigen Greise eine höchst unverdiente Schande, dem Staate die Ausgabe für einen Zuchthäusler erspart; vielleicht einen Menschen gerettet, der im Zuchthause ganz gewiß vollends zu Grunde gegangen wäre. Auf der andern Wagschale eine nicht wegzuleugnende Pflichtwidrigkeit –

Ich denke, darüber kann ich ruhig schlafen.

* * *

Das war ein schlimmer Tag und dem andre schlimmere folgen werden! Ich muß mir die Einzelheiten völlig klar machen. Er soll nicht sagen dürfen: Du trittst mir entgegen wie ein Staatsanwalt, der nur Schuldmomente sieht und keine Milderungsgründe gelten läßt.

Sonderbar! unheimlich sonderbar!

Es kann nicht anders sein; der schlafende Geist vermag Dinge zu sehen, Kombinationen anzustellen, die der wache nimmer sehen, niemals anstellen würde –

Mit keinem wachen Gedanken hatte ich daran gedacht; und wäre es mir von einem andern insinuiert worden, ich würde den Menschen für verrückt gehalten haben –

Vergangene Nacht wache ich aus tiefem Schlafe auf, und vor mir steht mit einer Gewißheit, als wäre es der Schluß einer langen Reihe von unumstößlichen Thatsachen: Fritz ist der Liebhaber der roten Marie!

Und wie ich nun die Thatsachen zusammensuchen will, finde ich keine, außer dem wilden Blick, den der Mensch uns zuwarf, als ich an jenem Abend mit Fritz durch das Gastzimmer ging, in welchem er und das Mädchen saßen.

Ich hatte mir damals gesagt: Der Mensch kann nicht anders blicken; jetzt hieß es: So blickt nur einer auf einen begünstigten Nebenbuhler, gegen den er Mordgedanken in der Seele wälzt. War es doch auch an jenem Abend zum definitiven Bruch zwischen ihm und der Marie gekommen! Vielleicht hatte sie gerade in dem Moment das entscheidende Wort gesprochen!

Daraufhin – auf einen Hauch, ein Nichts – den Freund verdammen! Es war lächerlich, lästerlich!

Aber in meiner Seele blieb, als wäre es da eingebrannt: Fritz ist der Liebhaber der roten Marie.

Es litt mich nicht im Hause. Elfriede hütet noch immer – heute schon den dritten Tag – das Bett. Sie selbst verlangt nicht aufzustehen; der Doktor ist es zufrieden. Ihr Puls ist noch immer nicht normal. Der Doktor beruhigt mich, weiß sich aber entschieden den Zustand nicht zu erklären, der auch heute abend unverändert ist. Wenn nur nichts ernstliches dahinter steckt!

Oder läge am Ende gar keine physische Veranlassung vor? Frauen sind so scharfsinnig. Sollte sie die traurigen Entdeckungen ahnen, die ich heute gemacht habe? Aber das ist ja unmöglich – rein unmöglich –

Also, wie war es?

Ich fuhr mit Amsberg nach dem Schlag, wo übermorgen der Abtrieb beginnen soll, zwischen unserm See von neulich abend und dem Holzwege beinahe bis zur Waldschenke hinauf. Die Schneise, auf der Amsberg vorgestern den Karl Dreek abgefaßt hat, und die direkt von der Waldschenke nach dem Holzweg führt, schneidet durch den Schlag. Ein Wilderer, dessen Repli die Waldschenke war, konnte es wirklich nicht bequemer haben. Mein alter Verdacht, daß der Riek um alles gewußt, stieg von neuem auf. Amsberg hält es nicht für unmöglich. Dann aber seien es doch wohl nur Gefälligkeitsdienste gewesen, die er dem Menschen geleistet, in dem er trotz alledem seinen künftigen Schwiegersohn gesehen. Das »trotz alledem« im Munde des einfachen Mannes fiel mir doppelt auf. Ich fragte ihn, scheinbar ganz harmlos, was er damit meine? Er wollte anfangs nicht recht mit der Sprache heraus. Dann meinte er: die Leute redeten dies und das. Und ein Mädchen in einem Hause, wo so viel Verkehr sei, möge ja leicht noch andre Liebhaber gehabt haben, oder haben.

Ob man Namen nenne?

Das thue man schon. Aber wer möge sich die Zunge verbrennen!

Ich drang nicht weiter in ihn aus Furcht, das nächste Wort würde »Baron Kardow« sein.

Wir suchten dann noch einige besonders breitkronige Kiefern und Fichten aus, die stehen bleiben sollten; aber ich war nicht bei der Sache. Ich erklärte, nach einer schlechten Nacht etwas angegriffen zu sein und mich in der Waldschenke restaurieren zu wollen; bevor ich weiterführe. Auf meine Bitte begleitete mich Amsberg, dem ich unterwegs noch einschärfte, sich in seinen Äußerungen der größten Vorsicht zu befleißigen; aber genau acht zu geben, ob man in der Waldschenke hinsichtlich der beschleunigten Abreise des Burschen über den wahren Sachverhalt unterrichtet sei. Von der Abreise selbst dürften wir ja natürlich Kenntnis haben.

Die Waldschenke lag in dem Morgenlicht des schönen Frühherbsttages, ein Bild der Ruhe und des Friedens. Auf dem Vorplatz hielten ein paar ländliche Wagen; ihre Besitzer tranken in der großen Gaststube, deren Fenster weit offen standen, einen Frühschoppen. Herr Riek empfing uns in der Thür und wollte uns in das Honoratiorenzimmer linker Hand komplimentieren. Ich lehnte das ab: in der Gaststube sei die Luft frischer. Die Sache war: ich konnte mich da leichter losmachen und meinen Plan ausführen: die rote Marie womöglich unter vier Augen zu sprechen.

Vorläufig durfte ich zu meiner Beruhigung konstatieren, daß unter den Leuten an den Tischen – Bauern und Kleingutsbesitzern aus der nächsten Nachbarschaft – über den Auswanderer, den jeder zur Genüge kannte, ganz unbefangen gesprochen wurde: er habe nichts Besseres thun können; schade nur, daß er nicht früher auf den Einfall gekommen sei, den ersten vernünftigen, den er im Leben gehabt. Er werde drüben freilich sicher »vor die Hühner gehen«; aber hier würde er das auch gethan haben; es hätte eigentlich schon nichts mehr dazu gefehlt.

Offenbar waren die Leute von dem vorhergegangenen Abbruch der Beziehungen zwischen den Familien Riek und Dreek völlig unterrichtet. Sie hätten sonst wohl kaum in Herrn Rieks Gegenwart sich so frei ausgelassen. In der That hörte er, ab und zugehend, alles mit der unbefangensten Miene an; ließ auch wohl ein zustimmendes Wort in die Unterhaltung einfließen.

Die rote Marie ließ sich nicht sehen; doch hörte ich, daß der Vater eine Bestellung an sie in die Küche machte. Vom Hause fort war sie also nicht.

Ich stand nach einiger Zeit auf; besah ein paar alte vergilbte Kupferstiche an den Wänden; trat in die offene Thür zum Flur, durchschritt den Flur, vorbei an der Küche, gerade als sie, die ich suchte, eilfertig herauskam, einen Korb am Arm, um im Garten Bohnen für den Mittagstisch zu schneiden. Die Gelegenheit konnte nicht günstiger sein. Ich hatte plötzlich ein lebhaftes Interesse an den Bohnen, die bei mir gar nicht recht gedeihen wollten. Ob Fräulein Marie verstatte, daß ich mir ihre Kultur einmal ansähe?

Aber selbstverständlich, Herr Oberförster!

Wir gingen über den Hof, der wieder ein malerisches Bild bot, auf dessen Reize ich die Aufmerksamkeit des Mädchens lenkte, eigentlich nur, um überhaupt etwas zu sagen. Zu meiner nicht geringen Verwunderung schien sie nicht nur alles zu verstehen, sondern machte selbst ein paar Bemerkungen, die einen natürlichen, ja, fast geübten malerischen Blick verrieten.

Ich sagte ihr das mit einer höflichen Wendung; sie erwiderte leichthin, man habe, wenn man auch nur ein Landmädchen sei, doch, sozusagen, seine Augen im Kopf. Und in Berlin, wohin sie manchmal komme, sehe man in den Museen so schöne Sachen, bei denen einem dann vollends die Augen aufgingen.

Das kam so natürlich heraus. Dabei war das Mädchen in der hellen Morgenbeleuchtung beinahe noch schöner als an dem Abend des Schützentages, obgleich ich jetzt sah, daß sie doch wohl bereits am Ende der Zwanziger angelangt sein möchte, und der Sommer auf ihren blühenden Wangen und ihrer weißen, von dem rotbraunen Haar umwirrten Stirn die Sprossen schärfer hatte hervortreten lassen. Alles in allem ein prächtiges, für sinnliche Männer gewiß äußerst reizendes, vielleicht unwiderstehliches Geschöpf.

Die seltsame Entdeckung der Nacht erschien mir keineswegs mehr so ganz verrückt, wenngleich immer noch absurd genug.

Aber wie zu dem sachlichen Thema gelangen, ohne sich zu verraten!

Darüber zerbrach ich mir den Kopf, während wir zwischen den hohen Bohnen hantierten, sie eifrig schneidend, ich von Zeit zu Zeit eine besonders große Schote mit der Hand abpflückend und ihr in den Korb werfend.

Plötzlich fing sie selbst davon an. –

Ich will versuchen, ob ich es wieder zusammenbringe. –

Der Herr Baron ist ja jetzt wohl sehr oft bei Ihnen?

Sehr oft.

Beinahe jeden Tag?

So ungefähr.

Sie sind Kriegskameraden gewesen?

Zu dienen.

Und kennen ihn also sehr gut?

Wie wir Menschen denn einander kennen.

Freilich! Das ist meistens nicht weit her.

Nur zu wahr.

Weshalb: nur zu? Es kommt nicht viel dabei heraus, wenn man die Leute genauer kennen lernt. Und etwas Gutes schon gar nicht.

Wer Sie so sprechen hört, sollte glauben, Sie hätten in Ihrem jungen Leben schon trübe Erfahrungen gemacht.

Ich bin so jung nicht mehr. Und eine Wirtstochter! Du lieber Himmel! Grünes Gras! Von dem wollen alle Ziegen fressen! Sie denken an den Karl Dreek. Ich kann Ihnen sagen: ich habe mich schön geschämt, als der gräßliche Mensch mich küssen wollte, während Sie dabeistanden! Ich habe ihm noch an demselben Tage den Laufpaß gegeben.

Hoffentlich hat es Ihnen hinterher nicht leid gethan.

Nein, wahrhaftig nicht.

Ein so schönes Mädchen –

Fangen Sie jetzt auch noch an –

Und ein so kluges Mädchen –

Hören Sie auf!

Ich wollte nur sagen: ist tausendmal zu gut für einen solchen Tölpel und hat das Recht, ihre Blicke höher – viel höher zu richten.

Eine kleine Pause. Meine letzten Worte schienen sie sehr nachdenklich gemacht, aber ihr keineswegs mißfallen zu haben. In dem Blick, den sie ein paarmal verstohlen auf mich richtete, lag ein freundlicher, ich möchte sagen: zärtlicher, vielmehr: zärtlich besorgter Ausdruck.

Den ich mir nicht erklären konnte, bis sie, sich seitwärts wendend, plötzlich mit einer eigentümlich verschleierten Stimme sagte:

Sie sind ein guter Herr. Alle Leute sagen es. Und so was sieht man selber, ohne daß es einem gesagt wird. Ich – ich –

Was, liebes Kind?

Möchte Sie warnen vor dem Baron. –

Mir schlug das Herz. Da waren wir also, wohin ich wollte! Mir schwebte auf der Zunge: Sie kennen ihn also sehr genau! fühlte aber sofort, daß ihr das den Mund alsbald wieder schließen müßte, und sagte deshalb, so unbefangen, wie möglich:

Er wird seine Schwächen haben, wie andre auch.

Wenn es nur das wäre!

Sie hatte ihr Gesicht wieder nach mir gekehrt. Es war mit einem lebhaften Rot übergossen. Die weißen Zähne nagten nervös an den vollen Lippen.

Sie müssen sich jetzt schon etwas deutlicher ausdrücken, Fräulein Marie.

Die Glut auf ihren Wangen war einer Blässe gewichen, die noch deutlicher bewies, wie tief das Mädchen innerlich erregt war. Ihre Augen blickten wild und verlegen zugleich.

Ich weiß nichts – weiß nur, was alle Welt sagt.

Zum Beispiel?

Daß er der jüngeren Komtesse auf Griebenitz den Hof gemacht hat, bis ihn der junge Graf aus dem Haus gewiesen. Es ist auch darüber zu einem Duell zwischen den Herren gekommen.

Davon habe ich niemals etwas gehört.

Das ist möglich. Wer sollte auch darüber sprechen? Er gewiß nicht. Man hat es auch sehr geheim gehalten.

Aber bis zu Ihnen ist es doch gekommen, die Sie diesen Kreisen doch nicht nahestehen. Wer kann es Ihnen gesagt haben?

Fragen Sie mich nicht danach! –

Ich war meiner Sache so gut wie sicher: sie konnte es nur von ihm haben. Wie logisch mein Schluß war, bewies zum Ueberfluß die Verlegenheit, die sich bei meiner, von ihr schwerlich erwarteten Frage auf ihren lebhaften Zügen abspiegelte.

Ruhig fuhr ich fort:

Dergleichen soll ja leider in jenen Kreisen öfter vorkommen, ohne daß man deshalb von den Betreffenden wesentlich schlechter denkt. Uebrigens halte ich es für meine Pflicht, zu bemerken, daß, seitdem ich den Herrn Baron kenne – und das ist doch nun auch schon beinahe ein halbes Jahr – ich von solchen Kavalierneigungen und -schwächen nichts an ihm bemerkt habe.

Jawohl! Seitdem Sie ihn kennen! Seitdem hat er sich auch sehr verändert.

Wenn, wie es doch scheint, zu seinem Vorteil, könnte man ja recht damit zufrieden fein.

Herr Oberförster –

Was, Fräulein Marie?

Ich habe gesagt: Ich möchte Sie vor ihm warnen. Wenn Sie mich nicht verstanden haben – meine Schuld ist es nicht.

Wir waren aus der Bohnenplantage heraus, auf dem Gartenwege, schon in der Nähe des Ausgangs. Ich wollte sie nach den letzten Worten, die, wie ein unheimlicher Blitz durch meine Seele zuckten, zurückhalten. Aber sie machte sich los, lief über den Hof und verschwand im Hause.

Ich folgte ihr langsam nach, von häßlichen Gedanken umschwirrt, wie von den mich verfolgenden Fliegen. Des Mädchens letzte Worte konnten doch nur eine Bedeutung haben! Aber dann war es die Eifersucht, die sie ihr eingegeben hatte! Ein andres war nicht denkbar – nicht denkbar!

Als ob, was wir so nennen, nicht oft schon in der nächsten Stunde als höchst denkbar erschiene, als ein Faktum, an dem der Zweifel vergebens rüttelt!

Undenkbar, daß Baron Fritz von Kardow, Majoratsherr auf Möllenhof, Gatte einer Frau, die auf einen Thron gehörte, Vater eines Sohnes, schön und lieb, wie ein Märchenprinz, der sicher nicht erste und ganz gewiß nicht letzte Liebhaber der roten Marie aus der Waldschenke sein sollte!

Jetzt war es kein Spuk der Nacht mehr, den ein böser Traum heraufbeschworen; jetzt war es so wirklich, wie der üppig schlanke Leib der schönen Dirn, die da vor mir her ins Haus gelaufen war!

Undenkbar, daß der Mann, der aus einem unerfreulichen Kriegskameraden mein Freund geworden war, dem mein Herz und mein Haus offen standen, sich in mein Heiligtum schleichen wollte, mir mein Idol, mein Liebstes auf der Welt zu stehlen, wenn es ihm gelänge!

Jetzt –

Nein, nein! Es würde ihm nie gelingen; aber schon, daß er ein Mensch war, dem man die Absicht zutrauen konnte –

Die rote Marie! eine Dirne! seine Maitresse! was konnte nur ihre Rede gelten!

Frau Moen war eine ehrbare Frau! Und sie hatte, wie die Dirne mich, so Elfriede vor ihm gewarnt. Die Warnung hatte sie Elfriedens Freundschaft gekostet; ich nur mit halbem Ohr und spöttischem Lächeln darauf gehört –

Ich entließ Amsberg und fuhr auf der Chaussee vorüber an meinem Hause nach Brandshagen.

Herr Moen war auf dem Felde. Ich fragte nach der Frau. Sie war im Garten. Ich suchte sie da auf und fand sie an dem Rasenrundell hinter dem Hause im Schatten der Bäume mit einer Handarbeit, um sich ihre beiden ältesten kleinen Mädchen und deren Erzieherin, die sie alsbald fortschickte.

Ich sehe Ihnen an, sagte sie, während sie wieder Platz nahm und mir einen Stuhl bot, daß Sie etwas Wichtiges zu mir führt.

Ich komme aus der Waldschenke –

Ah!

Und habe da eine Entdeckung gemacht, die wohl eine Erklärung sein dürfte der Entfremdung, welche zu meinem innigen Bedauern zwischen Ihnen und meiner Frau eingetreten ist.

Die schöne junge Frau war bei diesen Worten bis in das starke blonde Haar errötet. Sie sah mich mit einem bittenden, abwehrenden Blicke an.

Sie brauchen mir nicht zu sagen, wie peinlich dies für Sie ist, fuhr ich fort. Aber ich bin in einer schrecklichen Lage. Ich muß eine Entscheidung treffen, bevor der – Sie wissen, wen ich meine – von Berlin, oder wo er sein mag, zurückkommt.

Ich meine: nach der Entdeckung, von der Sie vorhin sprachen, ist nichts mehr zu entscheiden.

Sie haben recht: der Mann, der jene Person zur Geliebten hat, kann nicht mehr in meinem Hause verkehren. Ich darf gewiß zur Entschuldigung Elfriedens annehmen, daß Sie zu ihr von jenem skandalösen Verhältnis nur in allgemeinen Ausdrücken, Andeutungen gesprochen haben.

Wie sonst?

Ich meine, ohne Beweise vorzubringen?

Ich sehe, daß Sie noch immer zweifeln, zweifeln möchten. Nun denn: ich habe, als ich im vorigen Winter zum Besuch bei meiner Mutter in Berlin war, gesehen, wie er eine dichtverschleierte Dame in ein Coupé erster Klasse hob, das, wie ich hernach hörte, für ihn reserviert war. Auf einer der folgenden Stationen zufällig an dem Coupé vorübergehend, sah ich die Dame noch einmal. Sie hatte unvorsichtigerweise den Schleier zu stark gelüftet. Es war die ich vermutete.

Weshalb vermuteten?

Mein Gott, Sie sind eben noch so neu in unsrer Gegend, so fremd! Man trägt auch wohl um so mehr Scheu, offen gegen Sie zu sein, als man anzustoßen fürchtet. Mit Recht, wie die Dinge nun einmal leider liegen. Sonst hätten Sie gewiß längst zu hören bekommen, was so ziemlich alle Welt weiß: daß jenes Verhältnis schon Jahre währt; die Waldschenke, die mit Hypotheken überlastet ist, nur von ihm gehalten wird; die Person von ihrem Sündengelde unter anderm ein schönes Gut in Hinterpommern gekauft hat, welches sogar auf ihren Namen eingeschrieben wurde, und auf das sie sich wahrscheinlich schon längst zurückgezogen hätte, wenn er sie aus seiner Nähe lassen könnte.

Ich saß da, wie betäubt. –

Sie zweifeln noch immer?

Wie dürfte ich?

Sie dürfen wirklich nicht. Es wäre ja ein Leichtes, das Sündenregister zu verlängern –

Die Affaire in Griebenitz?

Das war freilich ein besonders häßlicher Fall. Die Komtesse Marguerite kaum sechzehn Jahre, ein halbes Kind, den Verführungskünsten eines Baron Kardow gegenüber so gut wie hilflos. Und dann die hohe gesellschaftliche Stellung der Beteiligten! Aber gehen Sie in die Häuser unsrer bürgerlichen Gutsbesitzer und Pächter – ach, es ekelt mich, davon zu sprechen.

Sie hatte sich rasch erhoben und machte ein paar Schritte, kam aber sofort zu mir zurück, der ich, den Kopf in die Hände gestützt, sitzen geblieben war.

Sie begreifen jetzt, daß ich gegen Ihre Frau nicht schweigen konnte?

Wollte Gott, Sie hätten mehr gesagt, alles gesagt!

Es war meine Absicht und ich würde es gethan haben. Aber Ihre Frau nahm meine ersten Andeutungen so wenig freundlich auf, zeigte sich so empfindlich, ja, beleidigt – da schweigt man denn lieber.

Jedenfalls haben Sie durch Ihre Offenheit jetzt, die Ihnen gewiß schwer genug geworden ist, meine Frau und mich zu innigstem Dank verpflichtet.

Ich habe immer gefunden, daß man sich in solchen Fällen mit den Männern leicht verständigt. Mit uns Frauen ist es nicht so einfach.

Aber wie könnte Elfriede, wenn sie erst alles erfahren hat, Ihnen anders als dankbar sein!

Lassen Sie uns es hoffen!

Wir waren am Hause angelangt. Es war ihr letztes Wort.

Das sich zu mir in den Wagen geschmuggelt und den ganzen Rest des Tages verfolgt hat und jetzt im Dunkel der Nacht um mich herumschleicht wie ein Mörder mit gezücktem Dolch –

Sie hat ihn gern. Gewiß! Warum sollte sie nicht? Liebenswürdig genug ist er. Und sie kennt ihn ja nicht! Ein bißchen, ein bißchen sehr leichtsinnig! Nun ja! Das macht die Männer in den Augen der Frauen nicht eben schlechter; übt wohl gar eine gewisse Anziehungskraft, einen gewissen Zauber. Solidarität des ewig Weiblichen! vorausgesetzt, daß von der Generalhuldigung der Löwenanteil auf Madame fällt! –

Und du schämst dich nicht, dein junges, reines Weib –

Aber wenn gerade ihre Jugend, ihre Reinheit sie blind gemacht hat gegen seine Satanskünste –

Es ist etwas zwischen ihnen vorgefallen, während der Oberforstmeister und ich – ihre halbe Ohnmacht – ihr Zustand jetzt, der nun schon drei Tage währt – seine plötzliche Abreise, von der er eine Stunde vorher nichts wußte – wenn der Bube –

Aber warum schweigt sie? sagt mir nicht alles, wie es doch ihre Pflicht wäre –

Mitleid mit dem Verräter, dem man nicht gram sein kann? Wunsch und Hoffnung, doch alles wieder in das rechte Geleis zu bringen – das alte Geleis, auf dem man so glatt dahinrollte, so anmutig –

Hölle und Teufel!

Sie muß mir Rede stehen! sie muß!

Und während ich mein Elend protokolliere, dämmert der Morgen herauf.

Wird er alles besser machen?

Oder schlimmer?

Gefaßt sein ist alles; sagt Hamlet.

* * *

Der elende Bube! Mein süßes, unschuldiges Weib! Nur die Furcht, ich könnte mit dem Buben ins Gericht gehen wollen und so mein eigenes Leben gefährden, hat sie so lange schweigen lassen! Sie hat mit sich gerungen, in heißen Gebeten zu Gott gefleht, ob der Kelch nicht an ihr vorübergehen könne? ob es denn keine Möglichkeit gebe, es so zu wenden, daß es mir verborgen, ich aus dem Spiel bleibe, sie es allein auf sich nehme? Aber wie ihm das Haus verbieten, ohne einen Grund anzugeben! Und seinen Beistand anrufen, ihn bitten, unter irgend einem Vorwand erst seltener zu kommen; dann irgend eine Gelegenheit zu ergreifen, zu erfinden, die es wahrscheinlich machte, daß er den gänzlichen Abbruch der Beziehungen zwischen ihm und mir wünschen müsse! Aber woher die Kraft nehmen, eine so schwierige Aufgabe durchzuführen! den Abscheu, den sie vor ihm empfand, zu verbergen! sich nicht bei der ersten Zusammenkunft zu verraten!

Der elende Bube! der listige Finkler Vogelfänger.! Wie er das arme Vöglein umgarnt; den Biedermann, den Unglücklichen gespielt; mich nicht genug hat loben und preisen können; ihr auf jede erdenkliche Weise geschmeichelt, sie die Krone der Frauen genannt; mich um ein Glück beneidet, das ich gewiß verdiene – ganz gewiß! – nur er kenne jemand, der jetzt ein verlorener Mensch sei, und der ein guter Mensch geworden wäre, hätte ihm der Himmel ein auch nur annähernd ähnliches Glück beschieden! Und so weiter gelockt, bis er gemeint, nun müsse das Vöglein doch endlich kirre sein und bei dem nächsten Ruf ins Netz gehen!

Gott soll mich bewahren, je von der Aermsten zu verlangen, daß sie mir die Scene schildre, die er ihr da gespielt hat am stillen Ufer des Sees, in der Einsamkeit des schweigenden Waldes! Ich danke nur Gott, daß sie die Kraft nicht verlassen hat und ich meine Hand nicht mit dem Blut des Verräters besudeln muß!

Ich habe ihm geschrieben, ich will ihm die Züchtigung schenken unter der Bedingung, daß er mir aus dem Wege bleibt, wie er nur kann; und wenn ich doch das Unglück haben sollte, ihm zu begegnen, wir uns nicht kennen. Eine Erklärung dafür der Welt gegenüber zu finden, sei seine Sache. Im Notfalle könne er ja sagen: ich habe ihn zur Thür hinausgeworfen, er wisse nicht warum. Oder die rote Marie habe ihm den Umgang verboten. Oder was er wolle.

Er wird den Brief finden, wenn er nach Hause kommt.

Und damit ist die Tragikomödie der Freundschaft des Barons von Kardow und des Oberförsters Raimund Busch abgeschlossen.

Nur eines schmerzt mich: der edlen unglücklichen Frau da drüben nicht sagen zu dürfen, wie tief ich es nachträglich beklage, zwischen ihr und ihrem unwürdigen Gatten die Rolle des Mittlers haben spielen zu wollen.

Und du lieber, herziger Hans! Daß ich nun auch noch dich verlieren soll! Weinen könnte ich, wenn ich daran denke!


Bis hierher hatte der Oberförster gelesen, fast ohne abzusetzen, zuerst langsam, kritisch, mit gespannten Brauen. Es war ja seine Generalbeichte, die er rekapitulierte! Er wollte ja sehen, ob »alles stimme«, ihn keine Schuld treffe, er sein geliebtes Kind dem Sohne des schlechten Mannes mit freiem Mute zum Weibe geben; ihre Kinder, sollten Kinder aus dem Bunde erblühen, getrost auf seinen Knieen schaukeln dürfe.

Dann hatte er die eigentliche Absicht zeitweise vergessen; unbefangen gelesen, als habe nicht er diese Blätter geschrieben, sondern ein andrer, den er freilich sehr gut gekannt hatte; so gut, daß er des Mannes Erinnerungen durch die eigenen, die noch genauer waren, ergänzen konnte.

Ein paarmal hatte er sogar gelächelt. Der andre hatte die Thatsachen zwar nie gefälscht, aber doch hie und da ein wenig arrangiert, retouchiert, damit sich die Sache auf dem Papier besser ausnähme. Denn der andre war offenbar einer, der gern ein bißchen schriftstellerte, und dies und das kürzer gesagt haben würde, wäre es ihm nur um die Fakta zu thun gewesen und nicht auch um das Vergnügen, das er empfand, wenn ihm die Worte so ungesucht kamen, die Perioden sich so gefällig rundeten.

Aber das Lächeln war sofort verschwunden und die Stirn hatte sich wieder gefurcht, sobald die Gestalt des Barons in Scene trat.

Und bei den letzten Blättern hatte er ein paarmal vor sich hin gestiert, ohne weiter zu kommen; oder auch das bereits Gelesene nochmals lesen müssen, weil seine Gedanken abgeschweift waren, bis er sie mit einem tiefen Seufzer zurückzwang.

Und als er die letzten Sätze gelesen, mit denen gerade eine Seite zu Ende ging, hatte er die Hand, die eben umblättern wollte, kraftlos in den Schoß sinken lassen, dann das Heft heftig zugeklappt und sich jäh aus dem Stuhl erhoben.

Nein! er wollte, was nun folgte, nicht lesen, er konnte es nicht! Wozu auch! War's recht gewesen, war's unrecht – geschehen war es einmal; nichts mehr daran zu ändern, kein Deut!

Und geschehen vor achtzehn Jahren! da verjährt jedwede Schuld, selbst vor dem irdischen Richter!

Aber er hatte ja keinen! nie einen gehabt! Das war's ja eben, was diesen Fall unterschied von allen andern ähnlichen: er war der Richter gewesen in eigener Sache! Richter, Ankläger, Protokollführer, Zeuge, Rächer – alles in einer Person!

Jetzt sollte er die Verjährung dekretieren. Ohne Revision der Akten? Nein, das ging nicht an. Das war er sich selber schuldig, sollte die Sache heute, wie sie mußte, endgültig abgethan sein. Vielleicht nur war es eine Form. Aber in solchen Dingen soll man auch die Form respektieren.

Er hatte sich wieder dem Schreibtisch genähert und stand nun da, die eine Hand auf die Stuhllehne stützend, düstern Blicks das zugeklappte Heft anstarrend, brütend, unentschlossen.

Dann hatte er mit einem Ruck die Lähmung abgeschüttelt, sich wieder in den Stuhl geworfen, das Heft aufgeschlagen und las weiter, beide Hände in die pochenden Schläfen drückend.


Herr, mein Gott, mußte, mußte das sein! Ich habe, seitdem ich vernünftig denken kann, mich ehrlich bemüht, als ein guter Mensch zu leben, niemand zuleide, und daß ich mich nicht vor mir zu schämen brauchte. Und mußte doch sein!

Und ich muß es niederschreiben?

Ja, dies erst recht; dies vor allem; dies so genau, so exakt bis ins kleinste, daß ich es beschwören kann bei allem, was mir heilig ist, als die Wahrheit, die ganze Wahrheit, und nichts als die Wahrheit.

Denn dies kann keine Welle der Zeit auslöschen, und lebte ich hundert Jahre. Dies wird vor mir stehen am Tage, wird sich in meine Träume schleichen.

Und wird da eine noch grauenhaftere Gestalt annehmen, die ich zuletzt nicht mehr von der wirklichen unterscheiden kann, für die wirkliche nehme. Und die, nachdem sie meine Seele zermartert, mich schließlich zum Wahnsinn treibt.

Ich habe ein fürchterliches Beispiel an der Unglücklichen in dem Schwurgericht vor vier Jahren. In dem halben Jahre Untersuchungshaft hatte sich in der Seele der Aermsten alles so verwirrt, daß sie ihre ersten völlig wahrheitsgemäßen Aussagen widerrief; sich unter den gräßlichsten Selbstverwünschungen einer Schuld zieh, die sie gar nicht begangen, so daß die Richter alle Mühe hatten, dies Wirrsal zu lösen, und der Staatsanwalt seine Anklage fallen ließ.

Die Frau war nicht schwachsinnig; sie hatte nur eine lebhafte Phantasie, welche ihr Dinge vorgaukelte, die nicht waren.

Deshalb, wie war es in nackter Wirklichkeit?

Und bedenke, daß du jedes Wort auf deinen Eid nehmen mußt; und, wenn einer, ein Meineidiger ins Zuchthaus gehört! –

Er war an dem Abend des Tages, an welchem Elfriede mir alles gesagt hatte, zurückgekommen, früher, als er in dem Zettel an mich angegeben. Das war am Freitag. Seitdem waren wieder zwei Tage vergangen. Ein paar Leute hatten ihn gesehen, so Amsberg und Herr Moen. Amsberg war ihm auf dem Waldwege dicht vor der Waldschenke begegnet. Er meinte, er müsse aus der Schenke gekommen sein. Herr Moen hatte ihn in Grimm getroffen auf dem Pferdemarkt. Er kam eigens herüber, um mich zu fragen, ob ich etwas mit dem Baron gehabt habe, der ja in heller Wut gegen mich scheine unter Führung von höchst sonderbaren Reden, wie: ich möge mich vor ihm in acht nehmen; er sei nicht der Mann, der sich vor einem Raufbold fürchte; sei noch mit ganz andern Leuten fertig geworden und dergleichen mehr. Der Baron sei freilich ganz offenbar betrunken gewesen, aber sein Betragen so auffällig, daß er – Herr Moen – geglaubt habe, mich davon benachrichtigen, respektive warnen zu sollen. Schon einmal habe der Baron in einer häßlichen Frauenzimmeraffaire – es schien dieselbe zu sein, auf die auch Frau Moen angespielt – an einem begünstigten Nebenbuhler, einem simpeln Inspektor, einen brutalen Racheakt verübt. Von dergleichen könne ja in meinem Falle natürlich nicht die Rede sein. Aber was auch immer die Veranlassung – irgend etwas müsse den Baron furchtbar gegen mich aufgebracht haben, und ich möchte seine Warnung nicht für ungut nehmen.

Ich dankte Herrn Moen für seine Freundlichkeit. Was dem Baron in den Sinn gefahren sei, wisse ich nicht. Wahrscheinlich habe er mich in seiner Trunkenheit mit einem andern verwechselt. Denn daß eine kleine Differenz, die wir allerdings gehabt hätten, für ihn von solcher Wichtigkeit sein solle, könne ich nicht glauben.

Was sollte ich anders antworten! Es war nicht meine, sondern seine Sache, einen plausiblen Grund für den Abbruch unsres Verkehrs zu finden. Der Name meiner unschuldigen Frau durfte in dieser Angelegenheit nicht genannt werden. Das stand bei mir fest.

Herr Moen hatte mich am Sonnabend abend, gleich nach der Rückkehr vom Markte, aufgesucht.

Der Sonntag war ein wunderschöner Tag: mildwarmer ein wenig verschleierter Sonnenschein, die Ahnung des kommenden Herbstes über die müde Erde hauchend. Elfriede war seit fünf Tagen zum erstenmal wieder eine Stunde im Garten, noch etwas blaß und angegriffen, aber doch kräftig genug, in den sonnigen Wegen an meinem Arm ein paarmal auf und nieder zu gehen; dann in der Laube, die jetzt mit wildem Wein fast ganz überrankt ist, auszuruhen, bevor ich sie wieder ins Haus brachte. Ich erinnere mich nicht, daß Reseda und Levkojen je so stark geduftet hätten, wie an diesem Nachmittage, der sich schon dem Abend zuneigte. Von den Vögeln, die ich sorgfältig gepflegt habe, kamen nur einzelne gedämpfte Töne; wiederholt segelten über uns weg durch die klare stille Luft langgestreckte Wolken von Staren, die den Süden suchten. Eine Stunde, so schön! Das Paradies kann eine schönere nicht gehabt haben.

Und inmitten dieses Gottesfriedens, mit all der paradiesischen Herrlichkeit um mich her, war meine Seele mit einer Traurigkeit erfüllt, die ich Mühe hatte, vor Elfriede zu verbergen, und für die doch so gar keine Veranlassung vorzuliegen schien.

Ach, jetzt weiß ich nur zu gut, was es war: die Ahnung, daß diese meine letzte Paradiesesstunde sein sollte!

Sind durch Kains Seele auch solche düstere Träume gezogen, wenn er, im Palmenschatten, umduftet von Jasmin und Rosen, Hand in Hand mit seinem Bruder Abel, ein schuldloser Knabe, durch den Garten Eden strich?

Am Abend – aber die Sonne war noch nicht unter – war ich noch einmal draußen: hinten in der Baumschule, nach den Birkenschößlingen zu sehen, die nicht recht fortkommen wollten. Auf dem Waldwege kam ein leichter Wagen rasch gefahren. Ich, hinter dem Lattenzaun, konnte vom Wege aus nicht gesehen werden, aber durch einen Spalt sah ich sehr deutlich: sein Jagdwagen, wie gewöhnlich mit den Rappen bespannt; er selbst im Wagen in Jagdjoppe und Jägerhut, auf dem Bock neben dem Kutscher der Jäger in großer Livree, ein Gewehr im Lederfutteral zwischen den Knieen.

Mir schlug das Herz, nicht eben heftig. Daß ich ihn über kurz oder lang wiedersehen würde, war ja unvermeidlich, und ich würde nicht immer hinter einem Lattenzaun stehen können.

Dann wunderte ich mich, wohin er zur Jagd fahren möge, da es außer in meinem Revier und in dem Griebenitzwalde hier keinen nennenswerten Rehstand gibt, und nach Griebenitz ging die Fahrt wohl kaum.

Bis mir einfiel: es war in der Waldschenke wieder Scheibenschießen. Auch zu dem im Frühjahr hatte er sich ja erst in der letzten Stunde eingefunden. Bis er hinkam, war kaum noch Büchsenlicht, das Schießen also zu Ende. Was sollte dann die mitgenommene Büchse? Vermutlich: den Schein bewahren, als hätte der vornehme Herr die freundliche Absicht gehabt, zum Volke herabzusteigen, und sei nur zufällig zu spät gekommen.

Eine Gelegenheit immer, mit seiner Geliebten ein Stündchen zu verplaudern?

Was ging es mich an!

Ich mußte am nächsten Morgen früh heraus. Der Oberforstmeister hatte mich gebeten, ihm zu einem bevorstehenden Familienfest – der Verheiratung seiner jüngsten Tochter – einen Rehbock schießen zu lassen. Ich wollte mir die Ehre geben, ihn selbst geschossen zu haben. Das hieß: um drei Uhr aufstehen. Der Bock hatte seinen Wechsel über die Schneise, an der Montag früh, rechts nach der Waldschenke zu, der Abtrieb beginnen sollte. Amsberg würde mit den Leuten um fünf Uhr zur Stelle sein. Ich wollte so lange im Revier bleiben, schon um meine Jagdbeute an Amsberg auszuliefern, der so wie so im Laufe des Tages noch an die Bahn mußte. Es war alles mit Amsberg verabredet.

Ich hatte, Elfriede nicht zu stören, während der letzten Tage unten neben meinem Arbeitszimmer geschlafen. So konnte ich am Abend in aller Muße noch einige nötige Schreibereien absolvieren, bevor ich gegen zehn – für mich eine unerhört frühe Stunde – zu Bett ging.

Trotzdem ich mich abgespannt und müde fühlte, konnte ich nicht schlafen. Der Anblick des schlechten Mannes hatte mich doch mehr aufgeregt, als ich mir eingestehen wollte. Es mochte ja unwahrscheinlich sein, daß er bei einer nächsten wirklichen Begegnung eine Scene provozieren sollte! aber ausgeschlossen war es nicht, dachte ich an die wilden Reden, die er Herrn Moen gegenüber geführt, und die brutale Heftigkeit, die ihn jählings überfallen konnte, und von der er noch an jenem Abend auf Möllenhof den unschuldigen Bedienten gegenüber eine traurige, sehr unkavaliermäßige Probe abgelegt hatte. Von Furcht einem Manne gegenüber, dem ich in der Führung wohl jeder Waffe und auch an Körperkraft zweifellos überlegen war, konnte keine Rede sein. Aber ich hatte Elfriede fest versprechen müssen, es solle zu keinem Duell kommen. Und wenn er mich nun in eine Situation brachte, die dem Beamten und Offizier keine Wahl ließ? Wenigstens wäre es dann wohl meine Pflicht gewesen, nicht ihm zu überlassen, der Welt gegenüber einen plausiblen Grund für unsern Bruch zu suchen, den er möglicherweise nicht fand, vielleicht nicht einmal finden wollte; sondern es selbst in die Hand zu nehmen und ihm die betreffende Ausrede, wenn sie für ihn auch nicht schmeichelhaft ausfiel, einfach zu oktroyieren. Kam es mir doch zu, die Bedingungen vorzuschreiben!

Schlaflos, wie ich war und blieb, zwang ich mich doch, bis dreiviertel drei Uhr liegen zu bleiben. Als ich aus dem Hause trat, war es zwanzig Minuten über drei. Meinen Stand konnte ich quer durch den Wald in weiteren zwanzig Minuten bequem erreichen. Der warme Tag gestern hatte dem nächtlichen Himmel eine Wolkendecke gebracht; der Morgen war ungewöhnlich dunkel; es konnte in aller Kürze einen tüchtigen Regen geben. Mein Bock würde sich nicht sehr beeilen, von den Weizenstoppeln zu Holze einzuziehen.

Genau vierzig Minuten nach drei, wie ich es berechnet, war ich auf dem Stand. Die Dunkelheit hatte womöglich noch zugenommen infolge eines leichten Nebels, der, von Westen her, seit einiger Zeit durch den Wald zu ziehen begann, aber nicht tiefer als bis zur Mitte der höheren Bäume herabsank, so daß noch gerade Büchsenlicht blieb. Ich hatte meine Lefaucheuxdoppelbüchse Casimir Lefaucheux, ein Pariser Büchsenmacher hatte die Stiftzünderpatrone erfunden, welche die Treibladung wie auch das Anzündmittel in einer Metallhülse integrierte., beide Läufe mit Rehposten Posten: Schrotkugeln ab 6,1 mm Durchmesser; wurden unter anderem für die Jagd auf Schalenwild verwendet (z. B. Sauposten, Rehposten). geladen. Da es immer dunkler wurde, wechselte ich nach zehn Minuten meinen Stand aus dem Unterholz heraus bis hart an den Rand der Schneise, wo ich mehr Licht hatte, aber weniger Deckung. Ich hielt mich deshalb dicht an den Stamm einer hohen Kiefer gedrückt, ohne mich zu regen. Bei der großen Feuchtigkeit der Luft in der tiefen Stille hörte ich, wenn auch nur dumpf, von der Kirche in Katznow die Uhr vier schlagen, obgleich der schwache Wind von der entgegengesetzten Seite kam.

Nun mochten wiederum zehn, vielleicht fünfzehn Minuten vergangen sein, als die ersten Tiere von rechts her, wo sie kommen mußten, auf die Schneise traten und dann das ganze Rudel langsam hinüber wechselte. Amsberg hatte seine Stärke auf drei angegeben, ich zählte fünf; vermutlich hatten sich von den seit einigen Tagen führerlos gewordenen einige dazugesellt. Der Bock war noch zurück, doch hörte ich ihn in dem Stangenholz. Das obligate Herzklopfen stellte sich bei mir ein, stärker sogar als sonst wohl. War es, daß die schlaflose Nacht meine Nerven heruntergespannt hatte? War es der Ehrgeiz, meinem alten Oberförster selbst ein Stück in die Küche zu liefern? Gott im Himmel weiß, es waren in diesen Minuten, die dem Gräßlichen unmittelbar vorhergingen, keine andern Gedanken in meiner Seele!

Jetzt hob sich zum erstenmal der Kopf des Tieres über die Stangen, nach der andern Seite gewandt, in der Richtung der Schneise, von der her er ein verdächtiges Geräusch gehört haben mußte. Ich war sehr ärgerlich. Kam da jemand die Schneise herauf – vielleicht ein vorzeitiger Arbeiter –, so schlug sich der Bock wieder in den Wald; oder wechselte über die Schneise nach der Seite, wo ich stand, gerade auf mich zu; und ich hatte, kam ich überhaupt zum Abdrücken, einen schlechten Schuß.

Indessen beruhigte sich das Tier, senkte den Kopf, hob ihn auch wieder für einen Moment und kam so, äsend, langsam näher an den Rand, aus dem er nun mit halbem Leibe heraustritt. Jetzt habe ich ihn sicher. Ich hebe langsam die Büchse – jede kleinste Bewegung konnte mich, der ich fast ohne Deckung ihm gegenüberstand, verraten. Als eben der Kolben meine Wange berührt, stampft der Bock mit allen vier Läufen und ist in dem Stangenholz, durch das ich ihn in voller Flucht brechen höre, waldwärts verschwunden.

Ein halblautes, aber sehr ehrlich gemeintes Donnerwetter zwischen den Zähnen murmelnd, blicke ich nach links, von wo das störende Geräusch gekommen sein muß, die Schneise hinauf. Ich hätte ihn schon viel früher sehen müssen; aber, die ganze Aufmerksamkeit auf das Wild vor mir gerichtet, hatte ich keinen Blick nach jener Seite geworfen, und das durch den weichen Waldboden und das dichte Moos gedämpfte Geräusch der Schritte des Mannes hatte nur das leise Ohr des Tiers vernommen.

Hätte ich ihn früher gesehen, ich wäre, der Begegnung auszuweichen, in den Wald zurückgetreten auf Kosten meines Stolzes. Jetzt war es zu spät: er war kaum noch dreißig Schritte von mir und hatte mich bereits erkannt. Auch erst in diesem Moment, denn er stutzte so, daß ich meinte, er würde wieder umkehren, O, mein Gott, hätte er's doch gethan! Aber er machte drei oder vier Schritte vorwärts und blieb dann stehen, den Jägerhut, der ihm schief auf dem Kopfe saß, ein wenig lüftend.

Guten Morgen, Herr Oberförster!

Ich regte mich nicht, die Büchse, wie ich sie aus dem Anschlage genommen, noch in beiden Händen, den Lauf nach unten.

Auf einen höflichen Gruß erwartet man eine Erwiderung.

Ich regte mich nicht.

Er brach in ein kurzes höhnisches Lachen aus.

Der Mann fürchtet sich. Sie brauchen sich nicht zu fürchten, lieber Mann!

Mir fing das Blut an in das Gehirn zu steigen. Dennoch bezwang ich mich und sagte ruhig: Gehen Sie Ihres Weges, Herr Baron! Es ist besser für Sie und für mich.

Es ist seltsam: wir sprachen eigentlich leise, durch die Zähne; aber in der Stille, bei der feuchten Luft klang es so laut, als hätten wir uns nicht dreißig, sondern drei Schritte gegenübergestanden.

Soll das eine Drohung sein? Ich habe meinen Schuß so gut im Rohr wie Sie.

Dabei hatte er nach der Büchse gegriffen, die er am Riemen jägermäßig über der linken Schulter hängen hatte.

Lassen Sie Ihre Büchse in Ruh', wenn Sie mich nicht zwingen wollen, sie Ihnen abzunehmen! Sie wissen, daß Sie sie ohne meine Erlaubnis im Revier nicht tragen dürfen.

Dennoch habe ich große Lust, Sie über den Haufen zu schießen, wie Sie da stehen.

Er hatte die Büchse jetzt vollends herabgenommen, sie genau so haltend, wie ich, die rechte Hand über dem Hahn.

Noch einmal: gehen Sie Ihres Weges!

Um von einem elenden Feigling einen Schuß in den Rücken zu bekommen! Nein, mon cher, so haben wir nicht gerechnet.

Ich hörte das Knacken des Hahns.

Die Büchse herunter! –

Ich hatte es jetzt laut geschrieen.

Seine Antwort war ein höhnisches Grinsen.

Dann lag er im Anschlage.

Ich sah, wie das linke Auge fest zugedrückt war und das rechte visierte.

Wollte ich nicht totgeschossen werden wie ein Hund – nicht den Tausendteil einer Sekunde hatte ich zu verlieren.

Die Schüsse krachten a tempo. Die Leute sagten hernach: sie hätten nur einen Schuß gehört.

Seine Kugel pfiff an meinem linken Ohre vorbei und schlug einen Fuß hinter mir in den Baum. Er machte einen Sprung in die Luft und schlug vornüber, der Länge nach, das Gesicht nach unten, regungslos liegen bleibend.

Ich hatte in der Campagne Dutzende von Leuten genau so stürzen sehen.

Und auch so liegen bleiben – regungslos.

Die Büchse stellte ich weg und trat an den Toten heran. Ich wußte, daß er tot war, noch ehe ich ihn umgedreht hatte. Sein Gesicht war verzerrt, die verglasten Augen halb geschlossen. Das war fürchterlich; fürchterlicher die Wärme der noch biegsamen schlanken Finger, die nun in wenigen Minuten kalt und steif sein würden für immer.

Durch die Jagdjoppe sickerte dunkles Blut tropfenweise. Ich hatte ihn genau ins Herz getroffen, bei der großen Nähe wohl mit sämtlichen fünf Posten, was dann auch hernach bei der Sektion festgestellt wurde.

Es that mir leid, bitterlich leid.

Aber Reue empfand ich keine – nicht einen Augenblick – so wenig, wie ich sie jetzt empfinde, indem ich das Geschehene niederschreibe.

Ich bin kein Mörder, kein Totschläger. Ich habe nichts, schlechterdings nichts gethan, als den Tod abgewehrt, der mir drohte, so nah, wie er nur drohen kann.

Von einem, der in dem Moment vielleicht wahnsinnig war.

Möglich.

War mein Leben deshalb weniger bedroht? Gewiß nicht! Dann erst recht!

Und sie sagen ja, daß jeder Verbrecher im Moment des Verbrechens wahnsinnig sei.

Ich weiß es nicht.

Ich weiß auch nicht, ob jeder an meiner Stelle so gehandelt hätte.

Ich weiß nur, daß ich nicht anders handeln konnte. –

– – – – – – – – – – – –

Ich habe die obige Relation des Geschehenen noch einmal durchgelesen, jedes Wort und jede Silbe genau prüfend, und alles und jedes der Wahrheit gemäß befunden.

Dieses bekräftige ich hier an Eidesstatt mit meines Namens Unterschrift.

Raimund Busch, königl. preuß. Oberförster
und Premierlieutenant der Reserve.

* * *

Woher ich nur die Kraft genommen habe, dies noch in der Nacht nach dem verhängnisvollen Tage zu schreiben! Aber gut, daß ich es vermochte, als ich mich noch jedes kleinsten Umstandes mit voller Deutlichkeit erinnerte, jedes der hinüber und herüber gewechselten Worte; mir noch der Klang der Stimme, mit dem sie gesagt wurden, deutlich im Ohr war. Heute nach einer Woche wäre ich dazu nicht mehr im stande; ja, ich habe bereits Augenblicke gehabt, in denen ich meinte, es sei alles nur ein böser Traum gewesen.

Und daß es kommen würde, wie es dann gekommen ist, das ist doch wahrlich so völlig gegen mein Erwarten und Wollen; gleicht doch so völlig einem jener sonderbaren Träume, in denen man sich fragt: ist dies nun ein Traum oder Wirklichkeit?

Nein! ich wollte diesen Weg nicht gehen; würde ihn, wäre er mir überhaupt in den Sinn gekommen, unbedingt für den falschen erklärt haben. Nun bin ich von den Umständen in ihn geschoben worden, und sehe, daß es der richtige ist.

Wäre ich ein Gläubiger, müßte ich sprechen: eine höhere Hand hat dies alles so gelenkt und geordnet. Jetzt sehe ich darin nur eine höchst merkwürdige Kombination von Zufällen, die als Resultat eine Situation geschaffen hat, die ich acceptieren muß.

Auch nicht im entferntesten dachte ich daran, was geschehen war, irgendwie vertuschen, bemänteln oder gar ableugnen zu wollen, als ich, nachdem ich den Tod des Mannes festgestellt, von dem Thatorte quer durch den Wald nach der etwa fünfzehn Minuten entfernten Försterei ging. Ich wollte nur Amsberg als ersten Zeugen holen, und ich erinnere mich, daß ich wünschte, ich hätte den Toten nicht berührt, sondern ihn gelassen, wie er gefallen war. Hatte ich doch auch die Büchse, wie er sie im Todessprung von sich geschlendert, ohne sie zu untersuchen, liegen lassen. Ich sah mich bereits eine Stunde später auf dem Wege nach Sundin, meinem Chef Meldung zu machen, dann der Behörde Anzeige zu erstatten.

Fünfzig Schritte von der Försterei mußte ich aus dem Walde heraus auf die Chaussee, um zu dem Hanse zu gelangen. Auf der Chaussee hatte ich noch keine zehn Schritte gemacht, als Frau Amsberg in die Hausthür trat und mich erblickte.

Guten Morgen, Herr Oberförster! So spät! Wenn das man nicht schon zu spät ist. Mein Mann meinte, der Herr Oberförster müßten um halb vier, lieber noch um drei, auf dem Platze sein. Na, dann ist es ein andres Mal.

Für die Frau kam ich offenbar direkt von der Oberförsterei auf der Chaussee. Ich wollte sie, deren Zustand noch besonderer Schonung bedurfte, nicht ohne Not mit dem Gräßlichen erschrecken. So fragte ich denn nur nach ihrem Mann.

Er ist um drei Uhr nach Katznow gegangen; weil der Herr Oberförster gesagt haben, es seien zu wenig Leute. Da, meinte er, könne er noch so ein Stücker vier oder fünf auftreiben. Ich denke, er muß mittlerweile schon zurück und an der Stelle sein.

So will ich auch hingehen.

Der Herr Oberförster haben es durch das Haus bequemer. Sie kommen vom Hofe aus gleich auf den Richtsteig links, dann – na, der Herr Oberförster wissen ja.

Die Frau führte mich durch das Haus, über den Hof, dessen Hinterpforte sie aufschloß.

Adieu, Herr Oberförster!

Vielen Dank, Frau Amsberg!

Keine Ursach, Herr Oberförster! –

Für die Frau klebte kein, wenn auch schuldlos vergossenes Blut an der Hand, die sie eben so kräftig gedrückt hatte. Es war ein sonderbares, halb freundliches, halb wehmütiges Gefühl. Von nun an würde jeder, dem ich die Hand bot, mit dem, was da im Walde geschehen war, zu rechnen haben.

Als ich, eilig auf dem engen Richtsteige hinschreitend, in die Nähe des Ortes gelangte, hörte ich das dumpfe Gemurmel verschiedener Stimmen. Ich hatte nicht daran gedacht, daß Amsberg, wenn er von Katznow kam, die Schneise, als den kürzesten Weg, nehmen und folglich direkt an den Ort gelangen mußte. Ihn war ich ja zu holen gegangen, und ihm hätte ich unbedingt alles gesagt. Aber jetzt sofort einer größeren Menschenschar erzählen zu sollen, wie alles so gekommen, darauf war ich nicht gefaßt. Was sollte, was durfte ich sagen? Der Wut des Mannes welche Erklärung geben? Hatte es doch vorher bei mir festgestanden: der Name meiner Frau durfte in dieser Sache nicht genannt werden. Jetzt war das gar nicht mehr zu vermeiden. Ich selbst – daran war nichts gelegen! Aber mein unschuldiges Weib – der Angstschweiß trat mir vor die Stirn. Dennoch – es mußte sein. Vorwärts!

Der Nebel, der vorhin nur bis zur halben Höhe der Bäume herabgestrichen war, hatte sich vollends gesenkt. Die Schneise betretend, sah ich die Männer – ihrer dreißig, meinte ich; es waren aber nur einige zwanzig – die, zu einem dunklen Klumpen geballt, um die Leiche herumstanden. In dem Augenblicke – ich war eben aus dem Walde getreten – kam mir Arnsberg entgegen. Er hatte nach der Försterei gewollt, einen Wagen zu holen, und sich selbst auf den Weg gemacht, es seiner Frau möglichst schonend beizubringen; vielleicht erst nur von einer Verletzung, einem Beinbruch, oder dergleichen zu sprechen.

So hat mir der gute Mensch später erzählt.

Jetzt streckte er, mich auf sich zuschreiten sehend, nur beide Hände abwehrend aus:

Um Gottes willen, Herr Oberförster, erschrecken Sie nur nicht zu sehr! Es ist der Herr Baron! Erschossen! Vor einer Dreiviertelstunde etwa. Wir haben den Schuß gehört; meinten, es sei der Herr Oberförster; und ich sagte noch zu Klas Wenhak: der hat sein Teil! Der Bock, meinte ich. Und beeilten uns nicht weiter. Wenn wir das hätten ahnen können! Aber zu spät wären wir doch gekommen. Nur die Uhr und die Büchse mitzunehmen, hat der Kerl keine Zeit mehr gehabt.

Das kam alles in hastigen, wirren Worten. Er wollte mich offenbar aufhalten, vorbereiten – der gute Mensch!

Nun hatten mich auch ein paar andre erblickt, die es den übrigen sagten: der Herr Oberförster!

Der dichte Kreis that sich auseinander. Ich sah die Leiche liegen, aber auch mit dem ersten Blick, daß die vorhin zugeknöpfte Joppe aufgerissen und beide Klappen weit zurückgeschlagen waren. Klas Wenhak, ein alter, mir wohlbekannter Arbeiter, hielt in den Händen eine braune Brieftasche mit einem aufgepreßten goldenen Monogramm, die ich sehr wohl kannte.

Ich habe sie gefunden, Herr Oberförster, da, wo der Jochen Brümmer eben steht. Ich trat mit dem Fuße darauf. Dann hab' ich sie aufgehoben, wie sie war, und sie dem Herrn Förster gegeben. Das kann Jochen Brümmer mir bezeugen und Jochen Schnut auch.

Ja, ja, sagten Jochen Brümmer und Jochen Schnut zu gleicher Zeit. Das können wir bezeugen, Herr Oberförster.

Ja, sagte Amsberg. So ist es. Ich meinte, ich müsse nachsehen, was drin ist. Es ist aber nichts drin; nur ein paar Zettel; sonst nichts.

Vorher ist mehr drin gewesen, sagte eine Stimme.

Nun sprachen alle durcheinander. Jeder wollte seine besondere Beobachtung gemacht haben. Darin stimmten alle überein, daß sie nur einen Schuß gehört hätten, was insofern merkwürdig schien, als aus der Büchse, die Amsberg sofort untersucht hatte, eben erst geschossen sein mußte. Wie das zugegangen sein könne?

Na, wenn der andre ihm die Büchse weggerissen und ihn damit totgeschossen hat!

Oder er sich selbst.

Dann hätte er nicht auf dem Rücken gelegen!

Und die Büchse nicht sechs Schritt von ihm!

Und das Taschenbuch noch viel weiter!

Nun wurde ein Bursche von achtzehn oder neunzehn Jahren aus dem Kreis förmlich herausgerissen. Der solle mehr wissen, als die andern.

Er war gestern abend in der Waldschenke gewesen, zuerst auf dem Schießstand, hernach im Hause, immer zur Aushilfe in der Bedienung der Gäste. Der Herr Baron war gekommen, als man bereits abgeblasen hatte. Wozu er dann die Büchse mitgebracht? hatte ein Herr gefragt. Und der Herr Baron geantwortet: Um wenigstens meinen guten Willen zu zeigen. Und dann hinzugefügt: Uebrigens geht mein Weg hin und zurück durch den Wald. Da ist es ganz gut, wenn man den Schießprügel bei sich hat. Man kann ja nicht wissen, was einem unterwegs begegnet.

Dann gingen sie ins Haus und der Herr Baron mit Herrn Specht und ein paar andern in die Hinterstube, die immer verschlossen bleibt, wenn die Herren spielen. Die Weinflaschen dürfen wir ihnen nur durch die Thür langen; da nimmt sie uns einer ab und macht sie gleich wieder zu. Um elf Uhr kam der Herr Baron heraus, und ich stand gerade vor der Thür. Er sagte zu mir, ich solle seinem Kutscher und dem Jäger sagen, sie sollten nach Haus fahren; er wolle zu Fuß gehen; der Jäger solle aber die Büchse da lassen und sie Herrn Riek in Verwahrung geben. Da kam Fräulein Marie den Gang herauf und hatte wohl gehört, was der Herr Baron zu mir gesagt hatte, denn sie sagte: Das geht nicht! Dann fingen sie beide leise an zu sprechen, und der Herr Baron sagte zu mir: Wart noch ein bißchen! und zuletzt: Es bleibt dabei. Dann bin ich nach der Kutscherstube auf dem Hof gegangen und habe meine Bestellung ausgerichtet. Weiter weiß ich nichts. Herr Riek gab mir meinen Lohn und sagte, ich könne nun nach Hause gehen. Das hab' ich dann gethan.

So erzählte der Bursche, während die andern, zu denen jetzt noch einige gekommen waren, gierig zuhörten. Die Menschen waren so erregt. Ich bemerkte, es fiel keinem auf, daß ich sie immerfort reden ließ und kein Wort dazwischen sprach.

Die Reden hinüber und herüber waren wieder im vollen Gange, Amsberg fragte: Ja, Herr Oberförster, was sollen wir nun thun?

Plötzlich waren die Stimmen verstummt und alle die Augen erwartungsvoll auf mich gewandt.

Ich hatte Zeit zur Ueberlegung gehabt; vorderhand war mir nur eines klar: jetzt und hier sagte ich nicht, wie es gewesen war. Was ich später zu sagen und zu thun hatte, würde die Folge lehren.

Das zunächst Nötige war bald angeordnet und gethan. Äxte und Hände waren genug da. Eine Bahre war schnell gezimmert; der Tote darauf gelegt, mit Kieferzweigen sorgfältig zugedeckt. Unter Amsbergs Führung setzte sich der Zug nach dem Försterhause in Bewegung. Es war das nächste Haus; der Weg dahin ging durch dichten Wald; andrerseits lag es an der Chaussee, also für die Abholung der Leiche vom Schloß aus bequem zu erreichen.

Inzwischen hatte sich mein zweiter Förster Liebenow, der auch bestellt war, eingefunden. Er sollte den Rest der Leute an die Arbeit führen. Ich wollte sofort nach dem Schloß. Die Baronin mußte es doch erfahren, und dann durch wen anders als durch mich?

Oder sollte ich es zuerst Elfrieden sagen? Ich überlegte es, während ich eilig, fast laufend den Holzweg dahinschritt; und überlegte es noch, als ich bereits an die Hinterthür der Baumschule gelangt war. Aber Elfriede war nach den Tagen, die sie durchgelitten, der Schonung so bedürftig und würde mit Entsetzen hören, daß das Schicksal mich ausgesucht hatte, die Strafe an dem Beleidiger zu vollziehen! Die Baronin war aus weniger weichem Stoff. Wie würde sie die Nachricht aufnehmen? und wie sollte ich es sagen?

Doch der Wahrheit gemäß. Wie anders? Sie würde dann freilich wissen wollen, was ihn, mit dem ich so vertraut gewesen, plötzlich in solche Wut gegen mich gesetzt hatte. Aber sie, die sicher sein Verhältnis zur roten Marie kannte und so wohl noch das manche und viele andre, wovon Herr und Frau Moen gemunkelt, würde gewiß die leiseste Andeutung verstehen.

Übrigens, weshalb war ich verpflichtet, auch nur diese Andeutung zu machen, die schon eine Beleidigung für Elfriede war? Weshalb brauchte ich zu wissen, was den Baron gegen mich aufgebracht hatte? Er konnte ja verrückt gewesen sein.

So denn ging ich, lief ich weiter den nicht langen Weg durch die Felder zum Schloß.

Ich hatte mich umsonst gequält. Im Portal kam mir ein Diener entgegen: die Frau Baronin war gestern mittag mit dem jungen Herrn, dem Hauslehrer und der englischen Gouvernante auf acht Tage nach Rügen zu den gräflichen Herrschaften gereist.

Ich ließ mir den Intendanten und den ersten Inspektor rufen und sagte ihnen: »Der Baron sei von meinen Leuten im Walde tot gefunden und, wie es scheine, beraubt.« Es machte wohl einen Eindruck auf die Männer, aber keinen so großen, wie ich erwartet hatte. Der Intendant wollte wissen, daß der Baron gestern abend eigens um zu spielen nach der Waldschenke gefahren sei und zweifellos eine bedeutendere Summe bei sich geführt habe. Der Inspektor, ein älterer, verständiger Mann, der mich, nachdem wir die Abholung der Leiche ans der Försterei und andres Nötige besprochen, bis an das Hofthor begleitete, sagte: Mir hat immer geahnt, daß es mit dem Herrn Baron einmal ein schlimmes Ende nehmen würde. Er trieb es zu arg. Seitdem der Herr Oberförster hierher kam, war es ja ein bißchen besser; viel aber auch nicht. Er ließ sich nur nicht mehr so offen gehen. Was den Menschen betrifft, der ihn tot geschossen, das ist sicher einer, den er einmal schwer gekränkt hat. Einer von den vielen. Ich wollte sagen: der Karl Dreek ist es gewesen von wegen der Marie in der Waldschenke. Aber der schwimmt ja nun wohl schon seit Tagen auf dem Wasser. Nehmen Sie's sich nicht so zu Herzen, Herr Oberförster! Ich sage noch einmal, ich hab' es kommen sehen. Und, wenn der Herr Oberförster mir es nicht übel deuten will: für die Frau Baronin und den jungen Herrn, na, und für manche noch ist es ein wahres Glück, daß es schon jetzt gekommen ist, wenn es doch einmal kommen sollte.

Ich ging denselben Weg durch die Felder zurück; aber daran habe ich nur eine schwache Erinnerung. In der vergangenen Nacht hatte ich keine Minute geschlafen; nun die furchtbaren Ereignisse des Morgens – meine Kraft war erschöpft. Ich stolperte vor Müdigkeit, unfähig, von den Gedanken, die durch meine Seele wirrten, einen einzigen festzuhalten, trotzdem ich mir fortwährend sagte, ich müsse mir durchaus darüber klar werden, was ich denn nun eigentlich wolle.

So kam ich nach Hause. Es war mittlerweile halb Zehn geworden. Elfriede schlief noch. Man solle sie schlafen lassen; ich müsse selber schlafen; man möge mich nicht wecken und wenn es bis Mittag währe.

Und wenn es in alle Ewigkeit währte, murmelte ich, als ich mich, nachdem ich die Fenstervorhänge heruntergelassen, so, wie ich war, auf das Bett warf.

Ich schlief sogleich ein.

Als ich nach einer knappen Stunde erwachte, hatte ich Mühe, mich darauf zu besinnen, wo ich war, ja, wer ich war.

Und dann auf einmal – wie in der Helligkeit eines Blitzes, der über eine nächtliche Landschaft zuckt und jeden Gegenstand in Tagesklarheit erblicken läßt – sah ich die Geschehnisse des Morgens in ihrem intimsten Zusammenhang und wußte, was ich zu thun hatte, so bestimmt, als sei es nicht aus mir gekommen und meiner Weisheit, sondern aus einer Quelle geschöpft, viel zu tief, als daß meine Weisheit und Verstand da hinab hätten langen können.

Ich war unschuldig an dem Tode des Barons von Kardow. Aber ich konnte den Beweis meiner Schuldlosigkeit nicht führen, ohne der skeptischen Welt zuzumuten, daß sie meine Aussagen auf Treu und Glauben hinnehmen solle – meine Aussage, die das schon so große Schuldkonto des Mannes noch mehr belastete, meine Frau in ein böses Gerede brachte und seiner Gattin, seinem Sohne das Leid anthat, nun in alle Zukunft mit sich herumtragen zu müssen, daß der Gatte, der Vater als ein Mensch gestorben war, der einem andern, von dem er nichts als Gutes erfahren, nach dem Leben getrachtet hatte.

Mochte die Welt, mochten die Gerichte zusehen, wie sie mit der Sache fertig wurden! Ich hatte nichts mehr damit zu schaffen.

* * *

Acht Wochen Zeit, die Probe auf das Exempel zu machen! Nicht zu viel, wenn man bedenkt, wie kompliziert es war! Aber die Rechnung war richtig; die Probe stimmt.

Ein paar kleine Fehler hatten sich eingeschlichen; sie waren glücklicherweise schnell wieder herauszubringen. Der Inspektor, mit dem der Baron den schlimmen Handel, gehabt hatte, war eingezogen, aber nach einem kurzen Verhör entlassen worden, da er sein Alibi zweifellos nachweisen konnte. Einem armen Schelm von Vagabunden, der seit einem Vierteljahr sich hier umgetrieben und die Leute belästigt hat, ist es übler ergangen: er hat vierzehn Tage lang sitzen müssen. Sie sind ihm, nachdem sich seine Schuldlosigkeit herausgestellt, auf die sechs Wochen, die ihm auch ohne das zudiktiert wurden, abgerechnet.

Sonst ist niemand um meinetwillen ein unverdientes Leid geschehen.

Ich müßte darunter denn die Mühen verstehen, die sich der Staatsanwalt, die Polizei und ihre Diener gegeben haben, die Lösung des Rätsels zu finden. Die habe ich, ich allein. Hier in meiner Brust. Und da soll sie begraben bleiben.

Mindestens bis zu meinem Tode.

Dann wird, nach Menschengedenken, die Sache verjährt sein; keinem auch nur eine Kränkung aus der Lösung erwachsen. Dann mögen diese Blätter sie bringen.

Es ist erstaunlich, kaum glaublich; aber es ist so: niemand hat die Frage aufgeworfen, die doch greifbar nahe liegt: warum ich nicht sofort den Wald habe absuchen lassen, worauf doch jeder vernünftige Mensch zuerst verfallen mußte, und was um so leichter auszuführen war, als eine Menge Menschen sofort zur Disposition standen. Der vermeintliche Mörder und Räuber mußte ja noch in der Nähe sein; hatte einen Vorsprung von dreißig, höchstens vierzig Minuten.

Der Räuber freilich ist kein Fabelwesen. Nach der Aussage der Spielgenossen hat der Baron, der die Bank gehalten, gegen zwei Uhr mit einem sehr bedeutenden Gewinn abgeschnitten. Die Angaben schwanken zwischen fünf- und sechstausend Mark, die also dem Räuber zur Beute gefallen sind. Die Herren sind mit einer ernsten Vermahnung davongekommen. Ehren Riek hat man härter angefaßt: er ist wegen gewerbsmäßiger Begünstigung von Hazardspiel zu acht Wochen Gefängnis verurteilt worden. Der roten Marie, nachdem sie noch hat eingestehen müssen, daß der Baron die Stunde von zwei bis drei auf ihrem Zimmer mit ihr zugebracht, ist der Boden hier zu heiß geworden. Sie hat sich in die Einsamkeit ihres hinterpommerschen Gutes zurückgezogen, schwerlich, um über die Sünden ihrer flotten Jugend nachzudenken. Schade um das Mädchen! Ein goldnes Weizenkorn, das zwischen die Dornen fiel!

* * *

Nebelgeriesel! Novemberschnee! Die Wege im Walde werden stellenweise unpassierbar trotz der Mühe, die ich auf sie verwandt habe. Das Wild verkriecht sich im Dickicht; die Krähen schwingen krächzend durch die graue Luft; die meisten sind schon in die Städte gezogen. Meine Holzfäller haben das Schwatzen verlernt; selbst Amsberg blickt verdrießlich drein und raucht schweigsam seine ewige kurze Pfeife.

Mir ist das Wetter recht, es paßt zu meiner Stimmung. Ich war wohl nie ein »fröhlicher Bursch«; jetzt meine ich manchmal, ich habe das Lachen für immer verlernt.

»Ihr führt ins Leben uns hinein« Erster Vers der zweiten Strophe von »Wer nie sein Brot mit Tränen aß« aus Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahren«; der Text fährt fort: »Ihr laßt den Armen schuldig werden, / Dann überlaßt ihr ihn der Pein; / Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.«

Aber das ist es nicht. Wie viel ich auch darüber denken, von welcher Seite ich es ansehen mag – ich fühle mich nicht schuldig.

Was denn sonst kann mich oft zum Sterben traurig machen?

Ich glaube die Einsicht, die sich mir wohl aufdrängen mußte, daß das Leben selbst jener böse Nachbar ist, der den Besten nicht in Frieden leben läßt.

* * *

Gestern bringt mir Amsberg ein Taschentuch, das einer der Arbeiter unter dem Moose gefunden, ein weißes Tuch, ohne Zeichen, von, wie mir schien, neuer Leinwand. Es hat während der Zeit ziemlich trocken gelegen, die Blutspuren, die es trug, waren wenig verwischt. Amsberg meint, das müsse der Mörder auf der Flucht durch den Tann da versteckt haben. Ich sagte, möglich sei es schon, jedenfalls solle er es unter Angabe der näheren Umstände, wo, wann, von wem es gefunden, an den Untersuchungsrichter in Sundin schicken, dessen Adresse ich ihm angab.

Das Tuch stammt zweifellos von dem, der, während ich nach der Försterei ging, den Toten gefunden und das Geld gestohlen hat. Wer nur kann es gewesen sein? Ein Knecht, Tagelöhner, überhaupt gemeiner Mann keinesfalls. Sie haben solche Taschentücher nicht. Jedenfalls einer, der mit Ueberlegung zu Werke ging, wie knapp ihm auch die Zeit zum Ueberlegen zugemessen war. Er hätte sonst sicher die kostbare Uhr mit ihrer schweren goldenen Kette nicht in der Westentasche stecken lassen und das Portefeuille fortgeworfen, nachdem er es seines Inhalts beraubt.

Dabei fällt mir mein kleines Notizbuch ein, in das ich am Abend die am nächsten Tage vorzunehmenden Geschäfte der Reihe nach einzutragen pflegte. Es hatte mich schon auf der Campagne begleitet, wenn seitdem auch die Blätter drinnen wiederholt erneuert waren. Ich erinnere mich mit voller Bestimmtheit, es an jenem Morgen zu mir gesteckt zu haben. In den nächstfolgenden Tagen hatte ich es nicht wieder zur Hand genommen. Dann war es fort. Ich habe vergeblich sorgsam danach gesucht. Ich verliere ungern etwas; und gerade das kleine Notizbuch und ich waren im Verlauf der Jahre so gute Freunde geworden.

* * *

Ich muß mich nachträglich über die sonderbar widerwärtige Empfindung wundern, mit der mich der Anblick des Tuches vorgestern erfüllte und wie ich erleichtert aufatmete, als es mir wieder aus den Augen war. Und hatte doch der Obduktion der Leiche beiwohnen können, ohne mit der Wimper zu zucken, und mein Sachverständigen-Gutachten abgeben, ohne daß mir die Stimme zitterte! Man wollte aus der Rehpostenladung auf einen Wilddieb schließen. Das sagte ich, will ich dahingestellt sein lassen. Jedenfalls beweist der Schuß selbst, wenn man ihn nicht für Zufall nehmen will, daß der Schütze ein Mann vom Metier mit sehr geübtem Auge und völlig sichrer Hand gewesen ist. Dann erklärte ich noch den Umstand des einen Schusses, bei dem die Leute in ihren Aussagen hartnäckig festhielten, es seien zweifellos zwei Schüsse gewesen, die, weil sie a tempo fielen, als ein Schuß gehört wurden.

Ich habe den Herren die Sache so nahe gelegt! Zu den mancherlei Unbegreiflichkeiten dieser Untersuchung gehört, daß die nächste Frage des Amtsrichters nicht war: sollten am Ende gar Sie, Herr Oberförster, den zweiten Schuß abgegeben haben? Die erwartete Frage kam nicht. So brauchte ich auch nicht zu antworten.

Die Kaltblütigkeit damals und die nervöse Erregung von vorgestern!

Aber damals stand ich meiner eigenen That gegenüber und durfte und mußte, als ein Mann, ihr in das bleiche Todesantlitz ruhig sehen. Vorgestern – ah! das waren die Spuren der schmutzigen Finger eines gemeinen Diebes, der gierig in meine That hineingegriffen und sie so verschändet hatte.

Und so würden sie, was ich gethan, mit ungläubigem Kopfschütteln, mißtrauischem Achselzucken und hämischen Glossen verschändet haben, hätte ich mich dazu bekannt.

Ich war im Recht, als ich schwieg und bin im Recht, wenn ich weiter schweige. In eigenem Recht. Es gibt kein Unrecht, als den Widerspruch. Ich werde mir nicht widersprechen.

* * *

Möchte wissen, was aus meinem Verhältnis zur Baronin geworden wäre, hätte ich, wie ein thörichter Knabe oder obrigkeitsscheuer Philister, feig und dumm der Wahrheit die sogenannte Ehre gegeben. Das gute sicher nicht, das sich jetzt zwischen uns herausgestellt hat, und das ich beinahe Freundschaft nennen möchte.

Seit den acht Wochen, die sie auf Rügen bei den Eltern ist, haben wir nun bereits ebensoviele Briefe gewechselt, die letzten beiden sogar in einer Woche.

Wie habe ich diese Frau doch so verkennen mögen! Von allen Fehlern, die ich ihr beimaß, ist kein einziger geblieben als der Stolz. Und der kleidet sie wie ein königlich Diadem! Von dem möchte ich um alles nicht, daß sie ihn ablegte! Was auch wäre aus ihr geworden ohne diesen Talisman in der gräßlichen Ehe, die um so gräßlicher war, als sie den Mann geliebt hat mit der großen Leidenschaft ihrer achtzehn Jahre, der ganzen Fülle ihres reichen Herzens. Um so bald, so bald schon schaudernd inne zu werden, daß sie ihre Jugend und Unschuld einem bis ins Mark verderbten Wüstling geopfert, ihr goldenes Herz in einen faulen Sumpf geworfen. Dann hat sie still ihr namenloses Leid getragen um ihres Sohnes willen, der, mußte er einmal erfahren, welchen Jämmerling er zum Vater hatte, es doch so spät wie möglich erfahren sollte: wenn das Bild der ehrbaren Mutter bereits zu fest in seiner Seele stand, als daß ihm das böse Beispiel des ehrlosen Vaters etwas hätte anhaben können.

Aber sie hatte ihre Kraft überschätzt. Widerwille, Ekel, die Schmach der Rolle, zu der sie sich verdammt sah: vor der Welt sich den Anschein zu geben, als ob sie blind und taub und stumpfsinnig sei – im Lauf der Jahre hatte sich die fürchterliche Last zu sehr angehäuft; sie konnte sie nicht mehr tragen und war zu einem definitiven Bruch entschlossen. Zuerst galt es, den Sohn in Sicherheit zu bringen. Sie wußte, der Baron würde ihn freiwillig nicht hergeben, um die Disposition über die reichen Erziehungsgelder nicht einzubüßen. So benutzte sie denn seine letzte Abwesenheit; die Fahrt nach Rügen war eine Flucht; nie wollte sie wieder einen Fuß über die Schwelle des Schlosses von Möllenhof setzen. Von Barkow, dem elterlichen Gute aus, wollte sie den Kampf mit dem Baron aufnehmen. Da kam der Tod und brachte das Publikum um das Vergnügen, die chronique scandaleuse der upper ten thousand um einen kostbaren Fall bereichert zu sehen.

Denn das war das Fürchterliche für die edle Frau, daß sie den Schmutz kannte, der in dieser Sache aufgewühlt werden würde und mußte, wollte sie in dem Prozeß obsiegen, und daß sie um des Sohnes willen den Vater nicht schonen durfte. Was sie, die Energische, vom thatkräftigen Handeln so lange zurückgehalten, war wesentlich diese traurige Notwendigkeit gewesen.

Sie hatte alles, oder doch so ziemlich alles gewußt. Dafür hatten hämische Zungen gesorgt, denen das Weh, das sie andern bereiten, Labsal ist. Und dann gibt es ja immer uneigennützige Leute, die auf eigene Rechnung und Gefahr dem Lasterhaften in seinen dunklen Maulwurfsgängen nachspüren zu müssen glauben. Auch an solchen, die es mit ihrer Warnung ehrlich meinten, wie Frau Moen, hat es nicht gefehlt, und die ihren guten Willen scheinbar mit Undank belohnt sahen. Mußte die Stolze doch, bevor sie zum Handeln entschlossen war, die Unnahbare, Unzugängliche, Unbelehrbare spielen! Oder sollte sie Vertrauen mit Vertrauen erwidern und den Leuten, die ihr die rote Marie als Geliebte ihres Gemahls denunzierten, oder die Geschichte erzählten von dem Inspektor, dessen Braut der Herr Baron verführt hatte – sollte sie ihnen gestehen, daß er nicht einmal das eigene Haus rein halte? und warum sie ihr hübsches Kammermädchen Julie, die ihr fußfällig unter heißen Thränen alles gestanden, nach Sundin zu den Eltern habe zurückschicken müssen? –

Ich habe das nun so aus den diskreten Andeutungen und feinen Wendungen ihrer Briefe in meine Sprache transponiert. Manches steht auch nur zwischen den Zeilen, aber ich glaube es richtig gelesen zu haben.

* * *

Mein lieber Oberforstmeister ist krank. An verschiedenen Stellen seines Körpers haben sich große Karbunkeln gebildet, welche die ohnehin nicht mehr bedeutenden Kräfte des alten Mannes zu absorbieren drohen. Sollte er sterben, es wäre für mich ein schwerer Verlust.

Auch Elfriedens Zustand macht mir bittre Sorge. Ich bin darüber um so mehr betrübt, als das erste Mal alles fast ohne jegliche Störung verlief. Jetzt liegt sie nun bereits seit sechs Wochen und Doktor Barth weiß nicht, wie lange dies traurige Regime noch fortgesetzt werden müsse. Er gibt jetzt zu, was er anfangs in Abrede stellte, daß der Ohnmachtsanfall an jenem Abend am Waldsee doch wohl ernstere Ursachen gehabt habe, als eine vorübergehende Erschöpfung der Lebensgeister; das erste Symptom einer Störung des Nervensystems, der, wie allen derartigen Störungen, sehr schwer auf die Spur zu kommen sei.

Ich kann dem Manne natürlich nicht auf die Spur helfen.

Und dürfte und wollte ich es, der Schaden ist einmal angerichtet. Mit der Aufdeckung des psychischen Grundes wird die physische Folge nicht beseitigt.

Ich rede Elfriede auf jede Weise zu, sie solle doch die Sache nicht tragischer nehmen, als sie es verdient. Sie verspricht, ihr Bestes zu thun; aber die plötzliche Metamorphose aus einem Menschen, den sie für einen guten Menschen und für meinen und ihren Freund gehalten, in den übermütig frechen, schamlosen Don Juan, dem Dame und Dirne, »alle einerlei« sind – das sei zu grauenhaft gewesen; das könne sie noch immer nicht verwinden.

Dann sei sein plötzlicher schrecklicher Tod gekommen, wie ein Strafgericht Gottes.

Und nun mache sie sich den Vorwurf, daß sie dieses Strafgericht herabgerufen, weil sie nicht, wie es dem Christen zieme, Gott mit der rechten Inbrunst für den Beleidiger gebeten habe.

Wenn ich das höre von ihr, die früher keineswegs eine Frömmlerin war, ich fasse mich heimlich an den Kopf und frage mich: was ist dies? Ist das nur die Folge ihres Zustandes, der das Niveau ihrer Widerstandskraft so tief herabgebracht hat? Sind es die ersten furchtbaren Symptome einer dauernden geistigen Störung?

Oder – nein, nein! kein weiteres Oder, wenn mir auch, so oft ich Donna Annas große Arie » Or sai chi l'onore« aus Mozarts »Don Giovanni«. von einer guten Sängerin hörte, die nicht bloß nach dem Notenblatt sang, immer war, als müsse im nächsten Moment aus den wilden Tönen ein Schluchzen hervorbrechen, das einer Quelle entspränge, die nicht die Rache war.

Wenn der Unglücksmensch mir das angethan, mir noch das Herz meines Weibes vergiftet hätte –

Ruhig, mein Junge, ruhig! Danke Gott, daß du nicht deine Ehre, nur dein Leben verteidigtest, als du an den Abzug der Büchse rührtest!

* * *

Aus Sundin bessere Nachrichten von meinem alten Freunde. Möge der Himmel ihn uns noch lange erhalten! Freilich, der Menschen Leben währet siebzig Jahre; und er zählt mit dem Jahrhundert!

Dafür geht denn der Würgengel Diphtheritis hier auf den Gutshöfen und Dörfern um und holt sich den Edelmannssohn und das Kossatenkind Ein Kossath war im östlichen Deutschland ein von einem Grundherrn oder Gutsherrn angesetzter Siedler, der ein wenig Land und ein Haus erhielt und auf dem Gut arbeitete sowie besondere Handdienste zu leisten hatte..

Und das grausliche Dezemberwetter mit seinen Schneestürmen und der kimmerischen Nacht In der Odyssee beschreibt Homer das Land und die Stadt der kimmerischen Männer, die im äußersten Rand des tiefen Okeanos, nahe am Eingang des Hades, lägen. In ihrem Gebiet herrschten stete Nacht und Nebel (»kimmerische Finsternis«), Helios würde hier nicht leuchten., in der es am Tage nur um ein weniges heller wird!

Ich habe der Baronin dringend geraten, jetzt nicht zurückzukommen. Mag es in dem gräflich elterlichen Hause auch an Raum fehlen (und, ich fürchte, Schmalhans Küchenmeister sein) – sie und mein lieber Hans sind da besser aufgehoben als hier.

* * *

Welch ein lieber Brief ist das wieder, dieser, dem ich bereits Numero neun geben darf! Ich empfinde ein erquickliches Gefühl, sehe ich nur die Handschrift. Wie ohne ausgesprochenen Charakter ist die unsrer meisten Damen (auch leider die Elfriedens)! Entweder das unverfälschte Schulprodukt: regelrecht, zierlich, eine saubere Stickerei à petit point, und ebenso langweilig; oder durch kindische Unsicherheit unerfreulich. Andre, die durch ihr sichtbares Bestreben, etwas bedeuten zu wollen, erst recht den Mangel einer sicheren Individualität verraten: groß, steifstellig: klägliche Imitationen einer Männerhand.

Nun die der Baronin! Bei dem ersten Blick sagt man sich: das hat eine Frau geschrieben: aber eine, durch deren Kopf klare, sichere Gedanken gehen, und deren Herz rein ist, wie das Herz der Wasser, und reich, wie Plutos Schacht.

Und so ist auch der Stil: vornehm, ohne Ziererei; einfach, ohne Platitüde. Und so der Inhalt: sachlich, ohne Philistrosität; wenn höhere Gedankenkreise berührt werden, wie eine gute Reiterin, die, aus einer einfachen Gangart heraus, wie spielend, eine hohe Hecke, einen breiten Graben nimmt.

Viel Gelegenheit zu dergleichen Leistungen hatte ihr unsre Korrespondenz bisher nicht geboten. Den Anfang machten ein paar formelle Zeilen von ihr, in welchen sie mir für meine zweckmäßigen Anordnungen bei Ueberführung der Leiche nach Kardowitz (dem Stammgut der Familie auf Rügen, wo sie in der Ahnengruft ihre Ruhstatt gefunden hat) und andre durch die Situation erforderte geschäftliche Leistungen ihren Dank aussprach.

Dann: sie glaube nicht in der Annahme zu irren, daß ich ihrem verstorbenen Gemahl in letzter Zeit bei dem Arrangement seiner pekuniären Angelegenheiten zur Seite gestanden habe. Ich würde sie verbinden, wenn ich ihr darüber mitteilte, was ich für gut befände.

Ich habe ihr darauf den Stand der Dinge, soweit ich ihn übersehen konnte, ausführlich dargelegt; auch meine Besorgnis nicht verschwiegen, der Verstorbene möge mich über so manches und vielleicht sehr Wichtiges geflissentlich im Dunkeln gelassen haben.

Daraus mußte denn wohl eine fortlaufende Korrespondenz und nebenbei viel Arbeit für mich erwachsen. Ich hatte mich mit dem Kuratorium des Majorats und den persönlichen Vormündern von Hans in Verbindung zu setzen. Glücklicherweise traf ich fast ausnahmslos auf Einsicht und guten Willen, so daß ich mit den bereits gewonnenen Resultaten wohl zufrieden sein kann und zuversichtlich hoffe, noch vollends durch die Dornenhecke zu kommen. Sehr wünschenswert im Interesse von Hans, der sonst in der üblen Lage wäre, später auf Schritt und Tritt einem unbezahlten Gläubiger seines Vaters begegnen zu müssen; und auch gar sehr in dem der edlen Frau, der neben ihrem (nicht eben bedeutenden) Pflichtteil im Ehekontrakt eine ansehnliche Barsumme ausbedungen war, welche ihr Gatte auf das äußerste gefährdet hatte und ich ihr erhalten oder zurückgewinnen werde, sollte ich deshalb Himmel und Hölle in Bewegung setzen müssen.

In diesem trocken-geschäftlichen Geleise ging es weiter, bis ich in meinem vorletzten Briefe auf Hans zu sprechen kam. Der Junge hat es mir nun einmal angethan mit dem seelenvollen Blick der großen braunen Augen und dem sonnigen Lächeln, das jezuweilen sein ernstes Gesicht verklärt. Da ist mir im Schreiben das Herz aufgegangen, und ihr, als sie es las, muß es ebenso gewesen sein. Mit einem Schlage war der Ton ihrer Briefe verändert: zutraulicher, wärmer, herzlicher. Sie rechnet bei seiner Erziehung auf meinen Rat, meine Hilfe. Zu den beiden »traditionellen« Vormündern des Knaben (sie waren bereits Vormünder seines Vaters), dem Geheimen Ober-Justizrat Brink und dem Generallieutenant a. D. von Glewitz habe sie kein rechtes Vertrauen: sehr ehrenwerte, sehr gutherzige, nur zu gutherzige Leute, geneigt, die Zügel auf dem Boden schleifen zu lassen, und bei ihren hohen Jahren schwerlich im stande, die Anforderungen zu ermessen, welche man an die Bildung eines Jünglings von heute stellen müsse. Ich dagegen befände mich in der glücklichen Lage eines im Leben gereiften Mannes, der noch jung genug sei, um mit der Jugend sympathisieren und ihre vielleicht überschwenglichen Aspirationen, wenn nicht teilen, so doch verstehen zu können. Und dann: obgleich nicht ohne Standesbewußtsein, vielleicht sogar nicht ohne Standesvorurteile, empfinde sie ein »Horreur« vor dem Junkertum, das nichts gelernt und nichts vergessen habe. Das Junkertum, wie es in Deutschland im Schwange sei und in Preußen mit solcher Sorgfalt gezüchtet werde, sei der Ruin des Adels, den sie für eine kulturhistorische Notwendigkeit zu halten sich erlaube. Solle aber der Adel seine Aufgabe, an der Tete der Nation zu marschieren, erfüllen können, sei es mit den traditionellen guten Manieren, der Uebung in den sogenannten ritterlichen Künsten, dem » savoir vivre« nicht gethan. Das habe schon für die Zeit Wilhelm Meisters kaum noch gereicht, und sei jetzt, wenn nichts andres hinzukomme, eine Bankerotterklärung. Unter dem »andern« aber verstehe sie das Erfülltsein mit dem Wissen der Zeit: dem politischen, nationalökonomischen, industriellen und nicht zum wenigsten: dem philosphisch-ästhetischen. Ich sei ein Gelehrter. In dem Umgang mit mir werde der Knabe Achtung vor der Wissenschaft lernen und daß gute Bücher die besten Freunde seien. –

Ueber diesen naiven Glauben an meine Gelehrsamkeit mußte ich lächeln. Ist es doch bezeichnend und beschämend zugleich, daß wir Männer strebsamen Frauen mit unserm bißchen Wissen immer noch imponieren! In meiner Antwort wußte ich dafür eine Wendung zu finden, die sie nicht beleidigen konnte. Im übrigen sei ich der Meinung, daß es die Pflicht nicht bloß des adligen Jünglings, sondern eines jeden in der entsprechenden günstigen Lage, von dem Wissen seiner Zeit so viel als möglich zu erraffen; und was in meinem Vermögen stehe, gewiß geschehen solle, das Streben ihres Sohnes auf die von ihr gewünschte Bahn zu lenken.

Dann konnte ich nicht unterlassen, meiner Freude über die für mich so schmeichelhafte Veränderung ihrer Gesinnung mir gegenüber einen diskreten Ausdruck zu geben.

Darauf nun ihr letzter Brief.

Sie schreibt –

Aber dies Tagebuch soll ja für mich, wenn ich einmal alt geworden sein werde, wie eine Karte sein, auf der ich meinen Lebensweg mühelos zurückmessen kann. Da ist es doch nötig, die Marken hervorzuheben, welche eine zurückgelegte Etappe und den Anfang einer neuen bezeichnen. Ich habe die Empfindung: dieser Brief ist so eine Marke. Er hat mir den Einblick gegeben in eine Region des Frauengemütes, die ich bisher nicht kannte, und die neugewonnene Kenntnis kann nicht ohne nachhaltige Wirkung auf mein zukünftiges Fühlen und Denken bleiben. So hat er denn vollen Anspruch auf einen Platz in diesem Buch.

Sie schreibt:

   

»Verstatten Sie mir auf den übrigen Inhalt Ihres Briefes ein andres Mal zurückzukommen. Heute beschäftigt mich nur ein Punkt, den Sie in der zarten Weise, durch die Sie mich verwöhnen, berührt haben und über den mich mit Ihnen zu verständigen, ich schon längst ein dringendes Verlangen empfinde.

Ja, ich habe mein Urteil über Sie verändert – völlig. Gleich bei unsrer ersten Begegnung hatten Sie – weshalb soll ich es leugnen – einen vorteilhaften Eindruck auf mich gemacht. Sie standen, gingen, sprachen wie ein Mensch und nicht wie eine jener Tausende von Puppen aus der großen Durchschnittsmännerfabrik, die einen zum Leben hinausängstigen könnten. Ich habe dafür eine starke Empfindung und hatte zu lange und zu schmerzlich entbehren müssen, um von Ihrer Erscheinung und Ihrem Wesen nicht wohlig berührt zu werden, wie von dem Anhauch einer frischen Brise nach einem schwülen Sommertage.

Dann kann die Reaktion, um so stärker, je lebhafter mein Gefühl für Sie gesprochen hatte.

Wieder einmal eine Enttäuschung! Ich sagte mir: Dies kann der Mann nicht sein, für den du ihn gehalten, wenn er von einem andern mit so billigen Künsten zu fangen ist; so blind ist, nicht zu sehen, daß man mit ihm spielt, wie die Katze mit der Maus! keine Empfindung hat für die moralische Häßlichkeit, die doch überall durch die glatte Maske hindurchblickt! Dieser Mann ist ein Thor und möglicherweise schlimmer als das: einer, der sich gern durch den Schein blenden läßt, um sich selbst als etwas zu erscheinen, und behend in die Livree eines Mächtigen schlüpft, nur um in seinem Gefolge mitgehen zu dürfen.

So sah ich denn mit steigendem Widerwillen die Vertraulichkeit zwischen Ihnen und ihm wachsen; und ich lachte hohnvoll auf, als ich hören mußte, daß Sie es glücklich bis zu dem brüderlichen Du mit ihm gebracht hatten.

Gleiche Brüder, gleiche Kappen! dachte ich.

Und vergaß völlig, daß auch ich einmal unter demselben Zauber gestanden, und was alles hatte geschehen müssen – wieviel Grauenhaftes, Herzzermalmendes – bevor ich mich von ihm zu lösen vermochte! Auch nicht auf einmal! Nur allmählig, widerwillig unter furchtbaren Kämpfen, deren jeder mir ein Stück von meinem Herzen kostete. Und von Ihnen heischte ich in der ersten Stunde die traurige Weisheit, die mich das Elend all dieser Jahre gelehrt hatte!

Das nun und mein hochmütiges Betragen bitte ich Ihnen jetzt von ganzem Herzen ab. Ihnen und Ihrer anmutigen Frau.

Deren Freundin ich noch zu werden hoffe, wie ich sicher bin, daß ich Sie bereits schon jetzt meinen Freund nennen darf. –

Und so schreibt die Frau an mich, die in ihrem zweiten Briefe sich entschuldigen zu müssen glaubte, weil sie auf die Adresse des ersten anstatt »Hochwohlgeboren« nur »Wohlgeboren« gesetzt habe. Sie habe in dem Augenblicke nicht daran gedacht, daß ich Offizier sei!

So wahr ist es, daß nicht alle frei sind, die ihrer Ketten spotten! Sind es doch nicht einmal die, welche sie abgestreift haben!

Das klingt paradox und ist buchstäblich wahr.

Siehe das Beispiel der Frau Baronin!

* * *

Sonderbar, wie sich in Elfriedens Phantasie die Erinnerung der verhängnisvollen Scene im Walde verändert hat! Ich habe sie ja nie um die Einzelheiten befragt – Gott soll mich behüten! – aber nach dem großen Schrecken, den sie davongetragen und nach ihrer verworrenen ersten Relation mußte ich doch annehmen, daß die Wüstlingsnatur des Mannes sich in trauriger Weise offenbart habe. Wenn man sie jetzt hört, kann davon keine Rede sein. Es ist nichts gewesen als eine Wiederholung der Klage über das Unglück seines Lebens, das ihm die Frau versagt, der es so leicht gewesen wäre, ihn, den Lenksamen, zu allem Guten zu führen, während er nun mit sehenden Augen in sein Verderben renne.

Das sei so kläglich gewesen! habe sie so innig gerührt! so tief erschüttert!

Wohl! es mag damit angefangen haben; aber geendet hat es jedenfalls anders.

Hat sie das Ende einfach vergessen?

Das scheint doch unmöglich.

So will sie es also vergessen haben; will nicht mehr daran denken.

Dann aber: warum?

* * *

Ich habe in diesem Buch zurückgeblättert, meine Aufzeichnungen der Ereignisse jenes Schreckenmorgens wieder durchzulesen, daraufhin, ob auch mir das Gedächtnis so unheimlich sonderbare Streiche spiele. Ganz so schlimm stand es damit nicht; aber doch nicht ganz gut. Einzelnes hatte sich verwischt, andres verschoben. So würde ich wahrscheinlich jetzt unter dem Drucke des Eides zugestehen, ich habe ihm bei unserm Wortwechsel zugerufen: er sei betrunken. Gedacht mag ich es haben, aber gesagt habe ich es nicht, denn – es steht nicht im Protokoll. Weiter: daß ich an die um die Leiche versammelten Leute mit den Worten: Um Gottes willen, was ist dies! herangetreten sei. Es ist nicht wahr. Im Protokoll ist klar zu lesen: in jenem Augenblicke dachte ich noch nicht daran, die That nicht auf mich zu nehmen. Gedanke und Entschluß sind mir erst gekommen, als mein Gehirn nach dem tiefen Schlaf, in den ich gefallen, wieder völlig frei war und ich begriff, daß ich mit dem, was ich gethan, keinem Richter verantwortlich sei, als dem in meiner Brust.

Wie gut, wie gut, daß ich mich sofort nach geschehener That zu Protokoll genommen habe!

Frauen haben dazu nicht die Geistesgegenwart und nicht den Mut. So dürfen sie sich nicht wundern, wenn man ihre späteren, von den ersten wunderlich abweichenden Aussagen mit ungläubigem Kopfschütteln aufnimmt.

Auch bin ich überzeugt: sie sagt nicht geflissentlich die Unwahrheit. Es ist nur ihr Zustand, der diese Verwirrung in ihrem Kopfe anrichtet.

* * *

Binnen vierundzwanzig Stunden blühendes Leben und starrer Tod! Mein liebes, geliebtes Kind! Mein guter, herziger Junge! Binnen vierundzwanzig Stunden! Ich fasse es nicht. Es ist auch nicht zu fassen. Da formt die Natur ihr Geschöpf so meisterlich, stattet es aus mit den reichsten Gaben, behütet es eine Zeitlang sorgsam vor aller Not und Gefahr; dann verwandelt sich die liebende Mutter in eine rasende und schleudert ihr Kind in den Todesrachen. O, diese kalte, eherne Gleichgültigkeit, der wir zu viel Ehre anthun, wenn wir sie grausam nennen! Da wäre doch noch Empfindung. Sie hat keine; hat kein Herz in der Brust. Daß aus ihr der Mensch hervorgehen konnte, der sich freuen kann mit den Fröhlichen und weinen mit den Weinenden, daß ist das Wunder der Wunder, vor dem alle strahlenden Sonnen und kreisenden Planeten mit ihrem mechanischen Stoß und Gegenstoß und ihrer seelenlosen Unendlichkeit zu nichts verbleichen.

Du armes Kind, was hat man dir gethan? Ja, und was hast denn du gethan, daß man dir das that, du holdes, harmloses Geschöpf! du unschuldsvoller Engel!

* * *

Ich habe doch mehr Liebe hier, als ich geglaubt habe. Von meinem guten, alten Oberforstmeister, der Gott sei Dank wieder aus dem Bett ist, von meinem treuen Amsberg und seiner braven Frau rede ich nicht. Auch nicht von der Baronin, deren köstlicher Brief mir die ersten Thränen entlockt hat, die mir der Jammer nicht auspressen konnte. Ich wußte, daß sie meine Freunde sind.

Aber nun die andern: Herr und Frau Moen; selbst das melancholische Ehepaar auf Ungnad; die Herrschaften in Griebenitz, mit denen wir in keinerlei weitere Beziehung getreten sind, außer daß ich mit dem alten Grafen unlängst eine geschäftliche Konferenz hatte – sie und wie viele noch sonst haben uns ihre Teilnahme geschenkt. Leute, die ich gar nicht kenne, grüßen mich ernst und ehrerbietig, wenn sie mir auf der Chaussee oder sonst begegnen.

» Les gueux, le gueux, ils s'aiment entre eux!« Teil des Refrains aus dem Lied » Les gueux« (1815) von Pierre-Jean de Béranger. Sind wir doch alle dem blöden, blinden Schicksal gegenüber gueux: arm, elend, schutzlos, rechtlos!

Ja, blöd und blind ist das Schicksal. Und deshalb war es auch ein kindisch thörichter Gedanke, der mich in vergangener Nacht jäh überfiel und mein Herz für einen Moment stocken machte. Es sei sein Schluß, daß mein unschuldiges Kind für meine Schuld starb; dafür starb, daß ich nicht, wie einer, der vor jeder eigenen That, jeder Selbstverantwortung feig zurückbebt, hingelaufen bin und dem Gerichte gesagt habe: hier ist der Mann, der den Baron Kardow erschossen hat in ehrlicher, gerechter Verteidigung des eigenen Lebens! Beweisen kann ich es nicht, oder ich müßte zu dem Zweck sehr peinliche Dinge ans Licht zerren, die außer den Beteiligten niemand etwas angehen. Aber ihr werdet gewiß die eurem Stande stets nachgerühmte Liebenswürdigkeit haben, mir alles aufs Wort zu glauben. –

Daß ich ein Narr und ein Feigling gewesen wäre!

Nein! Nicht zur Sühne für mich und mein Thun ist mein Kind gestorben, sondern weil die Würgerin Diphtherie durch unsre Landschaft strich, ihren giftigen Atem unterschiedslos in die Wohnungen der Menschen hauchend, wegraffend, was keine Widerstandskraft hatte.

Mein armer, zarter Junge hatte keine Widerstandskraft.

Das ist alles.

* * *

Ein Gutes, wenn man es so nennen will, hat Elfriedens sonderbarer Zustand: er hat sie das schwere Leid, das uns betroffen, leichter tragen lassen; ja, ich frage mich manchmal, ob sie es überhaupt empfunden hat. Es war so plötzlich gekommen, ging alles mit so fürchterlicher Schnelle vor sich – unser Kind war tot, bevor sie wußte, daß es krank war. Schaudernd denke ich an den Gang zu ihr die Treppe hinauf, wie ich mehr als einmal stehen bleiben mußte, mit kalten bebenden Fingern das Geländer umklammernd, leise vor mich hinstöhnend: wie um Gottes willen sollst du es ihr nur beibringen!

Und konnte die Kraft nicht finden und bin wieder hinabgeschlichen: laß sie wenigstens diese Nacht noch schlafen! sie erfährt das Entsetzliche morgen nur noch zu früh!

O, diese Nacht! diese Nacht!

Dann kam der Morgen, zögernd, grau, verhüllt, als habe er ein böses Gewissen.

Nun mußte es sein. Ich ging wieder hinauf. Sie schlief noch. Ich weckte sie:

Elfriede, unser Bernhard ist in der Nacht krank geworden, recht krank –

Du hast doch nach Doktor Barth geschickt?

Er war schon hier; wird im Laufe des Vormittags noch einmal kommen.

Ich möchte ihn auch sprechen. Er hat sich schon seit einer Woche nicht bei mir sehen lassen. Er denkt wohl wunder, wie gut ich mich befinde! Ich befinde mich gar nicht gut.

Dann hatte sie sich auf die andre Seite gedreht und war fast in denselben Momente wieder eingeschlafen.

Jetzt nun, nachdem sie es weiß, spricht sie fortwährend von ihrem Engel im Himmel; und wie tröstlich doch der Gedanke sei, daß man drüben alle seine Lieben finden werde, dann vereinigt mit ihnen in alle Ewigkeit.

Ich könnte das verstehen, wäre sie von Haus aus ein gläubiges Gemüt. Aber solange ich sie kenne, hat sie sich um die himmlischen Dinge nicht viel gekümmert.

Vielleicht Kindheitsreminiscenzen? Sie sagte mir einmal: ihre Mutter sei sehr fromm gewesen.

Oder sind es krankhafte Phantasiegebilde von einem viel neueren Datum?

Doktor Barth scheint geneigt, das anzunehmen. Freilich, fügt er hinzu: hier fängt für uns Aerzte das ignoramus an.

Ignoramus! jawohl!

Und hinter dem kommt gleich die Hypothese, die schwindelköpfige Hypothese –

Und hinter der der Zweifel, der gräßliche Zweifel –

* * *

Ich habe die Baronin gebeten, nachdem sie schon so lange fortgewesen, nun auch erst nach dem Fest zu kommen. Es ist ein großes Opfer, das ich bringe. Manchmal ergreift es mich ordentlich wie Sehnsucht nach der Gegenwart der Frau, der ich in der Entfernung so nahe getreten bin. Ob die Gegenwart halten wird, was die Entfernung versprach?

Wie dem auch sein mag: es ist meine Pflicht, sie vor einer Uebersiedelung bei dem gräßlichen Wetter zu warnen.

Also: nach dem Fest!

* * *

Das war ein Fest, an dessen schmerzliches Weh ich ewig denken werde!

Ein Elternpaar, das an dem brennenden Christbaum steht und sich stumm die Hände reicht und sich weinend in die Arme sinkt, weinend um den Liebling, dessen fröhliches Lachen sie nun nimmer, nimmer wieder hören; in dessen glänzende Augen sie nie wieder blicken werden, nie! – das ist wohl ein Bild, tiefster Trauer voll. Aber auch in der tiefsten kann noch ein Quell wehmütiger Lust fließen. –

Meine Lippe hat kein Tropfen von diesem Quell genetzt –

Oben lag meine Frau und sprach erbaulich von der Schönheit und Heiligkeit des »Osterfestes«, das nun gekommen sei; und von der Auferstehung des Heilandes, die uns die Auferstehung und das Wiedersehen nach dem Tode verbürge –

Unten an dem Christbaum bescheerte ich meinen Leuten, den beiden Mägden, dem Kutscher, dem Forstläufer, dem Jägerburschen, Sie schüttelten mir dankend die Hand mit beileidigen Mienen, während ihre Blicke lüstern nach den aufgebauten Gaben schielten –

Ich dankte dem Himmel, als es vorbei war. Und bin, die Pelz- und die Rocktaschen voll von kleinen Geschenken, die ich tags vorher in Grimm gekauft, durch das Dunkel und das Schneegeriesel des Winterabends aus der Chaussee zur Försterei gestapft – ich mußte, mußte Kinder sehen. Da waren ihrer genug: sechs von dreizehn Jahren bis zu dreizehn Wochen. Und war ein Jauchzen und Jubilieren –

Da habe ich mich in eine Ecke gedrückt und habe geweint – geweint –

Und als ich wieder aufblickte, habe ich mir schnell die Thränen abgewischt, weil ich die guten Amsbergs bitterlich weinen sah und die Kinder um uns herumstehen, verwundert, was doch nur den alten Leuten plötzlich in den Sinn gekommen sein möchte –

Ein Trost, ein einziger, in all dem Leid: sie wird ja nun bald kommen.

Wie erstes Frühlingsahnen zieht es durch meine Seele: »Nun muß sich alles, alles wenden.« Aus »Frühlingsglaube« (1813) von Ludwig Uhland, vertont von Felix Mendelssohn-Bartholdy und Franz Schubert.


Der nächtige Leser hatte wieder ein Blatt umgeschlagen. Auf der nächsten Seite oben an dem breiten Rande war mit zarten, sichern Strichen ein Frauenantlitz in etwas überschnittenem Profil gezeichnet; das schöne Rund des Kopfes und der reiche Haarschmuck weniger ausgeführt; der schlanke Hals und der Ansatz der Büste nur angedeutet.

Unter dem Bilde, ebenfalls mit Bleifeder, der Name »Helene« und ein Datum – das Datum des Tages, an welchem er sie nach den langen Monaten zum erstenmal wiedergesehen hatte.

Es ist nicht schlecht, murmelte er; aber auch ein Raphael hätte den Zauber nicht schildern können.

Die Augen wurden ihm feucht: er beugte sich auf das Blatt; küßte das Portrait innig und erhob sich; trat an das Fenster, dessen Vorhänge er auseinander zog, öffnete es und starrte in die Dämmerung der Sommernacht. –

Er hatte gemeint, als er vorhin an den Bericht der Katastrophe im Walde gelangte, das werde der schlimmste Teil der Lektüre sein , und er hatte auch wohl, während er las, ein paarmal leise gestöhnt, wie einer, dem unvorsichtig an eine alte, vernarbte Wunde gerührt wird.

Aber der Anblick des Bildes da oben am Blattesrand – er hatte es völlig vergessen gehabt und seine erste Empfindung war freudiges Erschrecken und tiefe Rührung gewesen.

Und dann – ja, dann hatte die Wunde angefangen zu schmerzen; die Wunde, die jetzt – nach dem Datum des Bildes – volle achtzehn Jahre alt und dennoch nicht vernarbt war. Und bei der leisesten Berührung wieder zu bluten begann, ja, niemals aufgehört hatte zu bluten, und niemals aufhören würde.

Auch nicht, wenn die Kinder sich heirateten und glücklich würden, wie Menschen werden können. Es würde ein helles Bild sein, und er seine Freude daran haben. Gewiß! Aber auch nur deshalb so hell, weil die Folie, die es hatte, so dunkel war.

Die Folie: sein Schicksal.

Und Helenens.

Ach, auch ihres. Er hatte daran manchmal gezweifelt und gesagt: Gott sei Dank, daß es ihr erspart geblieben und all das Weh und Herzeleid. –

Aber auf den untrüglichen Blättern da würde es geschrieben stehen, wie das andre auch: die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts wie die Wahrheit.

Die grausame, herzzermalmende Wahrheit.

Weshalb also weiter lesen und den Schmerz erneuern!

Den Schmerz, wohl! Aber auch die Seligkeit, die ihm der Schmerz gebracht. Oder doch ihren Nachklang!

Einen verklingenden Ton nur von der Himmelsseligkeit!

Er flüsterte ihren geliebten Namen in die Stille der Nacht; ließ seufzend die sehnsuchtsvoll ausgestreckten Arme sinken; schloß Fenster und Vorhänge und schritt zu seinem Sitz an dem Schreibtisch zurück.


Ich habe sie wiedergesehen. –

Sie hatte mir geschrieben, daß sie heute nachmittag gegen vier Uhr eintreffen werde und mich um sechs erwarte. Hoffentlich könne ich zum Thee bleiben. Wir hätten einander gar viel zu sagen.

Das Wetter war ausnahmsweise erträglich, wenn auch bitter kalt. Ich nahm meinen kleinen Jagdwagen und fuhr zur bestimmten Stunde hinüber – in Uniform. Ich trage sie fast immer; und dies war ja keine Gesellschaftsvisite, sondern ein Besuch, bei dem sehr ernste Dinge verhandelt werden würden.

In der Thür zur Halle empfing mich nur der alte Kammerdiener, ein guter, zuverlässiger Mann noch aus der Zeit des Großvaters von Hans.

Ich wußte bereits aus ihren Briefen, daß sie außer ihm, einem zweiten Diener, dem Kutscher und dem Gärtner das ganze übrige männliche Dienstpersonal entlassen habe.

Der Alte führte mich die auch in der spärlichen Beleuchtung prachtvolle Treppe hinauf zu den Zimmern, welche die Baronin schon seit Jahren allein bewohnt hat. Sie liegen auf der Hinterseite des Schlosses. Man sieht aus den Fenstern in den Park, zwischen den Parkbäumen hie und da Stücke von meinem Wald.

In dem weiten schönen Gemache trat sie mir entgegen, schwarz gekleidet, Hans an ihrer Seite. Ich küßte ihr die Hand, hob Hans in die Höhe und drückte ihn an mein Herz.

Die Gegenwart des Knaben war ein Glück für mich. Ich war so bewegt, daß ich meine ganze Kraft aufbieten mußte, um ruhig zu erscheinen, ruhig zu sprechen.

Hans war in den viereinhalb Monaten gewachsen, kaum noch ein kleiner Knabe. Er sah frisch und blühend aus und in dem kleidsamen schwarzen Samtanzug sehr vornehm, ganz wie einer von den jungen venetianischen Nobili, deren jeder Doge werden kann.

Natürlich war er unser erstes Gesprächsthema; dann kam der alte Kammerdiener, ihn zu dem Hauslehrer zu führen. Wir begaben uns zu dem Theetisch, der bereit stand. Bevor wir uns setzten, gab sie mir noch einmal die Hand.

Verzeihen Sie, daß ich Ihnen den Anblick von Hans nicht erspart habe. Aber ich dachte und denke, er soll Ihnen jetzt und in Zukunft ein wenig Ihren schrecklichen Verlust ersetzen helfen.

Wir sprachen von meinem toten Kinde.

Ich habe es ja nur so selten gesehen, sagte sie, und immer in trübster Seelenstimmung, durch die uns alles schattenhaft erscheint. Doch habe ich von ihm ein lebhaftes Bild: ein feines Kind, vielleicht zu fein und zart, als daß es später den Lebensstürmen hätte Widerstand leisten können. Aber dergleichen Betrachtungen sind doch nur Krücken, an denen man sich so durch das Leben weiter zu helfen sucht. Man braucht sie nicht mehr und kann sie fortwerfen, wenn man das Leben einfach nimmt für das, was es ist.

Was dann wäre es, gnädige Frau?

Eine Thatsache. Wir finden uns im Leben und wissen nicht, warum; nur das eine: daß wir da sind. Und freilich auch das andre: daß wir sterben müssen. Tatsachen muß man eben nehmen, wie sie sind. Daran herumzudeuteln, darüber zu grübeln, führt zu gar nichts.

Die armen Philosophen! Da wäre denn freilich ihrer Liebe Müh' umsonst.

Und ist sie es etwa nicht? Haben sie mit all ihrer Mühe uns auch nur einen Schritt weiter gebracht? Das Dunkel, das uns umgibt, auch nur um ein weniges aufgehellt? Sie werden sagen: Was verstehen Sie, als Frau, davon! Oder werden es nicht sagen – dafür sind Sie zu höflich – aber denken.

Nein, gnädige Frau. Ich meine, eine Philosophie, die für eine kluge, gebildete Frau unverständlich ist, braucht auch von den Männern nicht ernsthafter genommen zu werden, als andre Märchen aus Wolkenkuckucksheim.

Nicht alle Männer urteilen so günstig über uns Frauen.

Aus zwei Gründen, glaube ich, von denen der zweite freilich eine Folge des ersten ist.

Möchten Sie sich deutlicher erklären?

Ich meine: das gang und gäbe Urteil der Männer über die Frauen ist einfach ein Vorurteil, ein unüberwundener Rest von Barbarei, für welche die Inferiorität der Frau ein Dogma war. Durch das zähe Kleben an diesem Dogma, durch das hartnäckige, hochmütige bornierte Widerstreben der Männer, die Frau an den Vorteilen der Bildung vollen Anteil nehmen zu lassen, wird dann allerdings die Frau in dieser Inferiorität vorläufig festgehalten.

Also vorläufig doch.

Sie selbst, gnädige Frau, werden das kaum in Abrede stellen wollen. Mit allem schuldigen Respekt vor der Ausnahme selbstverständlich. –

Eine kleine Pause entstand. Die Baronin war beschäftigt, mir eine zweite Tasse Thee zu bereiten. Während ich stumm dem Spiel der schlanken weißen Hände zusah, sagte sie: Ihrer Frau ist natürlich eine leider so seltene Denkweise in erster Linie zu gute gekommen?

Die plötzliche Frage setzte mich in bittere Verlegenheit. Hätte ich sie der Wahrheit gemäß beantwortet und eingestanden, daß Elfriede von Anfang an jedem Versuche meinerseits, ihre Gedanken auf ein höheres Thema zu lenken, scheu ausgewichen sei, so wäre es wie eine Klage, ja, wie eine Anklage gewesen. Und das jetzt, wo ich um das arme Kind so schwere Sorge trage!

Da mußte ich denn wohl ausweichen und von ihrem jetzigen Zustand sprechen, mitteilend, was ich eben mitteilen zu dürfen glaubte. Daß ich die Scene im Walde – für mich die trübe Quelle, aus der all dies Leid geflossen ist – mit keiner Silbe erwähnte, versteht sich von selbst.

Sie hörte mir zu, ein wenig von mir abgewandt, ernst vor sich hinblickend. Ich hatte die Empfindung, es war ihr peinlich, einen Gegenstand berührt zu haben, der mir offenbar Schmerz bereitete. Auch benutzte sie die erste Gelegenheit, die ihr meine Relation bot, um auf die heutige Mädchenerziehung zu sprechen zu kommen, speziell den Gang, den ihre eigene Bildung genommen.

Eigentlich, sagte sie, paßt das stolze Wort »Bildung« für meinen Fall nicht recht. Ich habe natürlich meine französische Gouvernante gehabt, die vorschriftsmäßige Zeit in einem Institut für adelige Fräulein zugebracht; aber im Grunde bin ich Autodidaktin mit allen Schwächen, die einem derartigen faute de mieux anzuhaften pflegen, und von denen ich, muß ich fürchten, in meinen Briefen und heute abend mehr Proben abgelegt habe, als meiner Eitelkeit lieb sein kann. Meinen guten Eltern erwächst daraus kein Vorwurf. Sie wissen, wir sind viele Geschwister. Meine beiden älteren Schwestern sind Hofdamen, die eine in Berlin, die andre in Coburg; die beiden Brüder Offiziere; die zwei jüngeren Schwestern noch zu Hause. Einem für unsre Verhältnisse sehr armen Hause. Was konnte dabei Großes für den einzelnen geschehen! Darf ich für mich ein Verdienst beanspruchen, so ist es vielleicht, diese Lage früh erkannt und mich redlich bemüht zu haben, die Lakunen Lücken. meiner Bildung auszufüllen, so gut es eben ging. Was mich dabei unterstützte, war eine rasche Fassungsgabe, ein gutes Gedächtnis und – der Stolz. Oder muß man es Eitelkeit nennen, wenn jemand den heftigen Drang in sich spürt, etwas, will sagen: möglichst viel zu sein, zu bedeuten; aus keinen Fall in der Menge zu verschwinden? Ich komme hier auf einen Punkt, in dem, wie ich weiß, unsre Ansichten auseinandergehen. Ich nenne mich eine Aristokratin; Sie wollen durchaus Demokrat sein. Über das letztere habe ich so meine besonderen Ansichten. Für jetzt möchte ich nur meine Aristokratin retten. Lassen wir die Frage des Blutes beiseite, obgleich wohl unschwer nachzuweisen wäre, daß sich auch das vererbt. Was sich aber sicher vererbt, das ist die Tradition, die Geschichte der Familie, die Erinnerung an diesen oder jenen Vorfahren, der in Krieg und Frieden Ausgezeichnetes leistete; diese oder jene Ahne, die durch Schönheit und Tugend glänzte. Wäre es nur um diese Tradition, so müßte man einen Adel zu schaffen suchen, wenn er nicht glücklicherweise bereits bestünde. Sie umgiebt uns adlig Geborene wie eine Atmosphäre, die in ihrem kräftigenden, enervierenden Einfluß auf die geistige und moralische Konstitution mit keiner andern verglichen werden kann; ich meine: mit der keine andre den Vergleich aushält. Die bürgerliche Familie, als solche, hat keine Tradition; bei den Großeltern hört meistens die Erinnerung auf. Seinen Wert muß sich der Bürgerliche selber schaffen und gleicht darin dem Schiffer, der ohne Karte auf ein unbekanntes Meer hinaussteuert. Mag sein, daß er das gesuchte Land erreicht; die Wahrscheinlichkeit ist: er gelangt irgend wohin, wohin er gar nicht gewollt hat. So haftet seinem Thun und Lassen eine ständige Unsicherheit an, und sie prägt sich – die Anwesenden sind immer ausgenommen – auch in seiner Haltung, seiner Miene, seiner Rede aus – alles bald über Gebühr keck und trotzig, bald ebenso submiß Unterwürfig. und verzagt. Wir vom Adel – es müßten denn verkommene Individuen sein, die nicht mitzählen – stehen fester in unsern Schuhen. Vor wem auch brauchten wir die Augen niederzuschlagen, wenn wir in Kaisern und Königen schlechterdings nichts sehen als unsersgleichen? Meine Vorfahren väterlicherseits sind freie Fürsten auf Rügen und in Pommern gewesen, als es noch keine Mark Brandenburg gab; in den Adern meiner Mutter fließt polnisches Königsblut. Den Bürger »ehret der Hände Fleiß!« Aus Friedrich Schillers »Lied von der Glocke« (1799). Daran will ich nicht rühren, wahrhaftig nicht. Und so soll auch der fleißige Kopf immer hoch von mir geehrt sein. Der Fleiß kann vieles schaffen, nur nicht das Gefühl des Glücks, von dem derselbe Dichter sagt, daß es aus den Wolken, aus der Götter Schoß us Schillers »Die Gunst des Augenblicks« (1803). fallen muß. –

Während ich dies nun, soweit ich es in der Erinnerung behalten, in meine Sprache übersetze, fühle ich nur zu deutlich, daß es dabei nichts gewonnen hat. Nie habe ich einen Mann, geschweige denn eine Frau, so gut sprechen hören. Ich bin nicht musikalisch Dies ist ein Zug, den diese Figur mit ihrem Schöpfer gemeinsam hat (siehe Friedrich Spielhagens Autobiographie »Finder und Erfinder«, 1890).; aber ich meine, das Anhören eines schönsten Musikstückes kann dem Kundigen eine größere Wonne nicht bereiten, als ich empfand, während ich ihr zuhörte. Ihre etwas tiefe weiche Stimme behält stets dieselbe Lage und ist doch, je nachdem sie lebhafter oder gelassener spricht, voll der herrlichsten Modulationen. Ich habe nicht bemerkt, daß sie auch nur ein einziges Mal nach einem Ausdruck gesucht hätte. Dafür braucht sie dann, wenn sie für eine Schattierung ihres Gedankens im Deutschen das deckende Wort nicht zu Gebote hat, ohne weiteres ein Fremdwort. Ich halte das für gerechtfertigt. Für die Menschen, die nichts Intimes zu sagen haben, reicht freilich die landläufige Phrase immer aus.

Aus den Wolken muß es fallen; aus der Götter Schoß das Glück –

In meinem Leben habe ich die grandiose Wahrheit nicht so tief empfunden, als wie ich so ihr zuhörte und mich in ihrer Schönheit berauschte.

Ja, Helene, du bist berauschend schön. Ich fühlte mich so in dem Bann deiner dunklen Augen, daß es manchmal wie eine Lähmung über mich kam. Und dann wie eine wahnsinnige Gier, mich in das süße Feuer zu stürzen und in ihm zu vergehen.

In deinen Adern fließt sarmatisches Königsblut Sarmaten, Stammeskonföderation mehrerer Stämme von iranischer Reitervölker, erstmals für das Jahr 513 v. Chr. erwähnt; kamen ursprünglich aus Mittelasien und siedelten zwischen dem 6. und dem 4. Jh v.u.Z. am südlichen Ural, bevor sie die Steppengebiete des südlichen europäischen Teils des heutigen Russlandserreichten.. Gib mir den Schuh von deinen kleinen Füßen –

Geh zu Bett, mein Freund! Du bist auch ohnedies berauscht genug.

* * *

Sie hatte mich gefragt, ob sie Elfriede besuchen dürfe, und ich sofort die Empfindung gehabt, daß meine bejahende Antwort eine Uebereilung gewesen sei. Nun mußte ich aber wohl oder übel die Frage an Elfriede weiter geben. Es kam noch schlimmer, als ich gefürchtet. Die Ankündigung des persönlichen Besuchs seiner höllischen Majestät, von der sie jetzt manchmal in mystischen Ausdrücken spricht, hätte sie nicht mehr erschrecken können. Was diese Frau bei ihr wolle, die sie verabscheue, hasse, wie noch keinen Menschen! – Nun bauscht ja in ihrem Zustande alles bei ihr sich zu ungeheuerlichen Dimensionen auf; und daß sie von Anfang an Partei gegen die Baronin genommen, wußte ich. Diesen Fanatismus der Antipathie hatte ich doch nicht erwartet. Natürlich lenkte ich sofort ein: es stehe ja selbstverständlich ganz in ihrem Belieben, wen sie empfangen wolle u. s. w. Der Baronin gegenüber habe ich hochgradige, unberechenbare Nervosität vorgeführt. Daß Elfriede niemand auf Wunsch des Arztes empfange, durfte ich nicht sagen; denn Frau Moen kommt fast jeden Tag herüber, und die treffliche Akustik hier zu Lande hat es jedenfalls schon zu den Ohren der Baronin gebracht, oder wird es noch bringen. Uebrigens hat sie meine Entschuldigung entgegengenommen, ohne eine Spur von Ueberraschung oder gar Verletztsein. Die Abneigung beruht entschieden auf Gegenseitigkeit. Könnten doch auch nicht leicht zwei verschiedenere Frauennaturen gefunden werden!

Was Frau Moen wieder bei Elfriede in so hohe Gunst gebracht hat, ist mir rätselhaft. Freilich hütet sie sich, wie sie mir selbst gesagt hat, sorgfältig vor jedem ungünstigen Wort über den Verstorbenen, auf den Elfriede ihr gegenüber oft zu sprechen kommt, während sie Gott sei Dank mich völlig damit verschont.

Ich bin der guten Frau Moen zu großem Dank verpflichtet. Sie ist klug und brav, voll drolliger Einfälle und weiß eine Menge kleiner, meist selbsterlebter Geschichten und amüsanter Anekdoten, die sie gefällig und mit vielem Humor vorzutragen versteht – die beste Gesellschafterin, die ich dem armen melancholischen Kinde wünschen kann.

Auch mir spricht sie Mut ein. Dergleichen Zustände seien bei jungen Frauen in Elfriedens Lage nichts Seltenes. Sie selbst sei, ehe die kleine Marie zur Welt kam, so trübsinnig gewesen, daß sie mehr als einmal dicht davor gestanden, ins Wasser zu springen, und nur der Gedanke an das unter ihrem Herzen keimende unschuldige Leben sie zurückgehalten habe. Das gehe dann vorüber, wie es gekommen.

Möge die liebe Frau recht behalten! Mir kommen Stunden und Tage, wo ich das Schlimmste fürchte.

* * *

Mit Hans und seinem Erzieher einen langen Spaziergang über die Felder und durch den Wald gemacht. Es war noch kalt und doch strich durch die Februarluft schon ein Frühlingsahnen. Mein Ponto war von der Partie. Er machte den Weg ein dutzendmal; Hans, der nicht müde wurde, mit ihm zu spielen, wenigstens zweimal, zum Schrecken des Herrn Kandidaten, der einmal über das andre rief: Junker Hans, Sie dürfen nicht so arg laufen! Junker Hans, ich sag' es der gnädigen Frau Mama!

Da der kleine, rundliche Herr trotz seiner Jugend bereits ein wenig asthmatisch ist, mochte man ihm seine übertriebene Aengstlichkeit zu gute halten.

Sonst hat er auf mich den Eindruck eines grundgutmütigen Menschen gemacht, der von Buchgelehrsamkeit strotzt und dem es doch – dank vielleicht seiner bäuerlichen Herkunft – keineswegs an gesundem Menschenverstande fehlt. Um so sonderbarer nimmt sich daneben seine strenge Rechtgläubigkeit aus, die sicher nichts gemachtes ist, wie wenig es auch unsereinem in den Kopf will, daß jemand, der eben noch eine treffliche praktische Einsicht entwickelt hat, im nächsten Augenblick mit den Wundern der Offenbarung wie »mit Essen und Trinken frei« umspringt.

Ueber gewisse Dinge diskutiere ich grundsätzlich nicht mit einem, von dem ich sehe, daß er auf dem entgegengesetzten Standpunkt steht. Es hat keinen Sinn. Man glaubt dieselbe Sprache zu sprechen, während jeder doch unter dem identischen Ausdruck etwas völlig andres denkt. So ist die Verständigung, ja, das Verständnis ausgeschlossen.

Nun, das letztere habe ich wohl für meine Ansichten bei der Baronin gefunden; aber verständigt haben wir uns wohl kaum.

Ich brachte nach dem Spaziergang, als Hans und sein Mentor sich zurückgezogen hatten, geflissentlich das Gespräch auf das heikle Thema; und wie bedenklich es doch sei, in die Erziehung und Bildung einer jungen Menschenseele – nicht als Gegenstände des Nachdenkens, über die sich sprechen lasse, sondern als etwas über allen Zweifel Erhabenes – Elemente aufzunehmen, von denen der erstarkte Geist sich doch wieder loslösen werde, sehr wahrscheinlich nicht ohne harten Kampf und schweren Verbrauch von Geistes- und Gemütskräften, die in den Dienst einer besseren Sache hätten gestellt werden können und sollen.

Sie erwiderte nach einigem Nachdenken:

Es hätte der Vorsicht, mit der Sie sich ausgedrückt haben, nicht bedurft. Ich weiß recht gut, worauf Sie hinauswollen: daß ich Hans einen Rationalisten zum Lehrer gebe und überhaupt seine Erziehung freigeisterisch gestalte. Sie müssen mir schon verstatten, andrer Ansicht zu sein. Nach meinem Dafürhalten muß der Erziehungsplan für das Durchschnittsniveau berechnet sein, nicht für die Ausnahmen, weder nach unten, noch nach oben. Nun aber lehren Geschichte und Erfahrung, daß unter hundert Menschen neunundnennzig – ich könnte ebensowohl und mit noch größerem Recht sagen: neunhundertneunundneunzig von tausend – ohne Autoritätsglauben nicht leben können, weder in weltlichen, noch geistigen Dingen. Jene ungeheure Majorität will geleitet sein, emporblicken, anbeten. Nehmen Sie ihr das Königtum, erweist es dem Präsidenten, dem Diktator königliche Ehren; nehmen Sie ihr den Adel, bückt sie sich vor der Geldaristokratie; dekretieren Sie ihr ein höchstes, allmächtiges Wesen weg und setzen die menschliche Vernunft an seine Stelle, morgen schon muß das Phantom dem lieben Gott wieder weichen. Wer nun aber sagt uns: dein Kind wird nicht zur Majorität gehören? Sollte es aber ausnahmsweise nicht der Fall sein – ich spreche natürlich von den Ausnahmen nach oben, nicht nach unten – nun, so wird es den Weg zu finden wissen, den es gehen kann. Vorschreiben, berechnen läßt sich dieser Weg nicht. Wollte man es, so würde man dem betreffenden den Kampf, von dem Sie vorhin sprachen, nicht nur nicht ersparen, sondern ihn in noch viel härtere, schwerere Kämpfe verwickeln. Denn hier ist, was dem einen recht, dem andern keineswegs darum billig.

Ich bin zufrieden, sagte ich, wenn Sie wenigstens das Ausnahmerecht gelten lassen.

Wie könnte ich das bestreiten, erwiderte sie; aber ob davon Gebrauch zu machen ein Glück sei, möchte ich bezweifeln.

Dann kenne ich jemand, der sicher nicht glücklich ist.

Sie selbst?

Vielleicht. Zweifellos aber Sie, gnädige Frau.

Und doch möchten Sie sich irren. Religiosität gehört zu meinem System. Ja, sie ist seine Basis. Es steht und fällt mit ihr.

Sie gab dem Gespräche eine andre Wendung. Ich verabschiedete mich bald mit einer Verstimmung, die mir nicht merken zu lassen ich leider nicht taktvoll genug war, und die noch anhält, während ich dies schreibe.

Ist es denn aber auch nicht ein Graus! Elfriede – lieber Himmel, ich habe nie beansprucht, daß sie mir in diese Regionen folge – man fordert jemand, der notorisch eine zarte Lunge hat, nicht zu einer Hochalpentour auf – aber sie, sie! Sie mit ihren Adlerschwingen! Die, wenn man sie bittet: fliege mit mir! gelassen antwortet: Ich darf es nicht. Mein System verbietet es mir.

Und dieses System, das die edelsten Kräfte lähmt, freigeborene Menschen in Sklavenketten schlägt – man soll es ruhig gewähren, seine Macht widerstandslos ausbreiten lassen? sich nicht dagegen aufbäumen? jedes gerechte Mittel dagegen in die Schranken rufen?

Eines weiß ich sicher: ich könnte mich in dies Weib verlieben bis zur Raserei – lieben könnte ich es nicht. Nun und nimmer, Liebe ist Gleichgang der Seelen, oder sie ist nichts. Nichts wenigstens, was wir vor dem Tiere voraus hätten. Auch die Pfauhenne sieht in dem Pfau zweifellos das Non plus ultra männlicher Kraft und Herrlichkeit; er in ihr das vollendete Bild weiblicher Grazie und Anmut.

Der Mensch ist kein Pfau, soll es wenigstens nicht sein.

Und ich will es nicht sein.

* * *

Ich bin fest entschlossen, der Baronin gegenüber keinerzeit mit meinen Ansichten zurückzuhalten. Dabei falle ich nicht aus meiner Gewohnheit; und dann scheint es mir der sicherste Schutz gegen die Sklaverei, in die eine schöne Frau den Mann so leicht zwingt. Besonders, wenn sie, wie diese, bei aller Anmut und Konzilianz in der Form, was die Sache betrifft, keine Konzessionen macht. Und soll ich auf ein zögerndes Ja, wo ein entschiedenes Nein an der Stelle wäre, von ihr, die einen so scharfen Verstand und ein so leises Ohr hat, zu hören bekommen: Sehen Sie, das ist eben der von mir behauptete Unterschied zwischen uns von Adel und euch Bürgerlichen: wir haben den Mut unsrer Meinung, ihr habt ihn nicht.

Nein! und käme es darüber zwischen uns zum Bruch: ich will vor ihr keine Komödie spielen; sie soll wissen, wer ich bin!

Heute benutzte ich eine schickliche Gelegenheit, sie, wie sie mir neulich einen Abriß ihres Bildungsganges gegeben, so einen Blick in den meinen thun zu lassen. Ich sprach von meinem Großvater und von meinem Vater, die so eine Art Erbförster der Grafen von Sch. gewesen seien, wie ihre Vorfahren sehr wahrscheinlich Hörige desselben Geschlechts. Und wie sich bei meinem Vater, der als junger Mann die Befreiungskriege mitgemacht und dabei ein paar volle Züge Freiheitsluft eingesogen habe, der Entschluß befestigt, mir, seinem einzigen Sohne, eine Bresche in die Mauer zu brechen, welche ihm selbst und allen seiner Familie vor ihm den Zugang zu den höheren Sphären des Lebens und der Bildung verschlossen. Und welche Entbehrung er sich auferlegt, diesen Entschluß durchzuführen und mich auf der Schule und auf der Akademie zu erhalten. Und zu welch spartanischer Genügsamkeit ich trotzdem verurteilt war, und wie ich noch als Feldjäger manchmal meinen Burschen beneidet, der sich doch wenigstens an Schwarzbrot rechtschaffen satt essen konnte.

So weit ging alles ganz gut und sie hatte mit sichtlicher Teilnahme zugehört.

Nun aber hatte sich die Wendung von den Schicksalen eines Individuums zu denen der großen Masse, welche annähernd aus denselben dürftigen, oder noch dürftigeren Lebensbedingungen hervorgeht, leicht gemacht, und wir waren auf das politische, speziell das sozialpolitische Gebiet geraten. Es reizte mich mächtig, der stolzen Baronin gegenüber für die Sozialdemokratie zu plaidieren.

Was anders ist sie denn, sagte ich, als eine Entwickelungsphase, in welche das Christentum notwendig geraten mußte, sobald die Masse oder doch ein großer Teil der Masse sich von dem alten Kirchenglauben losgesagt hatte; in dem Himmel nur noch eine Brechung der Lichtstrahlen an irdischen Staubatomen sah und wußte, daß das Erdinnere zwar wahrscheinlich feuerflüssig, aber ganz gewiß keine Hölle für die Seelen Verdammter sei? Von dem Moment an mußte das Faustsche: »Aus dieser Erde quillen meine Freuden, und diese Sonne scheinet meinen Leiden«, das Schibboleth Hebräisches Wort; bezeichnet eine sprachliche Besonderheit, durch die sich ein Sprecher einer sozialen Gruppe oder einer Region zuordnen lässt. der Millionen werden, mußten die Millionen versuchen, was sie aus der Spanne Zeit, die dem Erdensohne zugemessen ist, machen ließ. Ich weiß sehr wohl, daß man die Anhänger der sozialdemokratischen Doktrin Utopisten schilt. Aber wäre ein alter Druide, der seinen fellumhüllten Germanen gesagt hätte, es werde eine Zeit kommen, wo ihre Kinder nicht mehr mit den Bären und Wölfen der Wälder um ihr Leben zu kämpfen hätten, nicht ein Wahnsinniger genannt worden, oder, wenn man Wort und Begriff gehabt hätte: Utopist? War Kolumbus keiner in den Augen der stumpfen Menge? Hat der große Alexander von Humboldt, als ihm die ersten telegraphischen Versuche vorgemacht wurden, nicht gemeint: die Erfindung werde es nicht über ein hübsches Zimmerspielzeug hinausbringen? So scheint mir denn der Umstand, daß etwas, was auf der Linie sozusagen der Menschheit liegt, zur Zeit noch nicht da ist, niemals ein Beweis dafür, daß es zu keiner Zeit da sein könne. Und wenn etwas auf der Linie der Menschheit liegt, so ist es doch wohl die Forderung der Sozialdemokratie, daß jeder, der Menschenantlitz trägt, instand gesetzt werde, ein menschenwürdiges Dasein zu führen.

Ich hatte mich von dem Thema fortreißen lassen; ruhig, wie immer, erwiderte die Baronin:

Sie haben Faust citiert. Darf ich darauf mit Gretchen antworten: Wenn man's so hört, möcht's leidlich scheinen; steht aber doch schief darum. Zuerst, was heißt menschenwürdiges Dasein? Das ist doch ein Begriff, der für jeden nach Temperament, Charakter, Geist und Phantasie einen andern Inhalt hat. Soll nun, wie ich vermute, dekretiert werden, was menschenwürdig sei, so wäre das wieder eines jener Dogmen, vor denen Sie einen so großen Abscheu empfinden, und gegen das sich gerade die freien Geister zuerst empören würden. Ich meine, nicht vierundzwanzig Stunden könnte eine solche Nivellierung aufrecht erhalten werden. Aber angenommen, sie läge nach ihrem Ausdruck dennoch auf der Linie der Menschheit und müßte infolgedessen irgendeinmal Wirklichkeit werden, so kann ich nur sagen: ich danke Gott, daß ich nicht mehr von der Partie bin. Aber dafür ist gesorgt. Um dahin zu gelangen, wohin Sie die Menschheit haben wollen, müßte die Menschennatur Evolutionen und Metamorphosen durchmachen, deren Zeitdauer doch wohl nur nach Jahrtausenden zu berechnen wäre. Wenn das nicht utopistische Zukunftsmusik ist, so weiß ich nicht, was man so nennen soll. Sie geben mich nun natürlich verloren und thun mir doch wohl unrecht. Ich habe trotz meiner aristokratischen Schrullen ein starkes Gefühl für die materiellen Leiden der Menschheit, die sich ja leicht in moralische und seelische umsetzen. Wenn wir, wie ich hoffe und wünsche, länger zusammenleben, wird es nicht an Gelegenheit fehlen, Ihnen den Beweis davon zu liefern, –

Das in nun wahr. Auch Frau Moen, in solchen Dingen eine Autorität, gibt zu, daß die Baronin in aller Stille sich eine große Klientel von Armen und Elenden zu verschaffen gewußt hat, für die sie mit Umsicht und Ausdauer sorgt.

Da kann man der schönen Frau nicht gram sein.

Und diese Mischung von mittelalterlich-feudalen Anschauungen mit dem klarsten Verstande und der schärfsten Logik bleibt für den Psychologen immer ein interessantes Studium.

* * *

Was nicht hindert, daß mir manchmal doch beinahe die Geduld gerissen ist und sie sicher ebenso oft auf dem Paukte gestanden hat, mir den Laufpaß zu geben.

* * *

Sie hat trotz der ökonomischen Einschränkungen, die sie sich sonst nach allen Seiten auferlegt, es doch nicht übers Herz bringen können, den Reitstall völlig aufzulösen, und zwei schöne Tiere beibehalten: für Hans und für sich. Es sei diese Uebung notwendig für Hans' Kräftigung. Die Sache ist: sie selbst reitet leidenschaftlich gern und nebenbei so vortrefflich, wie ich, außer etwa in einem Zirkus, noch keine Dame habe reiten sehen.

Ich habe bereits einige Male von der Partie sein dürfen, bei der ich mich auf meinem alten, bequemen Fuchs kaum sonderlich werde ausgenommen haben.

Heute durfte ich sie auf dem schönen Halbblut von Hans begleiten, den ein leichtes Unwohlsein im Zimmer hält. –

Sie haben doch, als Infanterist, gewiß wenig Gelegenheit gehabt zu reiten.

Verzeihung, gnädige Frau: ich bin drei Jahre lang Feldjäger gewesen.

Jaso!

* * *

Es gibt auf der Welt nichts Schöneres als einen schönen Frühlingsmorgen, wenn – er sich in den Augen einer schönen Frau widerspiegelt!

* * *

Jetzt sind fünf Wochen um, und ich habe noch immer nicht meinen blauen Brief Die Bezeichnung, heute nur noch als umgangssprachliche Bezeichnung für eine Benachrichtigung wegen gefährdeter Versetzung eines Schülers gebräuchlich, stammt aus dem 18. Jh., als königliche Anordnungen häufig blickdicht verpackt und gesiegelt werden mussten. Dafür eignete sich Papier, das aus Lumpen hergestellt wurde, oft von Uniformen, die in dieser Zeit preußisch Blau waren, besonders gut.! Merkwürdig! Provoziert habe ich ihn so oft und so stark, daß ich ordentlich schon das Papier knistern hörte und die schöne Hand darüber hingleiten sah, mir das Verbannungsurteil aufzusetzen.

Oder sollte meine Königin herausgefunden haben, daß ihr rebellischer Vasall, alles in allem, doch ein praktisches Subjekt ist, an dem Gnade für Recht ergehen zu lassen, der eigene Vorteil erheischt?

Ich habe in der That der schönen Frau bereits einige recht wichtige Dienste leisten dürfen. Meinen und meines guten Tr. in Berlin Bemühungen hat sie zu danken, daß ihr Privatvermögen jetzt – wenn auch mit einigen geringen Verlusten – gerettet ist.

Auch die sehr dehnbaren Bestimmungen des Familiengesetzes über Ausstattung und Unterhalt der Wittwe eines verstorbenen Majoratsherrn habe ich zu ihrem Vorteil zu wenden gewußt, seitdem ich Sitz und Stimme im Kuratorium habe.

Man sollte es eigentlich Aufsichtsrat nennen, da seine Hauptfunktion die Ueberwachung der Güterwirtschaft und richtigen Veranlagung des (augenblicklich verhältnismäßig recht geringen) Baarvermögens ist. Es ist zusammengesetzt aus dem alten Grafen Grieben und einem königlichen Amtsrat (Feldwirtschaft), einem Regierungsbaurat (Gebäude), einem Forstmann für die Forsten, dem Bankier Temmler u. Co. in Berlin (Finanzen). Das Forstdepartement hatte seit vielen Jahren mein alter Oberforstmeister. Seine letzte schwere Erkrankung war die Veranlassung, daß er um Enthebung von seinem Amte bat, indem er zugleich mich als seinen Nachfolger in Vorschlag brachte. Das Kuratorium hat die Befugnis, die Ersatzwahl für ein ausscheidendes Mitglied selbständig vorzunehmen; der Vorschlag meines alten Gönners ist einstimmig acceptiert worden. Ich habe die Pflicht, alljährlich einmal sämtliche Forsten des Majorats hier, auf Rügen und in Schlesien zu bereisen, für welche Mühewaltung eine sehr anständige Remuneration Hier: Sonderzahlung über das Gehalt hinaus. ausgesetzt ist. Das war mir peinlich; aber da alle Kuratoren statutenmäßig entschädigt werden, und diese Statuten sich des ehrwürdigen Alters von beinahe hundert Jahren erfreuen, ließ sich nicht wohl daran rütteln, wie die Baronin mir klar zu machen die Güte hatte, und daß sie persönlich die Sache ganz und gar nichts angehe.

Dennoch wollte ich mich gern dankbar erweisen und fand dazu alsbald die schickliche Gelegenheit. Der eigentliche Witwensitz ist nach dem Familiengesetz das Stammgut Kardowitz auf Rügen. Die Baronin liebt den Platz nicht und hatte gelegentlich gegen mich geäußert, es würde ihr lieb sein, wenigstens bis zur Majorennität ihres Sohnes auf Möllenhof bleiben zu dürfen. Es hat mich keine nennenswerte Mühe gekostet, die Kollegen zu überzeugen, daß der betreffende Paragraph des Statuts sehr wohl die von mir gewünschte freiere Auslegung zulasse; und der Baronin wurde mitgeteilt, daß, im Falle sie etwa Möllenhof als Residenz bevorzugen sollte, dem nichts im Wege stehe.

Ich hatte die Sache durchaus geheim betrieben, und so gelang die Ueberraschung vollständig.

Der Zufall wollte, daß, als das offizielle Schreiben in Möllenhof eintraf, ich zugegen war. Sie erbrach es und ich glaubte, während sie las, ein leises Zittern ihrer Hände zu bemerken.

Die sie mir dann stumm reichte mit einem Blick, so gütig, so lieb, so –

Nie hätte ich mir träumen lassen, daß diese stolzen, klaren Augen so blicken könnten!

Nun, es kommen ja Momente, wo Königinnen auch über rebellische Vasallen die Sonne ihrer Gnade leuchten lassen –

* * *

Ich hatte heute nacht einen holden, schauerlichen Traum.

Wir ritten nebeneinander einen breiten Waldweg hinauf. Der Boden war von Gras und Moos so dicht übersponnen, daß man kein Geräusch der Hufe hörte; die Bäume an beiden Seiten ragten turmhoch, und zwischen ihnen wob grüngoldige Dämmerung. Aus der Dämmerung blickten mich ihre Augen an, wie neulich: gütig und lieb, aber unsäglich traurig.

Warum blickst du mich so traurig an? sagte ich.

Weil der Ritter, der da kommt, uns für immer trennen wird.

Plötzlich erblickte ich den Ritter, von dem sie sprach. Er kam den Waldweg herab gerade auf uns zu auf einem schwarzen Pferde, in schwarzer Rüstung, mit geschlossenem Visier. Wir waren bis dahin Hand in Hand geritten und hatten uns jetzt losgelassen, da es schien, als wolle er auf dem großen, schweren Rappen mit aller Gewalt zwischen uns durchreiten. Das that er denn auch, in demselben Moment das Visier in die Höhe schlagend, unter dem das Gesicht des Barons hervorsah, bleich mit gebrochenen, starren Augen, wie ich es an jenem Morgen im Walde auf der Schneise gesehen.

Dann war er verschwunden. Zwischen ihr und mir aber rauschte aus der Richtung her, von der der schwarze Ritter gekommen, ein Wildwasser, das mit jeder Sekunde breiter und breiter wurde, bis es zuletzt ein sturmbewegtes Meer war, an dessen entgegengesetzten Ufern wir standen. Sie winkte mir mit der Hand ein Lebewohl; aber die Entfernung war schon so groß, ihre Gestalt nur noch wie ein Schatten. Der dann auch schwand in der Dunkelheit, die sich über das wilde Meer gebreitet hatte, und aus der zuckende Blitze fuhren mit schrecklichem Donnergeroll, vor dem ich erwachte.

Es war das Gewitter, das heute morgen von drei bis vier wütete und in meinem Walde viel Schaden angerichtet hat, so daß ich beinahe den ganzen Tag unterwegs sein mußte.

Und den ganzen Tag hindurch überall hin begleitete mich der Traum. Und alles stand so deutlich vor mir, als hätte ich es nicht geträumt, sondern mit meinen leibhaftigen Augen gesehen.

Als ob erst ein Traum hätte kommen müssen, mir zu sagen, daß wir auf immer getrennt sind, auch wenn kein schwarzer Ritter mit bleichem Totengesicht sich zwischen uns drängt.

* * *

Frau Moen hat eine Entdeckung gemacht, die sie mir mitteilen zu sollen glaubte, weil sie darin eine Erklärung für Elfriedens Seelenzustand gefunden zu haben meint.

Elfriede sieht sich als die Ursache von des Barons Tode an. Er habe sich das Leben genommen, weil sie ihn an jenem Abend im Walde so heftig zurückgewiesen. Sie habe es so bös gar nicht gemeint; sie sei nur so arg erschrocken gewesen. Sie habe in dem Unglück, das sie angerichtet, nur einen Trost: daß sie bald sterben werde. Dann sei sie gewiß, ihn oben wiederzusehen, und ihm sagen zu können, wie alles gekommen. Die seligen Geister drüben wüßten nichts mehr von Haß und Zorn: daß sei alles weggeläutert in den Strahlen der Herrlichkeit Gottes. Sie hätten in den Herzen nur noch Verzeihung und Liebe; umschwebten in fröhlichem Reigen den Thron des Höchsten und jauchzten Hallelujah.

Frau Moen findet es unbegreiflich, wie in dem Kopfe unsrer armen Kranken so tolles Zeug entstehen könne.

Ich begreife es nur zu gut! zu gut!

Hätte ich ahnen können, daß bei dem ersten Schritt, den dieser Mensch über unsre Schwelle that, der holde Friede aus dem Hause für immer verschwinden würde!

Sieht die Baronin klar in diesem schauerlichen Dunkel? Hat sie es kommen sehen, vielleicht schon bei der ersten Begegnung? Sind da von ihr Blicke hinüber und herüber beobachtet worden, die für sie, die ihn so genau kannte und seine Macht über Frauenherzen, alles sagten? Und ist das der Grund der ablehnenden Kühle, mit der sie von Anfang an Elfrieden behandelt hat?

Und ich blöder Thor habe nichts geahnt! nichts gesehen!

* * *

Doktor Barth versucht mich zu tröste: die Geburt des Kindes werde alles wieder gut machen!

Die armen Aerzte! wir verbergen ihnen geflissentlich die wahren Ursachen unsrer Leiden und wundern uns, wenn sie im Dunkeln tappen!

Da grämt sich eine Frau zu Tode über die Untreue ihres Mannes, und der Arzt verordnet ihr – Schwalbach! Eines der ältesten hessischen Heilbäder. Da sucht ein geistvoller Mann sich die qualvolle Oede wegzutrinken, mit der ihn die Gesellschaft seiner geistlosen Frau angähnt, und der Arzt – kuriert ihn auf eine kranke Leber!

Man könnte lachen, wenn es nicht so entsetzlich traurig wäre!

Und Frau Moen fragt mich, ob ich mich nicht auf das Kind freue!

Die Baronin fragt mich nicht. Ich habe manchmal das Gefühl, weil sie eine Antwort fürchtet, die sie nicht hören darf, wenigstens nicht hören will.

* * *

Wie oft schon habe ich auf dem Punkte gestanden, all das Weh, das mein Herz erfüllt, vor ihr auszuschütten und mir gesagt: bei der ersten kleinsten Aufmunterung von ihrer Seite thust du es ganz gewiß!

Aber konnte ich das heute eine Aufmunterung nennen?

Ich klagte darüber, daß uns das Leben so viel verspreche, von dem es so wenig halte.

Sie erwiderte darauf:

Ich weiß nicht, ob wir mit solchem Vorwurf dem Leben nicht unrecht thun. Es wäre schon reich genug, wenn wir nach seinen Früchten nicht zu einer Zeit griffen, in der unsre Arme noch zu kurz sind; und Entscheidungen träfen, durch die wir uns für immer binden, und die wir ein paar Jahre später ganz sicher nicht getroffen haben würden.

Sollte das nicht ein andrer Ausdruck für dieselbe Sache sein?

Ich glaube nicht. Es scheint mir nicht dasselbe, ob wir die Verantwortung für die Fehler, die wir begehen, auf uns nehmen, oder sie irgend einem unbestimmten in Rechnung stellen?

Wenn wir aber so kurzsichtig, so blind geschaffen sind, daß wir diese Fehler notwendig begehen müssen?

Wer will diese Notwendigkeit beweisen? Der eine unterliegt ihr, der andre nicht.

Nach meiner Kenntnis vom Leben ist, ihr nicht zu unterliegen, der reinste Glücksfall, der in seiner Seltenheit das allgemeine Walten des traurigen Gesetzes nur bestätigt. Oder hätten Sie, gnädige Frau, etwa andre, erfreulichere Erfahrungen gemacht?

Es ist immer mißlich, aus den individuellen Erlebnissen eine für das Ganze der Menschheit gültige Wahrheit schöpfen zu wollen. –

Damit war er denn wieder einmal von der Thür gewiesen, der hungrige Bettler. Anstatt des Brotes, nach dem er schrie, hatte die schöne weiße Hand ihm einen Stein gereicht.

Hunger thut weh, Madame! Mir deucht, das sollten doch auch Sie wissen.

Oder gibt es einen Stolz, der auch das nagendste Gefühl des Hungers zum Schweigen bringt?

Dann, große Götter, auf meinen Knieen flehe ich zu euch: gebt mir diesen Stolz, oder ich muß unterliegen!

* * *

Heute ein sehr ernstes Gespräch mit Doktor Barth. Die letzten Tage haben ihn sehr kleinlaut gemacht. Er gibt zögernd das Gräßliche zu: die Geburt des Kindes werde vielleicht doch keine Heilung eines Leidens bringen, das sich immer mehr als eine auf organische Veränderungen zurückzuführende Störung der Gehirnfunktionen herausstelle. Glücklicherweise sei anzunehmen, daß das Kind in ihrem Schoß davon unberührt bleibe. Ob es mir recht sei, wenn wir noch einen Arzt hinzuzögen, als den er mir Professor Wertheim in Grünwald vorschlägt? Aus alle Fälle müsse für eine Wärterin gesorgt werden, welche beständig um die Kranke sei. Ich möchte mich nicht zu häufig sehen lassen; vielleicht – für ein paar Tage wenigstens – meine Besuche, ganz einstellen. Er glaube die Bemerkung gemacht zu haben, daß die Unruhe der Patientin sich in meiner Gegenwart steigere. –

Und zu solch namenlosem Weh wird der Mensch geboren!

Kann man es da blasphemisch nennen, wenn ein Vater wünscht, sein Kind möge tot zur Welt kommen!

* * *

Heute Konsultation Doktor Barths und Professor Wertheims.

Diese grauenvolle Stunde des Wartens, bis die Auguren ihre Weisheit ausgetauscht haben!

Um dann, wenn der jüngere Kollege die Thür öffnet, den Harrenden hereinzurufen, mit dem ersten Blick zu sehen, daß man wohl daran that, jede Hoffnung draußen zu lassen!

Man kann nicht sagen, daß es absolut schlecht steht; aber es steht auch nicht gut. Die Natur hilft sich oft selbst in wunderbarer Weise; aber man thut in solchen kritischen Fällen wohl daran, sich auf alles gefaßt zu machen. Uebrigens seien die Anordnungen, die der Herr Kollege getroffen, derart, daß er – der Herr Professor – sie nicht zweckdienlicher hätte treffen können. Er – der Herr Professor – brauche wohl nicht zu versichern, daß er jederzeit bereit sei, dem Herrn Kollegen mit seinem unmaßgeblichen Rat zur Seite zu stehen.

Darauf verbindliches Händeschütteln; Abfahrt des Herrn Professors, während der jüngere Kollege noch einmal zur Patientin hinaufgeht, und der so überaus wohlberatene Familienvater sich erst ein paarmal mit den geballten Fäusten vor die Stirn schlägt, um dann in ein wildes Gelächter auszubrechen.

Der eine unterliegt der Notwendigkeit, sich ohne Not elend zu machen; der andre nicht.

So ungefähr sagten Sie ja wohl, schöne Sibylle?

Der alte Zeus im ersten Gesange der Odyssee sagt es auch. Homer, Odyssee, I, 33-35: Welche Klagen erheben die Sterblichen wider die Götter! / Nur von uns, wie sie schrein, kommt alles Übel; und dennoch / Schaffen die Toren sich selbst, dem Schicksal entgegen, ihr Elend.

* * *

Die beiden Herren Aerzte kommen jetzt täglich, meistens zusammen. Es ist noch ein Monat bis zum kritischen Tage; aber die Kräfte der Aermsten nehmen rapid ab. Es scheint, daß es sich um eine Entscheidung auf Tod und Leben handelt. Ich bin auf alles gefaßt.

* * *

Lächerliche Phrase! Wenn es nun da ist, nimmt mau es nicht in Fassung hin, sondern weil man muß und scheinbar freilich ruhig, aber nur, weil die überreizten Nerven die Marter nicht mehr empfinden –

Die Natur hat sich mit einer heroischen Anstrengung selbst zu helfen gesucht und ist ihr nicht gewachsen gewesen. Die Mutter ist tot; das Kind lebt. Und sie hoffen es am Leben zu erhalten.

Noch am Grabe pflanzt er die Hoffnung auf –

Ich glaube, Wieland Nicht Wieland, sondern Schiller, in seinem Gedicht »Hoffnung« (1797). sagt es irgendwo –

Am Grabe der Mutter die Hoffnung auf die Tochter!

Das Ganze nennt man Menschenlos, Menschenleben. –

* * *

Ich hatte es hinübersagen lassen; eine halbe Stunde darauf war sie da –

Ein Stern, der goldenen Glanzes plötzlich zwischen schwarzen, jagenden Nachtwolken steht –

Sie hat seitdem das Haus kaum verlassen. Ich soll mich um nichts kümmern.

Wie gern ich ihr gehorsam bin!

* * *

Was sollte ich beginnen ohne sie? Sie ist meine Vorsehung. Welche Ruhe! welche Sicherheit! welche Klarheit! Ich meinte früher, ich könne Frauen derart nicht bewundern. Jetzt sehe ich, daß sie die höchste Steigerung des ewig Weiblichen und die Krone der Schöpfung sind.

Deshalb mußte sie auch Helene heißen.

Ist doch Helene dasselbe wie Selene: die Göttin des Gestirns, das mit seinem reinen Licht die dunkle Nach! erhellt.

Ich möchte das Kind gern nach ihr nennen; aber es ist ein Wagnis: Mit den Göttern soll sich nicht messen irgend ein Mensch. Aus Goethes Gedicht »Grenzen der Menschheit« (1781).

Als ich ein Junge von zwölf Jahren war, liebte ich eine kleine blonde Nachbarin von acht. Sie hieß Käthe.

Ich habe sie gefragt, was sie zu Käthe meine?

Sie sagt: es sei ein hübscher Name.

Also: Käthe!

* * *

Wozu mußte ich nun noch diese traurige Entdeckung machen? Es war ja gar nicht mehr nötig. Ich wußte nur schon zu gut, daß sie ihn geliebt hat.

Die arme kleine Närrin! Welche Mühe sie gehabt haben muß, alle diese Schätze zu sammeln! Und sie dann so wenig sorgsam zu bewahren, daß schon bei ihren Lebzeiten jeder indiskrete Zufall sie ans Licht hätte bringen können: dies kleine goldene Riechflacon, das er bei sich zu führen pflegte und verloren haben wollte; dies Blatt aus seinem Portefeuille, auf dem er sie eines Abends zu zeichnen versucht hatte; diese verschiedenen – nebenbei herzlich schlechten – Verse, die jedenfalls mit den Bouquets eingeschmuggelt sind; diesen seinen Handschuh sogar, der unter den Tisch gefallen sein sollte und sich trotz alles Suchens nicht wieder finden ließ – ins Feuer mit dem kindischen Kram!

Und als ich in die Campagne ging, erklärte sie, sterben zu müssen! Und die verzweifelten, von Zärtlichkeit überströmenden Briefe! Und der wahnsinnige Jubel, als ich wohlbehalten zurückkam! Und die Seligkeit, als ich die Stelle hier erhielt! und welch himmlisches Leben wir in der Waldeinsamkeit führen wollten!

Das wäre alles Lüge gewesen?

O, nein, nein! Aber Einbildungen; Geschichten, wie phantasiereiche Kinder sie sich zu ihrem eigenen Ergötzen aussinnen, und von denen sie dann alles Ernstes glauben, sie hätten sie erlebt –

Sie war ein phantastisches Kind – nichts weiter –

Und ich?

Ein Knabe trotz meiner dreißig Jahre, der es sehr übelgenommen haben würde, hätte man ihm gesagt, er kenne die Liebe nur vom Hörensagen. Und doch thatsächlich keine Ahnung davon hatte, nicht den Schimmer einer Ahnung!

Aber dann, was war dieses dumpfe, quälende Gefühl, daß da bei all dem Küssen und Herzen etwas fehle, unbestimmt wie die Umrisse blauer Berge, fern, fern am Horizont, und nach denen man doch immerdar sich schmerzlich sehnt? Eine Sehnsucht, die im Laufe der Jahre stets nur tiefer, schmerzlicher wird. Obgleich man sie sich auszureden sucht und sich einen Narren schilt, der sich wundert, mit einem herzigen jungen Dinge, das ein Kind geblieben, trotzdem es selbst schon ein eigenes auf dem Schoß hat, keine tiefsinnigen Gespräche führen zu können. Und daß sie mit der Sprache, vor der er einen solchen Respekt hat, so pietätlos-naiv umspringt mündlich und schriftlich. Und den pedantischen Herrn, der sich abmüht, ihr Goethes Pflanzentheorie zu erklären, harmlos fragt: ob er schon Zucker in seinem Thee habe?

Darüber lächelt man. Und es ist doch so furchtbar ernst. Und eine Stunde wird kommen, wo du schaudernd inne wirst, daß es dein Bestes, Heiligstes ist, was hier auf dem Spiele steht; und wofür zu leben sich überall nur des Lebens verlohnt.

Die Stunde war für mich näher, als ich glaubte; sie stand vielleicht schon vor der Thür.

Wohl! Ich hatte mich, wie die Baronin es ausdrückt, ein paar Jahre zu früh entschieden und falsch entschieden: Elfriede war nicht die rechte Frau für mich.

War ich denn für sie der rechte Mann?

Ganz gewiß nicht; oder der schlaue Finkler hätte es nicht so gar leicht gehabt.

Und da ruhen nun jahrelang zwei Köpfe auf demselben Kissen, deren Gedanken weit, so weit auseinander gehen! Und zwei Herzen schlagen aneinander und keines merkt, in wie ganz anderm Takt das andre schlägt!

Das Ganze nennt man Ehe, von der man mit heiliger Ehrfurcht sprechen muß, will man nicht für einen frivolen Spötter, oder gar was Schlimmeres gehalten werden.

Die römischen Auguren lächelten verstohlen, wenn sie sich in die Augen sahen.

Wir haben nicht einmal die Ehrlichkeit der Auguren.

* * *

Seit dem Mai vorigen Jahres keine Zeile in diesem Buche geschrieben; und es ist wieder Mai. Also seit einem vollen Jahr.

Was auch hätte ich schreiben sollen? Ist doch der Inhalt des ganzen Jahres in drei Worte zu fassen: Ich liebe sie.

Ja, ich liebe sie mit allen Kräften meiner Seele, jedem Blutstropfen in meinen Adern; ich liebe sie im Glanz der Sonne; im Schimmer des Mondes; in der nächtlichen Lampe mattem Schein; erwache ich, ist sie mein erster Gedanke, und mein letzter, bevor ich entschlummere. Allüberallhin begleitet mich ihr Bild. Denken, Empfinden – mein ganzes Wesen ist in dem ihren aufgegangen. Ich lebe nur noch durch sie.

Ich habe es kommen sehen und mich dagegen gewehrt. Was hat es geholfen? Nicht mehr, als Sanddämme, die spielende Knaben gegen die steigende Flut aufschütten. Da kommt eine Welle und wahrhaftig: sie kehrt vor dem Walle um; auch eine zweite thut es noch. Dann rollt eine dritte heran, und die erschrockenen Knaben fliehen dünenwärts; und wo sie noch eben gespielt, sehen sie nichts als rinnende Wasser und schäumenden Gischt. –

Vielleicht, wenn ich es gemacht hätte, wie die Knaben, und geflohen wäre, so weit mich meine Füße trugen –

Aber auch das wäre keine Rettung gewesen. Und hätte ich Flügel der Morgenröte genommen, bis zum äußersten Meer wäre mir die Liebe gefolgt, Sie und die Sehnsucht, die herzzermalmende, unendliche Sehnsucht. Und sie hätte mich getötet.

Das wußte ich; davon war ich so fest überzeugt, wie von meinem elenden Dasein. Dennoch habe ich zur Verwunderung und Betrübnis meines alten Oberforstmeisters jedes Mittel aufgeboten, um von hier versetzt zu werden. Man hat mich immer abschlägig beschieden, zuletzt mit einem Nachdruck, der mir eine Wiederholung meines Gesuches unmöglich machte. Ich war zum Bleiben gezwungen, wie ein Bataillon, das Befehl hat, den Posten zu halten, und nun, Gewehr bei Fuß, mitten im Granatengewitter steht. Bei einer solchen Gelegenheit habe ich mir mein Eisernes Kreuz geholt. Das und einige Übung in Haltung und Mienen, deren sich ein Mann und Offizier in so kritischer Lage zu befleißigen hat. Keine Nervosität! Keine Unruhe! Kein Zucken mit den Wimpern! Eine gelassene Unterhaltung über die Chancen der Situation, wo möglich über ganz fern liegende Dinge. Ein Scherz dann und wann, kein gewagter, forcierter; denn auch der könnte zum Verräter unsrer wirklichen Seelenstimmung werden!

Ich denke, ich darf nach dieser Seite mit mir zufrieden sein. Noch soll sie das erste Wort aus meinem Munde hören, das ein Freund, und der nichts andres sein will, als Freund, nicht hätte sprechen dürfen; oder zu erschrecken haben über einen Handkuß, länger und feuriger, als die Schicklichkeit es erlaubt.

Sie nimmt das hin als etwas, das sich von selbst versteht, gar nicht anders sein kann. Von dem unerhörten Aufwand von Kraft, der zu der Leistung gehört, davon hat sie keine Ahnung.

Wie sollte sie denn auch! Auf den absurden Gedanken kommen, der höchst bürgerliche Oberförster wage die Augen zu erheben zu ihr, der verwitweten Baronin, der geborenen Komtesse! Sie und ich, wir gehören ja nach ihrer Theorie zwei ganz verschiedenen Menschenrassen an – Tochter der Pilgrim-Väter und Nigger –, Sultanstochter und Sklave. Ich will zu Ehren des jungen Mohammed annehmen, daß auch die Asra ein königlicher Stamm sind. Sonst hätte ihm der Stolz gebieten müssen, tausendmal lieber zu sterben, als seine Liebe zu gestehen und sein Todesurteil in dem verächtlichen Lächeln der hochmütigen Prinzessinaugen zu lesen.

Aber ihre Augen sind ja nicht hochmütig, wenn sie mit mir spricht; sind freundlich und gütig, wie Schwesteraugen. Dann kommen mir wohl Momente, wo ich mich ihren Bruder träume, und der Wahnsinn in meiner Brust schweigt.

Es ist ja Wahnsinn, ich mag es ansehen, von welcher Seite ich will. Und wäre ich ihresgleichen, oder könnte sie mich je dafür halten und das Unglaubliche würde Wirklichkeit, und sie liebte mich, wie ich sie– so ist doch nur zweierlei denkbar: entweder ich sagte ihr nicht, was da geschehen ist an jenem Morgen im Walde, und ließe es darauf ankommen, ob nicht doch einmal ein Wort, das ich im Schlafe spreche – ich spreche oft im Schlafe – ihr das Furchtbare offenbart. Das ist unmöglich; das ertrüge ich nicht. Oder ich handle wie ein ehrlicher Mann und sage ihr alles. Dann wird sie vielleicht begreifen: ich konnte nicht anders handeln. Aber die Hand, die, wie schuldlos immer, gerötet ist von dem Blut ihres Gatten, wird sie schaudernd von sich weisen.

Ihres Gatten, des Vaters ihres Sohnes. Dem sie mit ängstlicher Sorge immer verbergen wird, wie würdelos sein Vater war; den das Andenken seines Vaters heilig halten lehren – es gehört das ja zu ihrer Theorie von der sittlichen Mission der adligen Überlieferung – sie sich schon jetzt auf jede Weise bemüht. Und der doch einmal durch einen unglücklichen Zufall erfahren könnte: der Mann, der diesen höchst ehrenwerten Vater erschlug, ist dein Stiefvater, der zweite Gatte deiner Mutter.

Und wäre es nicht um den Sohn. Wie fürchterlich er sich auch später an ihr versündigt hat; ja, welches Verbrechen es von vornherein war, daß der Wüstling – sicher nicht mit dem Vorsatz, von seiner Wüstheit zu lassen – die Unschuldige, Reine zu seinem Weibe machte – sie hat ihn doch einmal geliebt. Es giebt Physiologen, die behaupten, daß das Bild eines ersten Gatten bei dem Weibe unauslöschbar sei und sogar in ihren Kindern von einem zweiten Gatten wiederkehre. Dem mag sein, wie ihm wolle; aber – sie hat ihn geliebt. Mir ist aufgefallen, daß sie, die in der ersten Zeit jede Erinnerung an ihn mied, ja, verloren zu haben schien, jetzt wiederholt auf ihn zu sprechen kommt, in Ausdrücken, welche ganz anders lauten als die kaum verhüllten Anklagen ihrer ersten Briefe.

Seine Liederlichkeit ist zum Leichtsinn geworden; seine Genußsucht zu dem Überschäumen einer allzureich angelegten Natur. Dabei sieht sie mich an mit einem Blick, der deutlich sagt: Wage nicht, mir zu widersprechen! Ich will es so.

Der Blick Brünhilds, als sie Hagen das Fürchterliche befahl. Als Brünhild erfährt, dass nicht ihr Gatte Gunther sie in der Hochzeitsnacht entjungferte (wozu dieser physisch gegenüber der als Jungfrau mit übernatürlichen Kräften ausgestatteten Walküre nicht der Lage war: sie hängt ihn bei einem derartigen Versuch an einen Nagel in der Wand), sondern Siegfried, fühlt sie sich so tief in ihrer Ehre verletzt, dass Hagen ihre Demütigung rächen will; in Wahrheit ist dies jedoch mehr ein Vorwand, Siegfried überhaupt los zu werden, den Hagen für eine Bedrohung des burgundischen Reiches hält, und so zugleich nach Siegfrieds Tods in den Besitz des Nibelungenhorts zu kommen.

Dem armen Hagen mag dabei übel genug zu Mute gewesen sein. Aber er war der Vasall, sie die Herrin.

Ein treuer Vasall thut, was die Herrin befiehlt.

* * *

Heute vormittag ist sie hier gewesen, bloß um nach Käthe zu sehen. Sie kommt regelmäßig einen Tag um den andern, manchmal täglich.

Ich habe nur eine Chance, mich für das, was sie an der mutterlosen Waisen Gutes thut, dankbar zu erweisen: indem ich Hans liebe und hege, als wäre er mein eigener Sohn. Das habe ich freilich schon vorher, ich möchte sagen: vom ersten Moment an gethan, und neu ist daran nichts, als etwa das beständige Wachsen meiner Liebe zu dem lieben Jungen. Seltsam – aber auch das war bereits vorher: ich sehe in ihm nie den Vater, obgleich er ihm in Gestalt und Bewegung, selbst der Gesichtsbildung so auffallend gleicht; und immer nur die Mutter, trotzdem er von ihr nur das dunkle, volle Haar und die Augen hat – die braunen, strahlenden Sarmatenaugen. Er ist jetzt acht Jahre, ein Cherubim, ganz nach dem Herzen Susannas: Wenn den die Mädchen lieben, so wissen sie warum.

Der einzige holde Trost in meinem bitteren Leid. Und habe es nun doch bei seiner Mutter durchgesetzt, daß wir uns trennen. Die Einsamkeit, in der er hier lebt, taugt nicht länger für den phantastischen Träumer. Er muß durchaus zu andern Knaben auf die Gefahr hin, von ihrer täppischen Roheit häßlich berührt zu werden – der kleine verwöhnte Prinz. Immerhin wird er den Choc jetzt besser aushalten als später; und wenn dies Feingold im Leben den rechten Kurs haben soll, kann es ohne die nötige Legierung mit ganz gemeinem Kupfer doch nicht abgehen. Freund Tr. hat in Berlin eine vortreffliche Pension ermittelt bei einem angesehenen Gymnasiallehrer, der bereits mehrere Knaben in demselben Alter erzieht und den Ruf eines außerordentlich tüchtigen Pädagogen genießt. Sie will in den nächsten Tagen hinreisen und alles an Ort und Stelle prüfen, obgleich sie an der Richtigkeit der Referenzen durchaus nicht zweifelt. Ich wage nicht, anzudeuten, daß ich selbst in Berlin zu thun habe und es wohl so einrichten könnte, daß wir zusammen reisten.

* * *

Heute einen angenehmen Nachmittag und Abend auf Griebenitz zugebracht. Ich hatte mit dem Grafen über Kardowsche Majoratsangelegenheiten zu verhandeln und mußte dann zum Souper bleiben.

Der Graf und ich sind im Laufe der Zeit gute Freunde geworden, besonders seitdem wir zusammen in dem Kuratorium sitzen und ich ihm bei der Verwaltung seiner ziemlich ausgedehnten Forsten mit meinem Rat habe dienen können. Er ist ein rüstiger Herr in der zweiten Hälfte der Fünfzig mit einem breiten roten Bart, durch den schon einige silberne Fäden laufen, und der noch zutraulicher und jovialer sein würde, als er so schon ist, wenn er nicht fürchtete, seiner Vornehmheit dadurch etwas zu vergeben. Oder bei seiner Gemahlin anstoßen, einer sehr stattlichen, sehr förmlichen Dame, die mit hochgezogenen Brauen beständig zu fragen scheint, ob jemand so frech sein könne, an ihre Würde rühren zu wollen. Der einzige Sohn steht bei den Gardedragonern in Berlin; von den beiden Komtessen, schönen schlanken Gestalten, war die ältere an einen Grafen W. verlobt, der bei Vionville fiel; die jüngere ist mit dem Sohn eines schlesischen Magnaten seit einigen Tagen erst versprochen; die Verlobung soll am nächsten Sonntag durch einen Ball gefeiert werden, zu dem ich bereits eine Einladung erhalten habe.

Daß viel Geist und Witz in der Familie konsumiert würde, läßt sich kaum behaupten. Der Graf ist freilich Mitglied des Herrenhauses; aber es scheint, daß man sich dort durch antediluvianische politische und soziale Ansichten nicht unmöglich macht. Außer der Kreuzzeitung Überregionale Tageszeitung im Königreich Preußen und späteren Deutschen Reich; richtungsweisendes Organ der konservativen Oberschicht. wird in dem Hause kein Blatt geduldet, und ich vermute, daß die Frau Gräfin sie wohl nur zur Hand nimmt, um die Familiennachrichten und (im Interesse ihres Sohnes und einiger Dutzend Onkel und Vettern jeglichen Grades) die »Veränderungen in der Armee« zu lesen. Die Komtessen könnten es gelegentlich zu einem französischen Roman bringen, nachdem Mademoiselle Margot, ihre ehemalige Erzieherin und jetzige Dueña, ihn approbiert hat. Sonst wissen sie entschieden besser mit Pferden und Hunden als mit Büchern Bescheid.

Von der gesellschaftlichen Ausnahmestellung derer von Grieben auf Griebenitz sind sie alle festiglich überzeugt: und sie scheinen in diesem Punkte der Baronin zu gleichen, während doch, sobald man genauer hinsieht, eine große Differenz zu Tage tritt. Ich möchte es so ausdrücken: Helene – verzeihen Sie: die Frau Baronin! – ist adlig durch sich selbst, diese sind es nur, weil sie zufällig ein Von vor dem Namen haben und über dem Wappen sogar eine neunzinkige Krone. Jene nimmt den Adel nur zur Folie ihres eigenen Wertes; diesen ist er keine Folie, sondern die Sonne, von der sie alles Licht empfangen; jene möchte in einer Hütte geboren sein und sie würde herrschen, wo immer sie erscheint; diese würde, mischte man sie unter die Menge, niemand wieder herausfinden; vielleicht nicht einmal sie sich selbst.

Rührt dies nun bloß daher, daß die (nach der Theorie der Baronin) so überaus segensreiche Macht der Tradition auf die von Grieben ihre volle Wirkung noch nicht hat äußern können? Die Familie ist viel jünger als die Kardows; und wie weit bleiben sie in dieser Beziehung hinter den rügenschen Fürsten, von denen Helene stammt – von ihren königlichen sarmatischen Vorfahren mütterlicherseits gar nicht zu sprechen!

So hat denn bei ihnen alles – natürlich nur verhältnismäßig – den Anstrich von etwas Neuem, für fromme Plebejerempfindung durch ehrwürdiges Alter noch nicht völlig Geheiligten. Wie das Schloß, das, erst vor zehn Jahren neu erbaut, zwar recht komfortabel, sogar elegant, aber, alles in allem, doch nur ein Haus ist, wie es sich jeder reiche Parvenü auch hinstellen kann. Im vollen Gegensatz (selbstverständlich!) zu dem Möllenhofer, auf dem der Edelrost von zwei Jahrhunderten liegt, und durch dessen Prunksäle man Damenschleppen aus der Zeit Louis XIII. oder XIV. rauschen zu hören glaubt. Auch der sehr hübsch angelegte und gut gehaltene Park von Griebenitz spielt neben den herrlichen Lawns Rasenflächen. und den Baumriesen des von Möllenhof eine schier klägliche Rolle in den Augen wenigstens eines treuen Gefolgmannes seiner schönen, edlen, unvergleichlichen Herrin, welche sich für die Krone ihres Geschlechts hält und es ist.

Ja, du herrliches, geliebtes, angebetetes Weib, wenn ich auch deiner hier zu spotten scheine, das bist du! Das bist du!

»Und wär' ein König ich, und wär'
Die Erde mein, die Erde mein –« Aus dem Gedicht »O, säh' ich auf der Haide dort« des schottischen Dichters Robert Burns in der Nachdichtung (1838) von Ferdinand Freiligrath, vertont von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Die beiden folgenden Zeilen lauten: »du wärst in meiner Krone doch / der schönste Stein!«

Ach, diese Dichter, wie ich sie beneide! Sie können sagen und ausdrücken, was sie nicht einmal empfinden. Und wir Aermsten, ob uns gleich das Herz übervoll ist, wir müssen schweigen, schweigend dulden.

* * *

Nun habe ich meine Marschroute für die Zukunft. Sie läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen; ich müßte blind oder von Sinnen sein, wenn ich jetzt noch fehlgehen könnte.

Sie hatte mich heute nachmittag zu sich bitten lassen, da ihr über das Berliner Pensionat einige Bedenken gekommen seien, die sie mit mir besprechen möchte. Ich ging pünktlich um fünf Uhr, wie sie befohlen, hinüber; sie empfing mich, wie gewöhnlich, in ihrem Arbeitskabinett. Seit einem Jahr hat sie nur immer schwarz getragen, für mich eine trübselige, sehr unnötige Mahnung an das Grab, das zwischen mir und ihr liegt. Heute zum erstenmal trug sie wieder ein helleres Gewand, so daß sie mir im Moment ganz fremd erschien, als hätte ich sie nie vorher gesehen, oder doch wie ein altes Bild, das, aus falscher Beleuchtung endlich in die richtige gebracht, dem Beschauer wie ein neues wundersam anmutet. Mit einem Worte: ich meinte, sie sei noch nie so schön gewesen, eine Illusion, die, weil sie mir schon hundertmal gekommen ist, von ihrem Zauber nicht das mindeste eingebüßt hat.

Sehr gegen meinen Wunsch und Willen mochte die stärkere Erregung in meinem Gesichte zum Ausdruck gekommen sein. Sie errötete leicht unter meinem bewundernden Blick, und um die vollen Lippen spielte ein fast naives Lächeln geschmeichelter Eitelkeit. Das mich Thoren glücklich machte und doch nichts war, als jener verräterische Sonnenblick, für den Kundigen der untrügliche Vorbote des kommenden Regens. Ach, und er sollte diesmal so gründlich kommen!

Da war sie denn auch schon, die obligate Wolke auf ihrer Stirne, mich zur Vorsicht mahnend. Ich aber wollte nicht vorsichtig sein, wollte trotzen; wollte doch sehen, was mir so ein bißchen Regen anhaben könne.

Sie wissen, gnädige Frau, niemand macht weniger Komplimente als ich. Wenn ich also sage: diese mattgelbe Robe kleidet Sie entzückend, so werden Sie darin nur eine Bemerkung sehen, die sich mir wohl aufdrängen mußte, ob ich sie vielleicht schon nicht laut werden zu lassen brauchte.

Schon deshalb nicht, weil man euch Männern ja ohnehin alles vom Gesicht lesen kann.

Alles, gnädige Frau?

So ziemlich.

Ich wäre glücklich, wenn Sie von Ihrer Kunst eine Probe ablegen und mir sagen wollten, was ich in diesem Augenblick fühle und denke.

Ich habe heute vormittag bereits eine solche Probe abgelegt. Ich kann Sie versichern, sie war so schlagend und so unerfreulich, daß die eine mir für den Tag vollkommen hinreicht, und ich nicht das mindeste Verlangen nach einer zweiten empfinde.

Da Sie es sagen, muß ich es wohl glauben.

Sie dürfen es unbedingt. Ich hätte sogar Lust, sowohl was das Schlagende, als was das Unerfreuliche betrifft, mich auf ihr eigenes Urteil zu berufen.

Das Ihnen unbedingt zur Verfügung steht, sobald ich wissen werde, um was es sich handelt.

Sicher hat Ihnen der Baron ( NB.! sie nennt ihn nie anders) gelegentlich von einem Grafen Ascheraden gesprochen?

Ich erinnere mich nicht.

Besinnen Sie sich! Er pflegte von seinen Jugendfreunden gern zu sprechen und nicht immer mit der wünschenswerten Diskretion.

In der That! Jetzt fällt es mir wieder ein!

Sehen Sie!

Die Herren waren während der kurzen aktiven Dienstzeit des Barons Kameraden in demselben Regiment –

Freilich!

Und haben dann später noch viel miteinander verkehrt, wenn der Baron nach Rügen kam, wo der Graf begütert ist.

Weiter!

Gnädige Frau, hier pflegte in den Mitteilungen des Barons jene Indiskretion zu beginnen, von der Sie selbst eben sagten, daß sie nicht zu den wünschenswerten Dingen gehöre.

Leider kommt es mir hier gerade auf die an. Also!

Also der Graf zählte zu den enragiertesten Bewunderern der gnädigen Komtesse.

Und holte sich einen Korb.

Ich begreife das, obgleich ich es – ohne die Ehre zu haben, den Herrn Grafen zu kennen – in seinem Interesse aus purer Nächstenliebe beklagen muß.

Sehr mit Unrecht. Ein Mann darf sich keinen Korb holen.

Sollte sich das immer vermeiden lassen?

Immer. Es irren sich in solchem Falle nur die, welche entweder den Kopf oder das Herz oder beides nicht auf dem rechten Fleck haben.

Unglücklicher Graf!

Le malheur est une bêtise.

Sie sind heute sehr hart, gnädige Frau.

Man verliert manchmal mit den Männern die Geduld.

Freilich! Sie treiben es zuweilen danach.

Daß man nicht weiß, ob man darüber weinen oder lachen soll. Ich habe das letztere vorgezogen, als der Graf sich von Rügen herüber bemüht hatte, eigens um sich von mir zu dem ersten den zweiten Korb zu holen.

Was wollen Sie, Madame! On revient toujours à ses premières amours. –

Ich hatte das lachend gesagt; aber mir war nichts weniger als scherzhaft zu Mute. Es war ein so seltsamer Ausdruck in ihrem schönen Gesicht: etwas Medusenhaftes in den funkelnden Augen und dem grausamen Lächeln um die verächtlich zuckenden Lippen. –

Unglückseliges Herz, das diese schlanken weißen Hände zerfleischen –

Weiß es Gott: ich glaube, in diesem Moment haßte ich das schöne Weib –

Dafür brachte ich es denn fertig, scherzhaften Tones zu sagen:

Nun kam die bewußte Probe.

Nun kam die Probe. Sie begann damit, daß, als mir der Graf gestern gemeldet wurde, ich wußte, warum er gekommen war.

Verzeihen Sie! Dann hätte ich ihn gar nicht erst vorgelassen.

Damit er morgen wiederkam! Nein! Ich lobe mir die Radikalkuren. Sie sind für beide Teile das weitaus Zweckmäßigere. –

Eine Pause trat ein. Ich wollte ihr nicht den Gefallen thun, mir noch weitere Beweise ihres mitleidlosen Scharfsinns zu erbitten. Ich war wütend. Was sollten diese seltsamen Konfidenzen Vertrauliche Mitteilungen., wenn sie nicht als Lektion gemeint waren? Und wodurch hatte ich diese Lektion verdient? Durch die vornehme – ja, das Wort soll stehen bleiben! – Reserve eines ganzen Jahres? die schier übermenschliche Gewalt, die ich mir angethan und mit der ich jederzeit, wenn nicht mein Herz, so doch meine Worte, meine Mienen in strengster Zucht gehalten hatte? Gut! Wenn sie mir Lehren geben zu müssen glaubte, ich hatte vielleicht auch ein paar für sie! –

Gnädige Frau, begann ich von neuem, ich habe keinerlei Befugnis, die Verteidigung des Grafen zu übernehmen, außer etwa der Aufforderung, welche jeder Mann in sich fühlt, sein Geschlecht gegen Angriffe zu verteidigen, die er, mit ihrer gütigen Erlaubnis, für nicht gerechtfertigt hält. Ich darf wohl voraussetzen, daß der Graf ein ehrenwerter Mann und von Geburt und Erziehung Kavalier ist, dem Sie doch wahrlich seine Liebe nicht zum Vorwurf machen werden, höchstens den Mangel an Scharfsinn und Takt, der ihn zweimal in denselben Irrtum verfallen ließ. Ich will dafür den Mann nicht loben; aber auch nicht die Frau, die es unverzeihlich findet. Ich meine, die Frauen sollten dankbar sein, wenn sie sehen, daß es noch Männer gibt, die lieben können, und um diese Liebe alles riskieren, selbst die dem Manne sonst schrecklichste aller Gefahren: sich lächerlich zu machen in den Augen der, die ihn zu einem Gott erheben kann. Eine so fürchterliche Gewalt, eine Gewalt über Leben und Tod vielleicht, ganz gewiß über Glück und Unglück eines Menschen – ich meine, sie sollte zur Begleiterin immer die Barmherzigkeit haben. Ich habe Sie nie anders als barmherzig und gütig gesehen und begreife nicht wohl, warum Sie es nur in diesem Falle nicht sein wollen.

Bravo! sagte sie. Das war wenigstens deutlich.

Sie bekannten sich vorhin zu einer Vorliebe für heroische Mittel.

Gegen die Sie mindestens keine Aversion haben. –

Sie versuchte dabei zu lächeln. Es lächelt sich nicht gut mit zornesbleichen Lippen.

Das war nur für einen Moment; im nächsten schon hatte sie die Selbstbeherrschung wieder gewonnen, die ihre beneidenswerte Prärogative ist. Sie konnte frei lächeln, und so reichte sie mir die Hand.

Ich weiß nicht, welcher Dämon mich plagt, daß ich ohne Not einen Streit zwischen uns heraufbeschwöre in dem Augenblick, wo ich Sie um einen großen Freundschaftsdienst bitten will. Nur noch das lassen Sie mich zu dem, was eben zwischen uns zur Sprache gekommen, hinzufügen, daß ich fest entschlossen bin, nicht wieder zu heiraten. Der Entschluß kostet mich kein Opfer. Ich finde ihn einfach in meinen Verhältnissen selbstverständlich, wie das Gegenteil davon barbarisch und abscheulich. Dies sei das letzte Wort, das über dies Thema jemals zwischen uns gewechselt wird! Und nun zu dem Freundschaftsdienst, mit dem ich nur gleich hätte anfangen sollen –

Es ist also dies: sie wünscht meine Begleitung nach Berlin. Sie sei in diesen Dingen ohne alle Erfahrung und müsse fürchten, auf Kosten ihres armen Jungen schreckliche blunders zu machen. Ob ich mich für Montag und Dienstag nächster Woche frei machen könne? Sie werde wohl ein paar Tage länger bleiben, damit Herr Barkow, der darauf brenne, Hans Berlin ein wenig zeigen könne.

Ich hatte beinahe Lust, nein zu sagen. Der »Freundschaftsdienst« war doch gar zu ausgesprochen. Mit einem Liebhaber, oder jemand, der es jemals zu werden die geringste Anwartschaft hat, unternimmt man freilich nicht derartige Expeditionen.

Natürlich sagte ich dann ja.

Sie kann ja eben mit mir machen, was sie will.

Und sie weiß es. Das ist das Schlimmste daran.

* * *

Ich vergaß, Sie zu fragen: haben Sie eine Einladung auf übermorgen nach Griebenitz? Wäre es, wie anzunehmen, der Fall, und Sie gingen hin, hätte ich auch vielleicht den Mut. Aber ich möchte nicht gern unter Larven die einzig fühlende Brust sein. –

Helene. – –

Seit acht Tagen bereits und habe fest zugesagt – mit dem Motto: ›Hier macht wieder einmal einer einen dummen Streich.‹ Seien Sie barmherzig, gnädige Frau, und verwandeln ihn durch Ihr Kommen in einen genialen! –

Raimund Busch.« – –

* * *

Es war einmal ein Mann, der wollte einen Schatz heben – einen unermeßlichen. Daß man dabei kein Wort sprechen darf, weiß jedes Kind. Der Mann war natürlich kein Kind mehr und dünkte sich so klug, daß er manchmal meinte, er könne das Gras wachsen hören. Es ging auch alles herrlich gut. Der Schatz stieg und stieg; erst ein mattes Flimmern, das mit jedem Augenblick heller und deutlicher wurde, bis er schon beinahe den Rand der Grube erreicht hatte und plötzlich ein Strahl des Mondes ihn traf und er aufleuchtete in seiner ganzen unerhörten Pracht. Da konnte der Mann sich nicht länger halten und rief: O, du wunderschöner Schatz!

Da war der Schatz für immer versunken. –

Das liest man denn und lächelt über des alte naive Märchen.

Und dann kommt eine Stunde, wo das Märchen Wirklichkeit wird; man den Schatz steigen und aufleuchten und versinken sieht und nach Hause geht, ärmer, ach! so viel ärmer als zuvor.

Nein, nein, das ist nicht wahr! Und war's auch nur für einen Augenblick, er hat doch gesehen, was vor ihm kein Menschenauge sah, nach ihm sehen wird. Und hat sich für einen Augenblick Herr des unermeßlichen Reichtums geglaubt, und des Besitzes Wollust hat ihn bis in die letzte Fiber durchrieselt.

Komme jetzt, was will; entscheide sie morgen, wie sie will – ich war doch einmal, einmal in meinem Leben so glücklich, daß die Engel im Himmel vor Neid vergehen müßten. Das kann mir niemand wieder rauben. Auch sie nicht.

Oder hätte ich alles nur geträumt? Möglich wär's schon; es gehen mir jetzt oft so sonderbare Dinge durch den Kopf. Ich habe ja auch schon vorher geträumt: ich hielt sie in meinen Armen und bedeckte ihren Mund mit Küssen, und sie küßte mich wieder in wilder Leidenschaft –

Wie war's doch gleich?

Ich finde es nicht wieder zusammen –

Aber ich muß es. Schon weil sie morgen alles ableugnen könnte. So etwas bringen die Weiber ja fertig. Wie war's?

Ja! Sie trat in den Saal, als die ersten Tänze schon getanzt waren, ich alle Hoffnung aufgegeben hatte, daß sie noch kommen würde, und ich eben in aller Stille davonschleichen wollte.

In dem Augenblick trat sie herein und – und – mein Gott, von da an weiß ich nichts mehr, nur daß der Saal mit den vielen Lichtern und den vielen Menschen – alles für mich verschwunden war und ich nichts sah als sie in der weißen Tüllrobe und dem Brillantendiadem im dunklen Haar und dem Perlenkollier, das nicht weißer war als der schlanke Hals, die zarten Schultern, die göttliche Büste – ich hatte sie ja nie so, im Ballanzug, gesehen! Sollte ich da nicht geblendet, berauscht gewesen sein? Ist es einer nicht, dem sich die Herrlichkeit des Himmels aufthut –

Ja, und dann tanzten wir miteinander. Einmal flüsterte sie während des Tanzes: Sie tanzen sehr gut! Und ein anderes Mal: Ich tanze so leidenschaftlich gern! War dies in bacchischer Lust erglühende Weib mit den halbgeschlossenen schwimmenden Augen, dessen wollüstig schmiegsamen Leib ich umspannt hielt, deren Herz ich deutlich gegen meine Brust klopfen fühlte – war dies die stolze Baronin, die ich ein Jahr lang aus scheuer Ferne angeschmachtet hatte!

Und dann – wie wir dahin gekommen, ist mir nicht mehr ganz klar – ich habe eine unbestimmte Erinnerung daran, daß sie mich bat, ich möchte sie irgendwo hinführen, wo man einen Atemzug frischer Luft thun könne – ja, und dann waren wir herausgetreten auf einen großen Balkon, der mit hohen immergrünen Pflanzen und blühenden Blumen umstellt und von einem roten Dämmerlicht spärlich erleuchtet war.

Dann habe ich etwas Albernes gemurmelt von: sich erkälten werden, und sie hat lachend erwidert: Mir scheint, Sie sind es bereits. Und dann sehe ich ihre Strahlenaugen dicht vor den meinen; im nächsten Moment halten wir uns umschlungen; ich trinke von ihren weichen Lippen den ersten Kuß im seligem Rausch. Den jähes Entsetzen durchrieselt.

Weißt du, wen du küßt?

Ich ahne alles, weiß alles.

Und doch?

Ich liebe dich!

Und Kuß um Kuß –

Dann helle Stimmen hinter uns. Ich habe die Geistesgegenwart, die Herrschaften zu warnen. Es sei hier draußen viel zu kühl; schon seit einer Minute flehte ich die Frau Baronin an, wieder hineinzugehen –

Dann habe ich sie nur noch für einen Augenblick gesehen und gesprochen, als sie sich aus einer Gruppe von Damen und Herren, an der ich vorüberstrich, plötzlich zu mir wandte: Auf ein Wort Herr Oberförster!

Und dann leise: Ich erwarte dich morgen vormittag um zehn.

Ihre leise Stimme klang heiser; sie war sehr bleich –

Also morgen soll es sich entscheiden.

Als ob es nicht schon entschieden wäre, so gewiß, wie ich eben das erste Krähen des Hahnes höre –

Als er zum dritten Male krähte, hatte Petrus den Herrn ebenso oft verleugnet –

Wenn die Weltfurcht solche Macht hatte in dem Herzen des Mannes, auf dessen felsenfesten Glauben der Herr seine Kirche bauen wollte, – welche muß sie erst haben in der Brust eines Weibes, das »ein rollend Rad geformt hat; dessen Lilienhöhen decken, was wankt und wechselt!« Aus: Esaias Tegnér, »Die Frithjofs Sage«, Übersetzung Gottlieb Mohnike (1826).

Ich bin so müde! zum Sterben müde –

* * *

»Du liebst mich, und ich liebe dich.«

So legt man ein Fläschchen Rosenöl in den Schrank, daß es fortan den ganzen Inhalt durchdufte –

Fortan soll mein Leben durchduftet sein von diesem Wort aus ihrem Munde –

Sie ist abgereist mit Hans. Es war schon alles so weit vorbereitet; Miß Alice ist vorläufig noch hier geblieben, den Rest zu besorgen. Wann wir uns wiedersehen? Sicherlich nicht, »bis manches Jahr um«. Hierher wird sie niemals zurückkehren.

Ich habe auch nicht den leisesten Versuch gemacht, ihren Entschluß zu ändern. Es wäre eine nutzlose Grausamkeit gewesen; und die Qualen des Kampfes, den sie durchgekämpft, standen zu deutlich auf ihrem schönen, bleichen Gesicht.

Was denn auch hätte ich sagen können, ohne gegen meine Überzeugung zu sprechen! Wie die Dinge verhängnisvoll liegen, – sie darf mein Weib nicht sein. Und daß wir jetzt nicht mehr verkehren könnten wie bisher – dazu bedarf es keiner vorausschauenden Weisheit. Zu dem segenlosen Bund einer geheimen Liebe, die vor der Welt Versteckens spielt, – dazu sind wir beide zu gut. Und zu stolz.

Ich habe ihr dafür eine genaue Schilderung des Vorgangs gegeben. Sie hatte kaum zu viel gesagt: ich konnte ihr bis auf unbedeutende Einzelheiten nichts mitteilen, was sie nicht mindestens geahnt hätte. Eine wüste Scene, die er ihr noch an dem Abend, als wir im Walde gewesen waren, gemacht, und in der er mit cynischer Offenheit sich zu seiner Leidenschaft für Elfriede bekannt hatte, war genug gewesen, sie auf die rechte Spur zu bringen. Kannte sie doch nur zu gut seine maßloße Selbstsucht, die zu ihrer Befriedigung vor keinem Mittel zurückscheute! So hatte sie mich auch warnen wollen und es nicht gethan, weil sie sich gesagt: im Notfalle ist er Manns genug, sich seines Lebens zu wehren. Ein andres habe ich nicht gethan. Und habe weiter recht daran gethan, die Welt nicht zum Richter in einem Handel zu machen, dessen wirklicher Zusammenhang nicht klar gelegt werden konnte, ohne unschuldige Personen den beleidigendsten Mißdeutungen auszusetzen.

Und zwischen diesen trostlosen Erörterungen seliges Lächeln erwiderter Liebe und der holde, eifrige Streit darüber, wer den andern zuerst geliebt!

Dann hat mein Haupt auf den geliebten Knieen gelegen und ich habe geweint wie ein Kind; und sie hat mich zu trösten gesucht, so lieb, so gut, während doch ihr eigen Herz Todestropfen blutete: Du liebst mich und ich liebe dich –


Es war die letzte beschriebene Seite in dem Heft. Dann lag da ein loses Blatt, aber nicht in seiner Handschrift. Er hat die Verse nicht wieder gelesen, nachdem er das Blatt aus dem versiegelten Paketchen Briefe genommen, die er ihr nach ihrer Trennung geschrieben. So denn jetzt zum zweiten- und letztenmal:

Flossen so dahin zwölf bange Monde,
Seit, Geliebter, in der Abschiedsstunde
Deine Augen auf mich niederflammten,
Deine Arme machtvoll mich umfingen,
Deine Lippen auf die meinen drückten
Kuß um Kuß, und süße Liebesworte,
Leis geflüstert, in mein Ohr sich stahlen;
Von dem Ohr ins tiefste Herz sich stahlen:
Liebste, weißt du denn, wie ich dich liebe?
Weißt du denn, wie glühend ich dich liebe?

Ach, seitdem verflossen zwölf der Monde
Mir in Trübsal, mir in schwerem Kummer,
Mir in namenloser wilder Sehnsucht,
Daß ich oft gemeint, es müßte brechen
Mir das arme Herz im bangen Busen.

Zwölf der Monde sind seitdem verflossen,
Und am Himmel noch kein kleinstes Zeichen,
Daß er jemals wieder sich erhellen,
Jemals meiner gnädig sich erbarmen,
Mir das Eine, Einz'ge schenken wolle,
Das ich nimmer darf von ihm erflehen:
Deiner holden Nähe, Heißgeliebter,
Süßes Labsal nur für eine Stunde.

Ach, die Monde, die dahingeflossen
Mir in solchem bittern Herzeleide,
Zaghaft machten sie mich und bescheiden.
Wollte je der Himmel mir gewähren,
Was ich doch nicht darf von ihm erbitten,
Also wollt' ich zu dir sprechen, Liebster:

Nicht versenge mich mit deinen Blicken;
Preß nicht machtvoll mich in deine Arme,
Drück nicht Kuß um Kuß auf meine Lippen,
Flüstre nicht die süßen Liebesworte,
Die so gierig tranken meine Ohren,
Die so gierig trank mein pochend Herze –
Nur die Augen traumesselig schließend.
Laß an deine Brust den Kopf mich lehnen,
Und so lautlos, wunschlos ruhen – ruhen!

Auf demselben Blatte unter den Versen stand von seiner Hand:

Wieder zwölf Monde später, am 4. Mai 1876, starb Helene.

Darunter in starken, sicheren Zügen ein großes Kreuz. Das Kreuz auf dem Grabe seines Glückes – seines und ihres.

Er schob das Heft von sich, stand auf und begann von neuem die Wanderung durch das Zimmer.

Seines und ihres! Nur daß sie, wohl wissend, daß der Himmel aus seiner Gnade nie gewähren würde, was sie nicht von ihm erbitten durfte, den jähen Zusammenbruch ihres Glückes nicht länger hatte überleben wollen. Ja, wollen! Denn wenn sie auch ihrem Leben nicht gewaltsam ein Ende gemacht, möglichst kürzen wollte sie es sicher, als sie bereits ein halbes Jahr nach der Trennung ihm schrieb: sie müsse die Qual auf irgend eine Weise zu lindern suchen und glaube das rechte Mittel gefunden zu haben. Welches das Mittel sei, erfuhr er nicht eher, als bis sie ihren Entschluß ausgeführt und sich den Schwestern des Augustahospitals hatte einreihen lassen. Sie, so mühseliger, schwerer Arbeit bei Tag und Nacht ungewohnt! Sie, die wiederholt beim Reiten mitten im lustigen Galopp ihr Pferd parieren mußte, weil ihr das Herz zu gewaltsam schlug! Und auf seine besorgten Fragen dann lachend erwidert hatte: es sei nichts! ein kleiner Erbfehler nur, der von Zeit zu Zeit in der Familie ihrer Mutter auftrete, und wenn er auch einigen das Leben verkürzt, die andern nicht gehindert habe, Methusalems Alter zu erreichen – sie Krankenschwester!

Freilich, schon als Schloßherrin war sie in die Hütten der Armen und Aermsten gegangen, vor keiner Berührung mit dem Elend, in welch grausiger Gestalt es auch auftrat, zurückschreckend. Die wenigen, die davon wußten, wenn sie gleich nicht zu ihren Verehrerinnen gehörten, rühmten die große Umsicht, die stetige Geistesgegenwart, die unerschütterliche Kaltblütigkeit der vornehmen Dame. So hatte es nichts Ueberraschendes für ihn gehabt, als sie ihm dann nach einem Jahre schrieb: Man hat mich zur Oberin gemacht. Ich habe die verantwortliche Stelle angenommen, in der ich Bedeutendes wirken kann. Wer weiß, wie schnell der Abend kommt!

Sie hatte ihn sicher bereits kommen sehen, als sie das schrieb; sich wohl gewundert, daß er so lange zögerte. Nicht eben lange mehr! kaum ein halbes Jahr! Da hatte man ihm ein Telegramm, unterzeichnet von dem Oberarzt des Hospitals, gebracht: die Baronin Kardow sehr krank. Wünscht Sie zu sprechen. Periculum in mora.

Er hatte sich stehenden Fußes auf den Weg gemacht; keine Stunde später hätte er kommen dürfen: nach einer Stunde war sie in seinen Armen gestorben. Auch die Aerzte hatten ein so schnelles Eintreten des Todes nicht erwartet und sich mit der Wärterin zurückgezogen, als sie den Wunsch geäußert, mit dem Freunde, dem sie einige wichtige Dinge anzuvertrauen habe, allein zu bleiben.

Was sie ihm aber anzuvertrauen hatte, war, daß er nicht auch sterben dürfe, um ihres Sohnes willen weiter leben müsse. Dann hatte sie ihren Kopf an seine Brust gelehnt, fürder lautlos, wunschlos; und war so in die ewige Ruhe hinübergeschlummert.

Und er hatte ihr Testament treulich ausgeführt; sich keine Kugel durch den Kopf gejagt, wie er es so herzlich gern gethan hätte; weiter gelebt um ihres Sohnes willen.

Alles andre, was war es ihm? Seine Amtspflichten ein ödes Einerlei, das ihm vollends verleidet wurde, als sein biederer alter Oberforstmeister nun doch starb und an dessen Stelle ein enragierter Streber von Forstrat kam, nur um wenige Jahre älter als er selbst, und der es ihm nicht verzeihen konnte, daß er, der es vorläufig nur bis zum Sekond Unterleutnant. gebracht, bei einer Reservedienstübung von seinem Untergebenen die Befehle entgegennehmen mußte. Von dem Augenblicke an eine ununterbrochene Fehde, die von der einen Seite mit wütendem Haß und allen möglichen Chikanen, von der andern mit kaltblütiger, stiller Verachtung geführt wurde, welche sich niemals eine Blöße gab, und an der schließlich, wenn nicht der Haß, so doch die Hoffnung, den Gegner niederzuzwingen, erlahmte.

In dieser Fehde ohne Gottesfrieden hatte er einen Knappen gehabt, auf dessen Treue er sich unbedingt verlassen durfte: seinen alten Amsberg, der sich die braunen Hände rieb, wenn wieder einmal ein Kampf durchgefochten war, und in seinen grauen Bart ein vergnügliches: Der Herr Oberförster haben natürlich recht behalten, hineinmurmelte.

An den öffentlichen Dingen, die er früher mit Eifer verfolgte, hatte er das Interesse verloren, seitdem das Volk abgedankt und die Bestimmung über seine Geschicke in die Hände des einen Mannes gelegt, dem es, als seinem Diktator, unbedingt gehorsamte. Spielhagens Kritik an Bismarcks Abwendung von den Liberalen Ende der 1870er Jahre und an seinem Kampf gegen die Sozialdemokraten (»Sozialistengesetz« 1878). Das war nicht seine Art. Er konnte nicht ja sagen, die Sache hätte denn vorher die Prüfung seiner Einsicht und seines Gewissens endgültig bestanden. Und wie er die Sache, die Sache des Volkes, ansah, ging es mit ihr unaufhaltsam bergab. Der freie Mannesmut, der Stolz vor Königthronen, sie starben kläglich dahin in einem Geschlecht, das nur noch nach dem Beifall und den etwaigen Belohnungen und Auszeichnungen schielte, die es von oben her zu gewärtigen habe; in dem Streben nach materiellem Erfolge aufging und sich nicht genug darüber wundern und erbosen konnte, daß die Millionen da unten so entsetzlich materielle Gelüste hätten und für sich von Erfolgen träumten, die ihnen in irgend einer Utopie, nimmermehr aber auf dieser Erde gewährt werden mochten.

Er sah die große Umwälzung kommen, wie die Meeresflut, allgewaltig, unaufhaltsam. Dem elementaren Walten so ungeheurer Mächte gegenüber, was will da die schwache Kraft des einzelnen! Dennoch würde er nicht geschwiegen und seine Stimme laut erhoben haben, wäre er ein Schriftsteller, ein Redner gewesen und – der Schlag, der das Haus seines Glücks zertrümmerte, weniger furchtbar. So aber war er wie ein Wild, das, von der Kugel des Jägers nur eben nicht tödlich getroffen, im Walde weiter kümmert, bis es endlich irgendwo im Dickicht seinen letzten Atemzug verröchelt.

Wer sich der Einsamkeit ergibt, ist ja bald allein. Er war es bald gewesen, wenn er auch die einmal angeknüpfte Verbindung mit den Moens, der gräflichen Familie in Griebenitz nicht geradezu fallen ließ. Mußte er es doch den guten Leuten als Verdienst anrechnen, daß sie ihrerseits es nicht thaten! Was hatten sie von der Gesellschaft des schweigsamen, melancholischen Mannes! Manchmal bekam er auch wohl mit leiserem oder lauterem Vorwurf zu hören, daß er ja freilich viel verloren habe; jemand aber, der eine solche Tochter besitze, denn doch wahrlich nicht ganz arm zu nennen sei.

Eine solche Tochter!

Freilich, sie hatte sich von Jahr zu Jahr immer anmutiger entwickelt; und als sie vor zwei Jahren aus der Pension in Sundin zurückkam, brauchte man gerade nicht ihr Vater zu sein, um sich an einer so lieblichen Mädchenknospe zu entzücken. Wie sylphenhaft die kleine, zierliche Gestalt! wie graziös jede ihrer Bewegungen! wie hell und doch zugleich wie weich der Klang ihrer Stimme, mochte sie sprechen oder ein Lied mit guter Schulung vortragen! wie zart ihre Farben! welcher weiche Samtglanz in ihren braunen Augen! Wie – bis auf diese braunen Augen – so ähnlich ihrer früh verstorbenen Mutter!

Wäre die Aehnlichkeit doch weniger groß gewesen oder hätte sich auf das Aeußere beschränkt! Aber diese, alle ruhige Ueberlegung ausschließende Lebhaftigkeit eines ersten Eindrucks; dies Schwanken der Stimmung aus Lachen in Weinen in einem Atem; dies Tändeln mit Dingen und Menschen; diese Scheu, einem tieferen Gedanken nachzugehen, einer ernsteren Empfindung sich hinzugeben, es sei denn etwa die möglichst unbestimmte für einen Weltenlenker, der die besondere Aufgabe hatte, darüber zu wachen, daß ihre Wünsche in Erfüllung gingen – war das nicht alles direktes Erbteil von der Mutter, die es sicher wiederum geerbt hatte, um an diesem ihrem Erbe – einem echten Pandorageschenk – früh so kläglich zu Grunde zu gehen? Wenn ein Mann nicht wohl anders als gütig und zärtlich zu einem so holden Geschöpf sein konnte, mochte er sich wohl überlegen, ob er sein Herz, seine Ehre, sein Glück einer anvertrauen durfte, die Manneswort und Manneswürde nach der Höhe der Huldigungen maß, die man ihr brachte.

Und er, der das Wagstück zu unternehmen sich verfing, war der Sohn der Frau, die er so grenzenlos geliebt; ihr Vermächtnis, das sie ihm in ihrer letzten Stunde anvertraut, um dessenwillen er weiter leben müsse. Und um dessenwillen er alle diese sechzehn Jahre einzig und allein gelebt hatte: sein Zögling, sein Schüler, den er hätte lieben müssen, wenn anders herrlichste Gaben des Geistes und Gemütes Liebe erheischen; und den er nun, als ihr Kind, doppelt und dreifach liebte. Glaubte er doch manchmal, wenn er in seine dunklen Sarmatenaugen sah, in seiner Mutter Augen zu sehen; wenn er ihn sprechen hörte, seiner Mutter tiefe, weiche Stimme zu hören! Mochte er in der Geschmeidigkeit der schlanken, hohen Gestalt, in der raschen Bewegung der gelenkigen Glieder noch so sehr dem Vater gleichen – aus dem Auge eines Menschen blickt seine Seele, in seiner Stimme tönt seine Seele; und diese seine Seele war seiner Mutter Seele. Derselbe Hochsinn mit dem instinktiven Abscheu vor allem Kleinen und Gemeinen; dieselbe Zartheit der Empfindung; derselbe Ernst der Lebensauffassung; dasselbe sichere Ruhen auf sich selbst; dieselbe Treue gegen sich selbst. Freilich auch derselbe Stolz, den bei der Mutter ein herbstes Geschick nicht hatte brechen, im Gegenteil nur steigern können. Denn nur er war es gewesen, der sie das Furchtbare, gefesselt zu sein an einen Mann, den sie verachtete, jahrelang schweigend hatte tragen lassen; und ihr das Herz gebrochen hatte, als sich herausstellte, daß die grausame Verkettung der Umstände, die den Mann, den sie liebte, von ihrem Herzen riß, stärker war, als sie.

Eines allerdings war ihr erspart worden, was ihrem Stolz das Entsetzlichste schien: zu erleben, daß ihr Sohn erfuhr, welchen Unwürdigen er, auf dessen beiden Augen jetzt das alte Geschlecht der Kardows ruhte, zum Vater gehabt.

In ihren Briefen war sie immer wieder auf diesen Punkt zu sprechen gekommen; noch in ihrer letzten Stunde hatte sie ängstlich geflüstert: Du versprichst mir, daß er es nie durch dich erfährt; und du thun willst, was in deinen Kräften steht, daß er es nie durch andre erfahre.

Er hatte es nicht erfahren: nicht auf der Schule; nicht auf der Universität; nicht, als er sein Freiwilligenjahr in demselben Regiment abdiente, in dem sein Vater ein Jahr lang Offizier gewesen war; nicht, als er dann in die Reserve trat und selber Offizier wurde. Wohl war er alten Freunden und Kameraden von ihm begegnet; aber sie wußten nur von einem bildhübschen flotten jungen Mann zu erzählen, dem das Geld etwas sehr schnell durch die Finger lief, und der die Weiber nicht gehaßt hatte. Das konnte Hans nicht beleidigen: von wie so manchem seiner Bekannten, den er als einen höchst ehrenwerten Menschen kannte, mußte er nicht dasselbe sagen, ohne sich ein Arges dabei zu denken!

Dennoch hatte sein Mentor ihn, solange es ging, von seiner pommersch-rügenschen Heimat ferngehalten. War doch da erst in dem Müßiggang eines vornehmen Landlebens; in dem Verkehr mit hochmütigen, in Vorurteilen verknöcherten Standesgenossen; oft mehr als halb verbauerten, nicht selten dem Trunk und Spiel verfallenen bürgerlichen Gutsnachbarn; einem niederen Volke, das die alten Sklavensitten noch nicht verlernt hatte und das Herrenrecht in seinen schamlosesten Auswüchsen willig gelten ließ, seine Wüstheit so üppig ins Kraut geschossen! und gab es da noch so manchen und so manche, die davon hätten erzählen können!

Aber endlich, als Hans, nachdem er noch ein paar landwirtschaftliche Akademieen besucht und ein paar größere Reisen nach Frankreich und England gemacht, großjährig geworden, die Verwaltung seiner Güter in die eigene Hand nehmen mußte und wollte, hatte es sich nicht länger vermeiden lassen, und er Möllenhof zu seiner Residenz gewählt. Wäre es auch nicht gewesen, weil sein Vater und sein Großvater es ebenso gehalten, sondern nur, weil er dort ihm, den er als seinen geistigen Vater liebte und verehrte, so nahe war.

Das war jetzt gerade vor einem Jahr.

Man hatte sich während dieser sechzehn Jahre wiederholt gesehen; aber der hauptsächliche Verkehr doch in einem Briefwechsel bestanden, der von beiden Seiten mit gleicher Pünktlichkeit, nur von Hans ausgiebiger gepflegt wurde. Wie das bei dem so viel Jüngeren, dem auf Tritt und Schritt Neues, Merkwürdiges, Mitteilenswertes begegnete, auch selbstverständlich war.

Und welcher Zauber hatte in diesen Briefen für den älteren Freund gelegen! Wie hatte er seine Jugend, nur so unendlich viel reicher und schöner, noch einmal durchlebt! Mit welch inniger Freude, sich eine Menschenblume, an der kein Wurm nagte, von Jahr zu Jahr, ja von Brief zu Brief prächtiger entfalten sehen!

Und zu wissen, daß er kein müßiger Zuschauer des prächtigen Schauspiels war! sich sagen zu dürfen, daß er die dankbare Liebe, mit welcher der Jüngling an ihm hing, redlich verdient habe! Wie manche Nacht hatte er jetzt, da er längst, längst nicht mehr an dem Buche schrieb, das er mit des Kreuzes bedeutungsschwerem Zeichen ein für allemal geschlossen, dort an dem Pulte für seinen Hans, mit seinem Hans gearbeitet; Bücher für ihn gelesen, excerpiert; sich in Studien vertieft, die Hans betrieb oder die er von ihm betrieben wünschte; Fragen beantwortet, die Hans gestellt; Zweifel gelöst und beschwichtigt, die das Jünglingsherz quälten; aristokratische Vorurteile, welche den jungen Granden nicht erst aus seinem adligen Umgang anzufliegen brauchten, da sie ihm im Blut zu liegen schienen, mit leiser Hand beseitigt oder doch abgemildert!

Und staunend beobachtet, wie auch in diesem letzteren Punkte der Sohn so ganz der Mutter glich, die in der Abstammung aus einem alten Geschlecht keinen blinden Zufall sah, sondern eine tiefernste Verpflichtung, die gesellschaftlich hohe Stellung in Geist und Gemüt wiederzuspiegeln und so das Adeltum in ein Edeltum umzuschaffen.

Welch ein Wiedersehen nun zwischen dem zum Manne gereiften Jüngling und ihm, dem Fünfzigjährigen, dem die Schläfen schon sich zu lichten und der dunkle Vollbart zu ergrauen begann, und deren Geister und Herzen doch so auf denselben Ton abgestimmt waren, daß sie wie Brüder erschienen!

Wenigstens dem Älteren anfänglich so erschienen, bis ihn die Ehrerbietung, die ihm der Jüngere unverletzlich entgegenbrachte, fast schmerzlich an den Unterschied der Jahre erinnerte.

Und ein andres noch, daß sich erst später geltend machte.

Es war ihm mit Käthe ergangen, wie so manchem Vater, der in der heranwachsenden Tochter ein Kind sieht, und den erst die Huldigungen, welche dem Kinde von der jungen Männerwelt erwiesen werden, daran mahnen, daß es eben keines mehr ist. Diese Erfahrung zu machen, hatte es bis jetzt an der rechten Gelegenheit gefehlt. Von einem gesellschaftlichen Verkehr in seinem Hause konnte nicht wohl die Rede sein; junge Männer kamen schon gar nicht, außer etwa die beiden Söhne Moen, gute, aber herzlich unbedeutende Menschen, auf die er kaum geachtet hatte. Ein paarmal war ihm freilich der Gedanke näher getreten, ob es um Käthes willen nicht doch geboten sei, die Einsamkeit, welche ihm längst zum Bedürfnis geworden, aufzugeben; aber sie war mit ihren siebzehn Jahren ja noch so jung, schien vorläufig mit ihren kleinen Liebhabereien so vergnüglich durch das Leben hinzutändeln – sie würde seinen Ernst noch früh genug kennen lernen!

Und daß sein Hans, der den Kopf so voll hatte von mannhaften Gedanken, sich mit so weitausschauenden Plänen trug, jemals in der kleinen Sylphe sein Ideal sollte erblicken können – das schien außer dem Bereich des Möglichen zu liegen. Vom Wünschenswerten gar nicht zu sprechen. Wie hätte er wünschen können, wovor ihn schauderte, als er zu bemerken glaubte, daß das scheinbar Unmögliche die unheimliche Färbung von etwas Wirklichem anzunehmen begann! Nein, das durfte nicht wirklich werden! seine Tochter nicht das Weib des Mannes, dessen Vaters Blut er hatte vergießen müssen!

Aber das war wohl nur böses Geträume aus seinem schweren Blut, seiner düstern Phantasie, welche die Herrschaft, die er ihr eingeräumt, mißbrauchte, um ihn mit spukhaften Gebilden zu schrecken. Es war ja nichts daran – unschuldiges Getändel zwischen zwei jungen Personen, die sich von der ersten Stunde ihrer Begegnung Du genannt hatten; und die ihr Verhältnis nur als ein geschwisterliches betrachten konnten, sollten sie jemals ernsthafter darüber nachdenken.

So glaubte er die graue Sorge von seiner Schwelle gebannt zu haben.

Und die doch nun wiedergekommen war, unheimlicher als zuvor, mit dem Augenblick, der den jungen Brunnow ins Haus brachte, den Sohn eines alten Universitätsfreundes, dem er lieber als seinen Vorgängern sein Haus geöffnet.

Und der nun nichts eiliger gehabt, als in Käthe die Dame anzustaunen, die der Traum seines liebebedürftigen Herzens gewesen war. Und die Erleuchtung, die ihm gekommen, aus jedem seiner Blicke wenigstens sprechen zu lassen, wenn es auch keine Worte gab, in die er den Ueberschwang seiner Gefühle hätte gießen können. Das wäre nun einfach lächerlich gewesen, und sie lachten alle darüber: Käthe in erster Linie; die Dienstleute, der alte Amsberg; er selbst hatte sich manchmal beim besten Willen des Lächelns nicht zu erwehren vermocht. Und nur einer lachte nicht: Hans.

Er, der sonst allen Menschen wohlwollte, gegen alle die ritterliche Höflichkeit selbst war, behandelte den harmlosen jungen Mann mit auffallender Kälte, ja, kaum verhehlter Geringschätzung: erklärte sein Benehmen für absurd bis zum Unleidlichen und hatte darüber sehr lebhafte Scenen mit Käthe, aus denen die lachfrohe ein paarmal mit verweinten Augen kam.

Einem Beobachter, dem die Sorge Aug' und Ohr geschärft hatte, konnte das nicht entgehen. Und dann trat in Hans' Verhalten gegen den Eindringling ein plötzlicher Umschwung ein. Keine leiseste Spur mehr von geflissentlicher Unfreundlichkeit, zur Schau getragener Abneigung! Dafür liebenswürdiges Entgegenkommen; offenes Eingeständnis einer ihm selbst rätselhaften Verkennung, die wieder gut zu machen Pflicht sei. Dann gemeinschaftliche Spazierritte, gemeinschaftliches Auf-den-Anstand-gehen – eine entente cordiale, die nichts zu wünschen ließ.

Das konnte nur einen Sinn haben: Hans durfte sich einem Nebenbuhler gnädig erweisen, den er nicht mehr ernsthaft zu nehmen brauchte, seitdem er Käthes Liebe sicher war.

Für den Beobachter eine schreckliche Entdeckung. An ihrer Richtigkeit konnte er nicht zweifeln, seitdem jeder neue Tag sie bestätigte. Was sollte er thun? Hans offenbaren, was, ihm niemals kundzugeben, er seiner Mutter in ihrer Sterbestunde feierlich versprochen? Das sichere Mittel, dem Verhängnis Halt zu gebieten, und dies Mittel durch einen heiligen Eid zur Unmöglichkeit geworden! Und kein andres erfindlich; kein Grund, kein Vorwand, die Liebenden zu trennen; nichts, nichts; überallhin ein Greifen in die wesenlose Luft!

Aber für Hans würde ja die Vergangenheit niemals ihren klagenden und anklagenden Mund aufthun. Bei dem Geheimnis seiner Liebe zu Helene hatte er keinen Mitwisser. Und war er, der den Toten beraubte, Zeuge des Schrecklichen gewesen – achtzehn Jahre sind seitdem vergangen! Vielleicht lebt der Mensch nicht mehr. Oder, wenn er lebt, was in der Welt könnte ihn veranlassen, eine Sache ans Licht zu ziehen, bei der er als Räuber eine so schlimme Rolle gespielt hatte? Hier waren entweder Unmöglichkeiten oder Unwahrscheinlichkeiten, die an Unmöglichkeiten grenzten. Von keinem andern Tribunal konnte die Sache abgeurteilt werden, als dem seines eigenen Gewissens.

Und vor das hatte er sie jetzt gebracht; und sein wahrhaftiges Tagebuch und seine treue Erinnerung zu Zeugen aufgerufen und sie abgehört und das Für und Wider klargelegt und erwogen, und –

Er stand am Fenster und starrte über die Chaussee in den Wald, dessen Wipfel die Morgendämmerung zu färben begann.

Plötzlich, wie unter dem Anstoß einer unsichtbaren Gewalt, wandte er sich und schritt in sein Schlafzimmer nebenan, wo seit vierzehn Tagen ein kleiner Haufen Tannenzweige trocknete, die er aus dem Walde mitgebracht hatte, um eine seltene Mißbildung, welche er an ihnen entdeckt, genauer zu untersuchen. Den nahm er und stopfte ihn in den Ofen seines Zimmers, wo er ihn entzündete. Dann trat er an den Schreibtisch, schlug das Tagebuch noch einmal auf; nahm das Blatt mit ihrer Handschrift, unter der das Kreuz stand; küßte es, legte es wieder hinein; schloß das Buch, trug es zum Ofen und legte es in die Flamme, die, von dem dürren, harzreichen Holze genährt, mächtig aufprasselte. In wenigen Minuten hatte sie ihr Werk gründlich gethan; durch die graue, zusammensinkende Asche liefen nur noch einzelne Funken.

Er wartete geduldig, bis auch das schürende Eisen keinen mehr entdeckte.

Dann richtete er sich in die Höhe, mühsam, an den Gliedern gelähmt, wie einer, der eine schwere Last meilenweit getragen; ergriff die Lampe, die zu verlöschen drohte, und ging in sein Schlafzimmer.

Er wußte, daß er schlafen konnte, wenn er mit einer Sache völlig im reinen war.


Während der acht Tage seit der Rückkehr von der langen Hochzeitsreise hatte Käthe gar viel zu schaffen gehabt. Gegen Wunsch und Verordnung von Doktor Barth. Hans hatte ihn sofort um seinen Besuch bitten lassen, und der Doktor erklärt, die junge gnädige Frau befinde sich soweit vortrefflich; aber in Anbetracht der so überaus zarten, von der Frau Mutter ererbten Konstitution und der obwaltenden Umstände sei zu möglichster Schonung dringend zu raten.

Das war nun leichter gesagt, als befolgt; selbst Hans, wie ernst er auch den Rat des Arztes genommen und mit welch zärtlicher Sorge er seine kleine Käthe behütete, mußte es zugeben. Ihr Brautstand hatte so kurze Zeit gewährt, wenige Wochen nur. Käthe war wohl ein paarmal drüben in Möllenhof gewesen, hatte betreffs der späteren Einrichtung diesen und jenen Wunsch geäußert, unter andern: daß sie die in dem ersten Stock des Schlosses auf der Hinterseite nach dem Park zu belegenen Zimmer, welche Hans' Mama stets bewohnt, auch für sich wünsche. Aber an ein eigentliches Einrichten war doch nicht zu denken gewesen. Das liebende Paar hatte so viele andre Dinge zu überlegen und zu besprechen, die ihm soviel wichtiger waren, und zeigte sich sehr geneigt, sämtliche nachträgliche Sorgen, die sie selbst sich aus dem Sinn schlugen, vertrauensvoll dem Vater und Schwiegervater anheimzustellen. Der aber lehnte in seiner gehaltenen Weise ein derartiges Ansinnen freundlich entschieden ab, entschlossen, ein für allemal das junge Paar seinen Weg allein finden zu lassen; auch nicht mit dem höflichsten: Wenn ich mir einen Rat erlauben dürfte, sich in ihre Angelegenheiten zu mischen.

So fand denn Käthe, als sie acht Tage vor Weihnachten nach Hause kam, eine Welt zu thun, und in dieser Vielgeschäftigkeit eine vorläufig unerschöpfliche Quelle des Vergnügens. Von Neuanschaffungen konnte man so gut wie gänzlich absehen – war doch alles in schier überreichem Maße bereits da. Aber dieser Reichtum wollte doch ein wenig nach dem Geschmack der neuen Besitzerin geordnet sein – mit aller dem Andenken an Hans' Mama schuldigen Pietät – selbstverständlich! Nur daß glücklicherweise die Lebhaftigkeit von Hans' Erinnerungen an die Mama in der langen, seit ihrem Tode verflossenen Zeit starke Einbuße erlitten hatte; auch war er, als sie starb, ja noch ein halbes Kind gewesen! So blickte er darum nicht ernster drein, weil Käthe, während sie in den Sachen der Mama kramte, ein Liedchen vor sich hin trällerte; selbst das fröhliche Lachen, in das sie plötzlich ausbrechen konnte, wenn ihr ein neckischer Einfall durch den Kopf ging, beleidigte ihn nicht. Es war ja alles so anmutvoll: ihr Singen, Lachen, Plaudern, jede Bewegung – er hätte nur immer so dastehen und zuhören und zusehen mögen.

Das ging nun freilich nicht an. Unten im Büreau saß sein alter braver Wenhak über den Belegen und Rechnungen, sehnlich auf seinen jungen Herrn wartend; ein paar neue Pächter hatten dringend um eine Audienz gebeten; der Baumeister aus Grimm war da, die Pläne zu sechs neuen Scheunen und Viehställen vorzulegen, die gleich im Frühjahr in Angriff genommen werden sollten, und zu denen noch während des Winters das Material heranzuschaffen war. Dann ging es gar nicht anders, als daß er selbst wiederholt nach Grimm oder Grünwald fuhr, um die von Käthe gewünschten Einkäufe für den Weihnachtstisch zu machen. Den sehr großen Weihnachtstisch! War es doch Käthes Ideal, daß es eine einzige große Tafel sein müßte mit einem ganz kolossalen Lichterbaum in der Mitte und so vielen Lichterbäumchen, als es zu beschenkende Personen gab, vom alten Wenhak an durch das Inspektoren- und Hausbedienstetenpersonal, die Gartenleute eingeschlossen bis zu dem jüngsten Gärtnerburschen! Hans empfand einen gelinden Schauder bei dieser schier endlosen Perspektive; aber Käthe bat so lieblich: Nicht wahr, Hans, wir machen es so? daß »wir« es natürlich so machen mußten. Glücklicherweise konnte der große Speisesaal unten die längste Tafel bequem aufnehmen; und seine Höhe setzte der des betreffenden Tannenbaums auch nicht so bald ein Ziel. Dazu verstattete seine Breite, in angemessener Entfernung von der großen Tafel eine kleinere herzurichten für die »Herrschaften«: das junge Paar selbst, den Papa, seinen Hausgenossen, Herrn Brunnow – unter der Bedingung, daß er das Cornet à piston nicht mitbringt, sagte Käthe lachend –, und einen Vetter von Hans, Lieutenant Viktor von Kardow, vom Jägerbataillon in Grünwald, der, erst vor kurzem dorthin kommandiert, seine Verwandten in Möllenhof sofort aufgesucht hatte und von ihnen für die Weihnachtsfesttage eingeladen war.

Und da das junge Ehepaar mit solcher Hingebung und so großer Freude an der Sache einander in die Hände arbeitete, gedieh sie denn auch zu ihrer vollen Zufriedenheit. Als es am heiligen Abend zu dunkeln begann, war die kleine Welt, die es so eifrig zusammengetragen und aufgebaut, bis zur geringfügigsten Kleinigkeit auf das schönste geordnet; und Käthe konnte, wie ein richtiges Kind, die Zeit nicht erwarten, bis das letzte der hundert und aber hundert Lichter entzündet war, und Hans mit der großen silbernen Glocke das Zeichen geben durfte.

Hätte Käthe ihre Erwartung von dem Erfolg ihrer und ihres Hans' Mühen auch noch höher gespannt gehabt, es wäre über ihr kühnstes Hoffen doch hinausgegangen, wie es nun in Wirklichkeit sich darstellte, als die Flügel der gewaltigen Saalthür aufsprangen, und die Menge, welche im vorderen Saal geharrt, hereinströmte: Männer, Frauen, Kinder; denn sie hatte angeordnet, daß die Verheirateten auch die Kinder mitbringen sollten. Ueber fünfzig Personen – ein kleines Heer von erst verlegenen, dann erstaunten, bald in Freude strahlenden Gesichtern. Dies für Sie, lieber Herr Wenhak; dies für Sie – Sie müssen entschuldigen – richtig: Herr Moor; dies für Sie! – Und Herr Wenhak und Herr Moor, die Inspektoren, und die andern alle außer und in der Reihe sagten: das sei ja viel zu viel; das hätten sie ja gar nicht erwartet, und machten ihre besten Verbeugungen und Knixe und drängten sich heran, ob sie dazu gelangen könnten, der gnädigen Frau die kleine weiße Hand zu küssen. Inzwischen hatte Hans, unterstützt von seinem Vetter und Herrn Brunnow, Wein in vollgeschenkten Gläsern herumzureichen begonnen, freundlich abwehrend, wenn die verschämten Leute ihm die Mühe abnehmen wollten: er werde das ganze Jahr hindurch bedient; so möge man ihm verstatten, wenigstens für einmal die Rolle auszutauschen. Das konnte der alte Oberinspektor denn doch nicht so hingehen lassen, ohne mitten in den Saal zu treten und, das Glas in der Hand, eine kleine, schmucklose Rede zu halten, die mit der Aufforderung schloß, den gnädigen Herrschaften, dem Herrn Baron und seiner jungen Frau Gemahlin, ein Hoch auszubringen.

Was denn zu dreien Malen geschah, kräftig genug, um die Krystallbommeln an den drei großen Kronleuchtern erzittern zu machen.

Mittlerweile hatten die Kinder angefangen, erst schüchtern, dann herzhafter die Trommeln und Trompeten auf ihre Klangwirkung zu untersuchen, und bald erhob sich ein vieltöniges Lärmen zum Entsetzen des musikalischen Vetters und zum höchsten Ergötzen von Käthe, die versicherte, ein schöneres Konzert noch nie gehört zu haben. Nun aber glaubte doch Hans, dem Übermute seiner kleinen Frau eine Schranke ziehen zu müssen, indem er ihr den Arm bot und die drei andern Herren ihnen zu folgen bat, den Oberinspektor beauftragend, dem Feste weiter vorzustehen und es nach seinem Dafürhalten zu schließen.

Das behagliche Souper wurde in dem kleinem, nach vorn gelegenen Speisezimmer eingenommen. Es währte nicht eben lange. Hans sah, daß seine Käthe doch angegriffener sei, als sie irgend zugeben wollte. Und man hatte sich erst unlängst nach oben begeben und die beiden jüngeren Herren, Vetter Viktor auf der Violine, Herr Brunnow ihn am Flügel begleitend, im Musikzimmer ein Duett begonnen, als sie sich zurückziehen mußte: nur auf ein Viertelstündchen, nur um, sich eben einmal auf dem Sofa auszustrecken, unter Androhung ihrer völligen Ungnade, wenn die Herren sich durch ihr kurzes Verschwinden in irgend einer Weise stören ließen. So verschwand sie, freundlich mit blassen Lippen lächelnd, an Hans' Arm. Die beiden Herren fingen das unterbrochene Duett von vorn an; Hans kam nicht so bald wieder; der Oberförster hatte, in dem Gemache neben dem Musikzimmer, nach seiner Weise, die Hände auf dem Rücken, langsam hin und wider schreitend, Zeit, die Eindrücke des Abends an seinem Geist vorüberziehen zu lassen.

Ein Gefühl, ihm so fremd, daß er ihm nicht gleich einen Namen geben konnte, beklemmte ihn. Und da hatte er auch den Namen: Beschämung. Als am Morgen nach jener furchtbaren Nacht, in welcher er sein Tagebuch las und verbrannte, Hans kam, um Käthes Hand von ihm zu erbitten, stand der Entschluß, dem Sohn um des toten Vaters willen sein Kind nicht zu verweigern, so fest in seiner Seele, wie in der Nacht. Dafür hatte sich ein andres Bedenken desto lebhafter hervorgedrängt, über das er mit Hans offen sprechen konnte und sprach. Es komme dem Vater gewiß nicht zu, in den Augen des Liebhabers sein Kind herabzusetzen; aber er halte es für seine Pflicht, Hans zu ermahnen, noch einmal ernstlich prüfen zu wollen, ob er denn wirklich hoffen dürfe, mit Käthe glücklich zu werden. Von der Lieblichkeit ihrer Erscheinung, der Anmut ihres Wesens wolle er nicht sprechen: man brauche weder Vater, geschweige denn Liebhaber zu sein, so köstliche Eigenschaften voll zu würdigen. Nur daß man den Schmuck des Lebens, auch den köstlichsten nicht, mit dem Leben selbst verwechseln dürfe, zu dessen Führung solidere Eigenschaften gehörten des Geistes und Gemütes: Verstand, Willenskraft, die Kraft, im Kampfe auszudauern. Habe Hans sich gefragt, ob Käthe diese Eigenschaften in der nötigen Stärke besitze? Käthe sei noch so jung. Was ihr jetzt noch zu fehlen scheine, könne sich ja schon nach wenigen Jahren eingefunden haben. Hans selbst sei noch so jung, in dem Alter, in welchem auch ernste, solide Menschen sich darauf gefaßt machen müßten, starke Wandlungen in ihrer Schätzung von Welt und Menschen vor sich gehen zu sehen. Ob sie nicht noch einige Zeit warten wollten, bevor sie sich für immer bänden?

Die treue Mahnung hatte natürlich nichts gefruchtet. Zum erstenmal im Leben hatte Hans bei der Entscheidung über eine wichtige Frage nicht auf das Wort seines Mentors, nur auf die Stimme des eigenen Herzens hören wollen; und er und Käthe waren eine Stunde später Bräutigam und Braut gewesen.

Er selbst aber hatte seufzend des Glückes gedacht, das er sich an Elfriedens Seite geträumt, und was dann schließlich aus diesem Traum geworden war. Dann kamen Käthes Briefe von der Reise. Seitdem sie aus der Pension zurück war, hatte er keine Briefe von ihr gelesen, und, eingedenk der mäßigen Freude, welche ihm vordem Stil und Inhalt ihrer Pensionsbriefe gemacht, auch ihre ersten Reiseberichte zagend zur Hand genommen. Er war auf die angenehmste Weise enttäuscht gewesen. Kein Aufwand von Geist, den sie in diesen Mitteilungen trieb – sicher nicht! Aber aus jeder Zeile hatte gesunder Menschenverstand gesprochen, schnelles, sicheres Erfassen der Dinge und Situationen, ein gar nicht unbedeutendes Talent linien- und farbenkräftiger Schilderung; dazu ein schalkischer Humor, der sich mit jedem Briefe freier hervorwagte.

Ist denn das Käthe, die du so gut zu kennen glaubtest, hatte er sich ein über das andre Mal gefragt.

Und hatte es sich wieder gefragt, als sie nach drei Monaten von der Reise zurückkam, fast um einen Zoll gewachsen, etwas blaß infolge der langen Wagenfahrt, die ihr bei ihrem Zustand recht beschwerlich sein mochte; aber mit Zügen, nicht minder anmutig, und doch so viel bestimmter, und Augen, womöglich noch glänzender, als früher, nur daß sie jetzt auch noch um ebensoviel an Festigkeit und Sicherheit gewonnen hatten.

Und heute abend gar! Wie sie in dem großen Kreise geschaltet hatte, mit welchem kindlichen Frohsinn, mit welch bezaubernder Liebenswürdigkeit, ohne sich jemals das mindeste zu vergeben, einen Augenblick nur zu vergessen, daß sie trotz alledem die Würde des vornehmen Hauses zu repräsentieren habe, dessen Herrin sie war!

Wahrlich, er hatte diesem Kinde, das sich aus der lieblichen Knospe so schnell zur prächtigen Blume entfaltet, viel, sehr viel abzubitten.

Und er that es freien Mutes von ganzem Herzen, während ein Wohlgefühl ihn durchströmte, wie er es nie gekannt zu haben glaubte.

Und das selbst die Erinnerung an sie, die er so grenzenlos geliebt hatte und an die ihn hier alles, was ihn umgab, wehmutvoll feierlich mahnte, nicht zu trüben vermochte.

Diese Flucht der Zimmer, es waren die ihren gewesen. In eben diesem hatte sie ihn so oft empfangen; hatte er, bald in heiterem Plaudern, bald in tiefernsten Gesprächen, Stunden und Stunden mit ihr verbracht – Stunden, deren jede Minute von Süßigkeit getränkt gewesen war. Wie von unermeßlichem Schmerz die letzte in eben diesem Raum – die Abschiedsstunde, als sie einander in den Armen hielten, wissend, daß es nie wieder sein werde, nie wieder sich Aug' im Auge spiegeln, nie wieder die Lippen sich auf einander pressen, nie wieder die Worte geflüstert würden: Weißt du denn, wie grenzenlos ich dich liebe? und: Ich weiß es, Geliebter. Und so liebe ich dich!

In ihre Hand, die schon von Todesschweiß feuchte, hatte er ihr geschworen: Ich will deines Sohnes Vater sein; aus allen Kräften will ich ihm helfen, ein glücklicher Mensch zu werden. Und als er Hans Käthe zum Weibe gab, sich bang gefragt: Heißt das deinen Schwur halten?

Nun war die bange Frage so über alles Wünschen und Hoffen hinaus herrlich beantwortet, und die letzte schwere Wolke an seinem Horizont verschwunden. Nun verlohnte es sich wohl noch, ein paar Jahre zu leben, nicht mehr in düsterer Vergrämtheit, in trüber Selbstquälerei – nein, mit freier Stirn, und heiterer Brust. Wahrlich, er hatte dem Leben unrecht gethan; es viel zu schwer genommen. Da eben von jenseits des Parkes kam das dumpfe Rollen des Eisenbahnzuges von Grimm nach Sundin. Wie war er außer sich gewesen, als vor fünf Jahren diese Zweigbahn, die doch für diese Gegend zwingendes Bedürfnis war, von der Regierung nach langem Zögern endlich beschlossen wurde, und die Trace in der Richtung von Möllenhof nach der Waldschenke quer durch sein Revier ging, fast genau parallel mit dem alten Holzwege unmittelbar hinter seiner Baumschule weg, so daß das Rasseln der Züge, der schrille Ton der Dampfpfeife bis in sein Schlafzimmer deutlich herüberschallten. Unerträglich war es ihm erschienen; und er wäre um seine Pensionierung eingekommen, nur daß er eben Käthe nach Sundin in das Erziehungsinstitut geschickt; und dem ältesten Amsbergschen Jungen, der sich in Grünwald als Tischler etabliert, hatte er ein kleines Kapital vorgestreckt, das er dann hätte kündigen müssen; und der alte Förster selbst wurde nur noch durch ihn im Amte gehalten – so hatte er auf seinem ihm völlig verleideten Posten auszuharren, grollend, murrend, wünschend, daß der Tod komme und dem öden Einerlei ein Ende mache.

Wie schön die beiden jungen Leute musizierten! Wie weich und voll der Ton der Geige unter den Fingern dieses jungen Offiziers, der ihm heute nachmittag als der Typ eines Durchschnittslieutenants erschienen war! Und auch der Brunnow! Im Leben nicht hätte er gedacht, daß der Mensch so gut spiele! Freilich der Flügel hier und bei ihm zu Hause der alte Klapperkasten von Piano von der Ausstattung Elfriedens her! Er würde ein neues Instrument anschaffen. Gute Musik von Zeit zu Zeit sei doch ein gutes Ding, alte Schlacken lösend, die sich da im Gemüt ablagerten, es nutzlos beschwerend. War es nicht zum Lachen, daß er alles Ernstes gewünscht hatte, Käthe möchte sich in Brunnow verlieben, damit doch nur Hans aus dem Spiele bleibe! Nun, Brunnow hatte den Schmerz unerwiderter Liebe in seinem Cornet verblasen; und Hans, wenn nicht alles trügte, hatte in Käthe das verdiente Glück gefunden.

Er war vor dem Porträt stehen geblieben, dem Käthe den Ehrenplatz in dem Gemache eingeräumt hatte: dem Porträt der Geliebten aus ihrer Mädchenzeit, von Gustav Richter Gustav (Karl Ludwig) Richter (1823-84), deutscher Maler; besonders Porträts begründeten seinen Ruf. Er war verheiratet mit Cornelie Meyerbeer, Tochter des Komponisten Giacomo Meyerbeer. in Berlin gemalt, in der Manier dieses Künstlers: nicht eben charakteristisch, aber mit warmer Empfindung für die eingeborene Schönheit der Linien und Farben. Hier war freilich mehr; zu viel des Himmelsglanzes für diese dunkle Erde. Und sich sagen zu dürfen, daß dies märchenhaft schöne Wesen ihn geliebt hatte! Oder war es nur ein seliger Traum gewesen? hatte er alle diese Jahre nur von dem Nachklang eines Traumes gelebt?

Eine Hand berührte leicht seine Schulter; es war Hans.

Hätte sie diesen Abend erlebt, meinst du nicht, es würde sie beglückt haben?

Gewiß, Hans, gewiß. Wie geht es Käthe?

Sie wurde mir ein wenig ohnmächtig. Aber es hat nichts zu bedeuten. Sie wollte durchaus wieder erscheinen. Ich habe ein Machtwort sprechen müssen. Sag, Papa, du hast doch meine Mama so gut gekannt –

Ja, weshalb?

Es ist mir – seltsamerweise erst neuerdings; aber mein junges Glück hat so vieles in mir angeregt und klargemacht – die Erinnerung gekommen, als ob sie eigentlich immer recht traurig und melancholisch gewesen sei. Ich würde das ja begreifen: nach Papas schrecklichem Tode. Aber sie muß schon vorher so gewesen sein. War es Sache des Temperaments? Hatte sie einen besonderen Grund für diese schwermutsvolle Stimmung? Aber welchen? Sie war jung, schön, reich; hatte den Gatten, den sie liebte, von dem sie sicher von ganzer Seele wiedergeliebt wurde, trotz der kleinen Schwächen, die er haben mochte. Du hast gewiß dieselbe Beobachtung gemacht und hast einen so tiefen Blick in die Seelen der Menschen. Kannst du mir sagen, was es mit der Mama war?

Nein, Hans, ich kann es nicht. Ich habe wohl gemeint: es war die Melancholie, die ja das Erbteil und Schicksal aller wirklich bedeutenden Geister sein soll. Daß deine Mutter zu diesen Geistern zählte – das wenigstens steht bei mir außer aller Frage.

Hans lächelte.

Dann, weißt du, ist es mit meiner Bedeutenheit nicht weit her. Ich bin glücklich – tout simplement!

Bist du's, mein Junge?

Mehr als Worte es sagen können. Ich war rechtschaffen verliebt – das weiß der Himmel. Aber was war das für ein armselig Gefühl im Vergleich zu der Liebe, mit der ich Käthe jetzt liebe! Jeden Tag sage ich mir: nun kannst du sie nicht mehr und inniger lieben; es ist unmöglich. Und jeder neue Tag führt mich ad absurdum, und ich meine, ich hätte sie überhaupt noch gar nicht geliebt.

Hans' braune Augen strahlten; sein schönes Gesicht war wie verklärt. Plötzlich flog ein Schatten darüber hin.

Weißt du, sagte er, die Stimme senkend, manchmal überläuft mich ein Schaudern in diesem Überschwang des Glücks. Ich frage mich: kann, was so süß und köstlich ist, dauern? Giebt es nicht doch so etwas wie einen Neid der Götter?

Nein, das giebt es nicht, rief der Oberförster fast heftig. Es giebt nur menschlichen Kurzsinn, der, weil er eine Sache nicht zu Ende denken mag, aus seiner Einbildung Wahngebilde schafft, die es für ihn thun sollen; und die er dann Götter nennt, um sich gelegentlich vor ihnen fürchten zu können, wenn er der eingeborenen Feigheit einen großen Namen geben will. Verzeihe, Hans! Das alles zielt gar nicht auf dich, sondern auf mich. Ich habe mir mit solchem bösen Geträume so viele Jahre meines Lebens verleidet; habe so furchtbar darunter gelitten. Ich kann es nicht hören, daß mein braver Hans auch nur einen Fuß auf diesen schwankenden Boden setzt; auf diesen Morast, in welchem der Unglückliche, der thöricht genug war, sich hinauszuwagen, rettungslos versinkt. Bist du mir bös?

Wie sollte ich das wohl anfangen! rief Hans, ihm lächelnd die Hand reichend, innerlich erstaunt, was doch den Papa, der sonst so sicher auf sich selbst ruhte, in solche Aufregung versetzt haben könne.

In dem Augenblicke kam ein Diener ins Zimmer, der Hans auf silbernem Teller einen Brief präsentierte.

Was ist das? fragte Hans. Es kommt doch heute abend keine Post mehr.

Er ist auch nicht vom Postboten gebracht, sagte der Diener. Es hat ihn einer unten abgegeben. Er bat so dringend, ihn gleich dem gnädigen Herrn zu bringen. Und da dachte ich –

Es ist gut – der Mann wartet?

Nein, gnädiger Herr, er ist wieder fortgegangen.

Wie sah er aus?

Nicht zum besten, gnädiger Herr. So wie einer, der es einmal besser gehabt hat.

Es ist gut.

Hans hatte den Brief vom Teller genommen, der Diener das Zimmer verlassen.

Ein verschämter Armer also, sagte Hans. Und der den Weihnachtsabend für eine gute Zeit hält, sein Anliegen anzubringen. Nun, er soll sich nicht getäuscht haben.

Er hatte den Brief erbrochen.

Keine Unterschrift, sagte er verwundert.

Dann lies ihn nicht! rief der Oberförster; man sollte grundsätzlich keine anonymen Briefe lesen!

Es wird schon im Brief stehen, wohin ich das Betreffende schicken soll, sagte Hans, der schon zu lesen begonnen hatte.

Der Oberförster hatte gesehen, daß das Schreiben nicht eben lang war. So wunderte es ihn, wie Hans so geraume Zeit daran lesen konnte, und, nachdem er es entschieden gelesen, noch immer auf das Blatt starrte.

Was ist es, Hans? Etwas Unangenehmes natürlich.

Man wäre geneigt, es so zu nennen, erwiderte Hans mit einem Versuch zu lächeln, der nicht gelingen wollte.

Kann ich es sehen?

Ich weiß nicht recht – indessen – da! Er hatte das Blatt hingereicht und sich abgewandt. Der Oberförster las:

Hochgeehrter Herr Baron! Es liegt mir nichts ferner, als Ihnen wehe thun zu wollen. Aber das Hemd ist einem näher als der Rock, und wenn einem das Schicksal unter die Füße getreten hat, nimmt man es mit der Nächstenliebe nicht mehr so genau. Ich will es kurz machen. Ich kannte Ihren Herrn Vater – sehr gut! Und ich könnte, wenn ich wollte, Diverses von ihm erzählen, das ihm nicht gerade zur Ehre gereicht. Unter anderm ist er schuld an meinem Unglück und daß ich von einem wohlhabenden Manne zu einem Bettler geworden bin. Der jetzt bei Ihnen anklopft mit der Bitte: helfen Sie dem, den Ihr Herr Vater ruiniert hat, aus seinem Elend! Sie können es, wenn Sie ihm ein paar tausend Mark – ich möchte Ihrer Freigebigkeit keine Grenze ziehen – nach Grimm auf das Postamt schickten, am besten in einer Anweisung auf Sicht, per Adresse X. Y. Z. poste restante.

Hans hatte sich wieder gewandt.

Du erlaubst, daß ich diesen Wisch zerreiße! sagte der Oberförster.

Ich meine, sagte Hans, dabei käme der Kerl denn doch zu glimpflich weg. Dies ist ein Erpressungsversuch der allergemeinsten Art. Einen Sohn anzubetteln unter der Drohung, ehrenrührige Dinge von seinem Vater erzählen zu können! Das gehört einfach vor den Staatsanwalt.

Den ich in diesem Falle doch aus dem Spiel lassen würde. Nicht, als ob ich glaubte, der Mensch wisse etwas Uebles von deinem Vater! Aber was man nicht weiß, läßt sich ja erfinden. Und der Mensch, der das geschrieben hat, hat sich sicher auf seine Rolle präpariert.

Also, ich soll ihm das Geld in seine schmutzigen Hände stecken?

Damit er sie nach einiger Zeit, die vermutlich nicht lange währen würde, wieder aufthut.

Was aber dann?

Wenn ich dir raten darf: nichts. Sobald der Mensch sieht, daß du nicht der Mann bist, dich so ohne weiteres ins Bockshorn jagen zu lassen, wird er vorziehen, seine Künste an andern zu probieren, die leichter zu fangen sind. Gib mir den Brief!

Was willst du damit?

Ich habe im Laufe der langen Jahre die Handschriften so vieler Menschen dieser Gegend in meinen Briefen und Akten. Und diese hier ist offenbar nicht verstellt. Es wäre doch ganz interessant, den ingeniösen Herrn gelegentlich zu eruieren.

Das hätte man doch einfacher, wenn man ihn am Postschalter abfaßte.

Zu dem er sich schwerlich in Person einfindet. Auf alle Fälle wäre der Skandal fertig. Und gerade das will ich vermeiden. Du glaubst ja nicht, wie versessen die Menschen hier herum auf Skandal jeglicher Art sind!

Nun, wie du meinst! Obgleich es mir, offen gestanden, nicht recht in den Kopf will, daß jemand, und wäre es ein Halunke, ungestraft an die Ehre meines Vaters gerührt haben soll.

Ich begreife das. Aber, Hans, mit Halunken schlägt man sich nicht und geht auch mit ihnen nicht ins Gericht.

Also: wie du meinst.

Der Oberförster hatte den Brief in seine Tasche gesteckt. Nun kamen die beiden jungen Herren, die sich endlich doch müde musiziert, aus dem Nebenzimmer. Der Lieutenant wünschte zu wissen, ob in diesem edlen Hause kein Skat zusammenzubringen sei? Der Oberförster erklärte, nie zu spielen; es stellte sich auch zu des Lieutenants größter Verwunderung heraus, daß Vetter Hans noch nie »einen Skat gekloppt« hatte.

Dann saß man noch eine Weile in Hans' Rauchzimmer bei einer Flasche altem Markobrunner. Aber das Gespräch wollte nicht recht in Gang kommen, und der Oberförster bat bald, seinen Wagen vorfahren zu lassen.

Hat es etwas zwischen euch gegeben? fragte der Lieutenant verwundert, als die Herren aus der Oberförsterei fort waren.

Zwischen mir und ihm? erwiderte Hans. Nein, lieber Sohn! So etwas kann überhaupt nicht vorkommen.


Der Oberförster atmete hoch auf, als er mit seinem jungen Gefährten im Wagen saß und durch die sternklare kalte Dezembernacht den kurzen Weg auf der Chaussee nach Hause fuhr. Gott sei Dank, daß es ihm gelungen war, vor Hans die Aufregung zu verbergen, in welche ihn der Unglücksbrief, den er in der Tasche trug, versetzt hatte! So wollte also doch die böse Vergangenheit ihren Mund aufthun, der so lange geschwiegen, daß man sich wohl der Hoffnung hingeben mochte, er sei für immer verstummt! Nun, diesen Schlag wenigstens, der Hans drohte, glaubte er parieren zu können. Die Handschrift des Briefes mochte die des Waldschenkenwirts sein, oder auch nicht; aber daß Riek der moralische Urheber war, daran zweifelte er nicht. Der Mann hatte nach der Katastrophe vor achtzehn Jahren, die ihn auf ein paar Monate in das Gefängnis brachte, nicht wieder in die Höhe kommen können. Die Spielergesellschaft, der die Waldschenke zur Herberge gedient, war zerstoben und mit ihr eine reiche Einnahmequelle versiegt; seit dem Tode des Barons gab es keine Subventionen von Möllenhof, und mit dem Verschwinden der roten Marie hatte für die meisten Gäste die Schenke ihre beste Anziehungskraft eingebüßt. Trotzdem bestand sie noch fort; aber, wie man dem Oberförster gesagt, in einem kläglichen Zustande; er selbst hatte sich gehütet, das Haus wieder zu betreten.

Und von seinem verkommenen Wirt mußte der Erpressungsversuch ausgegangen sein. Was galt es dem Elenden, die Schande seiner Tochter zu enthüllen, wenn ihm die Enthüllung ein hübsches Stück Geld brachte! Zweifellos hatte er von dem Verhältnis nicht nur gewußt, sondern es in jeder Weise begünstigt, und mit Sicherheit ließ sich annehmen, daß er Briefe an ihn selbst, oder an die saubere Tochter besaß, welche die Schuld des Barons bewiesen. Merkwürdig war nur, daß er so lange gewartet, bis er den vergifteten Pfeil abschoß. Immerhin mochte ihm erst jetzt der lukrative Einfall gekommen sein, vielleicht mit den Briefbelegen, die er aus einem Winkel aufgestöbert.

Noch bevor er sein Haus erreicht, stand bei dem Oberförster der Beschluß fest, morgen die Waldschenke auszusuchen. Ueber das weitere wollte er sich heute nacht den Kopf nicht mehr zerbrechen. Es würde sich an Ort und Stelle schon finden.

Das Wetter war in der Nacht umgeschlagen, der Wind von Osten nach Westen gesprungen, dicke, graue Schneewolken vor sich herjagend, so tief, daß sie fast die Wipfel der Tannen streiften, die in seinem starken Anhauch, knarrend und knackend, sich hinüber- und herüberbogen.

In der Seele des Oberförsters, als er im Jagdwagen, dicht in den Dienstpelz gehüllt, am Morgen durch den Forst nach der Waldschenke fuhr, herrschte dieselbe Stimmung wie in der Natur. Das sollte also gestern abend wieder nur einer jener verhängnisvoll trügerischen Sonnenblicke gewesen sein, denen der Regen auf dem Fuße folgt, und die er so genau kannte! Als ob es in sein Leben nicht bereits übergenug geregnet hätte! überreichlich Schnee und Hagel gefallen wäre! Aber weshalb hätte man so viel böses Wetter durchgemacht, als um wetterfest zu werden! und Regen, Schnee und Hagel hinzunehmen, wie sie eben kamen! Wenn die beiden, in deren jungem Glück er gestern abend seit Jahren und Jahren die erste sonnige Stunde erlebt, nur geschützt blieben vor des Wetters Ungemach! Er wollte doch sehen, ob er machtlos sei, sie zu schützen! Der alte Sünder da in der Schenke sollte erfahren, mit wem er es zu thun hatte!

Der Wagen bog von der Chaussee über die Brücke in den Vorhof und hielt an dem Hause. Es bot einen traurigen Anblick. Das Weiß der Tünche hatte, nie wieder erneuert, im Lauf der Jahre sich in schmutziges Grau verwandelt; von den Wänden war der Putz in großen Stücken abgefallen, mißgestaltete dunkle Flecken zurücklassend; die einst grünen hölzernen Jalousieen des oberen Stocks, wo die Gastzimmer lagen, waren schwarz geworden und sämtlich geschlossen, so weit sie sich noch schließen ließen: an den meisten fehlte die Hälfte der Sparren; ein paar Flügel hingen nur noch an einem Angel und mochten jeden Augenblick vollends herabfallen. Auch in dem Erdgeschoß waren die morschen Läden zum Teil zugemacht; nur von der großen Gaststube rechts sah man die verschmutzten Fenster; in dem einen hatte man eine zerbrochene Scheibe mit Zeitungspapier verklebt. Jetzt verstehe ich schon eher die hungrige Unverschämtheit des Mannes, sprach der Oberförster bei sich; er nagt offenbar an dem letzten trockenen Brocken.

Inzwischen war aus der halbgeöffneten Hausthür ein leidlich anständig gekleideter junger Mensch getreten, der Hausknecht und Kellner in einer Person zu sein schien, denn er fragte den Kutscher, ob er ausspannen? und den Oberförster, ob er nicht näher treten wolle? Der Oberförster stieg ab, dem Kutscher bedeutend, falls er länger im Hause bleiben und es anfangen sollte, stärker zu schneien, unter den offenen Schuppen zu fahren, sonst vor der Thür halten zu bleiben. Dann folgte er dem jungen Menschen in das Haus und in die Gaststube, die völlig leer gewesen wäre, hätte an einem der Tische vor einem Glase mit Schnaps nicht ein Mann gesessen, der bei seinem Eintreten erst den aufgestützten Kopf, dann sich in ganzer Person schwerfällig hob und, die schmutzige betroddelte Kappe ziehend, ihm entgegenkam: Herr Riek selbst.

Der Oberförster hatte ihn fast nicht wieder gekannt. Das aufgedunsene Gesicht, die halb zugequollenen, stark geröteten Augen, die grauen Bartstoppeln, an die seit Tagen kein Scheermesser gekommen sein konnte, der dicke Leib, die verwahrloste Kleidung, zu der die unsaubere Wäsche stimmte – alles verkündete den hoffnungslosen Trinker. Die paralytische Hand, die er dem Gaste entgegenstreckte und, als der sie nicht nahm, in hilfloser Verlegenheit fallen ließ, hatte sicher den Brief von gestern abend nicht geschrieben. Es war da also, wie der Oberförster sofort vermutet, ein Helfershelfer; und vielleicht war dieser Helfershelfer auch der intellektuelle Urheber des Schurkenstreichs. Das mahnte zur Vorsicht.

Und zugleich überkam den Oberförster etwas wie Mitleid mit diesem alten verkommenen Menschen, der nur noch eine jammervolle Ruine des rundlichen, beweglichen, spaßigen Waldschenkenwirts war, den er vor Jahren gekannt und der immerhin zu den Honoratioren der bürgerlichen Nachbarschaft gezählt hatte. Mußte er mit ihm ins Gericht gehen, so wollte er es glimpflich thun.

Vorerst galt es, den Boden zu sondieren und zu dem Zwecke den Mann zum Sprechen zu bringen.

Es hielt nicht schwer. Wenn die Zunge auch lallte und hin und wieder ein Wort nicht finden konnte – redselig genug war sie.

Der liebe, der gute Herr Oberförster, der es nicht verschmähte, auf dem Wege nach Grimm zu einer Konferenz bei einem alten vergessenen Manne vorzusprechen! und sich bei dem Hundewetter einen Cognac zu genehmigen, von dem denn doch noch aus Olims Zeiten glücklicherweise ein paar Flaschen im Keller waren. Ja, ja! Olims Zeiten – bessere Zeiten! Wenn sie seitdem so viel schlechter geworden – er sei nicht schuld daran; er wasche seine Hände in Unschuld! Wie hätte er wohl gegen den reichen Herrn Specht aufkommen können, wenn der zu ihm sagte: Hören Sie, Riek, wir müssen einen Ort haben, wo wir in Ruhe unser Spielchen machen können. Auf Katznow geht das nicht; so oft Gesellschaft in einem Privathause würde auffallen: die Waldschenke, das ist das Wahre; und wenn Sie Ihre Hinterzimmer für uns frei halten und Ihre Leute ordentlich instruieren und selber natürlich nichts sehen und nichts hören, so soll es Ihr Schade nicht sein. Ach, lieber Herr Oberförster, was thut der Mensch nicht, wenn er so viele Hypotheken auf seinem Hause und seinem Grundstücke hat! Na, der Herr Specht ist tot, und von Toten soll man ja nicht schlecht sprechen. Aber auf dem Gewissen hat er mich; und ich möchte nicht in seiner Haut gesteckt haben, als der Herr ihn fragte: Was, hast du mit dem alten, ehrlichen Riek gemacht? Ja, ja, lieber Herr Oberförster, Sie können es mir glauben: es giebt schlechte Menschen. Wenn einer eine Tochter hat, wie ich, der kann ein Lied davon singen. Ich habe sie seinerzeit in Grimm in der Pension gehabt und mir die Butter vom Brot gespart, nur, damit es ihr an nichts fehlte. Und jetzt in meinen alten Tagen – es ist himmelschreiend! Wissen denn der Herr Oberförster, daß sie geheiratet hat, die – schon vor zehn Jahren – ihren Inspektor, der sie prügeln soll, wie sie's verdient? Nicht einen Pfennig mehr, schreibt sie, habe ich und kann nur mit meinen drei Kindern betteln gehen. Glauben Sie das! Möglich wär's schon: unrecht Gut gedeiht nicht, habe ich hundertmal zu ihr gesagt; und du darfst dir von dem Herrn Baron nicht so viel sündiges Geld geben lassen und Ringe und ich weiß nicht was. Und, Marie, habe ich zu ihr gesagt, es ist eine Sünde und Schande, daß du es so mit einem treibst, der selber Frau und Kind hat. Aber natürlich: zu einem Ohr hinein, zum andern wieder heraus. Und, habe ich gesagt: von euch beiden hast du zehnmal mehr schuld; die Männer sind alle leichtsinnig, wenn es ihnen die Weiber so leicht machen. Habe ich nicht recht, lieber Herr Oberförster? Wollen Sie schon fort, lieber Herr Oberförster? Genehmigen Sie sich noch einen –

Ich danke, Herr Riek; ich muß zur bestimmten Stunde in Grimm sein.

Riek begleitete ihn zum Wagen.

Da sehe man es wieder: der Herr Oberförster müsse anspannen lassen, um nach Grimm zu kommen, als ob es keine Eisenbahn gebe! Kein Mensch habe was von der Eisenbahn. Er am wenigsten. Ordentlich zum Tort an der Nase fahre sie ihm vorbei und nehme ihm die paar Gäste, die sonst wohl noch zu dem alten Riek in die Waldschenke gekommen wären, wie heute morgen der liebe gute Herr Oberförster.

Diesmal nahm der Oberförster die dargebotene zitternde Hand. Nicht nur, daß sie den Brief nicht geschrieben – dieser verkommene alte Mensch mit seinem zerrütteten Gehirn wußte nichts von der häßlichen Sache. Sie war von einem andern geplant und ausgeführt.

Aber von wem? von wem?

Darüber zerbrach er sich den Kopf auf dem kurzen Wege nach Grimm und während der beiden Termine, die er dort abzuhalten hatte. Der Inspektor, dem Baron Fritz einst so übel mitgespielt? Aber hatte Herr Moen ihm nicht einmal gesagt, der Mann sei gestorben? Wenn er Herrn Moen ins Vertrauen zöge? Oder besser noch Frau Moen? Sie war der Landesgeschichten kundig wie keine, und Frauen haben in solchen Dingen eine so scharfe Witterung! Nur daß er auf ihre Diskretion doch wohl nicht so ganz sicher bauen konnte. Und dann würde eintreten, was er um jeden Preis vermieden wissen wollte: alte, halb vergessene Geschichten wurden aufgerührt, neue dazu erfunden, die dann natürlich ihren Weg zu Hans' Ohr nicht verfehlten und in die Harmonie seines Lebens einen grellen Mißklang trugen.

War der Rat, den er gestern Abend, nur um Zeit zu gewinnen, Hans gegeben: die Sache auf sich beruhen zu lassen, doch vielleicht der beste?

Aber der Mensch würde sie nicht ruhen lassen. Er würde, wenn er keine Antwort bekam, nach einigen Tagen sich wieder melden und es dann vermutlich nicht bei bloßen Andeutungen lassen.

Also mußte er eine Antwort haben, die dann selbstverständlich nur von ihm ausgehen konnte.

An dem Tisch des Gastzimmers, in welchem die Termine abgehalten waren, schrieb er:

»Der Adressat Ihres anonymen Briefes vom gestrigen Datum hat mich beauftragt, die betreffende Angelegenheit mit Ihnen zu ordnen. Ein nochmaliger Appell an ihn würde nicht nur nicht aussichtslos sein, sondern die übelsten Folgen für Sie haben. Sie finden mich zwischen vier und fünf Uhr nachmittags am besten zu Hause.

Königl. Oberförster R. Busch.«

Er adressierte, wie es der Anonymus gewünscht, und that im Vorüberfahren an der Post den Brief in den Kasten.


Zwei Tage lang kam der Oberförster nicht nach Möllenhof: er hatte mit dem Abschluß der Jahresrechnungen soviel zu thun ! nicht eine Stunde konnte er erübrigen!

In Wahrheit war es ihm peinlich, Hans unter die Augen zu treten, bis die fatale Sache ausgetragen war. Er konnte jetzt die Zeit bis dahin nicht erwarten und schalt innerlich auf den feigen Kerl, der, sobald sich ihm ein Gegner in Fleisch und Blut gegenüberstellte, die Flinte ins Korn warf.

So war der Nachmittag des dritten Tages, des letzten Sonnabends im Jahr, herangekommen und die bezeichnete Stunde beinahe vorüber, als der Bursche erschien: es sei ein Mann da, der den Herrn Oberförster in einer privaten Angelegenheit zu sprechen wünsche.

Er soll eintreten!

Der Bursche war gegangen; draußen auf dem Flur ein Scharren von Füßen an dem Eisen, ein Stampfen auf der Bastdecke vor der Thür.

Da bin ich denn doch neugierig, murmelte der Oberförster, während sein gespannter Blick auf die Thür gerichtet war.

Die that sich auf und der Fremde trat herein, soweit sich bei der bereits stark hereinbrechenden Dämmerung erkennen ließ, ein untersetzter breitschultriger Mann in mittlerem Alter mit einem plumpen brutalen Gesicht, das, übrigens rasiert, ein sogenannter Zimmermannsbart umrahmte. Der Oberförster hätte ihn für einen Handwerksmeister oder kleineren Pächter aus der Gegend genommen, nur daß die Kleidung eher auf einen Ausländer schließen ließ. Alles in allem: eine unerfreuliche Erscheinung, um so mehr, als ein starker Branntweingeruch von ihr ausging.

Wollen Sie Platz nehmen!

Der Fremde setzte sich.

Und mir sagen, was Sie zu mir führt!

Sie kennen mich nicht mehr, Herr Oberförster?

Ich erinnere mich nicht.

Es ist auch schon ein bißchen lange her, und oft habe ich das Vergnügen so wie so nicht gehabt: Karl Dreek!

Der Oberförster hätte sich fast vor die Stirn geschlagen. Wie war es möglich, daß er an den Menschen auch nicht mit einem Gedanken gedacht hatte, trotzdem die Waldschenke doch wahrlich an ihn hätte erinnern sollen! Aber er hatte so fest angenommen, der Mensch sei in Amerika längst verdorben und gestorben! So war er doch wenigstens auf der rechten Fährte gewesen, als er annahm, es müsse sich um die rote Marie handeln.

Ah! sagte er. Also Herr Dreek! Und nun, bitte, Ihr Anliegen!

Zuerst wollen Sie entschuldigen, daß ich Sie solange habe warten lassen; denn daß Sie auf mich gewartet haben, und zwar sehr, darauf will ich schwören. Ich war drei Tage auf der Reise – nach Hinterpommern. Hätte ich die Verhältnisse da gefunden, wie ich wünschte und hoffte, würde ich Sie möglicherweise nicht mit meinem Besuch belästigt haben.

Vermutlich doch. Man hat ja gern zwei Stränge für seinen Bogen. Den einen hatten Sie auch bereits aufgelegt, ehe Sie wußten, daß der andre nichts taugte; auf deutsch: die Dame selbst nichts mehr hatte und Ihnen also auch nichts geben konnte, weder auf Ihre Bitten, noch auf Ihre Drohungen, an denen Sie es sicher nicht haben fehlen lassen.

Karl Dreek lachte.

Sehen Sie! rief er, darauf habe ich meinen Mann taxiert! Als ich heute Ihren Brief fand, sagte ich gleich: Desto besser, mit dem kann man Vernunft reden.

Sehr freundlich! Und hätten Sie nun die Güte, mir zu sagen, worauf Sie eigentlich hinauswollen? Ich gestehe Ihnen, daß meine Zeit sehr knapp gemessen ist.

Ja, Herr Oberförster, so schnell wird die Geschichte am Ende doch beim besten Willen nicht gehen. Ein bißchen Geduld werden Sie schon haben müssen. Für einen Schwiegersohn thut man ja wohl mal ein Uebriges. Man kann auch nicht wissen: vielleicht kommen Sie selbst in der Geschichte vor.

Auf jeden Fall machten Sie es so kurz wie möglich!

Cut it short! All right! Also: Sie erinnern sich, wie ich vor achtzehn Jahren hier vom Hause fortgekommen bin. Es wäre nicht nötig gewesen, hätte ich meine Braut, die Marie, heiraten, die Wirtschaft übernehmen, schließlich den Alten beerben können. Es war damals noch genug da, und ich würd's schon zusammengehalten haben. Habe ich nun etwa nicht recht, wenn ich dem Herrn Baron schrieb, daß sein Vater an meinem ganzen Unglück schuld ist? Oder wenn Sie's noch nicht wissen – was mich übrigens bei Ihrer Freundschaft mit ihm Wunder nehmen sollte: er hat meine Braut aus einem anständigen Mädchen zu einer Dirne gemacht. Dann, als ich dahinter kam, bin ich aus Verzweiflung zum Spieler und Säufer geworden, wie mancher ehrliche Kerl, dem so etwas passiert. Dann hat mich mein Alter in die weite Welt hinausgejagt mit nichts weiter, als meinem kümmerlichen mütterlichen Erbteil, während alles andre meine beiden Schwestern bekommen haben, die Geizdrachen, für die ich an der Landstraße hinter der Hecke verrecken möchte. Kann Ihnen sagen, Herr Oberförster, bin oft genug nahe daran gewesen: in New-York und Chicago und San Francisco, bis ich endlich in den Rocky-Mountains Glück mit dem Silber hatte. Weiß nicht, ob Sie von so was eine Ahnung haben. Kann Ihnen sagen: ein Spaß ist es nicht, und Menschenleben, das eigene nicht ausgenommen, fallen dabei verteufelt leicht ins Gewicht. Na, mir hat's geglückt. Bin 'mal ein reicher Mann gewesen; hatte mein schönes Haus; konnte mir Pferde und Hunde halten und – na ja, die Weiber! Und die Würfel! Und dann ein Silbersturz und man ist wieder in dem alten verschimmelten Europa und muß von vorn anfangen.

Worunter Sie verstehen, daß man sich hinsetzt und Droh- und Erpressungsbriefe schreibt.

Unter anderm.

Die Ihnen leicht ein paar Jahre Gefängnis, eventuell Zuchthaus eintragen könnten.

Oho! Wenn Sie in einem solchen Tone mit mir sprechen!

In welchem andern dachten Sie?

In einem, in dem ein Gentleman zu einem andern spricht.

Sie ein Gentleman!

Herr Oberförster, ich habe meine Füße unter den Tisch des Präsidenten der Vereinigten Staaten gesteckt. Ich lasse so nicht mit mir reden.

Sie werden es schon müssen.

Herr Oberförster, so ein alter Kalifornier führt in seiner Tasche ein Ding bei sich, das gut gegen Beleidigungen ist.

Sie meinen so eines?

Der Oberförster zog einen Schubkasten des Schreibtisches auf, an dem er saß, nahm einen Revolver heraus und legte ihn neben sich.

Es ist nicht mehr ganz hell, aber noch Licht genug, setzte er in spöttischem Tone hinzu.

Wenigstens nicht dunkler als in der Schneise an dem Morgen, als Sie den Baron Kardow totschossen.

Ah!

Eine Pause von mehreren Minuten folgte, während derer die Dämmerung förmlich hereinzubrechen schien. Oder war ihm das Blut nur so plötzlich zu Kopf gestiegen?

Der Oberförster fragte es sich, indem er aus allen Kräften rang, das Entsetzen, das ihn jäh überfallen hatte, von sich abzuschütteln. Sein Geheimnis in den Händen dieses Menschen! Hier handelte es sich um Leben und Tod. Er war keines Gedankens mächtig. Nur eines war ihm klar: koste es, was es wolle, er mußte den Menschen da zum Schweigen bringen; so oder so es machen, daß er sein Schweigen nicht brach.

Um Karl Dreeks breite Lippen zuckte ein höhnisches Lächeln.

Sie sehen, Herr Oberförster, ich sitze an dem verteufelt viel längeren Ende von dem Hebel. Sie haben es sich selbst zuzuschreiben, wenn ich von meinem Vorteil einen Gebrauch mache, der ursprünglich gar nicht in meiner Absicht gelegen hat. Persönlich haben Sie mir eigentlich nichts gethan. Daß der alte Amsberg mich mit dem Rehbock abfaßte, dafür konnten Sie nichts. Hernach haben Sie mich nicht angezeigt und mir ein paar Monate Zuchthaus erspart. Dafür müßte ich Ihnen eigentlich dankbar sein, und nach Amerika wollte ich so wie so. Nun aber haben Sie sich für Ihren Herrn Schwiegersohn in die Schanze geworfen und mir das Geschäft verdorben. Der junge Herr würde schon mit sich haben reden lassen –

Sie irren sich. Er wollte die Sache einfach dem Staatsanwalt übergeben.

Wenn ich ihm die Briefe gezeigt hätte, die der Herr Baron – der Vater, meine ich – an die Marie geschrieben hat und ich in Händen habe? Ich kann Ihnen sagen, Herr Oberförster, da stehen saubre Sachen drin. Und Sie wollen mir doch nicht etwa einreden, daß der junge Herr von diesen Geschichten weiß! Wer soll sie ihm erzählt haben? Die Sache ist ganz einfach die: Sie wollen verhüten, daß er sie erfährt entweder direkt oder indirekt. Da hätten Sie's doch aber gescheiter anfangen sollen. Hätten sagen sollen: Herr Dreek, was kosten die Briefe? Bieten und Gegenbieten macht den Handel. Wir wären handelseinig geworden. Sie hätten die Briefe bekommen; ich das Geld; und die Sache war aus der Welt. Sie haben das nicht gewollt – Well! So mußte ich stärkere Schrauben anziehen. Nun handelt es sich nicht mehr bloß um die Briefe des Barons an die Marie, sondern auch um – na, Sie wissen, was ich meine. Daß ich meinen Preis jetzt nicht billiger stellen werde, werden Sie sich wohl selber sagen. Aber vielleicht glauben Sie, ich habe es von einem andern? Das ist nicht der Fall: Sie haben es ganz allein mit mir zu thun. Kein Mensch weiß darum; ich ganz allein. Ich habe alles mit diesen meinen Augen gesehen und auch alles gehört – jedes Wort. Soll ich es Ihnen beweisen?

Reden Sie!

Well! Ich war also von meinem Alten auf den Schub gebracht und bin auch wirklich in einer Tour nach Bremen gereist. In zwei Tagen sollte das Schiff gehen. Da stellte es sich heraus, das heißt: die Polizei stellte fest, daß sie zu viele Passagiere für das Mitteldeck angenommen hatten. Ein paar Dutzend mußten zurückbleiben. Sie sollten acht Tage später durch einen Extrasteamer befördert werden. Darunter war auch ich. Was sollte ich in Bremen? Da hatte ich nichts zu suchen; aber hier! Jetzt gebe ich keine Pfeife Tabak dafür – damals! Well! ich wollte die Marie noch einmal sehen und bin zurückgekommen. Ich hatte einen guten Freund – ganz in der Nachbarschaft – der Name thut nichts zur Sache; auch ist der arme Teufel längst tot. Nun, der hat mich versteckt. Ich ging nur des Nachts aus. Hatte kein Glück. Die Marie, die sonst noch oft spät draußen im Garten war, ließ sich nicht sehen; in das Haus wagte ich mich nicht. Dann kam das Scheibenschießen. Am nächsten Tage spätestens mußte ich wieder nach Bremen. Ich wollte noch einen Versuch machen. Als es ganz dunkel war, schlich ich mich durch den Garten an das Haus heran. In dem Zimmer, wo sie spielten, war Licht; durch die Ritze in den Gardinen konnte ich alles sehen. Ich wußte, daß der Baron nach Berlin war. Das war während der ganzen Zeit mein Trost gewesen. Nun saß er da und hielt die Bank – ich kannte das sehr genau. Eine greuliche Wut packte mich. Hätte ich ein Gewehr gehabt – durch das Fenster hätte ich ihn tot geschossen. Dann war ich auf dem Hof – warum, weiß ich nicht mehr – und hörte, daß sein Wagen ohne ihn nach Hause fahren sollte. Was das zu bedeuten hatte, wußte ich. Er hatte es schon öfter so gemacht, wenn er – War ich noch nicht wütend gewesen, war ich's jetzt. Dann sah ich ihn einen Augenblick oben an ihrem Fenster hinter ihr stehen und sie küssen, während sie die Gardine zuzog. Sagte ich zu mir: den schlägst du tot, wenn du ihn erst im Walde hast. Ich kannte den Weg, den er nahm, wenn er des Morgens von ihr kam: durch die große Schneise; er ging nie anders. Da nahm ich meinen Stand, nachdem ich mir beim Durchgehen durch den Garten vom Zaun einen Knittel gebrochen, der's wohl thun würde. Möglich, daß er seine Büchse bei sich hatte; aber ich dachte, so dicht an ihn zu kommen, daß er die nicht brauchen konnte. Darüber war es drei Uhr geworden. Da kam einer von der andern Seite die Schneise herauf: Sie, Herr Oberförster, Meinte erst, Sie würden vorbeigehen. No! Stellten sich auf – keine fünfzig Schritte von mir; wechselten dann über die Schneise, mir beinahe gegenüber. Eine verzweifelte Situation. Durfte mich nicht rühren, wollte ich nicht eins auf den Pelz gebrannt kriegen. Kann Ihnen sagen: wünschte mich hundert Meilen weit weg und den Baron, der mich in diese Patsche gebracht, tausendmal zum Teufel. Da knackte es hinter mir – das Rudel, auf das Sie lauerten, wechselte über die Schneise; der Bock blieb auf meiner Seite; hätte ihn beinahe greifen können; muß mich für einen Baumstamm gehalten haben. Strich langsam an mir vorbei bis hart an den Rand. Sah, wie Sie visierten und wieder absetzten: stand Ihnen noch nicht schußgerecht in dem dichten Unterholz. Da sicherte mein Bock – weg war er – zurück in den Wald – hatte den Baron gewittert, der die Schneise herunterkam. Herr Oberförster, soll ich Ihnen die Geschichte noch weiter erzählen? Mir deucht, Sie wissen jetzt, daß ich dabei gewesen bin.

Gut, sagte der Oberförster. Und wie denken Sie nun diese Geschichte gegen mich zu verwerten? Gegen mich, das heißt: zu ihrem Vorteil?

Das scheint mir doch ganz einfach, erwiderte Karl Dreek. Mein Freund hat mir hernach die Zeitungen von hier geschickt, in denen die ganze Geschichte haarklein stand – die gerichtlichen Verhandlungen und alles. Ich erinnere mich nicht, daß Sie dabei herausgetreten wären und gesagt hätten: So und so ist die Sache gewesen. Ließen den Untersuchungsrichter hübsch im Dunkeln tappen. Konnten von Glück sagen, daß man mich schon seit acht Tagen auf dem Steamer nach Amerika glaubte. Nun, Herr Oberförster, wenn ein Mann, wie Sie, ein Ehrenmann, ein so angesehener Mann, das thut und lieber Unschuldige in Verdacht bringt, als die Geschichte auf sich zu nehmen, muß er doch wohl verteufelt wichtige Gründe dafür haben. Meinen sie nicht?

Gewiß habe ich die gehabt.

Na, also!

Wer aber sagt Ihnen, daß ich sie jetzt noch habe?

Mein bißchen gesunder Menschenverstand, Herr Oberförster. Damals galt es wohl nur, Ihre verstorbene Frau zu schonen, die auch in den Briefen vorkommt – verstehen Sie, Herr Oberförster: nichts Schlimmes! Bloß, daß der Baron toll in sie verliebt war und seine liebe Not hatte, der Marie ihre Eifersucht auszureden. Well! Jetzt! Damn it! Wo Sie der Schwiegervater von dem jungen Herrn sind! Der würde sich doch wohl verdammt wundern, wenn er hört, daß sein Schwiegervater seinen Vater tot geschossen hat!

Vielleicht weiß er es.

Dann kann es ihm ja nicht schaden, es von mir zum zweitenmal zu hören. Übrigens: er weiß es nicht. Darauf gehe ich mit Ihnen jede Wette ein, Sir! so leicht kommen Sie aus diesem Handel nicht!

Und Sie selbst?

Wieso ich?

Man pflegt hier zu Lande nicht einen Toten, den man im Walde findet, auszurauben.

Wer sagt, daß ich das gethan habe?

Die weggeworfene Brieftasche, in der sechstausend Mark fehlten –

Wie will man beweisen –

Das dürfte nicht schwer fallen, wenn Sie bei Ihrer Aussage sich nicht in die größten Widersprüche verwickeln wollen. Überdies liegt bei den Akten ein blutiges Taschentuch, das zehn Minuten später hundert Schritte weiter im Walde von meinen Leuten gefunden ist. Es kann nur von jemand verloren, oder weggeworfen sein, der den Toten ausgeraubt hat. Und unsre Leute hier tragen keine weißleinenen Taschentücher, noch dazu ohne Zeichen. Die kauft man in Bremen, oder Bremerhaven, wenn man zu Schiff gehen will.

Karl Dreek war, als der Oberförster so sprach, ungeduldig auf dem Stuhl hin und her gerückt. Jetzt schlug er sich mit der flachen Hand heftig auf die Kniee und erwiderte mit einem wilden Fluch durch die Zähne:

All that is neither here nor there! All das tut nichts zur Sache. Sir, ich bin drüben mehr als einmal Geschworener gewesen und kenne den Rummel aus und aus. Das alles gibt höchstens einen Indizienbeweis. Daraufhin kann man seinen Mann lynchen; aber nicht verurteilen. Verurteilen! Nonsense! Die Geschichte ist ja verjährt. Kein Haar können sie mir darum krümmen. Und was das Taschentuch betrifft, Herr Oberförster, das dürfte keine so große Rolle spielen, als ein gewisses Notizbüchelchen, das ich neben dem Toten gefunden habe! Ich, Herr Oberförster! Und auch ich nur finden konnte! Sie begreifen das doch!

Wieder entstand eine Pause. Es war so dunkel im Zimmer geworden: die beiden Männer konnten von ihren Gestalten nur noch eben die Umrisse sehen.

Und abermals brach Karl Dreek zuerst das Schweigen:

Kommen Sie, Herr Oberförster, und seien Sie vernünftig! Das ist doch klar: unsre Vorteile gehen Hand in Hand. Ihnen muß alles daran liegen, daß Ihr Schwiegersohn nicht erfährt, was sein Vater mit der Marie gehabt hat, und das andre – na! Sie würden sich lieber die rechte Hand abhacken lassen. Ich bin einer, dem es einmal verdammt viel besser ergangen ist und der drüben gelernt hat: es ist einer ein horrible ass, wenn er im Rohr sitzt und schneidet sich keine Pfeifen.

Also was fordern Sie?

Na, endlich! Ich will's billig machen: sagen wir sechstausend Mark.

Woher soll ich die nehmen? Ich bin ein armer Mann.

Mit einem Schwiegersohn, der mehrfacher Millionär ist?

Und der nichts erfahren darf! Das ist doch die Bedingung.

Natürlich, Aber man kann ja in Verlegenheit gekommen sein; für einen Freund Bürgschaft geleistet haben – was weiß ich! Da wird sich doch der junge Herr eine Ehre daraus machen, mit zehntausend Mark herauszurücken.

Sechstausend sagten Sie.

Beg your pardon; habe ich's gesagt, so habe ich zehntausend gemeint. Nicht einen Pfennig weniger. Unmöglich!

Scheint Ihnen momentan s. Morgen werden Sie anders darüber denken.

Nein, nein! Die Sache muß jetzt abgemacht werden.

Desto besser.

Teilen wir die Differenz: achttausend! Herr Oberförster! Ein Gentleman, wie Sie, und handeln!

Also zehntausend. Sie begreifen, daß ich die nicht auf einmal herbeischaffen kann.

Lieber wäre es mir. Indessen – eine kleine Anzahlung müßte ich jedenfalls haben.

Würden Ihnen fünfhundert Mark genügen?

In der Not – na, Sie wissen ja!

Das übrige, so schnell ich es schaffen kann. Unter einer Bedingung, in die Sie willigen, oder ich lasse es auf das Äußerste ankommen.

Heraus damit!

Sobald Sie die letzte Rate in Händen haben – ich hoffe, es soll nicht lange dauern – kehren Sie nach Amerika zurück und bleiben da.

Meine Absicht, so wie so.

Und thun Sie es nicht und kommen mir wieder in den Weg, schieße ich Sie nieder, wie einen tollen Hund.

Karl Dreek brach in ein rohes Gelächter aus.

So wahr ich Raimund Busch heiße!

Das Gelächter war urplötzlich verstummt. Der Oberförster fuhr in ruhigem Tone fort:

Die Sache schriftlich zu machen, hätte keinen Sinn. Sie werden Ihr Wort halten, weil Sie sehr wohl wissen, daß ich das meine halten werde. Wohin soll ich Ihnen das Geld schicken?

Ich habe meine quarters vorläufig in Grimm im Preußischen Adler genommen.

Unter Ihrem Namen?

Warum nicht? Mein Alter ist tot, wie Sie wissen; auf den brauche ich keine Rücksicht zu nehmen. Auf meine Schwestern und ihre Männer pfeife ich.

Warten Sie einen Augenblick!

Der Oberförster entzündete das Licht auf seinem Schreibtisch, ging damit in sein Schlafzimmer nebenan, nahm aus dem eisernen Schrank fünfhundert Mark – es blieben nur noch hundert von seinem Gelde zurück – kam wieder und legte die fünf Scheine auf seinen Schreibtisch.

Wollen Sie nachzählen!

Ist nicht nötig!

Karl Dreek hatte das Geld eingesteckt, den dicken Ueberzieher zugeknöpft, den Hut vom Boden neben seinem Stuhle in die Hand genommen, die andre zögernd vorstreckend.

Guten Abend, Herr Oberförster!

Guten Abend! erwiderte der Oberförster, sich abwendend.

Karl Dreek war gegangen, Unverständliches durch die Zähne murmelnd. Der Oberförster riß beide Fenster auf.

Die Luft im Zimmer schien ihm verpestet; das Leben schien ihm verpestet.


Das Unwohlsein, welches Käthe am heiligen Abend befallen hatte, war doch kein bloßer momentaner Schwächezustand gewesen. Sie mußte jetzt in den ersten Tagen des neuen Jahres noch immer das Bett hüten auf Anordnung Doktor Barths, trotzdem sie selbst sich völlig gesund und Doktor Barth für einen entsetzlichen Pendanten erklärte, der von dem Umstande, daß er sie in ihrer Kindheit vielleicht »in schwachen Stunden gesehen«, einen unerlaubten Gebrauch mache. Hans traute der Wissenschaft des tüchtigen Mannes mehr, als den Versicherungen seiner kleinen Frau. Er wußte, daß ihre Mutter ebenso ein sehr zartes Geschöpf gewesen und bei Käthes Geburt, die einen Monat vor der Zeit erfolgte, gestorben war. Ich müßte sie nicht so abgöttisch lieben, wenn ich nicht besorgt sein sollte, sagte er zu seinem Schwiegervater. – Wir leben eben in dem Lande, »wo sie immer sorgen«, entgegnete der Oberförster. Es ist ein Wort von Achim von Arnim in der »Gräfin Dolores« und hat mir, seitdem ich es als Student las, viel zu denken gegeben. Wir arbeiten zu viel in uns hinein, lieber Hans. Das ist gegen die Natur; wobei sich einem denn freilich die Frage aufdrängt, ob der Mensch nicht überhaupt gegen die Natur ist: ein Produkt, das sie in völlig überreizter Stimmung schuf und mit dem sie nun, wieder nüchtern geworden, nichts Rechtes anzufangen weiß.

Etwas besonders Tröstliches konnte Hans in diesen Worten, die noch dazu von einem melancholischen Lächeln begleitet waren, nicht finden, und er hätte gern ein lebhaftes Wort erwidert gegen den Pessimismus im allgemeinen und die Hypochondrie seines Schwiegervaters im besondern, nur daß ihn die angewohnte Ehrfurcht vor dem Manne zurückhielt. Gegen Doktor Barth, der, ihm schon von der Knabenzeit her lieb und wert, jetzt sein wirklicher Freund geworden war, ließ er sich freier aus.

Ich weiß nicht, was das ist, sagte er; aber ich finde ihn in den letzten zwei Wochen um ebenso viele Jahre, ja, um zehn Jahre gealtert. Haben Sie denn nicht bemerkt, daß sein Haar plötzlich angefangen hat, grau zu werden; besonders auf der linken Schläfe dieser sonderbare fingerbreite Streifen! So haben auch die Augen ihren schönen, stetigen Glanz verloren und blicken unsicher, wie eines, der etwas ganz schweres in der Seele wälzt, oder kein gutes Gewissen hat. Gott verzeih' mir! Wer soll denn eins haben, wenn nicht er! Also muß er krank sein. Was meinen Sie denn, Doktor?

Es ist mir natürlich auch aufgefallen, erwiderte der Arzt, und – Ihnen darf ich es ja sagen: es macht mir rechte Sorge. Eine so starke physische Veränderung in pejus Zum Schlechteren., wenn sie so plötzlich auftritt und psychische Ursachen, wie in diesem Falle, ausgeschlossen – so gut wie ausgeschlossen sind, deutet immer auf die Erkrankung eines wichtigen Organs. Wenn Sie ihn bestimmen könnten, daß er sich untersuchen ließe? Ich habe ihm bereits den Vorschlag gemacht, aber eine sehr gegen seine vornehme Gewohnheit schroffe Zurückweisung erfahren. Mir ist der Fall als Mensch und Arzt gleich interessant und wichtig. Ich kenne ihn ja nun schon so lange – es werden nächstens zwanzig Jahre – und ich darf sagen: es ist mir nie ein körperlich und geistig so normaler Mensch begegnet; einer, der der Vorstellung, die wir Mediziner uns von einem idealen Menschen machen, so nahe käme. Nun aber lehrt die Erfahrung, daß, je vollständiger sich in einer Gattung oder einem Individuum die Regel ausdrückt, wenn nun doch ein Abweichen von ihr erfolgt, es sofort in das Extrem zu gehen pflegt. Sie machen ein bedenkliches Gesicht, lieber Baron. Ich will deshalb zu Ihrer Beruhigung gleich hinzufügen: werden wir in solchen Fällen durch die sonderbarsten, scheinbar ganz anormalen Komplikationen einer Krankheitserscheinung überrascht, so noch mehr durch die Kraft, mit der diese außerordentlichen Naturen in ihr Gleichgewicht zurückstreben und Störungen, vor denen wir ratlos stehen, spielend überwinden.

Wenn ich Sie recht verstehe, so droht für meinen Schwiegervater eine schwere Krisis herein?

Ich kann darauf weder mit einem entschiedenen Ja, noch mit einem entschiedenen Nein antworten, wie wir Ärzte denn fast immer in der üblen Lage des pythischen Orakels Pythia war die Bezeichnung für die amtierende weissagende Priesterin im Orakel von Delphi, einer Weissagungsstätte des antiken Griechenlands. sind. Ich kann nur wiederholen, suchen Sie Ihren Schwiegervater zu bewegen, daß er sich von mir untersuchen läßt! –

Hans nahm die erste Gelegenheit dazu wahr und mußte dieselbe Erfahrung wie der Arzt machen. Der Oberförster erklärte mit einiger Gereiztheit: er sei natürlich dankbar für die Sorge, die man um ihn trage, nur daß er selbst nicht wohl verstehe, woher diese Sorge komme. Er fühle sich so gesund und kräftig, wie nur je, wenn er auch in den letzten Wochen allerdings ungewöhnlich schwer habe arbeiten müssen. Fehle ihm etwas, so sei es vielleicht ein wenig mehr Bewegung in freier Luft. Er werde darauf denken, ein paar Jagden zu arrangieren. Übrigens sei Hans der Nachbarschaft eine große Treibjagd auf Hasen schuldig, die glänzend ausfallen werde, da die Möllenhofer Hasen, nachdem sie jahrelang geschont, bereits zu einer Landplage geworden.

Der scherzhafte Ton, in welchem der Oberförster das gesagt, beruhigte Hans keineswegs; aber er fühlte, daß es vergeblich sein würde, weiter in ihn zu dringen, der hier, wie immer, er selbst war und nur, wie Hans meinte, diese Selbstgerechtigkeit bis zum Extrem trieb.

Und wirklich schauderte der Oberförster vor dem Gedanken der bloßen Möglichkeit zurück, Hans oder der Doktor oder irgend ein Mensch könnte ahnen, wie es in seiner Seele aussah. Die grauenhafte Empfindung: seitdem die plumpe Hand des rohen Trunkenboldes in sein Leben gegriffen, sei es heillos besudelt und verpestet, ließ nicht von ihm. Er hatte es gut zu machen gemeint und es war auch alles gut gewesen. Nun kam dieser grinsende Clown und sagte: Du irrst; es ist alles schlecht. Die Ruhe, das Glück der Deinen: deines geliebten Hans, deiner Käthe, die du erst jetzt zu lieben gelernt hast – sie hangen an einem Faden, den ich durchschneiden kann, wenn ich will; deine Ehre, die dir so heilig ist, – wenn es mir beliebt, unter meine schmutzigen Stiefel kann ich sie treten.

Ja, in der fürchterlichen Scene, welche sich da an jenem Nachmittag in seinem Zimmer abgespielt zwischen ihm und dem Clown, war der Clown der Sieger gewesen, der dem Besiegten seine Bedingungen diktiert hatte. Und er hatte sich so weit gedemütigt, um Milderung dieser Bedingungen zu bitten! sich sagen lassen müssen: ein Gentleman pflege nicht zu markten! Noch mehr: um mildere Bedingungen herauszuschlagen, die Wahrheit wissentlich gefälscht; behauptet: das Taschentuch des Menschen sei zehn Minuten nach geschehener That und in unmittelbarer Nähe des Ortes, gefunden, während es die Arbeiter wochenlang später an einer weit entfernten Stelle des Waldes entdeckt hatten. Zuletzt: er war so kopflos gewesen, Bedingungen anzunehmen, von denen er nicht absah, wie es ihm möglich sein würde, sie zu erfüllen.

Von der Anwendung des bequemen Mittels, das ihm der Schurke insinuiert: sich das Geld von Hans geben zu lassen unter dem Vorwande, er habe sich durch eine leichtsinnig übernommene Bürgschaft in augenblickliche Geldverlegenheit gebracht, konnte natürlich keine Rede sein; gerade, weil er wußte, daß Hans ihm auf die leiseste Andeutung hin jede beliebige Summe zur Verfügung stellen würde. Hatte doch der arme Beamte dem reichen Baron seine Tochter gegeben unter dem Schwur, den er sich selbst geschworen: es dürfe, komme es, wie es wolle, für ihn nun und nimmermehr ein materieller Vorteil aus dieser Verbindung fließen! Das also war völlig ausgeschlossen.

Ebenso wenig durfte er das bescheidene Kapital angreifen, das Käthe von der Mutter her gehörte, und von dem ein Teil zu ihrer Ausstattung verwandt war. Ueber die Zinsen des andern mußte sie jederzeit frei verfügen dürfen. Es war ein minimaler Betrag im Vergleich zu dem üppigen Nadelgelde Betrag, den ein Mann seiner Ehefrau in regelmäßigen Abständen gab. Über dieses Geld konnte sie für persönliche Zwecke und Anschaffungen, etwa für Kleidung, frei verfügen, insoweit unterlag sie also nicht der Vormundschaft ihres Mannes. Beim Adel war es üblich, die Höhe ehevertraglich festzulegen., das Hans ihr aufgenötigt hatte. Gleichviel! Die freundliche Gewißheit, etwas, und sei es noch so wenig, ihr unbedingtes Eigen nennen zu können, sollte ihr nicht geraubt werden.

Und nun?

Irgend welches Vermögen besaß er schlechterdings nicht, ebenso wie seine Väter nie eines besessen. Sich selber eines zu machen – auch nur ein kleinstes – wäre er der letzte gewesen, der bei seinem spärlich gemessenen Gehalt eine offene Hand für alle Notleidenden jederzeit gehabt hatte. Daß er jetzt wünschte, sie wäre minder offen gewesen; er sich die Fälle vorrechnete, wo er sein Geld unbedenklich an Unwürdige verthan, empfand er als eine Schmach mehr zu dem andern Unwürdigen, dem er sich nun beugen mußte.

Mußte! Der ganze Graus seiner Situation lag für ihn in dem einen Worte, Und hatte so gern Nathans Wort: »Kein Mensch muß müssen«, im Munde geführt!

So richtete er denn an die Lebensversicherungsgesellschaft, bei der er sich, als er sich verheiratete, mit fünfzehntausend Mark eingekauft, das Ersuchen, ihn aus dem Kontrakte zu entlassen. Die Angelegenheit wickelte sich zu seiner Genugthuung schnell ab unter für ihn nicht ungünstigen Bedingungen, wenn auch die Summe, die er von seinen Einzahlungen zurückerhielt, seine Schuld nur eben zur Hälfte deckte. Für die andre wußte er sich keinen besseren Rat als den schlimmen, den größeren Teil seines Gehaltes auf Jahre hinaus an einen Wucherer in Sundin zu verpfänden, der seine Geschäfte ausdrücklich in Beamten- und Offizierkreisen machte. Aber der Mann war sehr zäh: ein Oberförstereinkommen sei kein Ministergehalt, und zu den Jüngsten zähle der Herr Oberförster doch auch nicht mehr; über dreitausend könne er beim besten Willen nicht gehen.

Wie er die restierenden zweitausend aufbringen solle, war dem Kummervollen ein dunkles, unheimliches Rätsel.

Zwar Karl Dreek drängte durchaus nicht.

Ich weiß nicht, weshalb Sie sich so quälen, Herr Oberförster, hatte er gesagt, als dieser ihm die erste Rate brachte. Ich habe es gar nicht eilig. Es ist ein verdammt langweiliges Leben hier in dem elenden Nest; aber ein paar Monate hält man's schon aus. –

Um das Leben auszuhalten, das Karl Dreek jetzt führte, gehörte freilich kein besonderer Heroismus. In der ersten Etage des Gasthofs bewohnte er drei Zimmer, die stets von Tabaksqualm erfüllt waren, und deren Tische in Wein- und Bierflecken die Spuren der Gelage trugen, mit welchen er wöchentlich ein paarmal seine Vertrauten regalierte: heruntergekommene Gutsbesitzer und Pächter, Leute aus der Stadt, welchen ehrbare Personen gern aus dem Wege gingen, zumeist frühere Bekannte von ihm, oder solche die der Ruf seiner Freigebigkeit herbeigelockt hatte. Man erzählte sich in dem Städtchen von dem Treiben, das bei dergleichen Gelegenheiten da oben vollführt werde, die anstößigsten Dinge; und Herr Morbek, der Wirt, wenn er zur Rede gestellt wurde, wie er einen solchen Skandal in seinem Hause dulden könne, zuckte die runden Schultern und erwiderte, es passe ihm auch nicht, aber man könne nicht verlangen, daß er bei den schlechten Zeiten einen Gast aus dem Hause weise, an dem es doch einmal was zu verdienen gebe.

Das alles war zu stadtbekannt, als daß es dem Oberförster hätte verborgen bleiben können, auch wenn er nicht in der Lage gewesen wäre, sich gelegentlich mit eigenen Augen davon überzeugen zu müssen. Selbst diese Demütigung sollte ihm nicht erspart werden. Er hatte niemand, durch den er seine Geldsendungen auf die Post schicken konnte; und sie in Person einschreiben zu lassen, durfte er nicht wagen: es hätte sicher ein Aufsehen erregt und ein Gerede gegeben, das er um jeden Preis vermeiden wollte. So blieb ihm nichts übrig, als selbst sein Bote zu sein. Es war immer noch das am wenigsten Auffällige. Man wußte, daß er schon mit dem Vater von Mr. Dreek – wie sich der Mann mit Vorliebe nannte – in Verbindung gestanden hatte, und er mochte ja wohl an dem Sohne irgend ein unverfängliches Interesse nehmen. Nur den Menschen bei Tage aufzusuchen, konnte er sich nicht überwinden. Er war das erste Mal nach Einbruch der Nacht zu ihm gegangen und hatte ihn zufällig allein getroffen. Darauf hatte er auch jetzt wieder gerechnet; aber als er heute nach ihm fragte, sagte man ihm, daß Mr. Dreek allerdings zu Hause sei; nur habe er Gesellschaft. Und, fügte Herr Morbek, der selbst diese Auskunft erteilte, hinzu: ich glaube nicht, daß das was für den Herrn Oberförster ist.

Ich muß Herrn Dreek sprechen, erwiderte der Oberförster. Würden Sie die Güte haben, hinaufzuschicken: daß ich ihn hier unten erwarte? Und würden Sie so freundlich sein, uns für ein paar Minuten Ihr Comptoir zu überlassen! Ich habe mit Herrn Dreek eine vertrauliche Angelegenheit zu regeln.

Der Wirt hatte sich entfernt. Der verwunderte Blick, den er bei den letzten Worten auf ihn gerichtet, brannte dem Oberförster in der Seele, während er in dem kleinen Gemach auf- und abschritt zwischen dem Comptoirpult auf der einen und den an die Wand genagelten Eisenbahn- und Dampfschifffahrplänen an der andern Seite.

Nach einigen Minuten wurde die Thür aufgerissen und Karl Dreek polterte herein, hochrot im Gesicht, das zerknitterte Vorhemd mit Rotweinflecken besudelt, augenscheinlich halb betrunken, ohne sich die Mühe zu geben, seinen Zustand zu verbergen.

I am somewhat drunk, dear Sir, sagte er mit einem breiten Grinsen; aber wenn Sie in Geschäften kommen –

Sonst könnte mich nichts zu Ihnen führen, erwiderte der Oberförster, sein Taschenbuch hervorziehend.

Well! well! Just, as you like it, obgleich Sie upstairs eine sehr nette Gesellschaft finden würden – ladies present, Sir! damned smart ladies!

Ich will Sie Ihrer Gesellschaft nicht lange entziehen. Wollen Sie gefälligst über diese dreitausend Mark quittieren!

Dreitausend? damn it! Fünftausend habe ich zu fordern.

Sie werden den Rest von zweitausend in wenigen Tagen erhalten.

Na, meinetwegen! Immer coulant! Gentlemen müssen untereinander coulant sein!

Ich werde Sie von der Stunde, zu der ich komme, vorher benachrichtigen und Sie zu Hause finden und nicht in Gesellschaft. Sie verstehen mich. Und Sie werden dann die Kiste aus New York, in der die Briefe des Barons und mein Notizbuch liegen sollen, inzwischen erhalten haben. Auch das wird Ihnen verständlich sein.

Das rote Gesicht des Trunkenbolds war für einen Moment bleich geworden, um im nächsten noch röter zu werden, als zuvor; aus seinen halb vorgequollenen Augen stierte wölfische Wut.

Verständlich sein? So? Nun will ich Ihnen was sagen, Herr, was Sie verstehen werden: Ich brauche keine Kiste aus New York zu erwarten. Sie hätten the documents schon am ersten Tage haben können. Daß ich ein damned ass wäre! Erst das Geld, dann die Ware, heißt es bei mir. Verstehen Sie?

Ich habe keinen Augenblick daran gezweifelt, daß Sie mich betreffs der Briefe und meines Notizbuchs angelogen haben –

Herr, hüten Sie Ihre Zunge!

Schweigen Sie! und hören auf das, was ich Ihnen sage: Wenn Briefe und Notizbuch das nächste Mal nicht zur Stelle sind, bekommen Sie nicht nur keinen Pfennig mehr, sondern ich bringe die Sache, wie sie geht und steht, vor den Staatsanwalt.

Karl Dreek schlug eine rohe Lache auf.

Ist die Möglichkeit! Vor den Staatsanwalt? Na, wissen Sie, werter Herr, darauf möchte ich kein Gift nehmen! Vor den Staatsanwalt! Lächerlich! Mir deucht, von dem haben Sie verdammt viel mehr zu fürchten als ich.

Ich kann Ihnen nicht verwehren, darüber nach Belieben zu denken. Gesagt habe ich es Ihnen. Und noch dies: Halten Sie Ihr Sündengeld besser beisammen, wenn Sie drüben nicht wieder ankommen wollen, wie Sie gegangen sind! Haben Sie Ihre letzte Rate erhalten, müssen Sie fort. Darauf habe ich Ihnen mein Wort gegeben.

Der Oberförster legte die Quittung, die Karl Dreek inzwischen unterzeichnet, in sein Taschenbuch, steckte es ein, knöpfte seinen Ueberzieher zu und verließ das Comptoir, ohne den vor Wut am ganzen Leibe Bebenden weiter eines Blickes zu würdigen, oder auf den greulichen Fluch zu hören, der hinter ihm herschallte. –

Und nun, wie die letzten zweitausend aufbringen?

Daß es so schnell als möglich geschehen müsse, lag in seinem höchsten Interesse. Je länger der Elende hier sein wüstes Leben fortsetzen konnte, um so größer war die Wahrscheinlichkeit, daß er alles bis auf den letzten Heller verthun und dann keine Lust verspüren würde, nach Amerika zurückzukehren, wo ihn das Elend erwartete, dem er durch seinen Raubzug nach Europa zu entrinnen versucht hatte. Und welches Mittel, ihn zur Abreise zu zwingen? Die Drohung mit dem Staatsanwalt – der Mensch hatte ja recht gehabt, darüber zu lachen: das hätte er billiger haben können. Dann aber blieb nichts als gewaltsame Selbsthilfe –

In welcher Form?

Der brutale, schamlos freche Mensch würde es bis zum Aeußersten kommen lassen – Und das Aeußerste –

Der Oberförster mochte es nicht bis zu Ende denken.

Zuerst mußte das Geld herbei.

Der Weg zu dem Wucherer war schlimm genug gewesen; aber glatt und leicht im Verhältnis zu dem, den er jetzt zu gehen gezwungen war, weil ihm kein andrer übrig blieb.

In Berlin lebte ihm noch sein Jugendfreund, der Rechtsanwalt, mit dem er seiner Zeit gemeinschaftlich die Angelegenheiten von Baron Fritz geregelt hatte. Sie hatten einander seitdem kaum wiedergesehen; eine früher lebhafte Korrespondenz war längst eingeschlafen. Um so fürchterlicher war es, jetzt den alten Freund bitten zu müssen, ihm, der sich schon seit einiger Zeit in Geldverlegenheit befinde, mit der betreffenden Summe, die er augenblicklich notwendig brauche, auszuhelfen. Er halte es für seine Pflicht, hinzuzufügen, daß der Freund auf eine baldige Wiederbezahlung nicht rechnen dürfe; ja, es sei die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß es nie zu einer Rückerstattung komme.

Den Freund, der ihn von jeher als einen bis zur Pedanterie sorgsamen Haushalter kannte, mußte ein solches Ansinnen in äußerste Verwunderung setzen. Dergleichen untergeordnete Bedenken waren kaum noch schmerzhaft.

Aber brennend war die Scham, als acht Tage vergingen, ohne daß eine Antwort kam. War das nicht jene schmerzlichste Abweisung für einen Bettler, vor dem man die Thür, an die er pochte, schweigend schließt?

Dann kam doch der Brief und in dem Briefe das erbetene Geld!

Wie ein alter Freund nur so viel Redensarten drechseln könne über eine Sache, die sich von selbst verstehe! Hier mit tausend Freuden sei das Geld, das sofort gekommen sein würde, wäre er nicht acht Tage auf der Reise gewesen. Mehr – so viel man wünsche, sei jeden Augenblick für ihn bereit. Und was das Wiederbezahlen anbetreffe – ein alter Junggesell, wie er, der, so wie so, nicht wisse, was er mit dem Mammon anfangen solle, mache sich den Teufel daraus.

Dem Oberförster wurden die Augen feucht: nun war er auch dieser fürchterlichen Sorge ledig; nun mochte doch noch alles gut werden!

Herr Brunnow mußte gerade nach Grimm. Er gab ihm ein Billet an Karl Dreek mit, in welchem er dem Manne anbefahl, morgen nachmittag um fünf Uhr sich in seiner Wohnung zu halten, um die letzte Rate in Empfang zu nehmen und die betreffenden Dokumente auszuliefern.

Der junge Mann kam am Abend zurück mit dem Briefe, den er nicht hatte bestellen können, da Herr Dreek bereits seit vier Tagen nicht mehr in dem Preußischen Adler wohnte, sondern in die Waldschenke übergesiedelt sei. Herr Morbek hatte mit dem Grund, der diesen Wechsel veranlaßt, nicht zurückgehalten. Des Skandals, den das Treiben Herrn Dreeks über sein ehrbares Haus gebracht, sei ihm doch schließlich zu viel geworden. Schon längst würde er ihm die Thür gewiesen haben, bloß daß die Hochachtung vor dem Herrn Oberförster, mit dessen Freundschaft der deutsche Amerikaner immer geprahlt, ihn davon zurückgehalten.

Wie ich von andern erfahren habe, sagte Herr Brunnow, ist die Sache die, daß der Dreek in seinen Zimmern eine richtige Spielhölle aufgethan hatte und der Wirt fürchten mußte, die Polizei werde ihm über den Hals kommen. Die Waldschenke, meinte mein Gewährsmann, sei auch ein viel geeigneteres Lokal für Herrn Dreeks Lieblingsmetier. Da sei schon früher arg gejeut worden.

Der Oberförster dankte Herrn Brunnow für seine Bemühung und Mitteilung. Am nächsten Morgen früh schickte er durch einen Boten wieder ein Billet an Karl Dreek, in welchem er sich für den Abend in der Waldschenke anmeldete. Abermals um fünf Uhr.


Als der Oberförster etwas vor halb fünf nach der Waldschenke aufbrach, wäre es im Walde bereits Nacht gewesen, hätte der reichliche Schnee nicht ein wenig geleuchtet. Auf dem Eisenbahndamm, der in geringer Entfernung parallel beinahe mit dem alten Holzweg durch den Forst lief, mußte es bedeutend heller sein, und der Fußweg neben dem Schienengeleise, den der Oberförster jederzeit benutzen durfte, war gewiß gangbarer; aber die Scheu, gesehen zu werden, wenn er diese traurigen Wege ging, hatte ihn auch heute den dunkleren und sicher einsamen Pfad wählen lassen. Drüben hätte ihm doch ein Bahnwärter begegnen können; hier würde er von keinem Menschen betroffen werden.

Trotzdem war seine Stimmung heute weniger gedrückt, als die Tage, seitdem diese schreckliche Angelegenheit auf seiner Seele lastete. Sie ging ja jetzt zu Ende; heute sollte es das letzte Mal sein, daß er seine Hände mit dem Schmutz befleckte. Dann würde es wieder rein und hell um ihn und in ihm werden; würde er sich des Glückes seiner Kinder unbefangen freuen können. Als er am Vormittage drüben war, um mit Hans die große Jagd zu besprechen, die in acht Tagen auf dem weiten Möllenhofer Gebiet abgehalten werden sollte, hatte er es noch nicht gekonnt und die beiden Glücklichen an ihrem behaglichen Frühstückstisch bald wieder allein gelassen trotz Hans' Bitten und Käthes Schmeicheln. Was hatte ihr besser gestanden: das Schmeicheln oder das Schmollen, als er nun doch ging? Aber ihre Anmut von heute hatte einen tieferen Ton als die von ehemals. Es war nicht mehr die kokette des Eichkätzchens, der er immer nur einen halben Geschmack abgewinnen konnte. Das Spielerische war verschwunden, als ob sie es fortan und in Zukunft dem Kinde überlassen müsse, das sie unter dem Herzen trug. Ach, sie hatte ihm so viel, viel besser gefallen, und er ihr von neuem die Ungerechtigkeit seines früheren Urteils abgebeten! Hans hatte tiefer und weiter gesehen als er; mit untrüglichem Blick den unermeßlichen Wert des Diamanten erkannt, der ihm so oft in dem bedenklichen Licht von böhmischen Glas Auch: ›böhmisches Kristall‹, das mit höchster Kunstfertigkeit seit Jahrhunderten produziert wurde und seinen Weg bis in die Königshäuser fand - aber eben doch nur: Glas. erschienen war. Mein Gott, wie gern wollte er sich geirrt haben!

Von rechts her kam das Rollen eines Zuges nur dumpf trotz der großen Nähe in dem Brausen und Donnern des Sturmes durch die Wipfel der Tannen. Auch der Schnee begann wieder zu stäuben und zu wirbeln, sich mit Nadelschärfe in die Haut bohrend. Wie abgehärtet der Oberförster auch gegen das schlimmste Wetter war, er sah es doch nicht ungern, daß er jetzt den Ausgang des Waldes erreicht hatte und die Waldschänke vor ihm lag in ihrer trostlosen Verlassenheit, dunkel, wie er es erwartet, nur daß aus der Gaststube rechts rötlicher Lichtschein dämmerte und auch durch zwei Jalousieen der oberen Etage – jedenfalls des Zimmers, in welchem Karl Dreek Quartier genommen.

Du sollst da die längste Zeit gewohnt haben, Halunke! murrte der Oberförster durch die Zähne.

Er war in den Flur getreten, wo auf einem Tische ein Öllämpchen – jedenfalls ihm zu Ehren – schwelte. Auf den heiseren Klang der Hausthürschelle hatte sich auch die Thür zum Gastzimmer geöffnet und Herr Riek war herausgetreten mit einem Licht in der einen Hand, das er gegen den Zug mit der andern zu schützen suchte. Die eine zitterte, wie die andre; auf dem gedunsenen Gesicht lag ein verschwommenes, halb verlegenes, halb freudiges Lächeln, als er den lieben, guten Herrn Oberförster begrüßte, der den Schnee von seinen Jagdstiefeln stampfte.

Böses Wetter, lieber Herr Oberförster, böses Wetter! Aber treten Sie doch näher, lieber Herr Oberförster! treten Sie näher! Ein Gläschen Cognac, Herr Oberförster? Von dem alten, echten, Herr Oberförster?

Ich habe keine Zeit, Herr Riek, und möchte Sie nur bitten, Herrn Dreek sofort wissen zu lassen, daß ich hier bin.

Ach, lieber Herr Oberförster, der ist nicht zu Hause; heute morgen, eine halbe Stunde, nachdem der Brief von dem Herrn Oberförster kam, weggegangen – nach Grimm, wenn ich ihn recht verstanden habe.

So wird er jedenfalls jetzt zurückkommen.

Herrn Rieks Verlegenheit hatte sichtlich zugenommen.

Na, Herr Oberförster, ich muß es nur sagen: Er kommt nicht. Er fürchtet sich viel zu sehr vor dem Herrn Oberförster, wenn er auch noch so arg prahlt. Ich soll für ihn die Sache mit dem Herrn Oberförster abmachen. Aber wollen der Herr Oberförster nicht näher treten!

Wie unverschämt dem Oberförster das Benehmen Dreeks auch erschien, im Herzen war er froh, den Menschen nicht sehen und sprechen zu müssen, vorausgesetzt, das Riek sich wirklich völlig instruiert erwies. Es war dann allerdings ein Mitwisser des Geheimnisses da; aber es war das kleinere von den beiden Übeln. So folgte er denn dem Manne in das Gastzimmer, das – offenbar zu seinem Empfange – sich eine ungewohnte Säuberung hatte gefallen lassen müssen und bis auf die abgestandene Luft einen erträglichen Aufenthalt bot. An den großen Ofen, in welchem ein tüchtiges Feuer prasselte, war ein blankgescheuerter Tisch gerückt; auf dem Tisch brannte eine Öllampe; neben der Lampe lagen zwei versiegelte Paketchen.

Bitte Platz zu nehmen, lieber Herr Oberförster, und sich einen Cognac zu genehmigen! Einem alten Mann zu Liebe? Wirklich nicht? Auch nicht einem alten – Na, wie der Herr Oberförster befehlen. Dies soll ich also dem Herrn Oberförster übergeben.

Sie wissen, was in den beiden Paketen ist?

Keine Idee!

Aber doch, wieviel Geld Sie dafür in Empfang nehmen sollen?

Er hat darüber eine Quittung geschrieben. Wo habe ich doch gleich –

Riek zog einen Schubkasten an dem Tische auf, in welchem er nach einigem Kramen zwischen Bindfadenenden, Korkstöpseln und alten Rechnungen, wie es schien, ein Blatt Papier fand: die gesuchte Quittung, von Karl Dreek regelrecht ausgestellt.

Gut! sagte der Oberförster. Bevor ich Ihnen das Geld auszahle, werden Sie schon erlauben müssen, daß ich mir den Inhalt der Pakete näher ansehe.

Aber, lieber, guter Herr Oberförster! Selbstverständlich! Wer kann denn dem über den Weg trauen!

Der vertrunkene Mensch hatte noch Zartgefühl genug, sich abzuwenden und sich in einer entfernten Ecke des Zimmers zu schaffen zu machen, während der Oberförster die Pakete öffnete. Das kleinere enthielt sein Notizbüchlein unversehrt – es hatte augenscheinlich während der ganzen Zeit in einem Koffer, jedenfalls an einem sicheren Orte gelegen. Ob einfach von dem Menschen vergessen, ob in der Absicht, gelegentlich davon Gebrauch zu machen – wer konnte es wissen? Es war auch gleichgültig.

In dem größeren zählte der Oberförster dreiundzwanzig längere und kürzere, zum Teil ganz kurze Briefe – in der Eile hingestrudelte Billets, wie die Daten – soweit sie datiert waren – auswiesen, innerhalb eines Zeitraums von acht Jahren geschrieben: das älteste also ein Jahr vor der Verheiratung – alle in der ihm so wohlbekannten Hand. Der verräterischen Hand, die dies an die Maitresse schreiben konnte, die er mit in die Ehe genommen hatte, – in die Ehe mit ihr! mit ihr!

Ein unsäglicher Ekel erfaßte den unglücklichen Mann, Er mochte, konnte nicht weiter lesen, knüllte die Briefe zusammen und steckte sie in die Tasche.

Herr Riek!

Lieber Herr Oberförster!

Es ist alles in Ordnung. Kommen Sie her und nehmen Sie das Geld! Zweitausend Mark!

Ich weiß; ich weiß!

Riek hatte die Scheine in den Schubkasten gethan, von dem er den Schlüssel abzog und in die Westentasche steckte.

Na, der wird sich freuen! Er pfiff schon wieder einmal aus dem letzten Loch. Und wenn mir der gute Herr Oberförster nicht aus der Patsche hilft, hat er noch heute morgen gesagt, muß ich wieder nach Amerika.

Dahin wird er jetzt erst recht müssen, alter Freund. Und so schnell wie möglich. Sagen Sie ihm das! Ich gebe ihm vierundzwanzig Stunden. Wenn ich ihn dann noch hier treffe –

Auf dem blöden Gesicht Rieks malte sich ein solches Erstaunen, daß der Oberförster von dem Zuknöpfen seines Ueberziehers abließ und, sich selbst unterbrechend, fragte:

Was haben Sie?

Ich – ich verstehe nicht, Herr Oberförster. Er soll wieder nach Amerika – vierundzwanzig Stunden! Und er selbst sagt: Der Herr Oberförster schössen ihm das Geld nur vor, damit er hierbleiben kann und die Waldschenke übernehmen und die Marie heiraten!

Er hat sich einen schlechten Spaß mit Ihnen gemacht, alter Freund.

Nein, nein, Herr Oberförster. Wir haben ja alles ordentlich durchgesprochen. Und mit meiner Marie hat er auch gesprochen. Bloß daß die Marie noch nicht so recht heran will. Aber in ihrer Lage – die arme Dirn –

Herrn Riek übermannte die Rührung. Ueber die schwammigen Backen rannen ihm dicke Thränen, die er mit einem zerknüllten bunten Taschentuch abwischte.

In dem Herzen des Oberförsters kochte der Zorn auf. Was bedeutete diese neue Schurkerei? Der Mensch sollte wirklich wagen, ihm zu trotzen? Und was war das mit der Marie? Das klang ja fast –

Ist denn Ihre Tochter wieder hier?

Aber gewiß, lieber Herr Oberförster! Das heißt: ich kriegte keinen schlechten Schrecken, als sie vorgestern morgen kam – mit drei Kindern – den armen Würmern – das älteste sieben und das jüngste zwei Jahre – alle blau gefroren nach der Nachtfahrt bei der Hundekälte. Ach, lieber, guter Herr Oberförster, da kann einem alten Mann das Herz brechen!

Das Taschentuch wurde wieder notwendig. Der Oberförster, der mit langen Schritten das Zimmer maß, blieb plötzlich stehen und sagte:

Kann ich Ihre Tochter sprechen?

Aber, lieber Herr Oberförster, es wird ihr eine so große Ehre sein.

Möchten Sie sie dann rufen! Oder ich kann auch –

Nein, ich will sie lieber rufen. Oben in den Zimmern sieht es noch ein bißchen wüst aus.

Also, sagen Sie ihr: ich würde mich freuen, sie zu sehen.

Riek war gegangen; der Oberförster schritt wieder in dem Zimmer auf und ab. Was sollte er thun? Vielleicht würde er es wissen, wenn er mit der Marie gesprochen hatte. Sie war ihm immer als eine gescheite Person erschienen. Sie würde Vernunft annehmen und ihm helfen, den Dreek zur Vernunft zu bringen, bevor er zur Gewalt, als dem letzten Mittel, griff.

Es währte geraume Zeit, bis die Thür sich wieder öffnete und eine Frau hereintrat, die wohl niemand anders als die rote Marie sein konnte, obgleich er das Mädchen, das er vor achtzehn Jahren zum letztenmal gesehen, nicht in ihr wiedererkannte. Bis sie in die Nähe der Lampe gekommen war, und ein zweiter, genauerer Blick in dem, was geblieben, die Spuren von dem, was einst gewesen, entdeckte. Die prachtvollen roten Haare, die einst so üppig Stirn und Nacken umkraust, waren dünn und völlig grau geworden; von den großen blauen Augen war der schwimmende Glanz gewichen,, und sie waren tief in ihre Höhlen gesunken; die vollen sinnlichen Lippen hatte ein herber Zug wie zusammengekniffen; das ganze, einst so strahlende Gesicht abgemagert, blaß und verwelkt, wie die Gestalt, deren Form und Bewegung immer an eine Mänade oder Bacchantin hatte denken lassen.

Sie hatte an dem verwundert mitleidvollen Blick, den er auf sie gerichtet hielt, wohl erraten, was in seiner Seele vorging.

Ja, sagte sie mit bitterem Lächeln, das ist, was von der roten Marie übrig geblieben.

Er hatte ihr die Hand gereicht, auf die sie sich tief herabbeugte. Es schien, daß sie sie küssen wollte. Er entzog sie ihr mit einer abwehrenden Bewegung. Sie richtete den Kopf wieder empor; ihre Augen standen voll Thränen.

Wollen wir uns nicht setzen? sagte er verlegen. Sie hatten Platz genommen; der Tisch war zwischen ihnen.

Es thut mir herzlich leid, daß es Ihnen so schlecht ergangen ist, begann er. Ich nehme an, Sie gedenken nun hier zu bleiben.

Es war meine Absicht, erwiderte sie, aber es wird kaum möglich sein. Daß Vater arm geworden war, wußte ich wohl; so schlimm hatte ich es mir nicht vorgestellt. Seit den zwei Tagen, die ich hier bin, ist keine Menschenseele gekommen. Vater sagt: so ist es oft wochenlang. Ich weiß nicht, wovon er lebt. Ich habe nichts, als was ich und meine Kinder auf dem Leibe tragen.

Aber, liebe Frau – ich weiß Ihren jetzigen Namen nicht –

Bitte, nennen Sie mich Marie! Wollte Gott, ich brauchte den andern Namen nie wieder zu hören!

Ich wollte sagen: Kann denn der Mann gar nichts für Sie thun?

Nein. Man hat uns das letzte Stück abgepfändet. Und wenn er könnte, er würde es nicht wollen. Er ist ein schrecklich schlechter Mensch. Bitte, bitte, Herr Oberförster, fragen Sie mich nicht weiter nach ihm!

Eine Weile blieben sie beide stumm. Diese da hatte ihm und ihr, die er so sehr geliebt, schweres Leid gebracht. Aber daran durfte er jetzt nicht denken. Zu Hause hatte er noch von dem Quartalsgehalt ein paar hundert Mark liegen. Zu hungern brauchten die arme Frau und ihre Kinder fürs erste nicht.

Dann müssen wir eben sehen, was sich sonst noch machen läßt, sagte er aus seinen Gedanken heraus.

Er strich sich über die Stirn: er blickte ihn so fragend an.

Ich meine, fuhr er fort, es kann doch so nicht bleiben und wird es auch nicht. Ich werde Sie nicht im Stich lassen. Und ich habe gute Freunde, die mir gern etwas zu Gefallen thun. Wir dürfen nur nicht verzagen, die Flinte ins Korn werfen. Die Waldschenke hat floriert, solange Sie hier waren; sie wird von neuem in Flor kommen, nun Sie wieder hier sind. Ich werde dafür sorgen, daß im Frühling und Herbst Scheibenschießen stattfinden. Auf Ihren Vater dürfen Sie freilich nicht mehr rechnen. Aber ich glaube, er wird Ihnen nicht eben im Wege stehen. Mit einem Worte, liebe Marie, ich glaube wirklich, Sie haben keine Ursache, zu verzweifeln. Es wird, wenn nicht alles gut, so jedenfalls viel besser werden, als Sie sich in Ihrer augenblicklichen Lage und Stimmung denken können.

Das arme Weib hatte ihn, während er so sprach, mit starren Augen angesehen, aus denen Thräne auf Thräne über ihre blassen Wangen rollte. Plötzlich richtete sie sich aus ihrer gebückten Haltung auf, wischte sich die Thränen vom Gesicht, blickte schnell seitwärts nach der Thür und sagte, näher an den Tisch rückend, in leisem Ton, rasch und eindringlich sprechend:

Herr Oberförster, ich weiß von Vater: Sie haben dem – dem Karl Dreek heute abend ein großes Stück Geld gebracht, wofür er Ihnen, ich weiß nicht, was ausliefern soll. Ich weiß überhaupt nicht, warum es sich handelt. Das heißt –

Bitte, sprechen Sie ganz frei! Sie erweisen mir damit einen großen Dienst.

Ich glaube, es handelt sich um meine Liebschaft mit dem Baron. Vater hat mir gesagt: Ihre Tochter ist jetzt mit seinem Sohn verheiratet. Da muß Ihnen natürlich daran liegen, daß die alten Geschichten nicht wieder aufgerührt werden. Er hat Ihnen gedroht, es zu thun. Sie wollen ihm sein Schweigen abkaufen. Ist es so?

Sie haben einen Teil erraten.

Ja, und dann hat er wahrscheinlich noch Briefe in Händen gehabt – von dem Baron an mich, die er mir einmal, als ich nicht zu Hause war, aus meinem Pulte gestohlen hat. Ich habe es ihm damals auf den Kopf zugesagt. Er hat sich verschworen, es sei nicht wahr. Es ist aber doch wahr gewesen. Und das sind die Briefe, für die er sich das Sündengeld bezahlen läßt. Ist es so?

Es sind die Briefe, erwiderte der Oberförster ausweichend. Haben Sie noch ein Interesse daran?

Um Gottes willen, nein!

So kann ich sie Ihrethalben verbrennen.

Um Gottes willen, ja!

Dann werden sie verbrannt werden.

Und Sie glauben, er hat sie Ihnen alle gegeben?

Wie viel können es wohl gewesen sein?

Marie dachte nach.

So gar viele nicht, sagte sie nach einer Weile. Wir konnten uns ja oft genug sehen. Vielleicht zwanzig, wenn es hoch kommt.

Dann, glaube ich, habe ich sie sämtlich.

Und wenn Sie sie alle hätten, damit ist nicht viel geholfen, Herr Oberförster. Er wird nach einiger Zeit, wenn er das Geld vertrunken und verspielt hat, wieder kommen und mehr haben wollen.

Er wird es nicht. Er wird morgen auf dem Wege nach Amerika sein. Verlassen Sie sich darauf!

Wie kann ich das, wenn er noch heute morgen geprahlt hat, es fiele ihm gar nicht ein!

Hören Sie, Marie! Da hat mir Ihr Vater vorhin von Absichten gesprochen, die der Mensch auf Sie habe, Ihrem Vater schien das sehr plausibel zu sein. Ich irre gewiß nicht, wenn ich Sie für unfähig halte, an so etwas nur zu denken?

Nein, Herr Oberförster, da irren Sie nicht. Wenn ich mich hätte tot quälen lassen wollen und meine Kinder sündhaft verkommen, so hätte ich nur bleiben können, wo ich war.

Dann beruhigen Sie sich! Ich wiederhole: der Mensch wird morgen auf dem Weg nach Amerika sein. Und diesmal kommt er nicht wieder zurück.

Wer will ihn dazu zwingen?

Ich.

Der Oberförster hatte sich rasch erhoben; Marie war ihm gefolgt und blickte ihn erschrocken an. So hatte sie den Mann nie gesehen; nie geglaubt, daß sie ihn je so sehen könne. Sein Gesicht war ganz bleich; aus dem bleichen Gesicht funkelten die Augen wie eines wilden Tiers; auf der hohen Stirn stand eine schwarzblaue Ader wie ein Ast. Das währte nur ein paar Momente. Dann war die Zornesader verschwunden, der fürchterliche Glanz aus den Augen; das Gesicht hatte seine gewöhnliche braune Farbe wieder angenommen. Er reichte der noch immer Erschrockenen die Hand und sagte in seinem alten gütigen Ton:

Also, liebe Marie, es bleibt dabei: Sie verlassen sich auf mich; ich verlasse mich auf Sie. Bis morgen mittag helfen Sie sich so durch. Dann bin ich wieder hier; bringe Ihnen, was Sie jetzt am notwendigsten brauchen, und wir besprechen das Weitere. Jetzt gehen Sie wieder zu Ihren Kindern hinauf! Morgen zeigen Sie sie mir! Ich wette, sie können sich sehen lassen.

Es sind hübsche Gören, sagte Marie mit freudigem Erröten.

Das will ich meinen! Keine Kunst, wenn man eine berühmt schöne Mutter hat! Auf Wiedersehen morgen!

Er war zur Thür hinaus so schnell, daß sie ihm nicht folgen konnte.

Mitten im Zimmer mit gefalteten Händen stehend, suchte sie sich klar zu machen, was sie eben erlebt. Aber es wollte nichts klar werden; es war alles wie ein Traum, Sie hatte geträumt, daß ein guter Mensch käme und sich ihrer und ihrer Kinder erbarmte. War denn das der Herr Oberförster gewesen, der an dem Morgen damals im Garten ihr beim Bohnenpflücken geholfen hatte: ein schöner, schlanker, dunkelbärtiger Mann mit leuchtenden braunen Augen?

Und dann sah sie neben dem Mann im hellen Morgensonnenschein ein schlankes Mädchen, das, sich das flatternde rote Haar aus der Stirn streichend, zu ihm auflachte, stolz, weil er offenbar unter dem Zauber ihrer Schönheit stand, wie alle andern Männer –

Mit einem tiefen Seufzer erwachte sie aus ihrem Traum; trug die Cognacflasche mit den beiden Gläsern vom Tisch nach dem Wandschrank, dessen Schlüssel sie abzog; nahm vom Fensterbrett eine Näharbeit, mit der sie sich zu der Lampe setzte.

Ihr Vater kam herein. Sein erster Blick war nach dem Tisch, auf dem die Flasche nicht mehr stand, sein zweiter nach dem Wandschrank mit dem abgezogenen Schlüssel. Er hätte gern gebeten, »sich einen genehmigen zu dürfen«, wagte es aber nicht.

So holte er sich von einem andern Tisch ein zerknittertes Zeitungsblatt, wischte sich die Brille ab und begann zu lesen, von Zeit zu Zeit einen trübseligen Blick nach der alten Uhr richtend, die da an der Wand in ihrem hohen hölzernen Kasten unermüdlich ihr Ticktack machte, trotzdem der Zeiger nicht aus der Stelle zu rücken schien; oder aufhorchend, wenn in dem Sturm, der draußen heulte, das Haus erzitterte.


Als der Oberförster aus dem Hause trat, wäre er nach ein paar Schritten beinahe wieder umgekehrt: mit solcher Gewalt raste ihm der Sturm entgegen, nadelfeinen Triebschnee ihm ins Gesicht und in die Augen schleudernd. Aber das war nur eine momentane Regung; dann zog er die hohen Jagdstiefel ganz hinauf, den Hut tiefer ins Gesicht und ging in die Sturmnacht hinein.

Den Weg durch den Wald, den er gekommen, konnte er nicht wieder gehen: in dieser Dunkelheit bei dem tiefen Schnee hätte selbst er nicht durchgefunden. Die Chaussee war natürlich besser gangbar, nur daß sie einen weiten Bogen um den Wald herummachte, bis sie in gerader Linie auf sein Haus zulief. Eine gerade Linie von vornherein bot der Eisenbahndamm. In ein paar mäßigen Einschnitten, die vorkamen, würde viel Schnee liegen; aber ein Durchkommen würde doch wohl sein.

So wandte er sich der Bahn zu.

Kaum zweihundert Schritte auf der Chaussee brachten ihn dahin. Aus dem Wärterhäuschen an der Kreuzung der Chaussee und der Eisenbahn fiel durch das viereckige kleine Fenster ein Lichtschein auf den Schnee. Sollte er den ihm wohlbekannten Wärter bitten, ihn die nicht eben lange Strecke von hier bis da, wo er, seiner Baumschule gegenüber, den Damm wieder verließ, mit einer Laterne zu begleiten? Aber das rote Signallicht für den Sundiner Personenzug war schon aufgezogen. Er mußte in zehn, höchstens fünfzehn Minuten hier sein. Der Wärter durfte seine Stelle jetzt nicht verlassen. Und er hatte ja nun auch den Bahnstieg unter den Füßen; von einem Abirren aus der Richtung konnte nicht die Rede sein. Also vorwärts!

Wollte der Sturm es nicht dulden? Der Sturm und der Schnee, die im Bunde ihm entgegenrasten, wie er sich jetzt auf dem Bahnkörper rechts wandte in den Einschnitt, der hier, nahe am Eingange des Waldes, durch eine Hügelwelle geführt war?

Er blieb ein paar Momente stehen, um Atem zu schöpfen. Dann nahm er den Kampf auf.

Kaum hundert Schritte hatte er so mit vorübergebogenem Oberkörper gemacht, als er über ein dunkles Etwas, das auf dem schmalen Bahnstieg plötzlich vor ihm auftauchte, fast gefallen wäre. Er meinte, es sei ein Haufen beiseite gelegter alter Schwellen. Es waren Schwellen oder etwas der Art; aber auf dem Haufen, der eben noch ein wenig aus dem Schnee ragte, hockte ein Mensch, der da schon länger gesessen haben mußte, ohne den Schnee, welcher auf ihn niederstiebte, abzuschütteln.

Heda, guter Freund! Ihr habt Euch da eine gefährliche Schlafstätte gewählt. Macht, daß Ihr nach Hause kommt!

Er hatte dem Menschen einen kräftigen Stoß gegen die Schulter versetzte. Der taumelte empor:

Damn your bloody eyes!

Karl Dreek! Und natürlich betrunken! Sprach er doch mit Vorliebe englisch, wenn er betrunken war!

Eine Empfindung des Ekels, als hätte er eine verwesende Leiche unversehens berührt, war in dem Oberförster jäh aufgestiegen. Er kämpfte sie, so gut es gehen wollte, nieder und sagte möglichst ruhig:

Gehen Sie nach Hause, Dreek! und schlafen Sie Ihren Rausch aus!

Was? was? schrie der Betrunkene, der ihn jetzt erst erkannt hatte: Was nehmen Sie sich heraus! Zu mir sagt man: Herr Dreek! Mr. Dreek! Mr. Charles Dreek! Verstanden, Sie –

Zu dem Ekel gesellte sich beim Oberförster der Zorn gegen den Elenden, dessen greuliche Gestalt ihm wieder einmal im Wege stand. Aber er bezwang sich abermals und, an ihm vorüber, seinen Weg fortsetzend, sagte er: Ich rate Ihnen: machen Sie, daß Sie nach Hause kommen!

Da hörte er die heisere Stimme hinter sich: Sie haben mir gar nichts zu befehlen! Sie, Grünrock, Sie! Ich habe Ihnen zu befehlen! Ich habe Sie in meiner Tasche! Nach meiner Pfeife müssen Sie tanzen! Verstehen Sie! Morgen – übermorgen – solange es mir beliebt. Amerika! Ich pfeife auf Amerika! Der Oberförster wandte sich:

Zum letzenmal, Mann! Scheren Sie sich Ihrer Wege!

Karl Dreek taumelte einen Schritt zurück; der Oberförster glaubte sicher, ihn los zu sein.

Und wieder, als er ein paar Schritte gethan, hörte er die gräßliche Stimme hinter sich:

Rascal! Scoundrel! Milsop! Come, come! Let's have a good fight! I'll knock you down – do you hear? you

Und eine schwere Hand legte sich unsanft auf seine Schulter.

Im Nu hatte er sich umgedreht und dem Menschen mit der Faust in das Gesicht geschlagen. Der knickte zusammen; stieß, sich wieder aufraffend, gegen den Kopf einer Schwelle; stolperte und fiel quer über die Schienen. In diesem Moment glühten am Ende des Einschnitts, aus einer Kurve biegend, zwei große rote Lichter auf, dämmernd nur durch das Schneegestöber und doch mit fürchterlicher Helligkeit in die zornverdunkelte Seele des Mannes leuchtend. Wenn er den Elenden, der sich nicht regte, da liegen ließ –

Der Boden begann unter ihm zu zittern; ein langgezogener Pfiff, dessen Gellen die dicke Luft seltsam abdämpfte; in wenigen Sekunden –

Er hatte den Menschen bei den Beinen gefaßt und von den Schienen gerissen. Da raste auch schon mit dumpfem Donner der Zug vorüber – Lokomotive, drei, vier, fünf Wagen, aus deren Fenstern der Lichtschein über sie wegstreifte – ihn und den Elenden, den er von den Schienen und in die Höhe gerissen, so nahe am Zuge, daß die Trittbretter der Wagen ihn fast gestreift hätten.

Es war alles mit so fürchterlicher, sinnbetäubender Schnelligkeit geschehen – der Zug war bereits wieder in Dunkel getaucht, als der Oberförster inne wurde, daß er den Trunkenbold noch immer in den Armen hielt.

Aus denen er ihn jetzt in den Schnee der Böschung schleuderte.

Dann setzte er gegen Sturm und Sturmgestöber seinen Weg fort, ohne sich wieder umzusehen.


Als der Bahnwärter im Morgengrauen des nächsten Tages, froh, daß der Schneesturm sich über Nacht ausgetobt, seine Strecke abging, hatte er in dem Einschnitte, etwa hundert Schritte von seinem Häuschen, auf der von Schnee glatt überdeckten Böschungswand eine Erhöhung bemerkt, die er sich nicht erklären konnte. Er war näher getreten und hatte zu seinem Entsetzen die Sohle eines Mannesstiefels aus dem Haufen ragen sehen; dann, hastig den Schnee entfernend, die völlig steifgefrorene Leiche Karl Dreeks gefunden. Von Wiederbelebungsversuchen konnte nicht die Rede sein. Der Tote mußte bereits die ganze Nacht da gelegen haben; die ihn umhüllende Schneedecke wäre sonst auch nicht so dick gewesen. Durch einen eben von Sundin kommenden Güterzug, dem er das Signal zum Halten gab, hatte er den Fall nach Grimm gemeldet, von wo denn auch schon nach einer Stunde der Amtsrichter mit der nötigen Begleitung eintraf und das Protokoll aufnahm. Die Sache war so einfach wie möglich. Seitdem Karl Dreek in der Waldschenke wohnte, hatte er, wenn er des Abends von Grimm kam, noch jedesmal den soviel kürzeren und bequemeren Bahnstieg auf dem Eisenbahndamm benutzt, trotz der Drohung des Wärters, ihn anzuzeigen, wenn er sich da wieder betreffen lasse. Bereits in der Stadt durch Nachfrage im Preußischen Adler hatte der Amtsrichter festgestellt, daß Karl Dreek, da der Wirt sich weigerte, ihm, dem bereits Betrunkenen, noch mehr Wein zu geben, fluchend weggegangen war mit der Drohung, den Preußischen Adler und sämtliche Gasthäuser der Stadt zu ruinieren durch die Waldschenke, aus der er ein prachtvolles Hotel auf amerikanische Art machen wolle. Dann mußte er sich sofort auf den Weg nach der Waldschenke gemacht haben – wieder einmal auf dem ihm verbotenen Bahndamm – bei dem Wärterhäuschen angelangt, anstatt die paar hundert Schritte rechts nach der Schenke zu gehen, links in den Einschnitt gebogen, dort in trunkener Müdigkeit umgesunken und so vom Schnee verschüttet sein.

Das ist ja alles so klar, als ob man selbst dabei gewesen wäre, sagte der Amtsrichter.

Der Fall machte in dem Städtchen und seiner Nachbarschaft kein besonderes Aufsehen. Alle Welt hatte gesagt, daß es mit dem Karl Dreek, wenn er seine paar tausend Mark, die er von Amerika mitgebracht, durch die Gurgel gejagt, ein schlimmes Ende nehmen müsse. So war es bloß ein bißchen früher gekommen, als man geglaubt hatte.

Der Herr Oberförster, der ein guter Freund von seinem verstorbenen Vater war, sagte der Wirt , vom Preußischen Adler, hat ihm genug ins Gewissen geredet, noch ein paar Tage vor seinem Tode. Aber an dem war ja wohl Hopfen und Malz verloren.

Weiter erzählte man sich am Stammtisch nicht ohne einige Schadenfreude, daß die beiden verheirateten Schwestern Dreeks sehr übel auf den Verstorbenen zu sprechen seien. Auch sie hätten das schlimme Ende vorausgesehen, aber gehofft, es werde ihnen und ihren Kindern eine reiche Erbschaft bringen. Nun aber hatten sich notorisch in seinem Nachlaß außer einigen nicht besonders wertvollen amerikanischen Waffen und Kuriositäten, Kleidern und sonstigem Kram nur noch zweitausend Mark bar gefunden, die er dem Riek zur Bewahrung übergeben. Die betreffende Verhandlung hatte mit der roten Marie geführt werden müssen, da Vater Riek krank zu Bett lag. Es hieß, die rote Marie, die von ihrem Mann geschieden sei; werde jetzt wieder im Lande bleiben und die Waldschenke übernehmen. Dabei hätten ihr die zweitausend Mark, die sie dem Herrn Landrichter ausgeliefert, trotzdem keine Seele von dem Gelde gewußt, gute Dienste geleistet, und man müsse ihr es hoch anrechnen, daß sie es gethan. Sie sei überhaupt immer besser gewesen, als ihr Ruf. –

Von allen diesen Dingen erfuhr der Oberförster erst vier Tage später.

An jenem Abend nach Hause kommend, hatte er eine Depesche des Präsidenten in Sundin vorgefunden, er möge sich so bald als möglich bei ihm, der wichtige Dinge mit ihm zu besprechen habe, einfinden. Im Augenblick war das nicht angänglich. Auf eine Anfrage in Brandshagen, der nächsten Station, war die Nachricht gekommen, daß die Spätzüge sowohl von Grimm als Grünwald, wenn sie überhaupt noch kämen, in Brandshagen liegen bleiben müßten, da die Bahn weiter nach Sundin auf zwei oder drei Stellen total verweht sei. So konnte er erst den Frühzug des folgenden Tages benützen.

Der Präsident empfing ihn mit großer, fast herzlicher Freundlichkeit.

Sie wissen, lieber Kollege, sagte er, ich habe Ihnen immer wohl gewollt und Ihrem Wissen und Wirken die höchste Achtung gezollt. Sie wissen weiter, wem Sie es zuzuschreiben haben, daß Sie so viele Jahre auf demselben Posten haben ausharren müssen. Ich konnte dagegen nichts machen. Er war Ihr direkter Vorgesetzter, dessen Berichten man leider da oben immer mehr traut, als den unsern. Nun hat der Herr die Privatstellung eines Oberforstmeisters bei einem schlesischen Magnaten – ich darf in diesem Augenblick den Namen noch nicht nennen – der staatlichen vorgezogen. Ich habe mich sofort hingesetzt, direkt an den Minister berichtet und, die ungerechte Behandlung, die Sie so lange haben erdulden müssen, gründlich kennzeichnend, zu seinem Nachfolger Sie in Vorschlag gebracht. Das war vor acht Tagen. Bereits gestern – ein noch nicht dagewesener Fall – kam die Antwort. Herr Forstrat, es macht mir eine besondere Freude, der erste zu sein, der Ihnen zu Ihrem Avancement gratuliert.

Zu des Präsidenten Erstaunen erweckte die Nachricht nicht das freudige Erstaunen, auf das er sicher gerechnet hatte. Aber seine Empfindlichkeit wurde sofort beschwichtigt, als der Oberförster nach einer kleinen, auf beiden Seiten verlegenen Pause bat, ihm zu verzeihen, wenn er seine Dankbarkeit für so viel unverdiente Güte nicht alsbald in die schicklichen Worte habe kleiden können. Die Ueberraschung für ihn, der im stillen mit seiner Beamtenlaufbahn längst abgeschlossen, sei zu groß gewesen. Auch habe er sich fragen müssen, ob jetzt, wo er, nach einem mühevollen Leben, in seinem einundfünfzigsten Jahre stehe, seine Kräfte für das neue Amt noch ausreichen würden.

Der Präsident ließ ihn nicht weitersprechen. In einem womöglich noch herzlicheren Tone wie vorhin erklärte er das alles für hypochondrische, in der Einsamkeit gefangene Grillen, die in der frischeren und lebhafteren Luft des neuen Amtes bald genug verschwinden würden. Nun aber gelte es, das glühende Eisen zu schmieden. Ob der Herr Kollege nicht stehenden Fußes nach Berlin fahren und sich Seiner Excellenz vorstellen könne? Excellenz würden das um so freundlicher aufnehmen, als sie in ihrem Reskript den Wunsch geäußert hätten, Herrn Busch möglichst bald zu sprechen.

Wenn er Sie nur nicht gleich in Berlin behält! schloß der Präsident lächelnd. Man ist da sehr hinter brauchbaren Leuten her. Aber wir in der Provinz wollen doch auch leben.

Der Oberförster war mit allem einverstanden; er werde den Mittagszug nach Berlin benützen. Man trennte sich mit, wie es schien, höchlichster Zufriedenheit auf beiden Seiten.

In Berlin erwartete ihn eine schmerzliche Überraschung.

Als er am nächsten Vormittage nach der Audienz bei dem Minister, der die Liebenswürdigkeit selbst gewesen, zu seinem Freunde, dem Rechtsanwalt eilte, fand er einen Toten. Der Freund war gestern morgen am Herzschlage gestorben. Nicht unerwartet weder für ihn noch für uns, sagte der junge Kollege und Socius. Er war schon lange schwer krank, obgleich er es niemals Wort haben wollte, und noch eben jetzt erst, wie Sie wissen, die lange beschwerliche Reise nach Petersburg hin und zurück in acht Tage gemacht hat. Im Grunde ist der Tod für ihn ein großes Glück gewesen: er sah, wie Geheimrat Müller mir mitteilt, furchtbaren Leiden entgegen. Wenn es Ihnen irgend möglich ist, bleiben Sie bis zur Beerdigung übermorgen und zur Eröffnung des Testamentes. Ich weiß mit Bestimmtheit, daß der Verewigte noch in den letzten Tagen zu den übrigen Vermächtnissen eines zu Ihren Gunsten gefügt hat. Es handelt sich um keine Kleinigkeit. Mehr zu sagen, verbietet mir die Pflicht.

Der junge Rechtsgelehrte mußte dieselbe Erfahrung machen, wie der Präsident in Sundin: auf dem ernsten, Gesicht des Oberförsters malte sich keine freudige Ueberraschung ab, eher Bestürzung und der Ausdruck jemandes, der sich plötzlich in eine ihm höchst peinliche Lage versetzt sieht.

Und diese Miene blieb, als sich bei der Eröffnung des Testamentes herausstellte, daß, während die Hauptmasse des Vermögens im Betrage von anderthalb Millionen milden Stiftungen verblieb, nach mehreren kleineren Legaten für Haushälterin und Dienerschaft, dem Oberförster Raimund Busch, »seinem lieben und über alles verehrten Jugendfreunde«, die Summe von hunderttausend Mark, »sofort zu seiner unbeschränkten Disposition zu stellen«, vermacht war.

Allgemein verwunderte man sich über die stoische Ruhe, mit der er diese Nachricht entgegengenommen hatte. Nur einer wollte bemerkt haben, daß ihm, als er sich einige Minuten später abgewandt, zwei große Thränen über die Backen gelaufen seien.


Der Oberförster war seit ein paar Tagen wieder zu Hause. In zwei Wochen bereits, am ersten Februar, sollte er sein neues Amt in Sundin antreten.

Ich hätte nie geglaubt, sagte Hans zu Käthe, daß dem Papa eine Beförderung im Amt und eine Erbschaft so wertvoll erscheinen könnten. Die schwarze Laune, der er doch ganz verfallen schien, ist ja wie weggeblasen. Auch körperlich ist er um zehn Jahre verjüngt. Selbst sein Haar, das in letzter Zeit doch recht grau zu werden begann, ist wieder dunkler geworden, fast wie früher, bis auf den kuriosen Streifen an der linken Seite. Findest du nicht auch?

Gewiß finde ich es, erwiderte Käthe, nur kann ich darin nicht etwas so Merkwürdiges sehen. Ist es nicht eine Schande, einen Mann, wie Papa, zwanzig Jahre auf demselben Posten zu lassen? Und denkst du, er hat das nicht tief und schmerzlich empfunden, obwohl er viel zu stolz war, es sich merken zu lassen? Aber, Hans, daß du glauben kannst, er freue sich über das Geld, nehme ich dir einfach übel. Er und Geld! Was soll er denn damit? Er lebt doch jahraus jahrein wie ein Spartaner, wenn die Menschen so hießen. Geld ist ihm Häcksel. Ich kann dir sagen, er hat mich auf das Gewissen gefragt, ob der Herr Baron und was da so drum und dran hängt, irgend etwas mit meinen Gefühlen für einen gewissen Jemand zu schaffen hätten. Und, wenn das der Fall sei, ich doch um Gottes willen den gewissen Jemand laufen lassen solle.

Nun und?

Ich habe mich ernsthaft geprüft, Herr Baron, und gefunden, daß ich nur den Hans liebte und lieben würde, wenn –

Er ein simpler Forstkandidat wäre, der auf dem Cornet à piston »Es wär' zu schön gewesen« bläst.

Der arme Brunnow! Er ist so traurig, daß Papa nach Sundin geht!

Es werden es noch viele beklagen, Herz. Es werden es alle beklagen, die das Glück haben, ihn zu kennen.

Darüber war in der ganzen Nachbarschaft nur eine Stimme. Herr und Frau Moen, die gräflichen Herrschaften auf Griebenitz, das alte mürrische Ehepaar auf Ungnad selbst; die vielen Vornehmen und Geringen, mit denen er während der langen Zeit in dienstliche oder persönliche Beziehung gekommen war, alle sagten wie aus einem Munde, einen solchen Mann bekämen sie nicht wieder; es sei einfach ein unersetzlicher Verlust.

Und auch nicht einer von allen ahnte nur im entferntesten, wie es in dem Herzen des Mannes mit der heiter lächelnden Miene aussah, und welcher Entschluß in seiner Seele feststand.

Er hatte seine Sache von Anfang an selbst geführt, keinen Richter über sich anerkennend, als das eigene Gewissen. Hatte es ihn frei gesprochen, als er Hans' Vater in Verteidigung des eigenen Lebens niederschoß, so war er freigesprochen; verurteilte es ihn jetzt, wo er einen Menschen getötet, der ihm das mühsam aufgebaute Glück seiner Kinder von Grund aus zu zerstören drohte, so war er verurteilt.

Das Strafgesetzbuch aber verdammte einen Menschen, der einem andern absichtlich das Leben nahm, zum Tode.

Er durfte nicht milder sein in eigner Sache als das Strafgesetzbuch.

An der Thatsache selbst war nicht zu rütteln.

Als er den Betrunkenen, von dem Fall auf die Schienen Betäubten in den fußhohen Schnee der Böschung schleuderte, wußte er, daß er von selbst nicht wieder in die Höhe kommen würde; auf seinem kalten Lager in der eisigen Nacht dem Tode zum Opfer fallen mußte. So sicher, als hätte er ihn unter die Räder der Lokomotive geworfen.

Vor denen er ihn eben erst gerettet.

Das war instinktiv gewesen; jenes zweite war es nicht. Da wußte er genau, was er that.

Und was er gethan, das hatte er gewollt.

Und die Geschworenen, hätte sich die Sache vor Gericht abgespielt, mußten auf Schuldig erkennen, etwa mit Zubilligung mildernder Umstände in Anbetracht, daß er einen heiligen Eid geschworen, Hans zu schützen; und der Liebe, die ein Vater für sein einziges Kind hegt; und daß der Mensch, den er getötet, ihn zuletzt persönlich noch so schwer gereizt hatte.

Und würden ihn schließlich auch wohl der Gnade des Königs empfohlen haben.

Aber man billigt wohl einem andern mildernde Umstände zu, nicht sich selber.

Und von Königs Gnaden konnte er nicht leben.

So stand die Rechnung, und die Rechnung war falsch. Der Fehler hatte sich eingeschlichen in dem Augenblicke, als er beschloß, vor der Welt geheim zu halten, wie Baron Fritz gestorben war. Wir leben nicht in den Hinterwäldern, wo man das Recht von sich selbst nimmt, weil man die Sache vor den ordentlichen Richter nicht bringen kann, und die Störenfriede seines Jagdgebietes abschießt, mögen es nun weiße Trapper oder rote Indianer oder braune Bären sein. Die civilisierte Welt kann und muß verlangen, zu erfahren, wie eines ihrer Mitglieder, es sei, welches es sei, und wäre es der letzte verkommene Vagabund, sein Leben verloren hat. Andernfalls wäre dem Mord freie Bahn gegeben. Vorausgesetzt nur, daß die Sache geheim bleibt, könnte man töten, wen man wollte, sobald es der eigene Vorteil wünschenswert macht. Daß er sich, brachte er jenen ersten Fall zur Anzeige, möglicherweise von einem schlimmen Verdacht hätte mühsam reinigen müssen, er es nur konnte, wenn er offen die Leidenschaft des Mannes für Elfriede einräumte und die Hoffnungen, welche ihr unsichres Betragen in ihm erweckt haben mochte – alles das durfte nicht ausschlaggebend sein. Er hatte seine verfluchte bürgerliche Pflicht und Schuldigkeit zu erfüllen und – basta! Nun, da er sie in trotziger Selbstgerechtigkeit nicht erfüllt, war die verhängnisvolle Kugel ins Rollen gekommen, hatte das Unglück seinen Lauf gehabt. Nun stand er am Rand des Abgrunds, den er sich selbst gegraben. Der Abgrund verlangte sein Opfer. Das Opfer war er.

Mit absoluter Klarheit übersah er den Fall, als hätte ihn ein gewiegter unparteiischer Richter einer Geschworenenbank auseinandergesetzt, jedes Für und Wider sorgsam abwägend. Nichts da von Schicksalstragödie! vom Walten tückischer Dämonen! Es war alles mit rechten Dingen zugegangen. Und der weiße Streifen, der sich durch sein Haupthaar zog, von der linken Schläfe über das Ohr weg bis zum Hinterkopf – genau in der Bahn, in welcher die Kugel aus Fritz' Büchse an ihm vorbeigepfiffen – das war kein mystisches Zeichen, war einfach ein Spiel der Natur.

Die Gewißheit, aus dem Leben scheiden zu müssen, hatte für ihn schlechterdings nichts Furchtbares. Der Tod war ihm nie etwas andres gewesen, als das unbedingte Ende des Lebens, das einmal kommen mußte; dessen Kommen von tausend Zufälligkeiten abhängig, ganz unberechenbar, und wenn auch vielleicht nicht dem Individuum, so doch sicher der Natur völlig gleichgültig war. Und selbst dem Individuum, wenn es sich dazu aufgeschwungen, sich als Natur und ein Stück des Alls zu begreifen.

Nein! Das Furchtbare lag darin, daß der Fehler auf keine Weise mehr aus der Rechnung zu entfernen war, die letzte Ziffer so falsch sein würde, wie die erste: sein Tod sich in dasselbe Geheimnis hüllen mußte, das für die Welt den von Fritz Kardow und Karl Dreek umgab. Eine Maske, die man zwanzig Jahre lang getragen, nimmt man nicht mehr ab. Mit der legt man sich ins Grab.

So denn, guter Herr Präsident, verehrter Herr Minister, Verzeihung der Komödie, die ich Ihnen vorgespielt habe, als ich meinen ergebensten Dank abstattete für die Beförderung zu einem Rang, den ich niemals bekleiden werde! Verzeihung ihr Lieben alle, denen ich seelenvergnügt erscheine über die hübschen Siebensachen, die mir das Glück in den Schoß geworfen! Nun ja, daß ich mich jetzt aus den Klauen meines Wucherers retten kann, ist ein gutes Ding – und dafür segne ich in seinem Grabe den edlen Menschen, der nicht dulden wollte, daß ein Freund, den er lieb hatte, mit der gemeinsten aller Sorgen kämpfte – aber sonst! Ihr ahnt ja nicht und dürft nicht ahnen, welche Mühe es mir macht, den Mammon zweckmäßig zu verthun!

Bereits in Berlin hatte er sich bei dem jungen Socius des Verstorbenen erkundigt, ob da nicht arme Verwandte existierten, und die Versicherung erhalten: es seien bei der Abfassung des Testaments nach dieser Seite die sorgfältigsten Recherchen angestellt: es gebe keine Hilfsbedürftigen, in der Familie. Alle Angehörigen lebten in wohlhabenden, ja glänzenden Verhältnissen. Mit der Erbschaft, die ihm zugefallen, sei niemand auch nur das mindeste Unrecht geschehen.

So dann durfte er frei darüber schalten.

Er fertigte eine sorgfältige Liste aller an, die er in seinem Testamente bedenken wollte.

Von Käthe sah er völlig ab: zu dem Reichtum, der sie jetzt umgab und immer umgeben würde, etwas hinzuthun, wäre lächerlich gewesen.

Aber da waren einige entfernte Verwandte von ihm, denen es nicht gut ging. Sie erhielten ihr gemessenes Teil.

Dann kam in erster Linie sein braver Amsberg. Der war jetzt so alt geworden, daß er selbst auf seine Pensionierung angetragen hatte und nun mit seiner zahlreichen, zum Teil noch immer unversorgten Familie der trübsten Zukunft entgegensah. Dem Manne mußte geholfen werden.

Sodann die rote Marie.

Er hatte ihr, als er an jenem Morgen nach Sundin fuhr – ahnungslos, was ihm dort, was ihm weiter in Berlin bevorstand – bis auf ein weniges in einem versiegelten Brief durch Brunnow beinahe den Rest seines Baargeldes geschickt und sie nach seiner Rückkehr sofort aufgesucht. Obwohl sie nicht wußte, wie arm er selbst war, ihn im Gegenteil für einen Mann mit recht auskömmlichen Verhältnissen hielt, hatte nur die schreckliche Not, in der sie sich befand, sie zur Annahme des Geldes bewegen können. Sie sagte ihm das und gestand ihm weiter, wie schwer sie mit der Versuchung gekämpft, jene zweitausend Mark, die der Vater für Karl Dreek eingenommen, zu verheimlichen. Aber sie habe gefürchtet, der Vater würde nicht reinen Mund halten; es würde herauskommen, daß es das Geld des Herrn Oberförsters war; man würde wissen wollen, was der Herr Oberförster damit bezahlt und so an das traurige Geheimnis ihres Verhältnisses zu dem verstorbenen Baron mindestens gerührt werden.

Ich meine, das dürfte ich nicht zulassen, Herr Oberförster.

Er hatte sie versichert, sie habe völlig in seinem Sinne gehandelt, und daß er ihr für ihr taktvoll-kluges Verhalten zu größter Dankbarkeit verpflichtet sei.

Seiner Dankbarkeit gab er in dem Testamente einen vollwichtigen Ausdruck. Diese Frau hatte die Sünden ihrer Jugend durch furchtbares Leid abgebüßt. Ueber ihrem einst so schönen, lange vor der Zeit ergrauten Haupte sollte fürder kein schwerer Wetterhimmel hangen.

Es blieb noch immer ein ansehnliches Stück Geld übrig. Er vermachte es der Akademie, auf der er ausgebildet war, als Stipendium für einen armen Studenten.

Dann brachte er das Dokument nach Grünwald zu einem ihm bekannten Notar, der über die juristische Schärfe und Genauigkeit, mit der es abgefaßt war, erstaunte, es amtlich beglaubigte und in Verwahrung nahm.

Nun mochte der letzte Tag kommen.


Er war gekommen als schönster Wintertag, dem die Sonne an einem wolkenlosen, stahlblauen Himmel blutrot aufging.

Von acht Uhr an klingelte Schlitten auf Schlitten in den Schloßhof von Möllenhof, das Rendezvous der Jagd, zu der Hans aus der Nachbarschaft die Gutsbesitzer, adlige und unadlige, die Pächter der Domänen, seiner eigenen Güter, den Herrn Bürgermeister, Amtsrichter, sonstige Honoratioren aus Grimm, alles eingeladen hatte, was sich nur irgend dazu qualifizierte.

Um neun Uhr waren die Gäste versammelt – eine so stattliche Schar, daß der große Saal rechter Hand zu ebener Erde, in welchem ihnen ein Imbiß geboten wurde, sie kaum fassen konnte.

Na, Doktor, worüber denken Sie denn nach? fragte in seiner jovialen Weise der alte Graf Grieben den Doktor Barth, der mit seinem halbvollen Glase Madeira sinnend in einer Fensternische stand.

Ob wohl irgendwo in Deutschland, meinetwegen auf der ganzen Welt, bei einer solchen Gelegenheit so viele Prachtexemplare der Species homo sapiens mühelos zusammengebracht werden könnten?

Homo sapiens? Was ist das, mein Lieber?

Vulgo: Mensch, Herr Graf.

Ganz recht, ganz recht! Natürlich: Mensch! Was sonst? Aber haben ganz recht, famose Rasse, unsre Pommersche!

Und doch ist das schönste Exemplar kein Pommer.

Wer?

Unser Oberförster.

Forstrat! mein Lieber. Forstrat!

Mir wird er immer »unser Oberförster« bleiben.

Na, na, Doktor! Am Ende gehen Sie auch noch unter die Demokraten!

Der alte Herr hatte, mit dem Finger drohend und über den vortrefflichen Witz lachend, sich zu andern gewandt; des Doktors Blicke blieben auf dem Oberförster haften, der nicht weit von ihm, lebhaft sprechend, in einer kleinen Gruppe von Herren stand.

Er ist und bleibt mir ein Phänomen und ein Rätsel, murmelte der Doktor. Vor vierzehn Tagen ein alter Mann – heute ein Jüngling mit seinen elastischen Bewegungen und dem glänzenden Adlerblick. Unsre ganze Wissenschaft ist doch nicht einen Schuß Pulver wert.

Darf ich die Herren jetzt bitten! rief Hans mit seiner tönenden Stimme durch den Saal.

Man brach auf, in dem Vorsaal die dort aufgestellten Gewehre nehmend: Lefaucheux Siehe Anm. 25., Zentralfeuer Bei der Zentralfeuerpatrone ist das Zündhütchen mit dem darin enthaltenen Zündsatz zentral im Hülsenboden angebracht. Die Zentralzündung ist heute in nahezu allen gängigen Waffen die Regel., jede Sorte modernster Systeme. Es gab einige Verwechselungen; schließlich hatte doch jeder seine Waffe.

Hans hatte dem Schwiegervater die Ordnung der Jagd völlig überlassen und ihm damit keine kleine Aufgabe gestellt. Gab es doch nicht weniger als zwanzigtausend Morgen in verschiedenen Treiben abzujagen!

Alles vollzog sich mit musterhafter Präzision.

Gleich das erste große Treiben auf der gewaltigen Breite zwischen dem Walde und dem Schloßpark war kapital. Zweiundachtzig Hasen wurden zur Strecke gebracht – ein Resultat, von dem jeder der Jäger behauptete, daß er es hier zu Lande noch nicht erlebt habe. Und alle waren sie zu Schuß gekommen!

Mit Ausnahme des Oberförsters.

Das heißt: er hat nicht schießen wollen! rief Graf Grieben.

Ich muß die Augen heute ein wenig überall haben, sagte der Oberförster entschuldigend.

Und dann ist Hase nicht vornehm genug für den Herrn Forstrat, krähte der Graf, der den Witz köstlich fand, während Hans, der dabei stand, unwillig die Brauen zusammenzog.

Ganz recht, Herr Graf, erwiderte der Oberförster ruhig. Ich warte auf das Einhorn.

Was ist das?

Das edelste Wild in meinem Privatforst. Es ist sehr selten. Manchmal trägt es eine Fee.

Hören Sie, mein Lieber! Ich glaube, dann warten Sie auf die Fee.

Kann sein, Herr Graf. Aber nun muß ich die Herren bitten.

Ein zweites Treiben begann, nicht so erfolgreich als das erste und doch interessanter, weil auf stark koupiertem Terrain D.h. eine Gegend, die, von Gräben, Thälern Schluchten etc. durchschnitten, dem Vorrücken, namentlich berittener Truppen, Schwierigkeiten darbietet.. Auch wurden, außer den Hasen, drei Füchse, ein Dachs und – von Herrn Moen – ein prachtvoller Bussard geschossen; diverse Enten, die das Röhricht eines Sees beherbergt hatte, nicht besonders zu erwähnen.

So ging es weiter. Und immer über den Jägern der stahlblaue Himmel, an dem sich auch nicht das kleinste Wölkchen blicken ließ; unter ihnen und um sie her, so weit das Auge reichte, endlose Schneebreiten, die im Sonnenschein blitzten; vor ihnen, aus der Ferne immer näher kommend, immer dichter werdend, die lärmende Treiberkette; zwischen der und der Schützenlinie Hase über Hase, mit hintenübergelegten Löffeln in voller Flucht; in der Schützenlinie Schuß auf Schuß, daß es manchmal wie Pelotonfeuer Hierbei schoss die Infanterie, in kleinere Gruppen (meist in Pelotons, also mit etwa 30 bis 40 Soldaten) unterteilt, abwechselnd, jeweils geschlossen eine Musketensalve, so dass der Eindruck eines »rollenden Feuers« entstand. klang.

Das war eine Jagd nach den Herzen dieser echten und gerechten Schützen!

Und nur das Herz des einen, der das Ganze mit solcher Umsicht leitete und von allen Seiten mit den schmeichelhaftesten Lobsprüchen überhäuft wurde, schlug nicht in dem frischen Takte der andern; schlug auch nicht ängstlich und beklommen, aber so still, als hätte es bereits aufgehört hat zu schlagen.

Und seine Gedanken schweiften weitab, weitab nach dem Märchenwalde, von dem er vorhin zu dem alten Grafen mit melancholischem Hamlet-Scherz gesprochen. Und er that seine dämmernden Hallen auf; und zwischen den Urwaldstannen hervor kam das fabelhafte Einhorn geschritten, auf seinem Rücken die Fee – sie – sie!

Ja, das war ihr blauschwarzes Haar; die großen dunklen, träumerischen Augen; das süße Lächeln um die edlen Lippen; die hohe, schlanke, biegsame Gestalt!

So hatte er sie alle diese Tage gesehen, wachend und träumend!

Immer nur sie, ob auch noch so viele Menschen ihn umgaben; er sie sprechen hörte, wie aus weiter Ferne; selbst zu ihnen sprach mit einer Stimme, die ihm nicht seine Stimme zu sein schien!

Wenn er das holde Bild mit hinübernehmen könnte ins Jenseits – immer so in himmlischer Klarheit vor seines Geistes Aug' durch alle Ewigkeiten!

Nur daß es kein Jenseits gab und keine Ewigkeit, zum wenigsten nicht für den staubgeborenen Menschen.

So sollte sie seine hohe Gesellschaft sein für den kurzen Erdenrest.

Er mußte noch in eine andre Gesellschaft, die große, die sich nach der Jagd in dem Festsaale des Schlosses Möllenhof zum prächtigen Mahle setzte.

Bei dem weidlich gegessen, tapfer gebechert, viel gescherzt und gelacht, und so mancher launige Toast gesprochen wurde.

Auch einer auf ihn von dem alten Grafen, als dem Vornehmsten in der Gesellschaft.

Ein gutgemeinter Toast mit vielen »Meine Herren« und unzähligen Ehems, der gewaltigen Beifall fand, und den er in längerer Rede erwiderte, die stürmisch applaudiert wurde.

Aber was der Graf geredet, was er erwidert – er hätte es nicht zu sagen vermocht.

Ihm zur Rechten während des Mahles hatte Käthe gesessen, die heute gar übermütig war, so daß er wiederholt hatte lachen müssen, nur daß er nicht wußte, wie der Scherz gewesen war.

Zum Abschied hatte er sie geküßt und Hans die Hand gedrückt – nicht so innig, wie er wohl gewollt hätte. Sie sollten morgen nicht sagen dürfen: wir wissen es jetzt, es war ein Abschied für immer.

Es ging bereits auf elf, als er mit seinem treuen Brunnow nach Hause kam.

Sie gehen natürlich sofort zu Bett, lieber Brunnow, sagte er, dem jungen Manne die Hand reichend. Ich habe noch eine Stunde zu arbeiten.

Herr Brunnow war sofort zu Bett gegangen. Er konnte, so grausam müde er war, nicht gleich einschlafen. Vor seinen Augen liefen fortwährend Hasen über eine weiße Schneefläche. Und dann der Sekt! Ach, und wie wundervoll sie heute abend wieder ausgesehen hatte! Ach ja! ach ja! »Es wär zu schön gewesen!«

Endlich war er doch eingeschlafen. Um aus dem Schlaf emporzufahren vor einem Geräusch, das gerade wie ein Schuß geklungen hatte.

Natürlich! wenn man immerzu Hasen laufen sieht!

Und er drehte sich auf die andre Seite und schlief wieder ein.

Es war doch ein wirklicher Schuß gewesen.

Am andern Morgen wurde es furchtbar klar, als man den Oberförster nicht in seinem Schlafzimmer, dessen Bett unberührt war, fand, sondern in der Kammer neben seinem Schlafzimmer tot vor dem Gewehrschrank, in den er den Lefaucheux hatte hängen wollen, dessen einer Lauf – der Himmel mochte wissen, wie – sich entladen hatte. Ihm gerade durchs Herz.

 

Ende.

 


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