Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Den Titel des Gedichtes zu übersetzen, hatte freilich keine Mühe gemacht: Mesmerism – Mesmerismus; aber viel weiter war Roderich mit der Arbeit nicht vorgerückt, trotzdem er nun schon die halbe Nacht daran gewandt hatte. Für einzelne Worte und Phrasen glaubte er den rechten Ausdruck gefunden zu haben; diese oder jene Wendung schien glücklich herausgekommen; und das stand so nebeneinander, untereinander zwischen großen Lücken auf dem Papier, wie auf einem Baugrund behauene Steine, die man zur Errichtung eines Hauses herbeigetragen, und nur der Meister fehlt, der sie zusammenfügen könnte.

Hundertmal hatte er die Feder niedergelegt und wieder ergriffen, immer in der Hoffnung, nun werde ihm gelingen, die Teile aneinander zu reihen, deren geistiges Band er doch so fest zu halten glaubte. Robert Browning » Mesmerism« (1855) von dem englischen Dichter Robert Browning (1812-89) ist ein Gedicht mit 27 Strophen (siehe Anhang). – Friedrich Spielhagen hatte sich zu Beginn seines literarischen Schaffens selbst als Übersetzer englischsprachiger Lyrik betätigt: »Amerikanische Gedichte« (1858). – Einen Teil von » Mesmerism« hat Spielhagen gegen Ende der Novelle in eigener Übersetzung eingefügt. schwelgte hier, wie überall, in Dunkelheiten, halb ausgesprochenen Gedanken und Gefühlen, mystisch-bizarren Bildern, aber doch nicht ausschweifender als » In a gondola«. Siehe die Übersetzung Spielhagens weiter unten in der Novelle. – Das englische Original (1842 erstmals publiziert) kann im Anhang eingesehen werden. Und das lange Poem mit den fortwährend wechselnden Metren und verschlungenen Reimen hatte er damals in so kurzer Zeit, wie im Fluge, zu Papier gebracht – für sie! für sie!

Das war's gewesen! das hatte seiner Empfindung die Glut und Innigkeit, seiner Phantasie den Schwung, seiner Sprache die Kraft gegeben! Und daß er die einzelnen Strophen, wie er sie tags über – in den leidigen Stunden, wo er sich von ihr trennen mußte – hingeworfen, des Abends rentieren durfte, während ihre Gondel aus Licht in Dunkel, aus Dunkel in Licht lautlos durch die schweigenden Kanäle glitt, vorüber an stummen Palästen, auf deren Fassaden das Mondlicht träumte! »Hand in Hand und Lipp auf Lippe!« Da freilich waren Wirklichkeit und Gedicht für ihn ununterscheidbar ineinander geflossen; da freilich hatte es wenig Kunst gekostet, ein Poem nachzudichten, das der Meister selbst nur aus dem frischen Quell des Selbsterlebten so herrlich hatte schöpfen können.

Dennoch an der Gleichheit des in » Mesmerism« Geschilderten und der Wirklichkeit des Augenblicks fehlte es auch diesmal nicht.

In einem einsamen Hause, das der herbstliche Nachtsturm umtost, sehnt sich der Liebende nach der fernen Geliebten; sehnt sich nach ihr so innig, so schmerzlich, daß die Bande, welche die Kreatur in den engen Kreis der Sinne zwängen, sich zu lockern beginnen, zerreißen; sie über Gebirg und Thal, die sie trennen, seinen Ruf vernimmt, seinen Schmerzensschrei; über Thal und Gebirg durch den Graus der Nacht dahergeschwebt kommt, in sein Zimmer, zu ihm, der die Arme ausbreitet, in wahnsinnigem Entzücken die Geliebte an seine Brust reißt.

Was denn hätte hier an der identischen Situation gemangelt? Das einsame Haus – hier war es. Der nächtliche Sturm – er tobte da draußen. Und in dem einsamen, nachtsturmumtobten Hause – o Herr des Himmels, wilder, wahnsinniger hatte der Mann des Gedichtes sich nicht nach der Geliebten sehnen können, wie er nach ihr sich sehnte, mit der zum erstenmal die große Sonne wahrhaftiger Liebe glutvoll in sein Leben geschienen, ihm die Welt verklärend, der Welt ihr graues Alltagskleid abstreifend, daß sie vor ihm stand in paradiesischer Schönheit und Unschuld, wie die Geliebte selbst. Ein Traum! Ein holder süßer Traum, der nach ein paar wonnigen Tagen und Nächten ausgeträumt sein sollte für immer.

Ausgeträumt, wie bang ihm auch vor dem vollen Erwachen schauderte; wie fest er auch die Augen schloß, eine elende Minute nur weiter träumen, sich einreden zu können, daß er so weiter träume. Darum, nur darum hatte er heute nacht zu dem Browningschen Gedicht gegriffen, wie er zum Morphium seine Zuflucht nahm, die Schmerzen der alten Wunde in der Schulter einzuschläfern, wenn sie so arg tobten wie vorhin. Es war nur eine kleine Dosis gewesen und die gewohnte Wirkung nicht eingetreten. Dafür hatte sie ihm den Kopf so schwer gemacht, wie sein Herz ihm bleiern in der Brust hing. Warum packte der Sturm denn nicht noch fester zu, und das alte Haus stürzte zusammen und begrub ihn unter seinen Trümmern!

Um ein weniges wäre es jetzt geschehen. Vor dem gewaltigen Stoß, der es getroffen, erbebte das Haus bis in den Grund. Von dem spitzen Giebel des Dachreiters prasselten einzelne Ziegel herab und fielen klatschend auf die durchweichte Erde; die Fenster in ihren wurmstichigen Rahmen klirrten; in dem Schlot des Kamins polterte es; die heisere Schelle der Gatterthür des Gartens klapperte, als risse eine ungeduldige Hand an dem eisernen Strange; der Hund, der da angekettet war, schlug wütend an, als gelte es, einen Räuber abzuwehren; die Flamme der Oellampe auf dem Tisch flackerte ängstlich – Roderich nahm den Kopf aus der aufgestützten linken Hand und stieß, sich erhebend, einen dumpfen Wehschrei aus. Den Sessel mit der anderen Hand hastig zurückschiebend, hatte er nicht an den kranken Arm gedacht, durch dessen zerrissene Nerven ein wilder Schmerz schoß. Ein paar Augenblicke stand er, den Arm mit der anderen Hand stützend, durch die zusammengepreßten Zähne leise wimmernd. Der Anfall ging vorüber. Er holte den zurückgehaltenen Atem in ein paar langen Zügen nach und trat an die Fensterthür, von der er den sich bauschenden und wieder zusammensinkenden Vorhang zurückschlug.

Der Blick von der Fensterthür über die niedere, schmale Terrasse, zu welcher ein paar flache Stufen aus dem Vorgarten heraufführten, war lieblich genug gewesen, als er an einem sonnig warmen Nachmittage des vergangenen Septembermonds, auf seiner rastlosen Irrfahrt durch Deutschland vom Zufall hierher in das thüringische Landstädtchen verschlagen, das seit Jahren leer stehende Haus mit allem Zubehör auf unbestimmte Zeit mietete. Hier glaubte er, wenn nicht Vergessenheit der Schmerzen und Ruhe der Seele, so doch Einsamkeit zu finden – die völlige Einsamkeit, nach der sich das wunde Herz so innig sehnte. Darin hatte er sich ja denn auch nicht betrogen: der Dulder auf Salas y Gomez Siehe die Ballade »Salas y Gomez raget aus den Fluten« (1829) von Adelbert von Chamisso. konnte nicht einsamer sein zwischen seinen Felsenwänden als er hier in dem verlassenen Hause am Bergeshang über dem verschollenen Städtchen unten. Vorausgesetzt, der Spanier hätte einen alten Diego gehabt, wie er seinen alten Christian. Und der alte Diego hätte den Kummer seines Herrn so pietätvoll respektiert wie der alte Christian den seinen. Was galt die Wette: der Alte war heute nacht überhaupt nicht zu Bett gegangen; oder hatte sich in den Kleidern hingelegt und stand jetzt, von dem Sturmstoß aufgejagt, in der offenen Thür seines Giebelzimmers, die dunkle stille Treppe hinabhorchend, wie er selbst hier am Fenster in die heulende Nacht hineinstarrte.

Die heulende, rabenschwarze Nacht, die das liebliche Bild des friedlichen Thals mit dem sanft durch grüne Matten sich schlängelnden Flüßchen völlig ausgelöscht hatte, und durch die doch gespenstische Lichter huschten. Wohl von der Sichel des Neumonds, die hinter dem Hause über dem Bergwalde stand und dann und wann den äußersten Rand der finsteren Wolken schwefelgelb färbte. Der finsteren Wolken, die thalwärts jagten über das Städtchen, dessen Lage nur ein paar helle Punkte ganz zur Linken am Fuß des langgestreckten Hügels andeuteten – Laternen des kleinen Bahnhofs. Von dem eben der Sturm ein paar zerrissene Töne aus der Dampfpfeife einer Rangierlokomotive herauftrug, wenn es nicht das Pfeifen der Windsbraut um den Hausgiebel war. Oder das heulende Winseln des Hundes in seiner Hütte. Oder das ängstliche Geschrei der Käuzchen aus den hohen Pappeln seitwärts im Garten, deren Aeste knarrten und knackten, daß er es durch den Sturm hörte, der in dem Hochwald bergaufwärts donnerte, der Brandung gleich, mit der ein wild empörtes Meer gegen Felsenklippen rast.

Und da klatschte der Regen, der ein paar Momente nachgelassen hatte, wieder in schweren Güssen gegen die klappernden Scheiben – Roderich ließ den Vorhang fallen und trat in das Gemach zurück, schaudernd von der Kälte, mit der den Uebernächtigten, fieberhaft Erregten der eisige Atem des Sturms durch die Ritzen der Fensterthür angeweht hatte. Aber nutzlos, zu Bett zu gehen. Ruhe hätte er doch nicht gefunden, nicht vor den bohrenden Schmerzen im kranken Arm, gegen die es, schlimmsten Falles, noch ein Gift gab, das sie bannte; und nicht vor denen da im Herzen, gegen die es kein Mittel gab: kein Gift und keinen Balsam und keine Heilquelle – nichts, nichts!

Und die nun so fortwüten würden für den Rest seines Lebens! –

Er ging nach dem Kamin und warf ein paar Scheite auf die verglimmenden Kohlen. Dann trat er an das altfränkische Cylinderbureau, wo er einen Kasten aufschloß, aus dem er ein Paket Briefe nahm, mit welchem er zum Kamin zurückging. Aber das Feuer wollte nicht brennen; aus den feuchten Scheiten stieg nur dicker, grauweißlicher Qualm auf, die polternde Esse hinaufwirbelnd. Die Briefe verdienten, daß sie sich langsam zu Tode quälten, wie sie ihn gequält und gemartert diese letzten langen Wochen hindurch von dem ersten, noch nach Montreux, bis zu dem letzten von vorgestern, der allem die Krone aufsetzte. –

Und dann kauerte er doch am Kamin in dem Urväterstuhl, den er mit dem übrigen Gerümpel im Hause vorgefunden, auf die schwelenden Scheite starrend, das Paket Briefe in der Hand.

Wenn Georg nun doch von Anfang an klarer gesehen? von Anfang bis Ende recht gehabt und behalten hätte? Er war ein so nüchterner Kopf, ein so guter Beobachter, ihm selbst an Lebensklugheit und Welterfahrung hundertfach überlegen. Und dem die Leidenschaft kaum jemals den hellen Blick trübte. In diesem Falle gewiß nicht getrübt hatte, wo es sich um Tod und Leben handelte für den, den er mit einer mehr als brüderlichen Liebe liebte, die er im langen Verlauf ihrer Freundschaft tausendfach bewiesen. Wenn diese Briefe, die ihn so gekränkt und verletzt und die er am langsamen Feuer zu Asche machen wollte, wie sie eine Aschenschicht nach der anderen über seine erste Liebesglut gedeckt – wenn sie nur ebensoviele Beweise seiner treuen Freundschaft waren? Freilich, Georg wußte von dem einen nicht, ohne dessen Kenntnis weder was vorher geschehen war, noch was später kam, zu verstehen war. Aber die ersten Stadien des Verhältnisses hatte er doch mit durchlebt, kannte Lili, kannte den Grafen länger als er. Und, was centnerschwer in die Wagschale fiel: er hatte Lili nach der Katastrophe gesehen, gesprochen – vor wenigen Tagen erst; hatte sie gefaßt, ruhig gefunden, wie eine, deren Gewissen nichts trübt, die zum mindesten ihr Gewissen nicht trüben läßt, auch durch das Ungeheuerste nicht, das in eines Weibes Leben treten kann. Und die, wenn das Kind, das sie unter dem Herzen trägt, das Licht erblickt, hingehen wird, es ihrem Gatten auf die Knie zu legen, ohne die Augen zu senken. Die Augen, die frommen Augen, die so leidenschaftlich flammten, wenn sein Bild sich in ihnen spiegelte, während seine Lippen auf den ihren brannten! So war denn auch, was die alte Brigitte ihm warnend zugeraunt, nicht wahr gewesen. So hatte sie sich nur aus den Armen des alternden Gatten in die des jüngeren Liebhabers gestürzt – der Abwechselung wegen!

Es mußte so sein. Bei all seiner friedlich frommen Gesinnung, bei aller greisenhaft verblendeten Liebe für sein junges schönes Weib – der alte Herr war doch immer ein Mann, und darüber kommt kein Mann hinweg. Und auch keine Frau, sie sei denn eine Buhlerin, die von Scham längst nichts mehr weiß. Nur so eine kann den vertrauten Freund des Geliebten, der vielleicht Kunde von allem hat – was denn vertraut der Freund dem Freunde nicht? – lächelnd bei sich empfangen; kann ruhig, gelassen –

Wie lauteten doch die verdammten Worte? Sie standen oben auf einer linken Seite.

Roderich suchte in dem Paketchen nach dem betreffenden Brief. Sie waren nach den Daten geordnet. Es mußte im vorletzten sein. Er fand die Stelle da nicht. Also der drittletzte! Auch der war es nicht, wie er sich überzeugte, nachdem er ihn mit den Augen überflogen. Mühsam bei dem Flackerlicht der gelben Stichflammen, die zwischen den zischenden Scheiten in die Höhe zu züngeln begannen. Er holte die Lampe vom Arbeitstisch und setzte sie auf das Tischchen neben dem Lehnstuhl am Kamin.

Und wie er ungeduldig und immer ungeduldiger in den Briefen blätterte, ohne, was er suchte, entdecken zu können, stieß er auf diesen, auf jenen Satz, den gelesen zu haben er sich nicht erinnerte. Kein Wunder, wenn er von Anfang an für die brieflichen Mahnungen des Freundes nur flüchtige Augen gehabt hatte, wie man auf widerwärtige Vorhaltungen nur mit halben Ohren zu hören pflegt. Er wollte ja nichts als Gewißheit. Sie aus dem zermarterten Gehirn zu schöpfen, fühlte er nicht die Kraft. Vielleicht daß er sie fand, wenn er den Mut hatte, dies hier mit Aufmerksamkeit im Zusammenhang zu lesen.

Und der einsame Mann in dem sturmumheulten Hause am flackernden Feuer des Kamins, zurückgelehnt in den Urväterstuhl, las beim matten Schein seiner Lampe:

 

Mailand, den 4. September.

Zweimal bin ich heute auf dem Bahnhof gewesen – vergebens – in dem Gewimmel der den Coupés entsteigenden Menschen – kein Roderich! Dafür denn, als ich eben in das Portal des Hotels trete, ein Brief von ihm: »er kann sich nicht losreißen, wird in einigen Tagen kommen – spätestens.«

Da muß ich denn wirklich ein ernstes Wort mit dir reden. Vielleicht, daß du jetzt der Vernunft Gehör giebst, der du, solange ich bei dir war, hartnäckig deine Seele verschlossest.

Ich will von mir nicht sprechen, obgleich ich es wohl dürfte. Seit Jahren haben wir diese Reise projektiert. Du bist dein eigener Herr, konntest von Hause fortgehen, wann du wolltest, so lange wegbleiben, wie du wolltest. Du thust es nicht; wartest geduldig auf mich, dem der Dienst immer etwas in die Quere legt, bis es mir endlich mit Aufbieten meiner ganzen Diplomatie gelingt, mir einen zweimonatlichen Urlaub zu verschaffen. Wir halten, von Paris und Berlin kommend, auf die Stunde unser Rendezvous in Lausanne; vertrödeln vierzehn kostbare Tage an den Ufern des Sees; und als ich endlich ungeduldig zum Aufbruch mahne, schickst du mich ruhig voraus unter dem Vorwand, daß du Oberitalien zur Genüge kennest und ich mir Mailand und die Certosa in Gottes Namen allein ansehen möchte.

Das mag so weit ganz bequem sein; kameradschaftlich ist es nicht.

Und auch das soll dir noch hingehen. Selbst über dein tolles Sich-Hals-über-Kopf-Verlieben in eine Frau, der ich dich zugeführt habe, die Gattin eines würdigen Greises, der mich seinen Freund nennt, will ich ein Auge zudrücken. Man ist jung, und wozu reist man, wenn nicht, um Abenteuer zu erleben! Aber, wohlgemerkt: im Fluge, en passant. Sobald man aus dem Abenteuer ein Metier, aus der Episode einen Roman machen will, fängt das Unrecht an, das positive Unrecht gegen sich selbst, gegen seinen Reisebegleiter und –

Zum Tausend, ich bin kein Tugendschwätzer und kein Kostverächter. Nur daß ich immer der Meinung war: auf dem Liebes-, wie auf dem Kriegspfade giebt es gewisse Rücksichten, die schlechterdings beobachtet sein wollen. Es gilt für barbarisch, eine unbefestigte Stadt zu bombardieren, und ich halte es für unerlaubt – ja, mon cher, für unerlaubt –, in das friedliche Gehege seiner Ehe einem Manne zu kommen, der sich, so zu sagen, nicht wehren kann und, wenn er es könnte, nicht wehren würde.

In deinen Augen existiert der Mann nicht, oder höchstens, damit du die Hände über dem Kopf zusammenschlagen darfst: wie hat er die unsägliche Frechheit haben mögen, diesen Engel zu heiraten!

Seine Entschuldigung ist meiner Meinung nach die, daß der Engel ihn geheiratet hat.

Du lachst natürlich höhnisch, wenn ich dich an Goethes Wort in dem Nausikaa-Fragment erinnere: »Und immer ist der Mann ein junger Mann, der einem jungen Weibe wohlgefällt.« Du meinst: das hat ein alter Mann erfunden als Deckmantel für seine skurrile posthume Leidenschaft. Für dich ist das »Wohlgefallen« Unsinn. Für dich hat sie ihn geheiratet, weil er immens reich und sie ein blutarmes junges adeliges Ding war, das aus einem Hause hochnasiger Verwandten in das andere gestoßen wurde und das elende Leben satt hatte.

Das wäre nun freilich eines Engels nicht ganz würdig, wenn auch menschlich begreiflich; aber so steht die Sache nicht. Sie hat ihn geheiratet, als er ihr in scheuem Zagen seine Hand antrug, nicht, weil die Verbindung mit ihm sie aus ihrer mehr als gedrückten Lage zu einer glänzendsten socialen Stellung emportrug, die freilich allein schon den Ehrgeiz einer achtzehnjährigen Schönen hätte locken können, sondern weil sie der Ueberzeugung lebte und leben durfte, daß der vornehme Edelmann auch einer der edelsten Männer sei, wie sie unser Jahrhundert leider nur noch selten hervorbringt. Das habe ich aus ihrem eigenen Munde, und ich kann aus meinen Erfahrungen ihr liebevolles Urteil nur bestätigen. Während der zwei Jahre, die er in Paris war, bin ich in seinem Hause ein- und ausgegangen und habe, ihn genau zu beobachten, hundertfache Gelegenheit gehabt. Es giebt gewiß bessere Botschafter, einen besseren Menschen nicht. Darüber war in Paris nur eine Stimme, wie das Bedauern, als er vor einem Jahr nach Wien in das Ministerium berufen, vielmehr: zurückberufen wurde, ein allgemeines war. Und in der frivolsten Stadt der Welt während der ganzen Zeit auch nicht das kleinste Bonmot über den alten Gatten! nicht der Schatten eines Zweifels an der Tugend der jungen Frau! My dear fellow, that speaks volumes! Du weißt, ich verdanke es wesentlich seinem mächtigen Einfluß, wenn ich nach unserer Reise nur noch für wenige Wochen nach Paris zurückzugehen brauche. Ich kann hinzufügen: der mir so schon liebe Gedanke, nach Wien versetzt zu werden, wird mir noch sehr viel lieber durch die Gewißheit, wieder in dem gräflichen Hause verkehren zu dürfen, und – honni soit qui mal y pense!

Und nun, Roderich, Hand aufs Herz: Hast du den Grafen anders kennen gelernt, als ich ihn hier schildere? Kann die Liebenswürdigkeit, mit der er den Freund aufnahm, den ich ihm zuführte, übertroffen werden? Hat der Mann in den vielfachen Gesprächen, die wir zusammen geführt, je einen Gedanken geäußert, der nicht Güte und Wohlwollen für alle Menschen, ja, alle Kreatur geatmet hätte? Lieber Freund, ein solcher Mann verdient Respekt, wenn auch Voltaire entschieden geistreicher war als er. Es laufen auf der Welt so viel schlechte Musikanten herum, die keine guten Menschen sind; die guten Musikanten und ditto Menschen magst du mit der Laterne suchen.

Das ist der Mann.

Und nun die Frau!

Roderich, ich sage dir nur eines:

Sie hat eine traurige Jugend durchgemacht, eine so leidvolle, daß ihre von Haus aus zarte Natur den Pfeilen und Schleudern des Geschicks nicht völlig Widerstand hat leisten können, und eine wirkliche Herzkrankheit, wenn nicht ausgebrochen ist, so doch in drohender Nähe steht. Diese drei Jahre ihrer Ehe sind für sie die Oase gewesen nach der Wanderung durch die Wüste. Willst du die Quelle trüben, an der die Durstende sich erquickt? du die Wegmüde aus dem labenden Schatten verjagen?

Das kann mein Roderich nicht wollen.

Den ich bei dieser Gelegenheit freundschaftlich daran erinnere, wie er alle Ursache hat, außer an sein Seelenheil – das hier beiseite bleiben mag – auch ein wenig an das Heil seines Körpers zu denken. Du hast mir wiederholt gesagt: heftige Gemütserregungen wirken auf meine alte schlecht geheilte Wunde fast so empfindlich ein wie jähe Witterungsumschläge. Nun hatte mir schon bei unserem Wiederfinden dein Aussehen gar nicht gefallen; du gestandest mir, daß du in letzter Zeit mehr noch als sonst zu leiden gehabt hast und sogar das unselige Morphium wieder an die Reihe gekommen ist. Und mit jedem der Tage in Montreux habe ich deine Unruhe, deine Nervosität wachsen sehen! Wohin soll das führen? Zu deinem Glück wahrhaftig nicht.

Ist es des Unglücks nicht genug, daß du in den Jahren kraftstrotzender Jugend aus einem Beruf hast scheiden müssen, für den du so recht eigentlich geboren warst? Du magst keine Phrasen, und so ist es auch gewiß keine, wenn du sagst: Tausendmal lieber wäre ich einen ehrlichen Soldatentod vor dem Feinde gestorben, als ein mit dem Kreuz erster Klasse dekorierter Kümmerer weiter durch das Leben zu schleichen. Aber, lieber Roderich, zu einem braven Soldaten gehört unter anderem auch, daß er, wie Hamlet sagt, auf alles gefaßt ist; und du wirst mir zugeben müssen, deine Würfel hätten noch ein böses Teil schlimmer fallen können. Du bist jung und kräftig; dein Leiden wird nicht inkurabel sein. Und wäre es, du bist Manns genug, auch mit einem unheilbaren Leiden fertig zu werden. Du hast es nur bis jetzt nicht richtig angefangen. Mit der Landwirtschaft war es freilich nichts. Die konnte dich nicht befriedigen, und du hast wohl gethan, sie an den Nagel zu hängen. Aber du hast Geist, Kenntnisse, Talente mancherlei Art, unter anderen eine reiche poetische Ader, die du, seltsamer Mensch, selbst vor deinen Freunden verbirgst, als wäre es ein häßlicher Naturfehler. Mit solchen Schätzen ist man kein armer Mann, auch wenn man nicht zufälligerweise nebenbei, wie du, ein halber Millionär ist. Weitere reiche Schätze der Beobachtung und Erfahrung wirst du auf unserer Reise einheimsen und alles und jedes nach Berlin in deine behagliche Junggesellenklause tragen, dort die goldenen Barren – dir und deinen Freunden zur Lust – in köstliche Schmuck- und Prunksachen umzuschmieden.

Und nun der langen Rede kurzer Sinn: Ich erwarte dich hier (NB. Hotel de Ville) vier Tage, obgleich der Himmel wissen mag, wie ich die endlose Zeit hinbringen soll. Am fünften bist du bei mir – »spätestens!«

Ich bitte, den Grafen herzlich von mir zu grüßen und der Frau Gräfin meine Huldigung zu Füßen zu legen.

* * *

Roderich ließ den Brief auf den Schoß sinken, nahm ihn dann wieder zur Hand. Wie sorgfältig die Schrift war! Offenbar jedes Wort das Resultat gewissenhafter Erwägung, darauf berechnet, einen tiefen Eindruck auf ihn zu machen. Wäre er damals dem Rate des Treuen gefolgt!

Unsinn! wäre es noch möglich gewesen, so hätte ich es eben gethan. Daß ich es nicht that, ist ja der Beweis der Unmöglichkeit. Ich habe ihm in meiner Antwort nach Mailand den Beweis geführt. Zweimal zwei gleich vier! Aber für Leute, die in solchem Falle draußen stehen, ist es immer fünf. Natürlich. Also: zweimal zwei ist fünf. Weiter!

Er faltete, ein hohnvolles Lächeln auf den Lippen, die Blätter zusammen und griff nach dem zweiten Brief.

 

Florenz, den 10. September,
Hotel Gran Bretagni.

Vier Tage habe ich redlich in Mailand gewartet, trotzdem mir schließlich vor Langerweile das Gras zwischen den Quadern des Domplatzes wuchs; am fünften statt deiner ein Brief von sage und schreibe: zehn Zeilen! Variationen über das nicht mehr ganz neue Thema: C'est plus fort que moi.

Nein, mein Bester, das kann, das will ich nicht gelten lassen. Nicht von dir! Hast du es gesagt, als du bei Vionville an der Spitze deiner Schwadron in den offenbaren Tod rittst? Ich sehe jetzt freilich klärlich, was ich immer behauptet: der soldatische Mut ist noch lange, lange nicht der höchste. Vor den Augen von hunderten Braver nicht feig zu sein, was ist denn das? Aber brav sein im stillen Kämmerlein, die Zähne aufeinander beißen und mit der Leidenschaft, die uns angepackt hat, ringen die Nacht hindurch und nicht von ihr lassen, bis wir ihr die Knie auf die verkeuchende Brust setzen können – das, mon cher, ist wahres Heldentum, und es thut mir weh, zu sehen, wie weit du von ihm entfernt bist.

»Ich rede wie der Blinde von der Farbe«. Wie sollte ich denn nicht! »Mir ist undenkbar, wie ein Mann diese Frau sehen und nicht lieben kann.« Freilich, wenn es dir undenkbar ist! Aber Hunderte und Hunderte von Männern haben eben diese Frau gesehen unter nicht weniger günstigen Verhältnissen, wie du, ohne sie zu lieben. Und sind gewiß tüchtige Kerle darunter gewesen.

Das gebe ich dir zu und hab es ja auch nie bestritten: sie ist liebenswert. Es ist ein wundersamer Charme in ihrer zierlich schlanken Gestalt, ihrem kleinen Köpfchen mit der Wolke von schwarzem, sanft gekraustem Haar, dem seltsam träumerischen Blick der großen, dunklen Augen, dem weichen verschleierten Klang ihrer Stimme. Ich kann mir denken, daß es Leute wie Franz im »Götz« giebt, die um ihretwillen den Vater ermorden würden. Aber Franz war ein Knabe. Du bist ein Mann. Nur Knaben und Greise lieben wahnsinnig. Männer haben wohl einmal eine schwache Omphale-Stunde. In der nächsten gehen sie hin und töten den nemeischen Löwen. Anspielung auf Herakles, der Omphale längere Zeit als Sklave dienen musste, wobei er aus blinder Liebe und verweichlicht durch üppiges Leben sich herabließ, Frauenkleider anzuziehen, Wolle zu spinnen und andere Frauenarbeit zu verrichten, während sie sein Löwenfell und die Holzkeule trug. Jenes Löwenfell war der Ertrag einer seiner zwölf Aufgaben, der Erlegung des Nemeischen Löwen; das Tragen dieses Fells machte ihn nahezu unverwundbar. Insofern stimmt bei Spielhagen die Reihenfolge des Bildes nicht.

Und dann: wenn sie dich wieder liebte! Auf Pflicht und Gewissen: thut sie das? Welchen kleinsten Beweis hast du dafür? Eine Frau, sie müßte denn eine raffinierte Kokette sein, kann ihre Leidenschaft vor einem ruhigen Beobachter nicht lange verbergen. (Als ob eine raffinierte Kokette überhaupt Leidenschaft empfinden könnte! Doch das nebenbei.) Du kennst die tiefe, innige Hochachtung, die mir diese junge Frau einflößt. Dennoch! ich habe zu viele Beweise von dem fascinierenden Eindruck, den du auf Frauen machst, die keineswegs zur Durchschnittssorte ihres Geschlechts gehören. Ich konnte nicht ohne Sorge Zeuge deines Verkehrs mit der Gräfin sein, und ich habe sie beobachtet, sehr scharf beobachtet in den entscheidenden Augenblicken – ich meine: wann du in das Zimmer tratst; wann du, wie ein paarmal vorgekommen, vor mir davongingst. In keinem der Fälle das leiseste Erröten oder Erblassen! kein schnelleres oder langsameres sich Heben und Senken des zarten Busens! kein mindestes Vibrieren, keine noch so leichte Verschleierung der Stimme!

Nun ja! sie hat mir gern zugehört, wenn ich von dir sprach – im Anfang, als ich die Thorheit hatte, mit meinem Freunde Staat machen zu wollen. Und seine Bravour vor dem Feinde, seine Ritterlichkeit gegen das schöne Geschlecht, seiner Sitten Freundlichkeit gegen jedermann, seine Großmut gegen die Schwachen, seine Hilfsbereitschaft überall, wo es etwas zu helfen giebt, mit vollen Backen pries, denen ich jetzt ob meiner Dummheit die empfindlichsten Streiche applizieren möchte. Was hatte ich, Narr, nötig bei Desdemonen für den Mohr »Othello, der Mohr von Venedig«, Tragödie von William Shakespeare; der dunkelhäutige Feldherr Othello tötet aus durch Intrige verstärkter Eifersucht seine Frau Desdemona und schließlich sich selbst. zu plaidieren! Mochte er ihr selbst von seinen Heldenthaten renommieren! Daß du dir eher die Zunge abbeißen würdest, ist freilich richtig. Aber was ging das mich an?

Also, ihre Höflichkeit, mir freundlich zuzuhören, wenn ich von dir sprach und dein Lob sang – kein vernünftiger Mensch wird darin einen Beweis sehen, daß sie ein tiefes Interesse an dir nimmt, von Liebe nun schon gar nicht zu sprechen. Aber vielleicht hast du stärkere. Dann heraus damit! Du wirst doch vor deinem Georg keine Geheimnisse haben! Ich muß dir die Ehre lassen: du rühmst dich dessen nicht. Umsonst, daß ich in den zehn Zeilen mit Argusaugen nach einem kleinsten Wörtchen gesucht habe, durch das du mir sub rosa, das süße Geheimnis erwiderter Liebe auch nur angedeutet hättest. Dafür danke ich dem Himmel. Heute im Lesezimmer fand ich in einem Sammelbuch von Sinnsprüchen – weiß der liebe Gott, wie es dahin gekommen – den folgenden:

Liebe für Liebe – ein Kinderspiel!
Liebe für Haß – welch hohes Ziel!
Aber Liebe für Gleichgültigkeit –
Sommerregen zur Winterzeit!

Ich will die Poesie nicht rühmen, aber vor der Wahrheit ziehe ich den Hut. Wenigstens sah ich keine noch so sommerheiße Liebe, die auf die Dauer gegen den Winter der Gleichgültigkeit von der anderen Seite stand hielt.

Das ist mein Trost.

Und darauf basiert auch meine sichere Hoffnung, dich trotz der unbotmäßigen zehn Zeilen nun doch in den allernächsten Tagen hier zu haben. Du kannst mir die Reise nicht weiter, wie bisher, verderben wollen. In Mailand den majestätischen Dom, das köstliche Sposalizio in der Brera, das Wunderwerk Leonardos, die traumschöne Certosa – ich habe alles nur wie durch einen Schleier gesehen. Und hier wieder habe ich keine Freude an dem gesegneten Thal, an den schön geschwungenen Linien der Berge, an den Herrlichkeiten der Tribuna. Nicht einmal an den beiden Pfaffen heute im Dom, von denen der eine die Knochen irgend eines Märtyrers in der silbernen Urne klappern ließ, während der andere ungeduldig mahnend mit dem Glöcklein schellte, so oft die Aufmerksamkeit der Gläubigen nachzulassen schien. Immer geht mir deine Sache durch den Kopf. Ich, der ich sonst einen Bärenschlaf habe, werde jetzt durch böse Träume geschreckt. Heute nacht! Ich sah den alten Herrn und dich einander gegenüber. Ihr schoßt beide zu gleicher Zeit, d. h. ich hörte den Knall nicht und war sehr verwundert, als der Graf vornüber auf den Boden fiel. Ich drehte ihn um und hatte eben noch Zeit, der Gräfin Platz zu machen, die mit fliegenden Haaren herbeigestürzt kam und sich jammernd über den Toten warf, der, trotzdem er tot war, fortwährend die Augen rollte, was ganz greulich anzusehen.

Kannst du das verantworten?

Und so mein cæterum censeo: Du nimmst sofort ein Billet nach Florenz. Ich halte es nicht für unmöglich, daß man so thöricht ist, dich nicht fortlassen zu wollen. Dann lüge auf mein Konto, soviel du willst: Ich bin krank; oder von den Banditen ins Gebirge verschleppt; man hat dir bereits ein Ohr von mir (per Post) zugeschickt (du brauchst es ja nicht zu zeigen). Wenn das Lösegeld (eine halbe Million – so viel bin ich doch wohl unter Brüdern wert?) nicht in acht Tagen kommt, erfolgt mein Kopf ab Florenz frei bis an den Bestimmungsort.

Ich habe mir den Palazzo Pitti aufgespart, damit doch etwas bleibt, wovor wir in trauter Gemeinschaft a tempo Mund und Nase aufsperren können. Die übrigen Herrlichkeiten machst du unter meiner bewährten Führung bequem in einer Woche ab.

Dann, Arm in Arm, fordern wir Rom in die Schranken.

* * *

Roderich hatte, während er dies las, ein paarmal ironisch gelächelt. Dieser blinde Glaube an Lili, die ihre Liebe datierte von dem ersten Augenblick, daß sie ihn gesehen! Aber freilich, er war ja selbst im Anfang über ihre Empfindungen ihm gegenüber völlig im Dunklen gewesen; hundertmal im Begriff, das Spiel, das er für ein verlorenes halten mußte, aufzugeben. Und wäre der Abend auf Glion nicht gekommen –

Er nahm den dritten Brief. Es mußte die Antwort auf den sein, welchen er nach der Scene in Glion an Georg geschrieben.

 

Rom, 16. September,
Albergo del' Europa an der Piazza di Spagna,

Ich bin außer mir. Mensch! Mensch! was hast du gethan? was thust du? Du, zu dem ich seit meinen Quintanerjahren als zu meinem Ideal emporgeblickt, vor dem ich mich früher und später, nah und fern, in der Stille aller Dummheiten, die ich beging, in das blutige Herz hinein geschämt habe! Und muß mich jetzt meiner Anbetung schämen! schämen, daß ich vor einem Götzen kniete, der nicht um ein Haar besser ist als wir! Besser? Zum Tausend, das kriegte ich nicht fertig – upon my word and honour, wie der alte Engländer neben mir an der Table d'hote versichert, so oft ich zu einer seiner wunderbaren Geschichten ungläubig lächle.

Aber was hilft das Lamentieren! Das Kind ist in den Brunnen gefallen. Ach! nicht eines! Es sind ihrer zwei! Und das arme kleine Mädchen thut mir tausendmal mehr leid als der böse Bube, der sie so nahe an den Rand gelockt hat, daß das liebe Ding wohl die Balance verlieren mußte.

Ja, beim Zeus! Hineingelockt! Ich nehme das Wort nicht zurück. Dein ist die Schuld! Einzig dein! Die Arme konnte nicht vor dir fliehen. Du konntest, du mußtest es. Als es noch Zeit war. In dem Augenblick, als du merktest, daß das süße Gift auch in ihren Adern zu wühlen begann. Nun freilich, da du aus ihrem Munde das verhängnisvolle Wort gehört und sehr wahrscheinlich – obgleich du taktvoll genug bist, es nicht auszusprechen – von ihren Lippen geküßt hast, kommt die Reue zu spät.

Aber, du Unseliger spürst ja keine Reue! keine Spur von Reue! Schwimmst in einer Seligkeit, so groß und tief wie der Genfer See! Berührst mit deinem Scheitel die Sterne trotz der Dent du Midi! Die Dents du Midi sind eine Bergkette in den Savoyer Voralpen.

O, dies entsetzliche Glion! Glion ist ein Dorf oberhalb von Montreux und dem Genfersee. Berg, vom Teufel einzig geschaffen, um von seinem Gipfel herab dem Menschensohn alle Herrlichkeit der Welt zu zeigen, einmal in natura, zum zweiten – jetzt kommt die wahre Teufelei! – im Spiegel der liebedurchglänzten Augen eines schönen jungen Weibes! Wer da nicht niederfällt und anbetet –

Arme, unglückliche Kinder, die ihr trunken von Seligkeit durch den Rosengarten eurer jungen Liebe taumelt! Wie bald, ach, wie bald werden sich die scharfen Dornen an euch festhaken! Wie bald, ach, wie bald euer Blut fließen machen! euer Herzblut!

Was soll daraus werden? So bleiben kann's ja nicht. Eine heimliche Liebschaft hinter dem Rücken des ehrwürdigen, vertrauensvollen Greises – dazu bist du zu stolz; und von Lili denke ich zu hoch, als daß ich nur einen Augenblick annehmen möchte, sie könnte sich dazu hergeben. Wie lange würde denn auch die Heimlichkeit bestehen? Ich bin überzeugt, ein Paar Augen hat schon in das Geheimnis geblickt: die grauen, scharfen Augen von Lilis alter Kammerfrau. Sie kennt Lili von Kindesbeinen an. Lili wird nicht nötig gehabt haben, der Alten zu beichten: für Kammerdiener existieren keine Helden und für alte Kammerfrauen keine Geheimnisse der Herrin. Dame Brigitte ist ihrem Pflegekinde sehr ergeben; so soll denn euer Geheimnis bei ihr sicher sein. Und der Graf? Es mag dir noch so mißtönend ins Ohr klingen: er liebt seine Frau, liebt sie mit der maßlosen Leidenschaft, der nur Greise fähig sind, und zu der sich die deine verhält wie ein Luftfeuer zu einem Haus und Herd verzehrenden Brande. Seine Liebe scheint sich in vornehmer Galanterie gegen die junge schöne Gemahlin zu erschöpfen; aber sie scheint es auch nur. Sie ist wie ein Löwe, der mit halb offenen Augen schläft. Ein, wie du meinst, völlig unverfängliches Etwas, ein Nichts – und die müden Augen unter den buschigen Brauen thun sich voll lodernder Empörung auf –

Und gesetzt, mein Florentiner Traum würde auch dann nicht zur schaudervollen Wahrheit; gesetzt, der Graf wäre jener seltene Christ, der die Worte des Herrn buchstäblich nähme und die rechte Wange hinhielte, so man ihm die linke geschlagen – wolltest du den Schlag führen? den Schlag, der nicht die Wange träfe, sondern mitten hinein in ein edelstes Herz?

Und wäre ein solches Uebermaß von Opfermut denkbar und möglich, es wäre damit nicht gethan. Ein Opfer müßte noch fallen, würde unbedingt fallen. Das ist Lili.

Begreifst du denn das nicht, Mensch? Muß ich dich an ein gewisses Gespräch erinnern, in welches die Gräfin so seltsamerweise eingriff, um sich zu Maximen zu bekennen, die ich für sehr überspannt hielt, und deren wahren Sinn und tiefe Bedeutung ich erst jetzt begreife, und in welcher Absicht sie sie damals geäußert hat?

Aber ich wette, du weißt gar nicht, wovon ich spreche. So will ich dir die Scene ausführlich schildern. Es verlohnt sich der Mühe.

Am Abend vor meiner Abreise. Das gräfliche Paar hatte die Güte gehabt, uns zum Diner einzuladen. Wir – der Graf, du und ich – saßen dann auf dem großen Balkon, du abseits von uns, den Blick starr in das landschaftliche Bild gerichtet, drüben nach den Savoyer Alpen, auf deren Firnen der matte Wiederschein der untergegangenen Sonne allmählich verblaßte. Aber vor deinen Augen stand ein anderes Bild: ihr Bild, die du schon über Tisch in einer Weise angeschmachtet hattest, daß mir abwechselnd heiß und kalt wurde bei dem Gedanken, der Graf könne deinen hypnotischen Zustand bemerken. Er hatte ihn offenbar nicht bemerkt, wohl aber – was auch eben nicht wunder nehmen konnte – die Gräfin, die mit gesenkten Augen dagesessen hatte, während sich auf der eigentümlich breiten Stelle zwischen ihren Brauen, je länger die Situation währte, ein anfangs leichtes Fältchen immer mehr vertiefte. Das hatte mich gefreut; auf dich aber, mon cher, der du mich zu dieser Folter verdammtest, war ich wütend; und meine Stimmung wurde nicht milder, als ich dich jetzt da so sitzen sah, in fast unhöflicher Weise zerstreut, teilnahmslos, und – während du sonst die Spirituosen verabscheust – aus dem vor dir stehenden Flacon dir einen Cognac nach dem anderen einschenktest, deinen Aerger zu ersäufen, daß sie, die Abendkühle zum Vorwand nehmend, im Salon geblieben war, wohin du ihr denn doch nicht zu folgen wagtest.

Der Graf hatte heute zum erstenmal – wenigstens mir gegenüber – davon gesprochen, daß der Aufenthalt in Montreux der Gräfin bis jetzt den erhofften Vorteil nicht gewährt habe und er die Uebersiedelung nach Venedig wohl schon früher, als ursprünglich geplant, zur Ausführung werde bringen müssen, um, wenn das Klima sich auch dort als zu rauh erwies, weiter nach dem Süden zu gehen, vielleicht nach Palermo, am liebsten gleich Kairo, das ja doch von den Aerzten als Winteraufenthalt von Anfang an ins Auge gefaßt sei.

Während der Graf so sprach, hatte ich die bestimmte Empfindung: diese beschleunigte Abreise hat einen anderen Grund als den Gesundheitszustand der Gräfin, und die mitgeteilte Disposition der weiteren Reise ist nicht an meine Adresse gerichtet. Daß sie nicht an die deine kam, dafür sorgte deine Zerstreutheit, der ich auf jeden Fall ein Ende machen wollte.

Bereits über Tisch war von dem französischen Ehebruchdrama gesprochen worden, allerdings, um der Gräfin willen, nur im Vorübergehen. Ich nahm, wahrlich nicht zur Erbauung des Grafen, den vorhin abgerissenen Faden wieder auf und spann ihn weiter, immer ohne meine Absicht zu erreichen, dich aus deiner Lethargie aufzurütteln, bis ich endlich die Geduld völlig verlor und dich direkt fragte, wie denn du über die Sache dächtest?

Es kam, wie ich vorausgesetzt: du hattest nichts gehört; batest um Entschuldigung, und daß man dir sagen möge, um was es sich handle.

»Noch immer um das famose Je l'ai tué!« erwiderte ich mit einem Lachen, das mir nicht von Herzen kam.

»Weshalb fragst du mich,« sagtest du, »da wir wiederholt die Frage diskutiert haben und du meine Ansicht ganz genau kennst? Für mich ist es ein Metzgerwort; nur das letzte in einem von vornherein falsch instruierten Prozeß; der absurde Gipfel eines auf absurde Basis gestellten Verhältnisses, welches – denn darauf läuft's ja doch hinaus und ist und bleibt des Pudels Kern – die alte schmachvolle Hörigkeit der Frau innerlich nicht überwunden, nur mit sentimentalen Flittern ausgeputzt und aus dem Lasttier des Indianers eine Salonpuppe gemacht hat, die man zu adorieren vorgiebt, um sie zu zerbrechen, sobald sie sich einfallen läßt, ein Mensch sein zu wollen, wie der Mann auch: mit Blut und Nerven und einem eigenen Willen und meinetwegen auch mit der eigenen Leidenschaft für das Rechte oder Unrechte. Sie sehen, ich plaidiere in erster Linie für die Frau, denn sie ist es doch, die ganz eigentlich getroffen werden soll und getroffen wird. Aber ob Tödtet ihn! oder sie! oder beide! – es bleibt ein Wort, das in einem Zeitalter der in ihrem souveränen Rechte anerkannten Humanität außer Kurs gesetzt, wie eine falsche Münze an den Schandpfahl genagelt werden müßte. Wenn du das barbarische Ueberbleibsel verteidigt hast, wie es der Fall gewesen zu sein scheint, so hast du nur wieder einmal deiner rabulistischen Lust an Paradoxen die Zügel schießen lassen, der du der letzte wärest, im gegebenen Fall nach dem brutalen Rezept zu handeln. Und« – hier wandtest du dich zu dem Grafen, während du bis dahin auf mich eingeredet hattest – »ich bin überzeugt, der Herr Graf teilt meine Ansicht.«

»Darf ich für den Grafen antworten?«

Uns alle durchzuckte ein obligates Erschrecken: in der weit offenen Thür zum Salon stand die Gräfin. Sie hatte da zweifellos schon längere Zeit gestanden und unser ganzes Gespräch gehört. Jetzt trat sie einen kleinen Schritt vor und fuhr fort: »Im Punkte der Ungerechtigkeit, die an der Frau verübt wird, wenn man für sie gegebenen Falls ein besonderes Gesetz erfindet, das für den Mann nicht existieren soll, gebe ich dem Herrn Baron recht; nicht in dem anderen: dem der Straflosigkeit. Der Tod ist der Sünde Sold. Dabei wird es schon sein Bewenden haben müssen.«

»Also doch: Tuez-le oder la!« rief ich.

»Das will ich nicht gesagt haben,« erwiderte die Gräfin. »Aber wenn nun der oder die Schuldige – denn darin pflichte ich dem Herrn Baron durchaus bei: es soll hinüber und herüber mit gleichem Maße gemessen werden – wenn, sage ich, nun der schuldige Teil erkennt, daß er eine Todsünde begangen, und die gebührende Strafe in die eigene Hand nähme, so wäre der Gerechtigkeit genügt, ohne daß ein Unschuldiger, damit ihr Genüge geschehe, sich mit einem neuen Verbrechen zu belasten brauchte, das abermals gesühnt werden und so die Sünde weiter Sünde hervorbringen müßte.«

»Sollte die Frau Gräfin hier nicht ein wenig in den Spuren meines paradoxen Freundes wandeln?« warfst du in grollendem Tone ein.

»Ich bin nicht sicher, genau die Bedeutung von paradox zu kennen,« antwortete die Gräfin ruhig; »nur eines weiß ich bestimmt: ich habe meine ganz eigentliche Ueberzeugung ausgesprochen.«

Nun du in demselben grollenden, jetzt zum Ueberfluß noch stark ironisch gefärbten Ton: »Nur daß ich diese nicht mit Christi Lehre in Uebereinstimmung zu bringen vermag, mit der gerade Sie sich wohl am wenigsten in Widerspruch befinden möchten.«

Die Gräfin, ruhig, wie vorhin: »Der Herr hat vieles aus seiner göttlichen Machtfülle heraus gethan, was wir, so viel wir uns auch mühen, ihm nicht nachthun können.«

Ich, mit dem Versuch, der Diskussion eine freundlichere Wendung zu geben, lächelnd: »Zum Beispiel die Wunder.«

Die Gräfin, sehr ernst: »Zum Beispiel die Wunder.«

Du, fast heftig: »Die Vergebung der Ehebrecherin ist kein Wunder.«

Die Gräfin nach einer kleinen Pause: »Vielleicht doch.«

Hier fiel der Graf, der sich seit dem Erscheinen der Gräfin ein paarmal ungeduldig auf dem Stuhl bewegt hatte, mit einer bei ihm sehr ungewöhnlichen Lebhaftigkeit ein, bittend, ein Gespräch abzubrechen, in welchem die Meinungen scheinbar so weit auseinandergingen, während doch alle in der Ueberzeugung einig seien, daß die Frage, wie er in dem gesetzten schrecklichen Falle zu handeln habe, an einen sittlichen Menschen nun und nimmer herantreten könne.

In diesem Augenblick wurde, höchst gelegen für uns alle, ein neuer Besuch gemeldet. Die peinliche Scene war definitiv zu Ende.

Sie bedarf keines Kommentars.

Ich muß diesen Brief auf die Post geben, wenn er nicht einen Tag später in deine Hände kommen soll. Und hier ist keine Stunde, keine Minute zu verlieren, wo das Schicksal dreier mir so ans Herz gewachsener Menschen auf eines Messers Schneide steht. Ich würde anstatt des Briefes kommen, aber mein nicht zu motivierendes Erscheinen würde einen Verdacht erregen, den ich um Gottes willen nicht aufkommen lassen möchte, und dir den besten Vorwand rauben, zu thun, was du jetzt unbedingt thun mußt und wirst.

Ich habe im Hotel zwei Zimmer neben den meinen für dich reserviert.

* * *

Roderich warf den Brief auf das Tischchen, sprang auf, lief ein paarmal durchs Zimmer, zuletzt an die Fensterthür, an deren kalte Scheiben er die heiße Stirn drückte. Bei Gott, er hatte die ganze Scene vergessen über dem, was folgte und in so grellem Widerspruch stand mit allem, was Lili da gesagt hatte oder gesagt haben sollte. Und das dann abermals in noch viel tollerem Widerspruch stand mit ihrem lächelnden Mutterglück von heute – dem baren, blanken Hohn auf die gewechselten Liebesschwüre in den Tagen von Venedig und ihrer Verzweiflung beim Abschied auf dem Perron der letzten Station vor Wien.

O, Licht, Licht in dieser Zweifelsnacht, grausiger als die da draußen! Er hätte winseln und heulen mögen wie das arme Tier in der Hütte am Gatterthor. Dem würde morgen die Sonne das Fell wieder trocknen, und der Graus der Nacht war vergessen. Was konnte ihn je die Schmerzen dieser Stunden vergessen machen, zu denen jeder der verdammten Briefe eine neue Qual fügte! Aber nun hatte er die Litanei einmal angefangen; er wollte sie herunterleiern bis zum Schluß. Die famose Stelle, die er suchte, hatte er ja so wie so noch nicht gefunden. Sie konnte freilich nur in einem der letzten stehen.

Er hatte sich abermals in den Lehnstuhl geworfen und zu lesen begonnen, eilender jetzt und, sobald er einen Brief durchgepeitscht, zu dem folgenden greifend.

 

Rom, 22. September.

Soeben dein Brief aus Genf.

Wäre ich ein böser Dämon, ich dürfte mir vergnügt die Hände reiben: das Unglück, das ich vorausgewittert, ist da, in vollem Gange. »Fühlbare Abkühlung in dem Benehmen des Grafen mir gegenüber … täglich düsterer umwölkte Stirn … Anspielung auf die sonderbaren Leute, welche die beste Zeit für Italien ungenutzt vorübergehen lassen … gestern direkte Frage, wann ich zu reisen gedenke ...« Ich will dir etwas sagen, mein Bester: von dem allem glaube ich auch nicht eine Silbe. Das hat dir alles nur dein böses Gewissen vorgespiegelt. Aber gesetzt, es verhielte sich so – dann, beim Himmel, ist es mir unverständlich, wie der feinfühligste aller Menschen nur die Hälfte von dem allem über sich ergehen lassen konnte, bis er begriff, was doch mit Händen zu greifen war ohne jede Anspielung, jede warnende Miene. Und zögern und zögern konnte, bis die Vertraute, am Abend im Hotelgarten an ihm vorüberhuschend, ihm zuraunt: »Meine Gräfin fleht Sie an, morgen unter irgend einem Vorwand abzureisen,« und dir ein gefaltetes Blättchen mit einer Locke von ihr in die Hand drückt – »Angedenken, du, verklungner Freude –« Erste Zeile von Goethes Gedicht »An ein goldnes Herz«, gerichtet an Lili Schönemann, mit der der Dichter 1775 ein halbes Jahr lang verlobt war; die Lösung dieses Verhältnisses entsprang vor allem der Empfindung Goethes, dass Lili seine Lebensplanung einenge.

Ach, auch sie hieß Lili! Aber der das Angedenken am Halse trug, war im Grunde froh, daß die Sache schließlich diese Wendung genommen. Und sein eigentliches Mitleid galt dem alten freigeborenen Vogel, der mit dem Stückchen Faden des Gefängnisses Schmach in den heimischen Wald tragen mußte. Du hast es nicht so gut, mein armer Freund. Du hast den Faden nicht gebrochen. Du wärst so gern geblieben, bist nur geflohen, weil die Geliebte es wollte, wollen mußte. Und du hast nicht den robusten Ehrgeiz der geborenen Prinzen aus Genieland. So wird die Locke der Geliebten ein stärkerer Talisman der Erinnerung sein als das berühmte goldene Herz.

Mein armer Freund! Nun, ich denke, ich bin ein besserer Kerl als der Schmachtlappen von Oktavio; und daß ich mich auf das Trocknen von Thränen mindestens so gut verstehe wie er, hoffe ich dir zu beweisen. Ja, Freund meiner Seele, wir wollen es halten wie von jeher: hatte sich einer von uns hineingeritten, hieb ihn der andere heraus; konnte er's nicht, teilte er brüderlich sein Mißgeschick. Eine Bowle wieder, die wir nicht in guter Kameradschaft trinken durften, schmeckte uns nicht. So wollen wir auch diesen bitteren Kelch des Leides, mit dem die Götter dich heimgesucht haben, gemeinsam leeren.

Und sie! sie, die den heroischen Mut gehabt hat, zu entsagen, d. h. dich und sich selbst zu retten! Wenn ich die fromme Kindergewohnheit nicht leider verlernt hätte – allabendlich wollte ich sie in mein Gebet schließen.

Ich zähle die Stunden, bis ich dich wieder habe. Daß du die Reise hierher nicht in einem Zuge machen konntest! deine Kraft nur bis Genf vorhielt! Aber freilich, so eine Trennung reißt eine tiefe Wunde, und bei den Schmerzen der neuen rühren sich die alten wieder. So soll dir vergeben sein, wenn du gegen meine inständige Bitte und dein mir gegebenes Versprechen doch wieder zu dem entsetzlichen Gift deine Zuflucht genommen hast. Nun ja, ich hatte einen äußersten Fall freigegeben. Ich will es glauben: es war ein äußerster Fall.

Du hoffst, in vier Tagen über den Chok weg zu sein. Dein Brief, gleich nach deiner Ankunft geschrieben, ist vom 17. So wird dieser dich im Moment der Abreise treffen, wenn er dich überhaupt noch trifft. Wollte Gott, er träfe dich nicht mehr! Ich nehme mit Bestimmtheit an, daß du von unterwegs telegraphierst und mir die Freude machst, dich bereits auf dem Bahnhof in die Arme schließen zu können.

 

Rom, 25. September.

Du hast es dir selbst zuzuschreiben: ich fange an, an deiner Freundschaft zu mir, an dir selbst irre zu werden. Nein, es muß heraus: ich bin an beiden irre geworden. Wie? Anstatt Gott zu danken, daß dir in der Stunde äußerster Gefahr ein Freund zur Seite steht, auf dessen Treue du dich unbedingt, auf dessen Klugheit hier, wo es sich nicht um ihn selbst handelt, du dich einigermaßen verlassen kannst, achtest du mich für nichts, meine Ratschläge für nichts, meine Hilfe für nichts – wahrhaftig, schon geringere Beweise von Mißachtung haben einen ganz solid gebauten Freundschaftstempel aus den Fugen geworfen! Und doch, das andere schmerzt mich noch mehr: du zeigst dich mir in einem Lichte, in dem ich nicht einmal einen Feind sehen möchte, vor dem ich im übrigen Respekt habe. Das ist sehr hart, nicht wahr? Aber quod medicamenta non sanant – und ich muß fürchten, hier helfen auch Eisen und Feuer nichts mehr. Mein Gott, welche traurigen Veränderungen müssen mit dir vorgegangen sein! Du gestehst mit einer Offenheit, um die ich dich nicht beneide, es habe dir nicht sowohl an der physischen als an der moralischen Kraft zur Weiterreise gefehlt. Du habest unmöglich noch mehr Raum zwischen dich und sie legen können, bevor du den Brief gehabt, den sie dir beklagenswerterweise am letzten Abend in Montreux durch die alte Brigitte versprochen! Und der Brief sei so spät eingetroffen, da Lili während der ersten Tage ihn zu schreiben den Mut nicht gefunden (wollte Gott, sie hätte ihn nie gefunden!) und wiederum Brigitte ebensolange keine Gelegenheit, ihn in einen öffentlichen Briefkasten zu thun, da sie dem in der Halle des Hotels nicht getraut habe. Freilich, dergleichen Briefkastenkommissionen sind nicht ganz ungefährlich!

Gut! Du hattest den teuren Brief. Sein Inhalt ist im übrigen dein Geheimnis. Eines weiß ich: es kann nicht darin gestanden haben, daß du, anstatt vorwärts zu gehen, eine Meile zurückmachen, dich in Nyon, dem alten eingeräucherten Nest, verstecken solltest. Zu welchem Zweck! Könnte man von dort nach Montreux hinübersehen, so wäre es wenigstens eine Ritter-Toggenburg-Affaire Die Ballade » Ritter Toggenburg« von Friedrich Schiller behandelt die unerfüllbare Liebe des Titelhelden, der sich einem Kreuzzug anschließt, bei seiner Rückkehr erfährt, dass seine Angebetete in ein Kloster eingetreten ist, und sich daraufhin in Sichtweite ihrer Zelle als Einsiedler niederlässt. per Fernrohr. Aber es laufen täglich so viel Dampfer hin und her, und auf der Eisenbahn ist es nimmer weit! Dampfer und Eisenbahn befördern sogar Füchslein, die einen Taubenschlag umschleichen wollen!

Gegen eine Welt will ich's verteidigen: zu etwas der Art hat sie dich nicht autorisiert; das würdest du gegen ihren Willen versuchen; das hätte dir ein Dämon eingeflüstert, der dich verderben will, nachdem er dir zuvor den Verstand geraubt. Aber der Dämon wäre doch nur ein Tropf: an dem Mittel, das er dir ins Ohr geraunt, müßtest du wieder zur Besinnung kommen. Dergleichen lichtscheu krumme Liebespfade solltest du gehen können, du, der mir oft gesagt, wie in der Schlacht dein Herz vor Ungeduld schier gesprungen sei, bis zur Attaque geblasen wurde, und nichts einen Mann so fürchterlich mitnehme, als, Gewehr bei Fuß, im feindlichen Feuer aushalten zu müssen? Nein, lieber Freund, auf Hintertreppen und durch Hinterthüren schleichen nur die traurigen Romanhelden der Maupassant und Compagnie; Ritter des Eisernen Kreuzes erster Klasse gehen dergleichen Wege nicht.

Du siehst, ich bin außer mir; aber wenn man einen Menschen so lieb hat, wie ich dich habe, und dieser Mensch – Es wird mich noch toll machen!

Als wäre es nicht genug, daß einer von uns beiden es ist!

Freilich, freilich! Wenn ihr denn wirklich beide nicht mehr voneinander lassen könnt; wenn sie, wie ich ja nun annehmen muß, dir geschrieben hat, daß sie ohne dich nicht weiter leben will, leben kann; wenn du bei dem Gedanken, dich von dem Weibe, das du liebst, das dich wieder liebt, für immer und immer trennen zu sollen – mitten im Lärm des Lebens und der Gesellschaft von ihr geschieden, völlig, hoffnungslos, für immer, wie der Arme auf Salas y Gomez, über den wir beide als Knaben so bittere Thränen geweint haben, von dem Heimatlande und von ihr, deren Bild ihm in seinen nächtlichen Träumen erscheint – mein Gott, ich bin ja nicht von Stein und Holz; ich begreife ja: auf dem Wege liegt Wahnsinn –

Was in aller Welt, was machen wir nur?

Eine Entführung? Dergleichen soll ja noch in unseren prosaischen Tagen vorkommen. Allerdings nur bei Leuten, denen ein Skandal mehr oder weniger nicht weiter verschlägt.

So bleibt denn nichts als die Zuflucht zu jener höchsten Kunst der Diplomatie, die, nach ihres Großmeisters Ausspruch, in der Offenheit besteht. Tritt vor den Grafen hin und sage ihm: so und so liegt die Sache. Was dann auch geschieht, und wie es kommt: du hast loyal gehandelt, hast kein Vertrauen betrogen, hast dich und die Frau, die du liebst, aus einer eurer völlig unwürdigen Lage befreit. Es ist ein furchtbarer Weg; und der, den Luther ging in den Saal des Wormser Reichstages, ist ein Rosenpfad im Vergleich mit ihm; aber ich sehe keinen anderen. Ein Trost ist dabei: es sind keine Kinder da –

Ich schließe aus ein paar Worten deines Briefes, die allerdings eine mehrfache Deutung zulassen, daß du selbst bereits diesen Weg ins Auge gefaßt, und nur zögerst, ihn mutig weiter zu gehen, bis du dich mit Lili verständigt hast. Da wird denn wohl Dame Brigitte noch ein und das andere Mal den verschwiegenen Briefkasten aufsuchen und ein und das andere Mal an dem Schalter nach einem poste-restante Brief fragen müssen, der nicht für sie geschrieben ist –

Ich seufze aus der Tiefe meiner Seele, wenn ich an diese Perspektive denke. Mag's drum sein!

Was ich aber nun von dir verlange, ist erstens: daß du mir einen ausführlichen Bericht schreibst, aus dem ich mir über den Stand der Dinge ein wirkliches Urteil bilden kann; daß du, zweitens, wenn ich zu dem Schluß gelange, meine Gegenwart könne dir von Nutzen sein, mir erlaubst, sofort zu dir zu eilen. Ich thäte es schon jetzt, nur daß ich nicht weiß, ob ich dich in Nyon noch treffen würde, und keine Lust habe, in der Welt hinter jemand her zu suchen, der nicht gefunden sein will. Das vollständige Dunkel, in welches du alles hüllst, was deine nächsten Schritte betrifft; die auffallende Sorgfalt, mit der du jeder Angabe von Zeit und Ort aus dem Wege gehst, lassen darauf einen trüben Schluß ziehen. Dein Brief ist ohne Datum; selbst das Hotel, aus dem du schreibst, nicht genannt.

Aber ich thue dir wohl unrecht. Leute in deiner Lage sind wie der römische Prätor, der sich um Kleinigkeiten nicht zu kümmern braucht. Deshalb ist es doppelt notwendig, daß Hamlet seinen Horatio zur Seite hat, den »Leidenschaft nicht macht zum Sklaven«, und der so die Augen offen behält für die Minima und ihre gelegentliche Heimtücke.

P. S. In dem Augenblick, wo ich den Brief schließen will, bringt der Kellner mir meine »Neue Freie Presse«, und während der Mensch noch im Zimmer kramt und ich mechanisch einen Blick in das Blatt werfe, lese ich, daß Graf B., da der Aufenthalt in Montreux sich für seine Gemahlin als unzuträglich herausgestellt, weiter nach Venedig gegangen sei, wo er bereits vorher am Canale Grande einen Palast auf längere Zeit gemietet habe.

Wenn sich das bestätigt, woran ich nicht zweifle – die Notiz steht unter den offiziösen Nachrichten –, so ist der Graf weltklüger, als wofür ich ihn gehalten, oder – Lili hat sich als die edelsinnige, hochherzige Frau erwiesen, die ich immer in ihr verehrt habe. Ich will hier kein Loblied auf das »Glück der Entfernung« singen. Es wäre für dein zerrissenes Herz grausamer Hohn. Aber Zeit zum Nachdenken, zur Ueberlegung wird sie dir doch bringen. Montreux und Nyon waren in zu gefährlicher Nähe. Nach Venedig wirst du nicht gehen. Es wäre unerhört, unwürdig – einfach ein Verbrechen. So bleibt dir nur ein Weg: zu mir, zu deinem Freunde. Glaub mir, du wirst ruhiger werden, wenn du dich nur einmal hast aussprechen dürfen! Und um Ruhe kann der Horazische Schiffer die Götter nicht inständiger bitten, als ich um sie alle guten Geister für dich anflehe.

Ich erwarte dich in den nächsten Tagen – hoffentlich bereits am Sonnabend – mit aller Bestimmtheit.

* * *

Paris, 29. Oktober.

Die Uebersetzung von Robert Browning's » In a gondola«, die mir heute in deiner Handschrift – ich vermute als Probe deiner augenblicklichen Studien – übrigens ohne Kommentar – zugeht, habe ich mit Aufmerksamkeit gelesen. Daß ich dem Poem viel Geschmack abgewonnen hätte, kann ich nicht sagen. Wollte ich es mir in Farben und Gestalten denken, käme so etwas wie ein Gemälde von Makart Hans Makart (1840-84), österreichischer Maler und Dekorationskünstler; gilt als der repräsentative Maler der Ringstraßenepoche (besondere Ausprägung des Historismus, benannt nach der Gestaltung der Wiener Ringstraße 1860-90). heraus – für mich der Typ einer Kunst, die nur im Sinnenrausch lebt, will sagen: der mir am meisten unsympathischen, und die in meinen Augen überhaupt gar keine Kunst ist.

Ich kann denn auch unmöglich annehmen, du habest mir in diesem schlüpfrig glatten Spiegel ein Bild deines Lebens zeigen wollen während der nun vollen vier Wochen, daß ich – dein letztes Briefchen war aus Nyon d. d. 20. Sept. – kein Wort von dir gehört habe. Stimmen doch auch glücklicherweise die Thatsachen nicht mit dem Inhalt des Gedichtes. Da diese deine Sendung aus einem thüringischen Landstädtchen kommt – das ich mir nebenbei erst mühsam auf einer Spezialkarte aufsuchen mußte –, hast du entschieden nicht auf einer venetianischen Treppe dein Blut zu den Füßen einer Geliebten verspritzt, was sich auch meiner Meinung nach für den Helden von Vionville so wenig schicken würde, wie die Heldin des Gedichtes – Gott sei Dank – der Gräfin B. gleicht.

Für den Fall, daß du neben deinem Studium englischer Dichter Zeit und Muße zu einem Briefe in Prosa an einen alten Freund fändest, bitte ich, ihn an unsere Botschaft in Wien zu adressieren, wohin ich übermorgen abgehe. Einer meiner ersten Besuche wird dem Grafen gelten, von dessen lebensgefährlichem Sturz mit dem Pferde im Wiener Prater du seiner Zeit gelesen haben wirst. Der gemeinschaftliche Aufenthalt des gräflichen Paares in Venedig hat nur zwei Tage gedauert, da der Graf bereits am dritten Hals über Kopf – in der bulgarischen Angelegenheit – nach Wien zurückbeordert wurde. Die Gräfin ist dann noch ungefähr eine Woche in Venedig allein geblieben, bis die Schreckensnachricht aus Wien kam, worauf sie sofort an das Schmerzenslager des Gatten geeilt ist. Die Zeitungen sind voll des Lobes, mit welcher opferfreudigen Sorge sie den Kranken umgiebt. Als ob sich das nicht von selbst verstände! Uebrigens weiß ich aus sicherer Quelle, daß die Gefahr beseitigt ist und die Rekonvalescenz in befriedigender Weise fortschreitet. Ich hoffe, wie gesagt, mich in wenigen Tagen persönlich davon überzeugen und bei der Gelegenheit der Frau Gräfin meine Ehrfurcht bezeigen zu können.

Die Uebersetzung des Browning'schen Gedichtes schließe ich bei in der Annahme, daß sie dem Verfasser wertvoller ist als mir, der von Natur und Berufs wegen zu den matter-of-fact-men gehört, welche sich in den Hyperbeln einer verstiegenen Phantasie nur schwer zurechtfinden. Und bei der undankbaren Mühe trauernd an das Wort Sallusts denkt, das mir ein gewisser Jemand in das Primaner-Album schrieb: »Dasselbe wollen und dasselbe nicht wollen, darin besteht die wahre Freundschaft.« –

* * *

Die Abschrift des Gedichtes hatte noch in dem Briefe gelegen. Roderich nahm sie zur Hand. Thränen wollten ihm in die Augen steigen. Mein Gott, mein Gott! die Seligkeit jener Morgenstunden, als er, noch umweht von dem Hauch ihrer Küsse, diese Verse schrieb! Wie war ihm dies alles als reinste, heilige Natur erschienen, nur noch geadelt durch die Weihe der Kunst! Und er hatte es dem Freund geschickt – einen poetischen Vorboten dessen, was er ja doch einmal erfahren mußte, und in prosaischen Worten niederzuschreiben, Hand und Herz sich weigerten. Dann, als Georgs Antwort kam – er hatte mitleidig die Achseln gezuckt über einen Geist, den das banale Welttreiben gegen den süßesten Zauber der Liebe und Poesie so hoffnungslos abgestumpft. Und hatte ausgerufen: So fahre dahin! Ich bin reich genug, wenn sie mir bleibt!

Und nun!

Von all dem Ueberschwang des Glücks und der Wonne nichts, nichts geblieben als ein mit Versen bekritzeltes Blatt!

Er hatte es an beiden Seiten gefaßt, es zu zerreißen, und hielt wieder inne.

Nein! Du sollst nicht dafür büßen, und dich geht es nichts an. Du lebst dein unsterbliches Leben fort, himmelhoch über dem Wust der Gemeinheit, in dem wir ersticken. O, einmal, nur noch einmal einen Labetrunk aus der Himmelsluft!

Er hatte das zusammengelegte Blatt entfaltet und las mit brennenden Augen, während ihm jetzt der Atem stockte, jetzt seine Brust hoch aufwogte, wie eines, der nach langer dunkler Kerkerhaft das goldne Licht der Freiheit trinkt:

 

In einer Gondel.

Er singt.

Ich sende mein Herz, alle Lust und Weh
Zu dir auf in diesem Gesange.
Mir helfen die Sterne, mir hilft die See;
Es lauschet dem Lautenklange
Venedigs Nacht, so dunkel und dicht,
Daß mein einziges Licht
Vom Balkone herab dein süßes Gesicht.

Sie spricht.

Nun will ich, daß mein Liebster singt
Die Worte mein, als wären sie
Ein Ton nur von der Melodie,
Die ihm im eignen Herzen klingt:
»Ihr Herz und jeden Tropfen Blut
Giebt diese Frau mit freiem Mut
Mir, wie das Kettlein, das geruht
Auf ihrer Brust; ob ich's zur Zier
Nun trage, oder werf es hier –
Ein wertlos, ganz verächtlich Ding –
Hinein ins Wasser, Ring für Ring.«
Und jetzt noch einmal – Kindisch Wort!
Was sollen Worte! Rudre fort!

Es sei denn, du rufst inniglich
Bei meinem Kosenamen mich,
Den nur die Drei zu hören brauchen,
Um ihre Dolche, Stich um Stich,
In dein geliebtes Herz zu tauchen.
Was soll ich thun für dich? O, sprich!
In deine Seele meine hauchen?
O, reiß ihn ein, den Prunk der Welt,
Der zwischen dich und mich sich stellt!
Den Drei'n gehör ich. Nimm mich hin!
Dein bin ich! Dein mit jedem Sinn.
Man sagt, im weisen Orient
Der Magier den Edelstein
(Die Quintessenz will er allein!)
Im Tigel ganz zu Asche brennt.
Den Drei'n die Asche! Magier mein,
Die Seele dir! Dein Element!

Er singt.

Rudern sacht, wie Mondlicht fließt.
Dies Zanobis Haus, des grauen,
Wo man just die Läden schließt.
Ließ sich mit jung Agnes trauen –
Wir durch bräutlich holde Nacht
Rudern sacht.

Rudern sacht, wie Mondlicht fließt.
Aus des Pucci-Palasts Fenstern
Sich ein Lichtermeer ergießt.
Drehn im Tanz sich, gleich Gespenstern –
Wir vorbei der öden Pracht
Rudern sacht.

Sie singt.

Küß mich, der Abendmotte Braut!
Küß mich, als wärst du sicher nicht,
Ob deine Blume, mein Gesicht,
Zum Monde, ob zur Erde schaut
Mit ihrem Kelch; so, da und hie
Mit weichem Flügel streife sie –
Der Abendmotte keusche Braut!

Nun küß mich mit der Biene Kuß!
Küß mich, als wär es Mittagszeit,
Mein Herz, ein Sommergarten, weit
Dir aufgethan zum Vollgenuß.
Und jede Blume haucht den Duft
Für dich nur in die weiche Luft –
Nun küß mich mit der Biene Kuß!

Er singt.

Wüßte gern, was wir sind!
Ich trag dich geschwind
Durch endlose Weiten im Sturmeswind
Zu dem Fest meines Clans,
Wo sie leben des Wahns,
Der Teufel, der plagt sie. Beim Krähen des Hahns
Muß er trinken dein … Teufel! so laß mich in Ruh!
Ich bin wieder ich; du bist du.

Wer wir sind, wüßt ich gern!
Ein irrender Stern,
Mit Dämonskraft lock ich dich fern und fern;
Und du hast keine Wahl,
Bis ein hellerer Strahl,
Als mein bleicher, erglänzt aus dem himmlischen Saal.
Und trinkt deine … Engel, o, gieb dich zur Ruh!
Ich bin wieder ich; du bist du.

Er sinnt.

Weiß nicht, was mag das Bessre sein
Zur Sommernacht, beim Mondenschein:
Der Erde Schoß? Des Wassers Brust?
Zu rudern in die See hinein?
Am Land zu dehnen sich in Lust?
Der Amseln Sang? Der Möwen Schrein?
Meeralgen oder Rosmarein?
Das hätt ich wahrlich gern gewußt.

Er spricht sinnend.

Lieg still! Könnt dir's die Schönheit heben?
Ich hefte ein Paar Flügel hier
An deine zarten Schultern dir.
Nun auf Flügeln sollst du schweben,
Deren Weiß das Auge blende,
Weißer nicht als deine Hände.
Wo die Flügel gehn zu Ende,
Tauch ich sie in Goldes Glanz.
Sollen so umhüllen ganz
Dich in Mondessichelweise.
Und die Strahlen klirren leise –
Tausend Damascenerklingen
Von den stolzen Seraphschwingen.

O, hilf mir doch von dieser Qual!
Verscheuch ein kind'sches Ideal,
Das mir so kam und will nicht weichen. –
Dank! Du bleibst immer ohnegleichen!

Er sinnt weiter.

Wenn sie, die Drei, nun doch zuletzt
Umsonst die Dolche nicht gewetzt?
Paul hat das Wild ins Garn gehetzt;
Gian knebelt's; und er selber jetzt
Stößt zu, stößt zu … Ich taumle hin
Und – lächle, daß bei dir ich bin.

Sie schleifen mich, die büb'schen Drei,
An heil'gen Kirchen nun vorbei
Bis wo des Teufels Klerisei
Am Lido summt die Litanei.
Ein Grab gehöhlt! Nun an den Rand!
Hinab! und – ist das deine Hand?

Sie antwortet, sinnend.

Tauch den Arm ins Wasser tief, recht tief,
Wie ich! Sag, wer da unten schlief –
Der Tod vom Feu'r, vom Stahl, vom Gift ist fürchterlich;
Vom Wasser – fühl! wie greift so lind es sich!

Greif bis zum Grund! Im Dunkel, sieh, wie licht!
Vom Bandgras pflücke mir ein langes Blatt!
Du priest mein Haar. Wohl! an des Schmuckes Statt,
Den fort ich warf, es in das Haar mir flicht!
Ich kann fortan, was unschön, tragen nicht.

Er spricht.

Nach Hause rudern? Muß es sein?
Ob der Giudecca schaut es drein
So stolz zufrieden, ruhig, schlicht –
Fenster streng an Fenster passend,
Thür die Thüre schicklich fassend –
Vornehm wie ein Kindsgesicht.
Doch da hinten, ach, wie weit
Von der Schlichtheit und Reserve,
Schöngeschwungner Linien Verve
Und der keuschen Kindlichkeit!
Thüren, Fenster schief und schrag
Schielen auf den Wasserlauf.
Glitt mein Boot am Herbstestag
Da vorbei. Ich sah hinauf.
Bausch'ger Vorhang, flattre zu!
Dann ein leiser Schrei; dann du!
Wolltest dir das Papchen haschen.
Floh – just heut von allen Tagen! –
An der Palme Frucht zu naschen.
In den Himmel mich zu tragen.
Konnte Atem schöpfen kaum:
Bogst so weit, so weit dich vor,
Daß nicht an dem schlanken Baum
Papchen oben sich verlor.
Nun der Haare flüssig Gold
Von dem schönen Haupte rollt,
Uebersel'gen Schlangen gleich,
Denen in dem röm'schen Reich,
Heißt's, an Sommertagen schwül
Frauenbusen ward zum Pfühl.

Sie spricht.

Und morgen, wenn gar säuberlich –
Du kennst sie – eine Frauenhand
Für den Jasmin am Fensterrand
Das Harfenbandelier sich wählt –
Sieh, daß dein Zorzi nicht verfehlt
Die Zanze! Ist es schwarz, das Band –
Die Drei, sie wachen: wahre dich!

Und daß dein Zorzi wieder schlingt
Um deine Gondel Wasserkraut,
Als hätt der leichtgesinnte Fant
An einen Dallen sie gerannt,
An einer Brücke Algenwand,
Weil er nicht sorgsam vorgeschaut –
Dann weiß ich, was das Vöglein singt.

Da, Zanzes wachsam Licht, und sicher wir.
Es kommt zu bald der Trennung Stunde dir?
Wie? Unsre Lieb ist einen Mond erst alt!
Sei wieder der bescheidnen Ritter Zier;
Ich bin die Dame, wie der Schnee so kalt.
Nun neig dich, wie sich's ziemt! Faß meine Hand
So zart, wie deine ich, steig ich ans Land!
Und sage »Dank Siora!« –
Liebster mein,
So! Lipp auf Lippe bei des Mondes Schein!
Du, mein für immer; ich auf ewig dein!
Er, unter den Dolchen der Drei, sterbend.
Der Schluß des Schicksals, Holde! Höchste Lust:
So, unter deinem Aug, an deiner Brust.
Küß mich! und sorge um die Schurken nicht!
Sorg nur, daß nicht dein Haar, so golden licht,
Mein Blut bespritzt! Die Drei für meinen Haß,
Sie lebten nie. Ich aber hab gelebt.
Küß mich noch einmal, eh mein Geist entschwebt! –

* * *

Roderich ließ mit einem tiefen Atemzuge die Blätter in den Schoß sinken und saß eine Weile so, verloren in die schmerzliche Erinnerung an das verklungene Glück.

Nun hob er sie langsam empor, im Begriff, sie an die Lippen zu drücken. Seine Hand stockte, die Lippen verzerrten sich zu einem bitteren Lächeln.

Und sie war so glücklich über meine Arbeit! So begeistert von dem Gedicht – pah!

Er schleuderte die Blätter in den Kamin und griff abermals nach dem Packet auf dem Tischchen.

 

Wien, 7. November.

Mein Brief aus Paris hat dich verletzt und betrübt. Ich kann nicht sagen, daß ich deshalb Reue empfinde: er war nicht geschrieben, dir Freude zu machen. Daß du es über das Herz gebracht, mich vier Wochen hindurch in dieser fürchterlichen Ungewißheit zu lassen – mir müßte Fischblut in den Adern fließen, hätte mich das nicht empören sollen. Jetzt darf ich es ja sagen: als du nicht wieder nach Berlin zurückgekehrt, in dem thüringischen Landstädtchen, aus dem du jetzt schreibst, vor aller Welt verschwunden warst; keiner deiner Freunde über dein Verbleiben die mindeste Auskunft geben konnte; dein Gutsverwalter selbst, an den ich mich wandte, einen verzweifelten Brief zurückschrieb: er habe keine Ahnung, was aus dir geworden – da sind mir Augenblicke gekommen, wo ich das Schlimmste fürchtete.

Nun, was inzwischen geschehen, ist gerade schon schlimm genug. Du hast den traurigen Mut gehabt, der Gräfin nach Venedig zu folgen! Jedenfalls nicht eher, als bis der Graf hatte abreisen müssen, und die Gräfin in einer Lage war, deren Schutzlosigkeit du doppelt hättest respektieren sollen. So galt dir also der Ruf der Dame, die du zu lieben behauptest, nichts; dachtest du nicht an den Versucher, den unsichtbaren dritten von der Partie, der sicher in der Lagunenstadt von früher und später her so manch verschwiegenes, für seine Zwecke bequemes Plätzchen kannte. Und ist es etwa dein Verdienst, wenn – darauf will ich schwören – die Burg zu erobern, in der die Tugend eines Weibes wohnt, dir in Venedig so wenig gegeben war wie in Montreux? Dein Verdienst, daß ein Pferd, welches vor einem vorüberjagenden Tramwaywagen scheut, sich überschlägt und seinen Reiter unter sich begräbt, als deus ex machina kommen mußte, deiner Versucherrolle ein schnelles, trauriges Ende zu bereiten?

Und in dem Moment, wo du aus den Zeitungen oder einer anderen Quelle erfahren hattest, daß ich im Begriff stand, nach Wien zu gehen, ein erstes Lebenszeichen des beinahe schon Totgeglaubten! Ja, mein Bester, man darf die Absicht nicht so deutlich merken lassen, wenn sie nicht verstimmen soll! Ich werde dir plötzlich wieder wichtig, weil du mich brauchen zu können glaubst zu einem Dienst, den man im gesellschaftlichen Leben mit Namen bedenkt, die für den damit Betrauten nicht gerade schmeichelhaft sind. Mußtest du nicht erwarten, daß ich die Zumutung empört zurückweisen würde?

Ich thue es nicht, einfach, weil ich dir einen wirklichen Dienst zu leisten hoffe, an dem du allerdings eine ausschweifende Freude nicht haben wirst.

Heute also, ganz, wie du gewünscht hast, fuhr ich beim Grafen vor und wurde sofort angenommen – ausnahmsweise, wie mir der alte Kammerdiener sagte, derselbe, der die Herrschaften auch nach Montreux begleitet hatte. Ich wurde in das Arbeitskabinett geführt, unter dem du dir ein saalartiges, vierfensteriges Gemach vorstellen willst, dessen Wände mit kostbar eingebundenen Büchern in prachtvollen Schränken, ausgesuchten Gemälden, Marmorbüsten von Philosophen und Dichtern und sonstigen schmuckhaften Dingen überdeckt sind; ebenso wie diverse, durch den weiten Raum verteilte Tische mit Albums, Atlanten, Kupferstichmappen und exquisiten Nippes aus Elfenbein und Bronze. Fenster und Thüren mit Vorhängen und Portieren aus schwerem Damast. Ein fürstliches Gemach.

Der Graf saß, deckenumwickelt, in einem Stuhl, den der leise Druck auf eine Feder, je nach Wunsch und Bedürfnis des Kranken, diese oder jene Form annehmen läßt. Er konnte mir den Mechanismus nicht genug rühmen, vielmehr den Erfinder, der so an der leidenden Menschheit zum Wohlthäter geworden sei, in dankbarer Rührung preisen. Die entsetzlichen Leiden, die er ausgestanden, lassen mich diese Rührung wohl begreifen. Er hat den rechten Arm und das linke Bein gebrochen gehabt, abgesehen von einer langen Reihe geringerer, aber teilweise sehr schmerzhafter Verletzungen, und in der That vierzehn Tage lang zwischen Tod und Leben gekämpft. Der Kampf hat in das vornehme liebe Gesicht tiefe Spuren gegraben. Auch das auffallend volle Haar, das, als wir ihn zuletzt sahen, doch noch einen Anstrich von Grau hatte, ist völlig weiß geworden. Während unserer Unterredung hatte er wiederholt sichtlich mit Schwächeanfällen zu kämpfen. Dennoch hielt er mich, trotzdem ich wiederholt bat, mich beurlauben zu dürfen, über eine Stunde fest. Daß zwischen zwei Diplomaten, nachdem das Laufende absolviert, in erster Linie von Politik gesprochen wird, findest du begreiflich. Indessen entging mir nicht, daß der Graf trotz scheinbaren Eifers nicht recht bei der Sache war und ihn fortwährend innerlich ein anderes Thema beschäftigte, zu dem er den Uebergang scheute oder nicht finden konnte. Endlich – ich hatte mich bereits erhoben und stand da mit dem Hut in der Hand – kam es doch: wie meine italienische Reise ausgefallen sei? Da ich auf diese Frage seit einer Stunde gefaßt und vorbereitet war, ging mir die Antwort glatt genug von der Zunge; und – ja, mon cher, das kommt nun auch auf deine Rechnung – ich that, was ich für mich selbst in Fällen äußerster Not nicht fertig bringe – ich log! Log, so zu sagen, das Blaue vom Himmel; sprach niemals von »mir«, immer nur von »uns«; und wie eine so schöne Reise, wenn man sie mit einem alten Freunde mache, doppelt schön und ersprießlich sei, sintemalen man alles, anstatt mit zwei, mit vier Augen sehe u. s. w. Unser »Zusammentreffen in Mailand« datierte ich zwei Tage nach deiner Abreise von Montreux. Es war ein notwendiger Faden des Lügengewebes. Wenigstens hielt ich ihn für notwendig. Dein Name war, so oft auch die Veranlassung dazu sich bot, nicht ein einziges Mal über die Lippen des Grafen gekommen. Das konnte nicht Zufall sein. Hier lauerte eine Wolke in seiner Seele, die zerstreut werden mußte. Ich hatte meine Absicht erreicht. Das alte Gesicht war während der ganzen Zeit, bei aller Freundlichkeit, eigentlich recht traurig gewesen. Plötzlich erhellte es sich zusehends.

»Und wo hält sich Ihr Freund jetzt auf?«

»In Berlin!« war meine prompte Antwort.

»Sie korrespondieren miteinander, natürlich?«

»Aeußerst selten. Wir Menschen fin de siècle haben ja alle das Briefschreiben so ziemlich verlernt.«

»Darf ich bitten, bei nächster Gelegenheit ihm meinen freundlichen Gruß zu vermelden?«

»Es wird mir ein besonderes Vergnügen sein, Herr Graf.«

Er hatte etwas auf den Lippen, das aber unausgesprochen blieb. Anstatt dessen: »Sie werden der Gräfin guten Tag sagen wollen?«

»Ich wollte eben um die Erlaubnis nachsuchen.«

»Ich hoffe, sie kann Sie empfangen.«

»Die Frau Gräfin ist leidend?«

»Ihre Gesundheit war nie stark, wie Sie wissen. Und jene ersten vierzehn Tage, während derer sie Tag und Nacht nicht von meiner Seite gewichen ist und mich gepflegt hat mit einer Sorgfalt, einem Opfermut –«

Seine Stimme zitterte, und die Hand zitterte, mit der er sich über die buschigen Brauen fuhr. So konnte er denn glücklicherweise das alberne Gesicht nicht bemerken, welches ich zweifellos in diesem Augenblick machte, und das nun ebenfalls auf dein Konto kommt. Er fuhr dann auch alsbald, offenbar die Rührung zu überwinden, nun wieder im Gesprächstone fort:

»Sie werden meine Schwester, Comtesse Blanda bei ihr finden. Ich mußte sie hierher citieren: die Kräfte der Gräfin waren erschöpft –«

Das konnte ich leider konstatieren, als ich dann zur Gräfin geführt wurde, die ich in ihrem Boudoir auf einer Chaiselongue fand. Wie durchsichtig die kleine weiße Hand, die sie mir mit freundlichem Lächeln zum Kuß reichte! Wie blaß die feinen, durchgeistigten Züge des holden Gesichtes! Und über den dunklen, märchentiefen Augen wie ein Schleierflor, der sich nur einmal voll hob, um mich in einen Himmel von unergründlicher Tiefe blicken zu lassen: als ich während des Gespräches, ein bekanntes Wort von Goethes Vater etwas frei citierend, sagte: Wer einmal in Italien gewesen, könne nie wieder ganz unglücklich werden.

Ich werde ihn nie vergessen, diesen Blick!

Du siehst, mein Freund, ich bin auf dem besten Wege, mich für die Gräfin zu begeistern, und bekenne es frank und frei, um dir den Beweis zu liefern, daß man ein schönes, liebenswertes Weib wunschlos und neidlos anbeten kann. Und wenn du fragst: warum erst heute? erwidere ich: ich habe sie heute zum erstenmal wirklich gesehen. Die Banalität der Prunksäle eines Botschafterhotels – das war kein Rahmen für ein Frauenbildnis, wie es Carlo Dolce Carlo Dolci (1616-86), italienischer Maler des Barock. so lieblich nicht hat schaffen können. Und auch der weite Genfer See und die himmelragenden Alpenwände boten nicht den rechten Hintergrund. Der ist es für robustere Schönheiten mit sportmäßig trainierten kräftigen Beinen und Armen und entsprechenden gesunden Farben. Für dies ätherische Wesen eignen sich besser ein lauschiges Boudoir mit seinen niedlichen Bibelots und dem diskreten Clair obscur, wie es zugezogene rosaseidene Vorhänge schaffen –

Uebrigens währte unsere Unterhaltung leider höchstens eine Viertelstunde, von der noch der Löwenanteil auf die Comtesse fällt: eine ältere, sehr hochgewachsene, sehr magere Dame mit einem sehr aristokratischen, sehr energischen Gesicht – eine Welt zu energisch für meinen Geschmack. Und ich müßte mich sehr irren: auch für den der Gräfin, der ich von Herzen eine freundlichere Gesellschaft wünsche als diese Dame, die mir ganz aus Knochen, Sehnen und Tugend zu bestehen scheint.

Als treuer Berichterstatter darf ich zu erwähnen nicht vergessen, daß dein Name während der ganzen Unterredung nicht ein einziges Mal genannt wurde. Mich hielt, ihn zu nennen, eine Scheu zurück, die du erklärlich finden wirst bei dem schlechten Gewissen, das ich für dich habe, seitdem ich von deinem venetianischen Pagenstreich weiß. Ich habe sogar das bestimmte Gefühl, es würde nicht von dir gesprochen sein, wären wir allein gewesen und die Spüraugen der Steifleinenen nicht fortwährend mißtrauisch von ihr zu mir, von mir zu ihr gewandert. Die Steifleinene selbst aber, nehme ich an, weiß von der Existenz eines gewissen Rittmeisters a. D. nichts; und ich vermute: das ist sehr gut. Niemand dürfte sich besser zur Gebärdenspäherin und Geschichtenträgerin qualifizieren als sie.

Da habe ich nun wieder einmal eine halbe Nacht an dich gewandt. Hoffentlich wirst du mir den Dank in einem ausführlichen Briefe abstatten, aus dem ich endlich einmal erfahre, wie es dir geht, was du treibst. Ich nehme an, du bist sehr fleißig und benutzt deine Thüringer Einsamkeit zur Abfassung eines grundgelehrten oder – was mir sehr viel lieber wäre – hochpoetischen Buches, in welchem zu sagen, was du leidest, dir ein gütiger Gott gab.

Denn was du gelitten haben und noch leiden mußt – ich weiß es erst seit heute.

Ihr armen Kinder! Ihr seid getrennt; ihr habt entsagt. Menschenlos! Wen trifft es nicht? Und ich habe wahrlich nichts vor anderen Leuten voraus. Denke an meine wahnsinnige Leidenschaft für die schöne Ellen P.! Ich will nicht sagen: und Patroklos war mehr als du. Gott bewahre! Er war gerade, wie du, ein Mensch, der lieben und leiden konnte – der Himmel mag wissen, warum das identisch sein muß! – und nicht daran gestorben ist, sondern heute, als ein mittelmäßiges Geschöpf Fortunas, jetzt eine Stunde froh, jetzt eine betrübt, so weiter lebt, im übrigen wie ein Kassierer, der zu dem Gold, welches durch seine Hände läuft, in keiner anderen Relation steht, als daß er es richtig zählt.

Du und die Gräfin, ihr seid von anderer Art – ich weiß es wohl; und wie eure Seelen schneller in Schwingung zu bringen sind, so dauert es auch länger, bis sie ihr Gleichgewicht wieder gefunden haben. Aber – ich kann es dir nicht ersparen – glaube mir: die Gräfin hat das Gleichgewicht ihrer Seele wiedergefunden. So ruhig, so gelassen blickt keine, spricht keine; so freundlich und gütig lächelt keine, in deren Herzen nach dem Sturm der Leidenschaft der Friede nicht wieder eingekehrt ist. Ich bitte die Götter, er möge nicht, er möge nie wieder gestört werden. Wenn du Lili wahrhaft geliebt hast, du kannst kein anderes Gebet haben.

Und auch kein anderes, wenn du sie, wie ich wohl annehmen muß, noch liebst.

Der Graf hat mich in seiner gewohnten Liebenswürdigkeit aufgefordert, ihn zu besuchen, so oft es meine Zeit erlaubt. Ich werde natürlich Folge leisten und dann auch wohl Gelegenheit haben, die Gräfin von Zeit zu Zeit zu sehen. Du sollst von allem getreulich unterrichtet werden, vorausgesetzt, daß es nicht Nahrung für deine Wunde ist. Dann um keinen Preis. Fordert sie doch ohnedies die ganze Heilkraft deiner starken Natur heraus!

P. S. Ich vergaß zu erwähnen, daß, als der Diener mich über den Flur bis an die Thür begleitete, die alte Brigitte an mir vorüberkam. Sie wußte offenbar von meiner Anwesenheit in Wien nichts; denn sie sah mich so erstaunt, ja erschrocken an – warum das letztere, weiß ich nicht –, daß sie meine Begrüßung kaum erwiderte. Ich kann die Alte nicht leiden. Sie hat sich mit ihren Durchstechereien einen schlechten Dank um euch verdient. –

* * *

Als Roderich den Brief zu den anderen gelegt und bereits nach dem folgenden griff, fiel ihm erst ein, daß er die Stelle enthielt, nach welcher er gesucht: die Stelle, in der von dem wiedergewonnenen Seelenfrieden Lilis so emphatisch gesprochen wurde. Und hatte jetzt über sie weggelesen, als ob ihm nicht, da er sie zum erstenmal las, das Herz fast gesprungen wäre vor Jammer und Zorn! Warum auch nicht? In dem, was noch restierte, stand ja mehr von der bitter herzkränkenden Sorte! Warum es überhaupt noch einmal lesen? Weil er damit aufräumen wollte einmal und für immer; es aus seiner Seele haben wollte, wie die Kugel, die man ihm aus der zerschmetterten Schulter geschnitten hatte! Die Seelenoperation würde radikaler sein als die an seinem Leibe. Verflucht wollte er sein, wenn nach fünf Jahren die Schmerzen im Herzen noch so wühlten, wie jetzt wieder im Arm, daß er schon wiederholt seine ganze Willenskraft hatte wachrufen müssen, um nicht aufzuspringen, nach dem Schrank zu eilen und –

Vielleicht nachher! nachher! Erst wollen wir mit diesem hier zu Ende kommen. Wieviel sind's denn noch? Eins – zwei – drei – vier! Wie sauer er sich's hat werden lassen! Es sind doch immer nur die allerbesten Freunde, die einen durch solche Liebesdienste zu ewigem Dank verpflichten! Warum er nur in die Diplomatie gegangen ist? Er hätte als Bußprediger Furore gemacht. Also weiter in die Kapuzinade! Es wird immer lustiger. So gewiegte Leute sparen sich ihre besten Trümpfe stets bis zum Schluß auf.

 

Wien, 12. November.

Also das die Wirkung meines letzten Briefes! Weniger als je bist du gesonnen, von Lili zu lassen, wie du ebenso überzeugt bist, daß sie nicht von dir lassen kann und wird!

Ja, lieber Freund, da muß ich dann freilich, wenn keine schmerzlosen Medikamente mehr anschlagen, zu Eisen und Feuer meine Zuflucht nehmen. Sie werden ihr Werk etwas rauh thun. Der Himmel weiß, wie gern ich dich schonte; aber du läßt mir keine Wahl.

Ich hatte heute einen offiziösen Besuch bei dem Grafen zu machen. Er hat zwar die Geschäfte selbstverständlich noch nicht wieder übernehmen können, aber meinem Chef war daran gelegen, seine Meinung in einer gewissen Angelegenheit zu erfahren, mit deren Details ich dich nicht behelligen will. Wir besprachen die Sache, wobei der Graf eine Klarheit und Weite des politischen Blickes an den Tag legte, die ich ihm nicht zugetraut hatte. Er ist darum vielleicht noch immer kein großer Staatsmann; aber, wie im Leben, so in der Staatskunst triumphiert der ehrliche Wille, sich ins Rechte zu denken, oft über den glänzenden Geist, dem es weniger um die Sache zu thun ist als um das Vergnügen, sein Licht leuchten zu lassen vor den Leuten.

Da ich es eilig hatte, wieder zum Chef, der nach Berlin depeschieren mußte, zurückzugelangen, entschuldigte ich mich, wenn es mir heute nicht möglich sei, der Frau Gräfin meine Aufwartung zu machen.

»Ich fürchte, sie würde Sie auch nicht empfangen können«, sagte der Graf.

»Doch nichts Ernsthaftes hoffentlich?«

»Die Aerzte versichern mich, daß durchaus kein Grund zur Besorgnis vorliegt. Indessen sie haben für einige Zeit die möglichst große Schonung empfohlen, und die Gräfin wird wohl auf Wochen an die Chaiselongue gebannt sein, auf der Sie sie, glaube ich, schon neulich fanden.«

»Es ist lästig, freilich, dieses Chaiselongue-Regime. Aber gerade junge Frauen, denen man von Herzen das freieste Leben gönnt, kommen wohl einmal in die Lage, es über sich ergehen lassen zu müssen.«

Ich schwöre dir, Roderich, ich dachte, als ich es mit einem zerstreuten Lächeln sagte, nicht auf tausend Meilen an die Möglichkeit, mich einer Indiscretion schuldig gemacht zu haben. Wie hätte ich daran denken können mit dem alten Mann da vor mir! dem Bilde greisenhafter Schwäche!

Und plötzlich erstarb mein albernes Lächeln: der Graf sah mich mit einem so sonderbar fragenden Blick an! Mein Gott! konnte es denn sein? Und dann machte mein Herz einen Sprung bei einem schlimmen Gedanken, der mir in demselben Moment durch das Gehirn zuckte, und den ich nicht niederzuschreiben wage. Warum auch hast du mir das abscheuliche Gedicht geschickt, das zügellose, phantasievergiftende? Auf den Knien bitte ich dem Engel von Frau den schändlichen Gedanken ab. Nein, mein Freund, und schwöre eine Welt: die Geschichte des Gedichtes ist die deines Freundes und der Gräfin während der Tage in Venedig – gegen die ganze Welt würde ich's verfechten: Lug und Trug ist's und schimpflichste Verleumdung! Nein! und tausendmal nein! Möglich, daß ihr eine gemeinschaftliche Lagunenfahrt »in einer Gondel« gemacht habt; und Mondschein und ein bißchen Mondscheinschwärmerei mag auch dabei gewesen sein. Aber diese Frau ist kein lüsternes, venetianisches Dämchen, die, wenn die Sterne flimmern und ihr der leichte Sinn danach steht, die Kappe über die Dächer wirft. Und du, mein Freund, wärst der letzte, die Ehre einer schutzlosen Frau, die Ehre eines ehrwürdigen Greises, die eigene Ehre der Wallung eines heißen Blutes zu opfern – –

Ich rede ja nur von Möglichkeiten. Der sonderbare Blick des Grafen hat vielleicht etwas ganz anderes sagen wollen. Aber, so oder so, ich halte an einer Vermutung fest, in welcher mich die Situation der Gräfin bestätigt und mehr, viel mehr: der Ausdruck, den ich neulich in ihrem holden Gesicht beobachtet und dir zu schildern versucht habe. Und den ich heute als den Wiederschein der Dankbarkeit bezeichnen möchte, welche die Menschenseele durchsonnt, wenn sie ein langersehntes legitimes Glück nun endlich in Erfüllung gehen sieht.

Mein armer, armer Freund, ich weiß für die brennende Wunde, die ich dir schlagen muß, keinen anderen Balsam als unseres großen Dichters wehmütig-trotziges Wort: »Ich sollte das Leben hassen, in Wüsten fliehen, weil nicht alle Blütenträume reiften?« Aus Goethes Gedicht »Prometheus« (1775). Es war ein holdester Blütentraum, zu hold, als daß er hätte reifen können. Und längst, wenn der Lenz für alle Welt wieder eingezogen, wird es noch winterlich um dein Herz sein. Ich will dich auch nicht mit dem banalen Trost beleidigen, daß die Zeit alle Wunden heilt. Ist es doch nicht einmal für die körperlichen wahr. Oder kann man eine Wunde geheilt nennen, in welcher, wie in der deinen, bei jedem jähen Witterungswechsel, jeder heftigen Gemütsbewegung grausame Schmerzen rumoren, der man in besonders schlimmen Fällen nur mit dem entsetzlichen Morphium Herr werden kann? Aber nicht wahr, Liebster, nur in den schlimmsten Fällen, zu denen wohl sicher der Empfang eines Briefes wie dieser gehört.

Ich bitte dich: antworte mir bald! Man ist es einem ehrlichen Boten schuldig, ihm zu zeigen, daß man ihn von seiner herzkränkenden Botschaft zu trennen weiß.

 

Wien, 17. November.

Seit gestern schon könnte deine Antwort auf meinen letzten Brief hier sein, wenn du, wie ich dich doch so dringend bat, sofort geschrieben hättest. Wärst du wirklich weniger großmütig, als wofür dich zu halten ich tausend Gründe zu haben glaubte? Aber das kann nicht sein. Du bist krank, kannst nicht schreiben. So sollte ich denn vielleicht mit dem, was ich heute zu melden habe, zurückhalten. Nur daß mir ein dunkles Gefühl sagt: es ist besser, du bleibst, krank oder gesund, über die Lage der Dinge hier unterrichtet, wie völlig du auch außer stande bist, nur das mindeste daran zu ändern.

Gestern abend ist eine alte Frau in meiner Wohnung erschienen. Nach der Schilderung meines Dieners kann es niemand anders gewesen sein als Dame Brigitte, die vertraute Kammerfrau der Gräfin. Sie hat gesagt, daß sie mich unbedingt sprechen müsse; wann ich zu sprechen sei? Jean hat ihr die Mittagsstunde heute zwischen zwölf und ein Uhr genannt. Die Stunde ist vorüber. Sie ist nicht gekommen. Möglicherweise hat sie nicht kommen können.

Ich weiß nicht, ob ich diesen Versuch der Frau, mich zu sprechen, mit einem anderen Ereignis richtig kombiniere. Während sie mich vergeblich suchte, war ich im Klub, wo ich zum erstenmal Marquis d'Orgebac von der französischen Botschaft traf. Ich kenne ihn von der Pariser Zeit her sehr gut; er ist auch ein guter Bekannter des Grafen, ebenfalls von Paris her. Natürlich kamen wir auf den Grafen und die Gräfin zu reden. Er erwähnte dabei – erschrick nicht, Liebster! –, daß er dich und die Gräfin zusammen in Venedig gesehen habe; allerdings nur ein einziges Mal, auf dem Markusplatz, ziemlich spät abends – was in seinem Munde ungefähr ein Uhr morgens heißt – bei Gelegenheit, ich weiß nicht, welches Festes. Ich äußerte, ohne mich in chronologische Details einzulassen, meinen bescheidenen Zweifel an dem Faktum; und glaubte das wohl thun zu können, da, wenn er auch die Gräfin natürlich sehr gut kennt, du ihm doch jedenfalls völlig fremd bist. Er gab das letztere zu. Dennoch sei ein Quiproquo völlig ausgeschlossen: ein Herr von Malten, der in seiner Begleitung gewesen, und der dich Dutzende von Malen in Berliner Gesellschaften getroffen, habe ihn speciell auf dich aufmerksam gemacht. Herr von Malten hatte noch einige Details aus deinem Leben hinzugefügt – er scheint während der Campagne wiederholt in deine Nähe gekommen zu sein –, die der Marquis mir wiederholte, vermutlich mich zu überzeugen, daß sein Freund durchaus der Mann gewesen sei, dich zu rekognoscieren.

Nun erinnerst du dich; der Graf hatte mich gleich bei meinem ersten Besuch gefragt: wann ich mit dir in Mailand zusammengetroffen, und daß ich ihm ein Datum genannt, welches die Möglichkeit deiner Anwesenheit in Venedig zur Zeit des Aufenthalts der Gräfin ausschloß, vorausgesetzt, wir hatten uns nachträglich nicht wieder getrennt. Und in der That – ich glaube, ich habe das in der betreffenden Relation des Besuches zu erwähnen vergessen – hatte er eine diesbezügliche Frage an mich gestellt, die von mir im Sinne der Unzertrennlichkeit lebhaft beantwortet worden war.

Du magst dir denken, wie peinlich ich es empfand, mich so in eine Unwahrheit verstrickt zu sehen, die denn doch ein böser Zufall an den Tag bringen konnte; und wie ernstlich ich erschrak, als der Marquis lachend fortfuhr:

»Uebrigens ist es merkwürdig für mich, meine unschuldige Notiz des Zusammentreffens mit Ihrem Freunde in Venedig nun bereits zum zweitenmal ob ihrer Richtigkeit angezweifelt zu sehen. Auch der Graf, dem ich gestern meine Aufwartung machte, und mit dem ich zufällig darauf zu sprechen kam, erklärte, daß hier ein Irrtum obwalten müsse; er wisse auf das bestimmteste, daß Baron W. in jenen Tagen nicht in Venedig gewesen sei. Der Graf werde lachen, wenn er ihm bei nächster Gelegenheit das Kuriosum mitteile.«

Ich gestehe, ich hatte nicht den Mut, ihn zu bitten, das lieber zu unterlassen. Es hätte den jungen Mann nur stutzig gemacht, während jetzt zu hoffen steht, daß er auf eine Sache, die ihm ja im übrigen völlig irrelevant sein muß, nicht wieder zurückkommt. Dennoch – ich bin für meinen nächsten Besuch beim Grafen nicht ohne eine Sorge, die du mir nachfühlen wirst. Hätte mich doch nur die Brigitte zu Hause getroffen! Daß sie heute noch vorspricht, ist nicht mehr anzunehmen. Es ist bereits zwei Stunden über die ihr von Jean gesetzte Zeit. Ich muß auf die Botschaft und dieser Brief auf die Post.

 

Wien, 17. November.

Bereite dich auf etwas Unliebsames vor, wenn du diesen Brief zu lesen beginnst, den ich noch an demselben Abend schreibe, und der vielleicht noch mit dem von heute nachmittag zusammen bei dir eintrifft.

Soeben geht die alte Brigitte von mir.

Ich hatte heute abend bei Prinz R. sein sollen. Eine Ahnung sagte mir, daß die Brigitte nicht bis morgen warten, sondern bereits noch heute wiederkommen werde. So schrieb ich denn gleich vom Klub ein Billet, in welchem ich mich mit einem plötzlichen, Unwohlsein entschuldigte, und fuhr direkt nach Hause. Meine Ahnung hatte mich nicht betrogen. Die Alte war bereits seit einer halben Stunde da. Mein Diener hatte ihr gesagt, daß ich bestimmt gegen neun Uhr kommen würde, mich zur Gesellschaft umzukleiden. So erwartete sie mich in fiebernder Angst: sie habe sich heimlich aus dem gräflichen Palais weggestohlen; ein längeres Ausbleiben würde unvermeidlich entdeckt werden.

Die alte Frau war in der größten Aufregung, am ganzen Leibe zitternd, kaum im stande, vernehmlich zu sprechen. Ich ließ sie ein Glas Madeira trinken, das dann ihren Kräften so weit wieder aufhalf. Leider ist es ja die Art dieser Leute, fortwährend von der Hauptsache abzuschweifen, um so weiter, je wichtiger die Sache ist und je knapper die Zeit, die sie für ihre Mitteilung haben. Du mußt schon verzeihen, wenn ich, um nicht in denselben Fehler zu verfallen, nach keinen Verschleierungen der Tatsachen suche.

Die unglückliche Schwatzhaftigkeit des Marquis hat die von meinem ahnenden Gemüt erwarteten bösen Früchte getragen. Der Graf hat offenbar, trotz des Anscheins vom Gegenteil, die Richtigkeit seiner Angabe, dich zwischen dem 20. und 27. September in Venedig gesehen zu haben, von Anfang an nicht in Zweifel gestellt. Es ist mir unerfindlich, weshalb er nun alsbald seine Schwester, die Comtesse, ins Vertrauen gezogen hat. Wollte er nun durch sie sich die Thatsache von der Gräfin bestätigen lassen, wie man fast annehmen muß, so hätte er eine schlimmere Vermittlerin nicht wählen können.

Um das Folgende, so empörend es bleibt, wenigstens zu begreifen, mußt du wissen – was auch ich eben jetzt erst durch die Brigitte erfahren habe –, daß die alte Comtesse bereits bei der Schließung der gräflichen Ehe Gift und Galle gespien hat, weil ihr Bruder, wenn er in seinen Jahren denn doch noch heiraten wollte, statt des armen jungen Freifräuleins die von ihr protegierte steinreiche verwitwete Gräfin Gisela Osten hätte heimführen sollen. Sie ist dann auch jeder persönlichen Berührung mit der jungen Frau sorgsam aus dem Wege gegangen, selbst bei der Hochzeit nicht zugegen gewesen, so daß sich die Damen faktisch jetzt, als sie den Bruder zu pflegen kam, zum erstenmal gesehen haben. Nun, es scheint, daß Bruderliebe eben auch blind ist, sonst hätte der Graf sie wohl auf ihrem einsamen böhmischen Schlosse sitzen lassen, die alte Hexe. Nach Brigittes Schilderung ist sie eine richtige, die mit Argusaugen in jeden Winkel des Hauses, hinter jede Falte späht, keine Müdigkeit kennt, Tag und Nacht auf den langen Beinen ist und die arme Lili nur, um nach dem Bruder zu sehen, auf Minuten allein läßt, obgleich sich die Damen schlechterdings nichts zu sagen haben, und Stunden vergehen, ohne daß zwischen ihnen ein Wort gewechselt wird.

Woher Brigitte das letztere weiß, ist insofern unerklärlich, als sie behauptet, seit der Ankunft der Comtesse aus der Nähe ihrer jungen Herrin verbannt zu sein.

Wie es sich nun damit auch verhalte, heute, als der Graf die Comtesse hat zu sich rufen lassen und sie die Gräfin allein weiß, will sie sich zu ihr schleichen. Im Begriff, aus dem Schlafzimmer, in das sie durch eine Nebenthür vom Korridor aus gelangt ist, das Boudoir der Gräfin zu betreten, hört sie bereits die Comtesse zurückkommen. Sie hat eben nur noch Zeit, hinter die Portiere zu flüchten, wo sie in bebender Angst regungslos stehen bleibt und so aus nächster Nähe, wenn nicht Augen-, so doch Ohrenzeuge der abscheulichen Scene werden muß.

Die Comtesse kommt hereingestürmt, rennt ein paarmal durch das Gemach, wirft sich in einen Fauteuil und ruft in brutalem Ton: »Mein Bruder erfährt soeben, daß Baron W., den Sie bereits von Montreux her kannten, zu gleicher Zeit mit Ihnen in Venedig gewesen ist. Ist das wahr?«

»Wie kann ich das wissen?«

»Keine Winkelzüge, wenn ich bitten darf? Es handelt sich darum, ob Sie mit ihm zusammen gesehen sein können.«

»Hat der Graf Sie zu mir geschickt, mir diese Frage vorzulegen?«

»Allerdings.«

»Und in diesem Ton?«

»Der Ton thut nichts zur Sache.«

»Doch. Ich bin nicht gewohnt, daß in diesem Ton mit mir gesprochen wird.«

»Ich werde in einem noch ganz anderen mit Ihnen zu sprechen haben.«

»Dann jedenfalls ein anderes Mal. Für jetzt ersuche ich Sie, mich allein zu lassen.«

»Sie weisen mir die Thür? Sie, die mein verblendeter Bruder so gut wie von der Straße aufgelesen hat? Um sich mit Ihnen eine Frau ins Haus zu nehmen, die nicht weiß, was Anstand und Sitte ist? seine Güte, seine Langmut in schnöder Weise ausbeutet? hinter seinem Rücken, vor seinen Augen sogar, mit fremden Männern kokettiert, immer natürlich mit der scheinheiligen Miene – das einzige, was man im Kloster gelernt hat –? die Frechheit endlich so weit treibt, sich mit ihrem Galan in einer fremden Stadt ein Rendezvous zu geben, während der Gatte hundert Meilen weit entfernt ist? Wo wollen Sie hin?«

»Zu meinem Gatten.«

»Ah!«

Hier hat Brigitte gehört, wie sich die Gräfin vom Sofa erhoben und die Comtesse ihr wohl den Weg nach der Thür vertreten hat, rufend:

»Sie wissen, daß Sie sich nicht bewegen dürfen; daß die Aerzte es streng verboten haben; daß es Ihr Tod sein kann!«

»Und wenn es mein Tod ist, ich will zu meinem Gatten.«

»Freilich! dem kann man ja alles vorreden. Der gute Mann glaubt ja alles. Der glaubt am Ende auch –«

Hier kommt eine solche Infamie, daß ich keine Feder habe, sie niederzuschreiben, und nur inbrünstiglich hoffe, der Teufel, wenn er sie einmal in seinen Klauen hat – was ja bloß eine Frage der Zeit ist –, werde dem bösen Weib, das im stande war, sie über die schändlichen Lippen zu bringen, dafür ein Extrafeuer anheizen lassen.

Dann ist die Gräfin aus dem Zimmer gewesen, in welchem die Megäre unter greulichen Verwünschungen noch ein paar Minuten auf und ab stampft, um es dann auch zu verlassen, die Thür krachend hinter sich zuschlagend.

Die alte Brigitte ist nun aus ihrem Versteck hervorgehuscht, entschlossen, auch wenn das Ungetüm wieder hereinbrechen sollte, die Rückkehr der Gräfin abzuwarten.

Sie weiß nicht, wie lange sie so allein gewesen ist – eine halbe Stunde, meint sie; es könne auch länger gedauert haben.

Dann ist die Gräfin zurückgekommen, sehr bleich, aber völlig ruhig; nur ihre Hände seien eiskalt gewesen. Sie hat sich von der Alten wieder auf das Sofa legen lassen und so still dagelegen, den Blick nach oben gerichtet, bis sie sich nach der Getreuen, die, ohne eine Frage zu wagen, still vor sich hin schluchzt, wendet und lächelnd sagt:

»Weshalb weinst du denn? Ich habe mich mit dem Grafen ausgesprochen. Es ist alles gut zwischen uns. Die Comtesse wird morgen abreisen, ohne daß ich sie vorher noch einmal zu sehen brauche.«

Die Alte hat vor Freude die Stelle, wo unter dem Shawl die Hände der Gräfin lagen, geküßt. Als sie den Kopf wieder emporrichtet, sieht sie zu ihrem Schrecken, daß die Gräfin ohnmächtig geworden ist.

Die Ohnmacht ist sehr schwer gewesen. Man hat nach dem Arzt schicken müssen, der dann noch längere Zeit gebraucht hat, bis er – vermutlich mit Anwendung heroischer Mittel – des Anfalles Herr geworden.

Seitdem ist der Zustand der Gräfin wie vor der greulichen Scene. Sie hütet wieder ihre Chaiselongue, spricht sehr wenig; scheint aber völlig ruhig und hat für die jetzt wieder in ihre früheren Rechte eingetretene Alte jederzeit ein freundliches Lächeln.

Die Comtesse ist programmmäßig heute morgen abgereist.

Dies der Inhalt der kaum halbstündigen Unterredung mit Weglassung von allem, was nicht unmittelbar zur Sache gehört. Ich ließ dann, die Zeit abzukürzen, einen Wagen für die alte Frau holen und schreibe dir nun dies in – wie ich dir gestehen muß – völliger Ratlosigkeit.

Weshalb ist die Brigitte zu mir gekommen? was hat sie von mir gewollt? Ich habe sie selbstverständlich nicht einmal, sondern wiederholt danach gefragt, ohne eine befriedigende Antwort aus ihr herausbringen zu können. Ob sie im Auftrag der Gräfin bei mir sei? – Nein. – Ob sie selbst wünsche, daß ich dir Mitteilung von dem Vorgefallenen mache? – Ich möge es damit halten, wie ich es für gut befände. – Ob die Gräfin wisse, daß der Graf mich nach dir gefragt habe, und was ich darauf geantwortet? – Sie könne es nicht sagen.

Ich muß annehmen: hier ist denn doch der springende Punkt. Ohne Zweifel ist in der Unterredung der Gatten die Sache zur Sprache gekommen, und die Gräfin hat zu ihrem Schrecken erfahren, daß ich – nun ja! – daß ich gelogen habe. Sie will mir die Beschämung ersparen, mich noch weiter in das Lügengewebe zu verstricken, und hat mir das durch die Brigitte insinuieren wollen. Ich bin ihrer Güte deshalb nicht weniger dankbar, weil ihr ja selbst daran gelegen sein muß, daß durch mein Benehmen kein falsches Licht auf eine Angelegenheit fällt, über die sie sich mit dem Gemahl, wie sie selbst sagt, vollkommen ausgesprochen hat.

Wie ich mich aus der heiklen Affaire ziehe, weiß ich freilich nicht; aber das steht in zweiter Linie.

Für mich ist die Hauptsache: die doch möglicherweise recht üble Nachwirkung deines tollen Streiches, nachdem er nun einmal aus seinem bisherigen Geheimnis ans Licht gezogen war, ist durch die Bravheit der Gräfin paralysiert worden; die für einen Moment getrübte Entente der Gatten wieder hergestellt.

Das ist das eine.

Und das andere?

Ja, lieber Freund, wenn du, wie ich aus einigen Aeußerungen deiner Briefe schließen muß, dich trotz alledem mit schmeichlerischen Plänen für die Zukunft getragen hast – Plänen, in denen die Gräfin eine große, dich beglückende Rolle spielte –, so hat jetzt die Natur selbst ein strenges Veto gesprochen, gegen das ein Appell nicht existiert.

In deinem Interesse, im Interesse der Gräfin kann ich nicht anders als mich freuen, daß es so gekommen. Es ist, gebe ich zu, ein leidlich prosaischer Ausgang eines Verhältnisses, dem es an Poesie wahrlich nicht gefehlt hat. Aber ich war immer der Meinung, die Poesie gehört in die Bücher und nicht in das Leben, für das nun einmal andere Gesetze gelten, die man respektieren muß, soll der durch so viel tausendjährige Arbeit geschaffene Kosmos der Gesellschaft nicht in das alte Chaos zurücksinken.

Nenne mich deshalb meinetwegen einen Philister; aber behalte mich ein wenig lieb!

Ich schmeichle mir, es um dich verdient zu haben.

 

Wien, 18. November.

Soeben komme ich vom Grafen – leichteren, viel leichteren Herzens, als ich gegangen bin. Die Wolken fangen an, sich zu zerstreuen. Ich würde sagen: der Himmel sei vollkommen heiter, wenn nicht du es wärst, dem ich es sagte – du, dem die Sonne des Lebens wohl noch auf lange Zeit verschleiert bleiben wird, ja, der sicher behauptet, sie werde ihm nie wieder scheinen. Das nun liegt, wie die frommen Griechen sagten: auf den Knien der Götter. Lassen wir es da geruhig liegen! Sie sehen mit den unsterblichen Augen weiter als wir. Pfuschen wir ihnen mit unseren kurzen Sinnen nicht in ihr göttliches Handwerk!

Also: ich fuhr zum Grafen – heute nachmittag zwischen fünf und sechs Uhr – die Stunde, von der er mir gesagt hat, daß er immer für mich zu sprechen sei. Als ich aus meinem Coupé stieg, war der Sanitätsrat Herzinger – Pardon: von Herzinger! – gerade im Begriff, in das seine zu klettern. Der Sanitätsrat, mußt du wissen, ist der Arzt der upperst thousand in Wien, speciell in Damensachen. Ich habe ihn hier im Klub kennen gelernt, dessen sehr beliebtes, stets mit einem Bonmot ausgerüstetes, als Oberpriester der eleusinischen Geheimnisse der Residenz hochverehrtes und vielbeneidetes Mitglied er ist. So war es selbstverständlich, daß ich ihn zuerst nach dem Befinden der Gräfin fragte. Da das Lächeln, mit dem er seine Antwort: »den Umständen nach vortrefflich« begleitete, nichts Ueberraschendes mehr für mich hatte, lächelte ich verbindlich zurück. Hielt er nun meine Intimität mit der gräflichen Familie für größer, als sie schließlich in Wirklichkeit ist, und fühlte sich infolgedessen mir gegenüber nicht unter dem Druck der obligaten Diskretion; oder, wie ich aus meiner späteren Unterredung mit dem Grafen beinahe schließen möchte, hatte man ihn von dieser Diskretion entbunden – genug, mich am Paletotknopfe festhaltend, fuhr er in vertraulichem Tone fort: »Ein ungeheures Glück, Verehrtester! Denken Sie: nach drei Jahren! Das kolossale Vermögen, das sonst an Seitenverwandte gefallen wäre!«

»So darf man, wenn es sich schicklich macht, dem Herrn Grafen gratulieren?«

»Zum Kondolieren ist wahrhaftig keine Veranlassung. Mindestens nicht mehr seit heute.«

»Weshalb seit heute?«

»Verehrtester! irren ist menschlich, und wir Aerzte sind, so zu sagen, auch nur Menschen. So habe ich mich wohl gehütet, mit meiner Weisheit herauszurücken, bis ich meiner Sache ganz sicher war. Weshalb dem alten Herrn mit einer Hoffnung schmeicheln, an deren Realisation er selbst nicht glaubte – er am wenigsten! ja, deren Insinuation er zurückwies, als enthielte sie für ihn eine Beleidigung! Noch gestern! Aber heute triumphiert die Wissenschaft und ihr ergebenster Diener. ›Ihr‹ groß und klein geschrieben! Eine Doublette! ha! ha!«

Damit hüpfte der witzige Herr in seinen Wagen. Ich stand noch eine Minute, in Nachdenken versunken. Also des Grafen neuliche Aeußerung über das Befinden der Gräfin und der sonderbare Blick, mit dem er meine ungewollt indiskrete Phrase erwiderte, hatten wirklich eine schwerwiegende Nebenbedeutung für ihn nicht gehabt, und ich blindes Huhn hatte das richtige Korn sofort gefunden! Ein ungeheures Glück, hatte der Sanitätsrat gesagt. Freilich! Und das eine gewisse Entdeckung nicht trüben würde, zu welcher dem Grafen just in den letzten Tagen die Schwatzhaftigkeit des Marquis verholfen hatte?

Hier nun hätte ich am liebsten kehrt gemacht; aber das empfand ich als eine Feigheit, unwürdig eines braven Freundes und Korrespondenten.

Ich trat in das Palais, ließ mich melden und wurde sogleich vorgelassen.

Dasselbe Gemach, dieselbe Situation wie die anderen Male, und was mir das Herz wohl noch schwerer machte, ein besonders freundlicher Empfang. Warum ich mich so lange – notabene seit sechs Tagen! – nicht habe sehen lassen! Man sei einem alten kranken Mann doch vielleicht eine Extrarücksicht schuldig. – Natürlich protestierte ich gegen die beiden Epitheta, die er sich beigelegt: ich fände ihn heute so viel wohler und kräftiger aussehen – was nebenbei keineswegs der Fall war –, und was das Altsein anbetreffe – Hier brach ich ab und erwähnte in dem Tone jemandes, dessen Gedanken einen unwillkürlichen Sprung machen, daß ich vor dem Portal dem Sanitätsrat begegnet sei. Nun geschah, was ich erwartet hatte: der Graf lächelte zerstreut, worauf ich mir erlaubte, ihm die linke Hand, neben der ich saß, sanft zu drücken.

Zu meinem Erstaunen hielt er meine Hand fest, und mein Erstaunen wich einem gelinden Gruseln, als er, die alten guten Augen für einen Moment auf die meinen heftend, der ich, sicher, daß der gefürchtete Moment jetzt gekommen sei, mit rührender Unbefangenheit den Blick erwiderte, in leisem Tone anhob:

»Sie haben sich, lieber Freund, neulich in der Angabe eines gewissen Datums, nach dem ich Sie fragte, geirrt. Dergleichen kleine Irrtümer sind begreiflich, will sagen: entschuldbar, vielleicht obligatorisch, wenn man in sie zu Gunsten eines lieben Jugendfreundes verfällt. Nur daß leider die Welt so bedenklich klein und in der kleinen Welt die Akustik so unbequem groß ist!«

Damit hatte er meine Hand losgelassen.

Ich war entschlossen gewesen, im gegebenen Falle nichts mehr abzuleugnen. Daß mir die Ausführung des Entschlusses so leicht gemacht werden würde, hatte ich freilich nicht erwartet.

»Ich bin Ihnen aufrichtig dankbar, Herr Graf,« fing ich an, »daß Sie mir meine kleine –«

»Vergeßlichkeit,« schaltete er ein. Ich hatte »Notlüge« sagen wollen; verbeugte mich und fuhr fort:

»– nicht nachtragen. Seien Sie versichert, sie hat mich tief genug gereut.«

»Aber, lieber Freund,« erwiderte er, freundlich abwehrend, »Sie nehmen die Sache wirklich zu tragisch. Wir sind, wie verschieden auch an Jahren, doch beide Männer von Welt! Was ist denn geschehen, das in der Welt – der Welt, in der wir leben – nicht alle Tage vorkommt? Ein junger Mann findet eine junge schöne Frau liebenswürdig und verliebt sich ein wenig in sie. Meinetwegen: ein wenig stark. Ich habe das in meinen jungen Jahren auch durchgemacht und nichts dagegen gehabt, wenn die betreffende schöne junge Dame mich nicht abscheulich fand. War sie verheiratet, so wurde die Affaire darum gewiß nicht weniger interessant. In jedem Falle folgt man ihren Spuren, ist von ihrem Gruß beglückt. Nun, und sie – wofür ist man denn jung und schön! – fühlt sich deswegen nicht unglücklich, kommt dem Anbeter entgegen, soweit es der Etikette enggezogene Grenzen verstatten, thut auch vielleicht einmal einen Schritt über diese Grenzen hinaus.«

Das alles hatte der Graf in einer leichten Manier, die mich bei ihm als ganz fremdartig berührte, im Salonplauderton, möchte ich sagen, gesprochen. Jetzt wischte er sich mit der weißen zitternden Hand über die Augen, und der Mann, der nun weiter sprach, war wieder der, den ich kannte.

»Einen Schritt über diese Grenzen hinaus. Was heißt denn das? Ich bin nie ein Libertin gewesen, aber stets geneigt, mich in dem Kampfe zwischen Natur und Etikette – sagen wir meinetwegen Sitte; es kommt in tausend Fällen auf dasselbe heraus – auf die Seite der Natur zu schlagen. Man zwängt sie ein, knebelt sie und wundert sich dann, wenn sie in ihrer Verzweiflung sich aufbäumt und die Bande zerreißt. Und wohl gar, hat sie sie zerrissen, das nicht als ihr gutes Recht betrachtet, sondern sich von einer ungesunden, in der Maßlosigkeit ihrer Prätensionen schwelgenden Hypermoral einreden läßt, sie habe ein todeswürdiges Verbrechen begangen. Erinnern Sie sich einer Unterhaltung, die wir in Montreux über dasselbe Thema hatten, und bei der Ihr Freund mir völlig aus der Seele sprach, während die Gräfin –«

Es war mir peinlich, die Erregung zu beobachten, in welche sich der alte Herr hineingesprochen hatte; um so peinlicher, als ich zu bemerken glaubte, daß er zugleich von heftigen physischen Schmerzen gequält wurde. Ich versuchte abzulenken; er aber fuhr, ohne darauf zu achten, jetzt fast leidenschaftlich redend, fort:

»Mich durchläuft immer ein Schauder, wenn ich dergleichen drakonische Maximen formulieren höre und mir dabei sagen muß: Ist die Möglichkeit ausgeschlossen, daß die Wirklichkeit dich beim Wort nimmt? Und willst du, armes Geschöpf, das nichts verbrochen hat, als der Natur gefolgt zu sein, dich einem zelotischen Gesetz zum Opfer bieten? Und sehen Sie, dieser Fanatismus der moralischen Rigoristen erzeugt dann wieder, als notwendigen Gegensatz, bei den Mildgesinnten eine Denkungsart, die an Schwäche grenzt, vielleicht Schwäche ist. Es wurde damals auf den Herrn exemplifiziert, der der Sünderin vergab. Die Gräfin nannte diese Vergebung ein Wunder. In ihren Augen muß es eines sein. In ihren Augen ist da etwas geschehen, das durch nichts gesühnt werden kann. Aber wenn er sich jemals als des Menschen Sohn bewährte, so war es in dem Augenblicke, als er nicht dulden wollte, daß man ein armes Weib steinigte, weil – weil –«

Ich erschrak aufs heftigste. Bei den letzten Worten war er in Thränen ausgebrochen, die er hinter der vorgehaltenen gesunden Hand vergebens zu verbergen suchte. Plötzlich sank er in den Stuhl zurück, sehr bleich, offenbar mit einer herannahenden Ohnmacht kämpfend. Ich sprang nach der elektrischen Klingel, worauf denn zu meinem Glück alsbald der alte Kammerdiener erschien, dem ich den kranken Herrn überlassen mußte, da ich hier beim besten Willen nicht hätte helfen können.

Das war das Ende einer Scene, die eines Kommentars zu bedürfen scheint und doch für mich so völlig verständlich ist. Die Erregung des Grafen war die Nachwirkung der schändlichen Insinuationen, mit denen ihn die Megäre von Schwester sicher nicht verschont hat. Sie ist ihm – nicht mit Unrecht – die Repräsentantin der Welt, die das Strahlende zu schwärzen liebt. Und er schaudert bei dem Gedanken, von dem Schmutz könne ein Tropfen auf das reine Gewand seiner jungen Gattin spritzen.

Nur daß er in seiner Sorge vergißt, wie hoch sie und er über der Gemeinheit thronen. Ich möchte den sehen, der bei Erwähnung des freudigen Ereignisses, das dem gräflichen Hause bevorsteht, auch nur mit der Wimper zu zucken wagte – –

Während ich das Geschriebene überlese, wird mir peinlich klar, was ich all die Zeit dunkel empfand, daß ich dir, mein armer Freund, mit dieser Relation Schmerzen bereitet habe, im Vergleich zu denen alles körperliche Leid verschwindet. Und daß mein Bestreben, der Sache eine freundliche Seite abzugewinnen, verlorene Liebesmüh gewesen ist.

Aber Liebesmüh doch!

Das wolle bedenken, während vielleicht ein Wort der Verwünschung gegen den Peiniger dir auf den Lippen schwebt!«

* * *

Roderich hatte den Brief, den letzten, aus der Hand fallen lassen, vor sich hinstierend.

Ein Wort der Verwünschung! Ja, beim Himmel! Verwünscht seist du! Und verwünscht das Gaukelspiel der Liebe, mit dem uns ein Teufel narrt, bis er uns in seiner Hölle hat: in den Flammenqualen der Verzweiflung an dem, was uns einst heilig war; in dem Schlammpfuhle des Ekels an unserem entgötterten Dasein. Ah!

Er raffte die Briefe von dem Tischchen zusammen, von dem Boden auf, schleuderte sie in das Feuer und lachte höhnisch laut, als das jetzt zu voller Glut entfachte sie gierig verzehrte.

Nun riß er an den Kleidern nach dem goldenen Medaillon mit ihrem Haar, das er seitdem beständig am Halse trug. Es wollte mit der Rechten allein nicht gelingen, und als er mit der Linken ungestüm nachhalf, zuckte der Schmerz durch seine kranke Schulter mit so wahnsinniger Gewalt, daß er laut aufschrie und weiter geschrien hätte, nur daß er fürchten mußte, der alte Christian oben möchte es hören und herabkommen. Und er konnte jetzt kein Menschenantlitz sehen.

So biß er denn die Zähne aufeinander und raste, leise wimmernd und stöhnend, durch das Gemach nach der Fensterthür, an deren Scheiben Guß auf Guß klatschte, während durch die Ritzen der Sturm höhnend pfiff; zum Kamin zurück, in dem die Flammen lustig knatterten, als würden sie von pausbäckigen Teufeln angeblasen, eine arme Seele darin zu peinigen. Und wieder hin zur Fensterthür; von der Fensterthür nach dem Kamin und – noch gab es ja ein Teufelsmittel gegen die Höllenqual!

Er hatte die Dosis doppelt so stark genommen als die stärkste je zuvor. Mochte kommen, was wollte, und wär's der Tod! So hatte die Marter ein für allemal ein Ende.

Im Lehnstuhl, in den er sich wieder geworfen, halb sitzend, halb liegend, starrte er in die Flammen. Die Schmerzen rasten weiter. Er kannte das. Noch ein oder zwei Minuten; dann kam der Schlaf. Er würde heute lange währen, auch wenn es der Todesschlaf nicht war.

Und unterdessen wird das Feuer ausgehen. Wenn ich mir die Decke da vom Sofa holte!

Ebensogut hätte ich die Kraft, nebenan zu Bett zu gehen.

Und auf dem Deck eines Dampfers kann man doch nicht zu Bett gehen.

Nicht wahr, Georg, das mußt du einsehen, Skeptiker, wie du bist! Weshalb blickst du mich so sonderbar an? Ich habe wieder einmal das Teufelszeug im Leibe?

Ja! ja, ja! Und deshalb, meinst du, erscheint mir la petite Comtesse so schön. Da auf dem Hinterdeck sitzt sie zwischen den beiden Misses Crawford. Wunderlich! die blonden Misses so rot! und die dunkle Comtesse so bleich! So atemlos bleich muß die Prinzessin ausgesehen haben, die den Asra fragte nach seinem Namen, seiner Heimat, seiner Sippschaft. Laß mich den Saum ihres Kleides küssen und sterben! Was geht der graue Gatte mich an? Seit wann ist es nicht mehr erlaubt, auf dem Deck eines Dampfers zu den Füßen einer schönen, jungen Frau zu sterben, der man rite vorgestellt ist? Da! die blonden Misses stehen auf – in the nick of time! Halte mir den alten Herrn hier vorn fest und nenne ihm alle Ortschaften am savoyischen Ufer, eine nach der anderen! Und wenn du fertig bist, fange von vorn an!

Ja, der Genfer See ist schön in dieser sonnigen Vormittagsstunde. Aber wissen Sie, gnädige Gräfin, was noch tausendmal schöner ist, und tausendmal tiefer und blauer? Das sind Ihre Augen. Ich darf es Ihnen nicht sagen – freilich! Aber denken darf ich es doch. Sie denken auch mancherlei, was Sie nicht aussprechen. Ich sehe es an Ihrem kleinen Munde, um den es manchmal so eigen zuckt, und noch mehr an der Stelle Ihrer Stirn – da zwischen den Augen. Sie glauben nicht, wie mich just diese Stelle fasciniert, daß ich wieder und immer wieder meinen Blick darauf wenden muß. Sie ist so seltsam breit, diese Stelle! Da können sich tausend und tausend Gedanken tummeln, bequemer als die tausend und tausend Engel auf der bewußten Nadelspitze.

Sie wollen schon hinein? Lassen Sie mich Ihnen ein Tuch aus dem Salon holen! Sehen Sie, da bin ich schon wieder. Excellenz und mein Freund sind noch eifrig bei ihrer Partie Pikett. Wir können ruhig ein Viertelstündchen hier auf dem Balcon weiter plaudern, bis das Abendrot von der Dent du Midi ganz verblichen ist. Wir sprachen von Ihrer Mädchenzeit. Ich möchte nur immer zuhören. Alles, was Sie sagen, ist so klug und sinnig und Ihre Stimme ist so sanft und süß – so unsäglich süß! Sie hatten nach dem Tode Ihrer Eltern nur den einen Wunsch: in ein Kloster gehen und Nonne werden zu dürfen. Ich könnte Sie mir wohl so denken: wie Sie den Kreuzgang dahergeschritten kommen, gesenkten Hauptes, die Augen tief niedergeschlagen, daß die seidenen dunklen Wimpern die zarte Wange fast berühren, den Rosenkranz in den weißen kleinen Händen. Oder zwischen den Beeten des Klostergartens. Die Morgensonne liegt wonnig auf den Hügeln drüben, während noch blaue Schatten im Thal träumen, durch das sich das Flüßchen zwischen Wiesen und Busch so friedlich windet. Das sanfte Plätschern des braunen Wassers an den großen weißen Steinen dringt bis zu Ihnen empor, und Sie denken an Goethes »Ach, wüßtest du, wie's Fischlein ist so wohlig auf dem Grund.« Und jetzt kommt's von hoch her – ein paar fröhliche, im weiten Aether verklingende Töne. Und Sie schauen empor und seufzen: »Wenn ich ein Vöglein wär!«

Sie lächeln und spielen mit dem großen Diamanten an Ihrem kleinen Finger. Ach! man kann große Diamanten tragen und eine Gräfin sein, und das Leben ernst, sehr ernst nehmen. Das ist es ja, was mich so allmächtig zu Ihnen zieht: daß ich in Ihrer Seele, der scheinbar so stillen, ruhigen, Tiefen ahne, unergründlich, wie sie der See da vor uns bergen soll. Kennen Sie die Blaue Blume Heinrichs von Ofterdingen? Ich habe sie, wie er, mein Leben lang gesucht und nicht gefunden. Wenn sie nun auf der Tiefe Ihrer Seele blühte, die Blaue Blume?

In dem Walde über Glion, vertrösten Sie mich? Ja, aber nun laufen wir doch bereits zwei Stunden in dem Walde umher, und ich sagte gleich: die Partie würde zu anstrengend für Sie sein. Ihr Herr Gemahl scheint verdrießlich. Es ist doch nicht meine Schuld, daß er den Wagen so weit unten hat halten lassen. – Herr Graf! Herr Graf! Er hört nicht. So gehen wir ihm langsam nach! Stützen Sie sich auf meinen Arm! Nein! fester, fester! Ich fühle Ihre Hand ja gar nicht. Und wie blaß Sie sind! Sie zittern! Lili, kann es denn sein? Lili! du liebst mich! Und ich dich! Vom ersten Blick in deine Augen! Dich! dich!

Um die Lippen des Träumenden spielt ein wonnesames Lächeln. Seine Lippen haben zum erstenmal ihre weichen, kühlen Lippen berührt, trinken die unermeßliche Seligkeit der ersten Küsse, während über ihnen aus der Krone der alten Eiche die Amsel ihr süßes Abendlied singt und aus dem Waldthal unter ihnen, eben noch hörbar, die Stimme des Grafen kommt, der nach dem Kutscher ruft.

Dann schwindet das Lächeln und verwandelt sich in finsteren Ernst. Sie, die er liebt mit jedem Schlage seines Herzens, jedem Tropfen seines Blutes; die ihm ist, was dem Verwundeten auf dem Schlachtfeld der Labetrunk, den ihm ein Kamerad an die verdörrten Lippen bringt; der Duft, der dem Seefahrer aus den Blumenwäldern der ersehnten Küste entgegenweht; sie, in deren holder Nähe er zum erstenmal gelebt hat; ohne die ihm das Leben nicht eines Strohhalmes Wert noch hat – sie ist ihm entrissen – er ist allein.

Und steht, düstere, verregnete Tage lang, am Fenster seines Hotels in Genf und sieht auf dem breiten Strom die großen lateinischen Segel der Fischerboote durch den grauen Nebel an sich vorüberschweben.

Endlich, endlich der sehnsuchtsvoll erharrte Brief – ein paar traurig-süße Zeilen:

 

»Geliebter! zürne mir nicht! Es mußte sein. Ich durchweine meine Nächte. Jeder Gedanke gehört dir, jeder Pulsschlag dir. Ich strecke meine Hand aus und denke, du müßtest sie ergreifen. Ich starre auf die Thür und meine: sie wird sich öffnen, und er steht auf der Schwelle und stürzt sich in deine Arme. Wo ich auch bin, das Gedenken deiner umgiebt mich wie eine wonnige Luft; ich trinke dich mit jedem Atemzuge. Ich liebe dich! Ich liebe dich! Und dennoch. Lieber, Geliebter, es mußte sein!«

 

Dann ist es nicht mehr das Hotelzimmer in Genf. Ueber ihm rauschen im Abendwind die Wipfel der uralten Kastanien auf der Wallpromenade von Nyon. Von den wenigen Vorübergehenden achtet keiner auf ihn; und gewiß thut das auch nicht das junge Liebespärchen, welches da hinten, wo die Schatten noch dunkler lagern, auf einer der Bänke, die Arme verschlingend, voneinander Abschied zu nehmen scheint. Der Bursche sucht das Mädchen mit leisen Worten zu trösten, obgleich es ihm wohl selbst an Trost gebricht. Denn wiederholt versagt ihm die Stimme; das Mädchen schluchzt; sie pressen sich noch inniger aneinander und küssen sich die Thränen von den Wangen.

Er muß immer wieder nach dem Paare blicken: bietet es ihm doch ein Bild des eigenen Leides, nur daß seines um so viel größer ist. Sie hier dürfen voneinander Abschied nehmen, und für sie giebt es auch wohl ein Wiedersehen. Seinen Abschied hat er genommen in Gegenwart des alten Mannes mit ein paar höflichen, nichtssagenden Phrasen, einer letzten stummen Verbeugung; und daß sie einander nicht wiedersehen sollen, er hat es ja schwarz auf weiß in dem Briefchen da in der Tasche, das er zerknittert hat in wildem Zorn.

Und nun trotzdem wieder hervorholt und, dicht an der Brüstung stehend, im letzten Schein des Abends liest zum hundertstenmal wie eine wichtige Handschrift, die man nicht enträtseln kann.

Und steht doch da ganz leserlich:

»Wir reisen morgen nach Venedig. Ich beschwöre dich: folge uns nicht!«

Er hat das Blättchen zerrissen, die Fetzen über die Brüstung geschleudert und starrt auf See und Gebirg, über die sich der Schleier der Nacht senkt.

Auf einmal, rechts hin, in der Ferne, am äußersten Horizont flammt es auf in glühendem Purpur: der Gipfel des Montblanc, der von dem Eisschild seiner Firnen das Licht der Sonne, die längst von der Erde geschieden ist, glanzvoll zurückstrahlt.

Ihm ist der herrliche Anblick eine Offenbarung. Dunkel war es in ihr, als sie die trostlosen Worte schrieb; dunkel in ihm, als er sie las. Aber hoch und hehr aus der Nacht der Verzweiflung leuchtet das Himmelslicht der Liebe, das, einmal geboren, nicht wieder erlöschen kann. Ich folge dir, und ob du, verzweifelt, wie du bist, es mir tausendmal verbietest! Ich folge dir bis an das Ende der Welt!

Und er ist ihr gefolgt und quält sich nun im Traum hin auf der unendlichen Fahrt von Genf nach Venedig, von Station zu Station, immer allein im Coupé, ruhelos, schlaflos; und martert von neuem seine träumende Seele, wie er damals die wache zermartert in Reue über sein wahnwitziges Beginnen und fürchterlicher Sehnsucht nach ihr und Zweifel an ihrer Liebe und Hoffnung, die sich nicht töten lassen will.

Dann ist er nicht mehr allein im Coupé. Sie sitzt ihm gegenüber; er hält ihre beiden kleinen Hände in den seinen und fühlt die Kälte der Finger durch die Handschuhe hindurch. In dem Schein der Lampe über ihnen ist ihr Gesicht so bleich. Und aus dem bleichen Gesicht blicken ihn die großen Augen unverwandt traurig an. Und dann und wann rinnt eine Thräne aus den großen Augen über das bleiche Gesicht. – Wie soll es nun werden, Geliebte? – Ich weiß es nicht. – Und wenn – wenn der Graf sterben sollte? – So bin ich seine Mörderin. – Wie seltsam redest du, Herz? – Habe ich es nicht gewünscht? War es nicht mein erster Gedanke, als ich heute morgen das Telegramm las? Das kann mir Gott nimmer verzeihen. – Gott ist barmherzig. – Für die schlaffen Herzen, die sich alles selbst verzeihen. – Geliebte, auf meinen Knien flehe ich dich an: kehre nicht nach Wien, nicht zu ihm zurück! – Während er vielleicht im Sterben liegt? – Er ist dir gestorben, als … – Um Christi Blut erinnere mich nicht daran! – Lili, geliebte Lili, es war die Verklärung meines Lebens; für dich die Grenze, die dein früheres Leben von dem jetzigen schied. Lili, du kannst dich nicht wieder aus diesen Armen lösen – es ist unmöglich. Mein Weib bist du. Unser Bund ist heilig, ob auch kein Priester den Segen darüber gesprochen hat. Laß die Toten ihre Toten begraben! Da ist das Signal! In einer Minute sind wir an der letzten Station vor Wien. Steige mit mir aus! Es gilt dein Leben und meines. Thust du es nicht, scheidest dich jetzt von mir – eine fürchterliche Ahnung sagt mir: wir sehen uns im Leben nicht wieder. – Wir werden uns wiedersehen. – Du meinst in jenem Leben, an das ich nicht glaube. – Ich glaube daran. – Lili, schwöre mir, daß du nicht sterben willst! – Ich schwöre dir: ob lebend oder tot, du sollst mich wiedersehen. – Das soll mein Trost sein in dem namenlosen Weh dieser Stunde? – Ich habe keinen anderen. – So wollte ich, der Zug stürzte hier von der Brücke hinunter in den Abgrund und begrübe uns beide unter seinen Trümmern.

Und der Wagen, in welchem sie sitzen, schwankt wie ein steuerloses Boot, das von Welle zu Welle geschleudert wird. Ein furchtbarer Krach, Wagen schmettert in Wagen hinein. Die Lampe erlischt und flammt plötzlich wieder als flackerndes Kaminfeuer auf. –

Von dem furchtbaren Sturmstoß, der das Haus getroffen, war der Träumer von seinem Stuhl in die Höhe gefahren, stierte mit irren Blicken um sich und strich sich ein paarmal über die brennende Stirn, die von kaltem Schweiß bedeckt ist.

Es dauerte Minuten, während er, ohne sich zu regen, still vor sich hinblickte, bis er sich in die Wirklichkeit zurückfinden konnte. Schlimm, sehr schlimm: das Morphium brachte keinen Schlaf mehr, machte ihn nur noch träumen. Er hatte das alles nur geträumt – natürlich! Aber wie seltsam deutlich es gewesen war! Und lange konnte es auch nicht gewesen sein – ein paar Minuten höchstens, vielleicht nur Secunden: die brennenden Scheite lagen noch genau so wie vorhin; auf den Spitzen der gelben Flammen, die gierig zur Esse empor züngelten, wirbelten noch leichte Aschenfetzen der verbrannten Briefe genau so wie vorhin. Die kleinste Spanne Zeit war groß genug gewesen, das Leben von drei Wochen einzuschließen mit all seinem Jammer, seinen Wonnen!

Und das Mittel, das seine volle Wirkung heute schuldig geblieben, die Schmerzen hatte es getilgt, die seelischen, wie die des Körpers. In der Schulter kein Nagen und Bohren mehr, in dem Herzen kein Grollen und Wüten mehr der wilden Leidenschaft, mit dem er die Briefe gelesen und in die Flammen geschleudert hatte. Was denn auch wäre Georgs Verbrechen gewesen? Was denn hätte er gesagt, gethan, was er selbst, im umgekehrten Falle, nicht vermutlich ebenso gesagt und gethan haben würde? Der Narben lacht, wer Wunden nie gefühlt. Und wenigstens, wie tief diese seine Wunde war, das konnte Georg nicht wissen.

Er sah nach der Uhr; es ging stark auf drei. Da die Schmerzen sich ausgetobt hatten, würde auch wohl der Schlaf kommen. Aber den Karo draußen wollte er erst hereinnehmen. Der würde ihn mit seinem Winseln und Heulen doch vielleicht nicht schlafen lassen. Da mochte denn der arme Köter am Feuer sein nasses Fell trocknen, und ihm selbst würden ein paar frische Atemzüge die Dumpfheit nehmen, die noch immer auf seinem Gehirn lag.

Er setzte sich die Mütze auf und öffnete die Fensterthür. Der Regen hatte für den Moment ausgesetzt, nur der Sturm wütete weiter. In dem Windstoß, der durch die geöffnete Thür fuhr, drohte die Lampe auf dem Tisch zu erlöschen. Eilig schloß er die Thür und tastete sich in der matten Helligkeit, die aus dem Zimmer kam, von der Terrasse die paar Stufen in den Garten hinab. Im Garten war es völlig finster; doch hatte er mittlerweile die wenigen Wege gut kennen gelernt: den schmaleren, der um das Rondel, und den breiteren, der von dem Rondel nach dem Gatterthor führte. Von dem Hochwalde her hinter dem Hause kam der Donner des Orkans – die Kanonen von Vionville hatten so laut nicht gebrüllt; oben in den Lüften raste die wilde Jagd dahin; in den hohen Pappeln, die unsichtbar neben ihm in die Finsternis aufragten, knarrte und knackte es, als hielten sich da Riesen in tödlichem Ringkampf umkrampft; ein paarmal stolperte er über herabgeschlagenes trockenes Geäst, wie über Leichen auf einem Schlachtfeld; aus der Hütte an der Gatterpforte heulte ihm Karo entgegen, der ihn hatte kommen hören und nun, als er herantrat, die Kette zu lösen, in ein Freudengewinsel ausbrach, um dann, winselnd, bellend, in tollen Sätzen, seine Dankbarkeit auszutoben.

Ja, ja, Karo, 's ist eine Nacht, die keinem Gutes bringt, weder Mensch noch Tier. Laß es gut sein! Hab es gern gethan. Lauf' nur voraus! Ich komme gleich nach.

Der. Hund war nach dem Hause zu vorausgesprungen; er lehnte noch an dem niederen Gatterthor, nach dem Licht zu blicken, das, von der halben Höhe des Hügels etwa, durch die Finsternis zu ihm heraufschimmerte. Aus einer Laterne jedenfalls, mit der jemand sich den Hügel heraufleuchtete, denn das Licht schien näher zu kommen. Vielleicht aus dem Gehöft oben am Waldesrand einer, der in die Apotheke hinab gemußt hatte – es sollte ein Kind da todkrank sein – oder mit dem Zuge gekommen war, der vom Süden her um diese Stunde das Städtchen passierte; wohl schon passiert hatte: die Lichter unten am Bahnhof, die eben noch hell gebrannt, erloschen plötzlich, und linksher von dem Tunnel, den der weiter eilende Zug passieren mußte, kam auf den Schwingen des Sturmes ein geller Pfiff.

Gleichzeitig mit einem neuen Regenguß. Roderich schlug den Rockkragen in die Höhe und schritt eilig durch den Garten zurück, geleitet jetzt von dem matten Schein der Lampe, der ihm durch die Fensterthür entgegendämmerte.

Nun war er wieder im Zimmer. Karo hatte sich vor dem Kamin hingestreckt, von den langen Vorderbeinen die Nässe leckend. Er war an dem Schreibtisch stehen geblieben und blickte verwundert auf das große Blatt mit seinen Versuchen der Uebersetzung des Gedichtes von Robert Browning: Mesmerismus! Sie haben ja hinterher gesagt, es solle nur Schwindel gewesen sein. Sie nennen alles so, was sie nicht fassen und begreifen. Ihnen ist auch der Glaube Schwindel; und doch, wer ihn hat, er versetzt Berge mit ihm. Ich hatte den Glauben verloren an dich und deine Liebe; den Glauben an die holden Worte, die du so leise sagtest – leise wie das Plätschern der Ruder –, als ich dich in jener Nacht zurückbrachte, dein geliebtes Haupt an meiner Brust lag und mein Arm deinen süßen, reinen Leib umschlang: Ich wußte nicht, was Liebe war, bevor ich dich gesehen. In meinem Gatten habe ich stets nur einen Vater verehrt, er hat an mir nur eine geliebte Tochter in seinem vereinsamten Alter haben wollen von der ersten bis zu dieser Stunde. – Lili, kannst du mir vergeben? Wir Männer, wir verlieren den Kopf in solchem Irrsal, weil unser Herz nicht gut und rein ist. Du bist gut und rein, und was du auch beschließen mögest, uns zu lösen aus dieser gräßlichen Verstrickung, es soll das Rechte sein, und ich will es heilig halten.

Abermals wandten sich seine Augen auf das Blatt neben dem aufgeschlagenen Original. Hatte denn er das gekritzelt, wie ein Schulbube, der mit dem deutschen Aufsatz nicht fertig werden kann und nun so halbe Sätze und einzelne Worte, wie sie ihm durch den wirren Kopf gehen, aufs Geratewohl hinschreibt? Aber das alles hatte ja innigen Zusammenhang! das ließ sich doch herunterlesen, als stände es da in seiner deutlichsten Handschrift: Die folgenden Verse sind die Übertragung der Strophen I bis VII und XXIV von Brownings » Mesmerism«.

 

Was ich geglaubt, ist wahr!
                Habe jetzt die Macht,
                Was ich mir gedacht,
Auf eine Weise, so neu, wie rar,
Mir zu schaffen mit Haut und Haar.

Lange nach Tages Schluß,
                Wenn der Holzwurm pickt
                Und die Grabuhr tickt;
Auf den Kohlen liegt schwarz der Ruß,
An die Fenster klatscht Guß auf Guß;

Klagend die Grille geigt;
                Und das Haus erkracht,
                Und ein Fuß so sacht –
Ein Fuß, der nicht da – auf der Treppe schleicht,
Riegel von selbst zurücke weicht;

Und die Spinne wie toll und dumm,
                An dem Faden fest
                Sich jetzt fallen läßt –
Bein' und Arme gestreckt und krumm –
Auf den Tisch, Gott weiß, warum;

Wenn durch die Nacht, so rauh,
                Ich da saß und sann
                Und Gedanken spann,
Spann um die eine, die liebste Frau,
Bis ich fühlte, mein Haar ward grau;

Fühlte: ich hab' sie gebannt
                Auf die Schwelle da,
                Mir zum Greifen nah,
Von des blauschwarzen Haares Band
Zu dem Fuße im Lichtgewand –

Hab' es gebannt, mein Glück:
                Sie von Kopf zu Fuß
                Nach des Schicksals Schluß;
Nimmer und nimmer kann sie zurück
Vor dem starren, glühenden Blick –

Jetzt! jetzt muß es sein!
                Du hast keine Wahl!
                Ruf s zum dritten Mal:
Jetzt! – Bei der Lampe Dämmerschein
Lautlos tritt sie herein –

 

Er legt das Blatt sanft auf den Tisch und starrt vor sich hin –

Wenn das möglich ist: ein paar Tropfen geheimnisvollen Saftes in unser Blut gemischt, uns solche Träume träumen läßt; im Wachen unsere geistige Fähigkeit zu einer Höhe steigern kann, die wir noch vor einer Stunde für unerreichbar hielten – was ist dann unmöglich? Einen Schritt nur weiter, und wir sind losgelöst von Raum und Zeit; unser Denken zwingt die durcheinanderwirbelnden Atome sich zu formen, wie das Wasser sich zur Kugel ballt in der Hand der Frau des hohen Brahmen; wahr wird, was wir hoffen; wahr ist, was wir glauben –

Das Herz geschwellt von einem Sehnsuchtsweh, daß ihm die Brust zu springen droht, breitet er die Arme aus und läßt sie sinken, als jetzt Karo, sich halb von seinem Lager am Kamin aufrichtend, unwillig nach der Fensterthür knurrt.

Ist jemand im Garten?

Ein jäher Schrecken, der doch zugleich überschwänglich freudiges Hoffen ist, rieselt ihm durch die Adern: die Tiere spüren die Nähe der Geister früher als der Mensch!

Er stürzt nach der Fensterthür. Durch den Garten, rechts um das Rondel herum, kommt ein Licht, das ein Mann in einer Laterne am Gürtel trägt. Jetzt verschwindet es um die Ecke des Hauses; die heisere Schelle an der Hausthür wird gezogen. In demselben Moment hört er auch schon den Schritt seines alten Christian die steile Treppe herabpoltern.

Das kann nur von Georg sein! Kann sich nur um Lili handeln! Dann aber –

Unfähig sich zu rühren, starrt er mit Augen, die sich aus ihren Höhlen drängen wollen, auf die Thür nach dem Corridor, von wo die Schritte der Kommenden nah und näher tönen –

Langsam, geräuschlos öffnet sich die Thür.

Sie schreitet herein. Der schwarze Mantel fällt von ihrer Schulter. Und steht nun da in weißem Gewande, wie in jener seligen venetianischen Nacht, als sie den Verzweifelten überraschte in der einsamen Wohnung an der Ripetta: lächelnd in holder Verschämtheit, die strahlenden Augen, flehend halb und halb gewährend, auf ihn gerichtet.

Lili! meine Lili!

Deine Lili! Ich habe dir geschworen, zu kommen, wenn dein Herz nach mir schrie, wie meines nach dir.

Von ihren Lippen schwindet das Lächeln; aus ihren Augen der Glanz. Leiser und leiser wird die süße Stimme:

Ich konnte nicht weiter leben ohne dich, und mit dir leben durft ich nicht. Da sind wir denn lieber gestorben, ich und unser Kind.

Wie verhauchender Aeolsharfenklang sind die letzten Worte gekommen; die holde Gestalt scheint in Nebel zu zerfließen, durch den nur noch wie Sterne ihre Augen schimmern. Dann sind auch die erloschen.

Abermals thut sich die Thür auf, diesmal mit dem häßlichen Knarren der verrosteten Angeln, an denen Christian Mühe und Oel bisher verloren hat. Hinter Christian auf der Schwelle steht ein Mann, der eine kleine Laterne am Gürtel trägt.

»Eine Depesche, Herr Baron,« sagt der Mann, vortretend.

* * *

Der Baron antwortet nicht, aber in dem seltsamen Blick, mit welchem er die Depesche entgegennimmt, glaubt der Mann einen Vorwurf zu lesen, als habe er sie früher erwartet.

»Sie wäre auch schon früher hier gewesen,« sagt er; »nur die Leitung zwischen hier und Suhl hatte der Sturm unterbrochen. Da hat sie der Schnellzug von Suhl mitgebracht. Sie ist dann sofort expediert. Ich habe mich geeilt, was ich konnte. Unter einer Viertelstunde macht keiner den Berg herauf bei der Dunkelheit und dem Unwetter.«

Ob den Herrn Baron die Antwort befriedigt hat, kann der Mann nicht wissen, denn der steht noch immer unbeweglich, mit demselben unheimlichen Blick ihn ansehend. Auch das Dreimarkstück, das Christian ihm jetzt in die Hand drückt, hat der Alte ohne des Herrn Barons Geheiß von etwas losem Gelde auf dem Tisch genommen. Der Herr Baron und der Alte müssen wohl sehr gut miteinander sein.

Der Mann ist gegangen. Noch immer regt Roderich sich nicht; Christian hat sich noch an dem Tisch zu schaffen gemacht, im Falle der Herr einen Befehl für ihn haben sollte. Aber es kommt nichts. So wendet er sich wieder nach der Thür und hat bereits den Drücker in der Hand, als er seinen Namen hört.

»Gnädiger Herr?« sagt er, sich mit einem Gefühl der Erleichterung wendend. Gott sei Dank! so hat doch der Herr wenigstens dies grauliche Schweigen gebrochen.

»Christian, das war ein Mensch von Fleisch und Blut, der da eben zur Thür hinausgegangen ist?«

Dem Alten läuft ein Schauder über den Rücken. »Ja, freilich, gnädiger Herr!« stammelt er.

»Und du bist sicher, daß du da stehst – da neben dem Tisch – und nicht oben in deinem Bette liegst?«

»Ach, du mein Gott, gnädiger Herr!«

»Brauchst nicht gleich zu jammern, Alter! Es ist nur: ich habe heute nacht im Lehnstuhl so sonderbare Sachen geträumt. Da könnte ja das eben –«

Er bricht jäh ab, ein Zucken fliegt durch seinen Körper. Nein, dies war kein Traum! Ein Mann war hier im Zimmer gewesen, der hatte ein Telegramm gebracht. Er selbst hält es ja hier in seiner rechten Hand.

Und abermals zuckt er zusammen.

»Komm! komm!« murmelt er fast unhörbar. »Du bist ein verständiger alter Mann und hast deine Sinne in Ordnung. Mach's auf! und lies es mir!«

Er hat Christian, der herangetreten ist, das zusammengefaltete Blatt hingereicht, und Christian es mechanisch entgegengenommen, sich in seiner Angst erst jetzt darauf besinnend, daß seine Brille oben auf dem Tischchen an seinem Bette liegt und er ohne Brille nicht lesen kann.

Er stammelt es durch die bebenden Lippen.

Roderich streicht sich über die Stirn.

Der Alte hat recht. Es wäre auch grausam, von dem treuen Menschen zu verlangen, daß er seinem Herrn das Todesurteil vorlesen soll.

»Gieb!«

Er nimmt dem Alten die Depesche wieder ab und will sie öffnen. Die zuckenden Hände versagen den Dienst. In dem Augenblick erlischt die Lampe, die während der letzten Minuten nur noch einen trüben Schein um sich gebreitet hat.

»Ich will ein Licht holen,« sagt Christian. »Ich habe eins auf dem Flur.«

»Es ist nicht nötig. Nimm's und leuchte dir wieder damit hinauf. Brauchst auch hier keines anzuzünden – das Feuer brennt hell genug. Ich finde dabei schon zu Bett. Die Depesche kann ich zur Not auch noch lesen. Es ist nichts Wichtiges – von Herrn von Massow. Er wird sich für einen der nächsten Tage anmelden – schrieb er mir schon in dem letzten Briefe. Du kannst morgen das Zimmer auf dem anderen Giebel zurechtmachen. Er wird gern vorlieb nehmen. Wieviel Uhr haben wir? Halb vier? So spät schon? Nun, Alter, mach, daß du zu Bett kommst! Ich bin zum Umfallen müde. Gute Nacht! Und laß mich morgen ausschlafen! Ich hab's wirklich nötig. Karo kann hier bleiben. Gute Nacht!«

Er hat Christian die Linke gereicht, während er die Rechte, in der er noch die Depesche hält, an den zum Gähnen verzogenen Mund führt. Der Alte ist beruhigt. Der gnädige Herr hat wieder einmal eine zu große Portion von dem Gift genommen gehabt; aber die schlimme Wirkung ist vorüber. Er spricht jetzt ganz vernünftig und hat beinahe sein gewöhnliches Aussehen.

»Aber der gnädige Herr legen sich auch wirklich gleich hin?«

»Ja, ja!«

Es hat etwas ungeduldig geklungen. Der Alte wagt nicht länger zu zögern. Er wirft nur noch einen Blick auf das Feuer im Kamin: es brennt wirklich hell genug; bei seinem Schein kann er ganz gut in sein Bett nebenan finden.

Er ist gegangen.

Roderich starrt nach der Thür, die sich hinter dem Alten geschlossen: die Thür, in der sie erschienen ist, ihm ihren Tod zu verkünden. Es war eine Hallucination – natürlich! in der Konsequenz der Träume, die er in dem Morphiumrausch geträumt. Und die so viel konsequenter gewesen sind als sein waches Denken. Hätte er ihr Bild und Wesen sich nur einmal im Wachen so deutlich machen können wie eben im Traum, er würde gewußt haben, daß sie sterben mußte; daß sie weder auf ihr Recht, sich dem geliebten Mann ganz zu eignen, verzichten, noch bei dem Greise von seiner alles verzeihenden Gnade weiter leben konnte in dem Bewußtsein ihrer Schuld; mit dem Zeugen ihrer Schuld unter dem Herzen; in dem Verdacht ihrer Schuld, der sich in dem finsteren Gemüt der gräflichen Schwester schon zu regen begonnen hatte und nun so weiter um sie her in der Gesellschaft zischeln und höhnen würde. Gemeine Seelen mochten so weiter leben; sie konnte es nicht und – sie mußte sterben.

Er hat sich wieder in den Lehnstuhl am Kaminfeuer geworfen und öffnet die Depesche mit fester Hand:

 

»Es ist besser, du erfährst es gleich und durch mich. Die Gräfin ist heute abend zehn Uhr am Herzschlag sanft verschieden. Geheimrat Herzinger brachte die Nachricht selbst in den Klub. Er fürchtet für das Leben des Grafen. Ich beschwöre dich: nimm deine ganze Kraft zusammen! Ich reise morgen früh mit dem ersten Zuge und bin Nachmittags fünf Uhr bei dir.«

 

Er läßt das Blatt auf die flammenden Scheite fallen, von denen alsbald ein paar graue Aschenfähnchen in den Schlot emporwirbeln. Ein schmerzlich lautes Stöhnen kommt aus seiner Brust. Der Hund, der bereits ruhig geschlafen hat, hebt den Kopf und blickt ihn fragend an.

»Ja, du gutes Tier, so sieht ein Mörder aus. Einer, der aus wahnsinniger Leidenschaft ein holdes Weib gemordet hat, dem er nicht wert war, auch nur an den Saum ihres Kleides zu rühren. Und verstehst du, wenn das nun so weiter auf meiner Seele brennen sollte, so wäre mein Leben elender als das des elendesten Hundes. Verdient hätt ich's ja. Aber um ein Hundeleben zu führen, dazu hat sie mich denn doch zu lieb gehabt und hat sicher gewußt, daß ich's thun würde, und so darf ich es thun. Du wirst ein bißchen erschrecken, aber du bist ein gutes dummes Tier und wirst dann ruhig weiter schlafen. Der Alte oben! Er wird's nicht hören vor dem Spektakel da draußen, oder denken, es ist ein morscher Ast vom Baum geschlagen. Es stimmt ja auch; nur daß es einer vom Baum der Menschheit ist. Der hat keinen Teil mehr an dem dürren Ast und der dürre Ast nicht an ihm. So denn: weg damit.«

* * *

Der alte Christian hatte es nicht gehört vor dem Sausen und Heulen des Sturmes um sein Giebelzimmer und dem Klappern der Ziegel auf dem Dache. Aber nach einem kurzen Morgenschlummer hatte ihn doch die Sorge um den Herrn geweckt. Er war auf leisen Sohlen die Treppe hinabgeschlichen und hatte sich über das laute Knarren von ein paar Stufen geärgert. Denn in dem Hause war es totenstill und draußen auch: der Sturm mußte sich in den paar Stündchen, die er geschlafen haben mochte, völlig gelegt haben; und der Herr, wenn er nicht gerade das Teufelszeug im Leibe hatte, schlief, seitdem er von der Unglücksreise zurück war, so erbärmlich, daß man es schon gar nicht mehr schlafen nennen konnte.

Damit hatte er denn ganz sacht die Thür zum Wohnzimmer halb geöffnet. Ob er sich's nicht gedacht! Er war wieder einmal nicht zu Bett gegangen! Da saß er noch in dem Lehnstuhl am Kamin, in dem doch sicher die letzte Kohle jetzt längst erloschen war, während das blasse Morgenlicht schon durch die Fensterthür dämmerte!

Der Hund am Kamin richtet sich auf, krümmt den Rücken, streckt sich, wedelt mit dem langen Schweif, kommt an die Thür, beschnuppert den Alten und kehrt dann wieder zu dem Schlafenden zurück, dem er die herabhängende Hand leckt.

»Ja, ja!« brummt der Alte; »wir müssen ihn aufwecken. Er erkältet sich ja auf den Tod.«

Er tritt vollends ein und an den Schlafenden heran, der, den Kopf vorübergeneigt, dasitzt.

»Herr Bar–«

Das Wort stockt ihm in der Kehle. Das Gesicht ist so grausam bleich, und die halbgeschlossenen Lider heben sich nicht, trotzdem der Hund plötzlich jämmerlich zu winseln beginnt.

Dem Alten schlottern die Knie; auf dem Kopfe sträubt sich ihm das bißchen graue Haar; er prallt entsetzt einen Schritt zurück. In dem Moment stößt sein Fuß an etwas, das unter der herabhängenden Hand auf dem kleinen Teppich gelegen und das ihm der Karo bis jetzt verdeckt hat: eine Pistole von den beiden über dem Sofa an der Wand, wo jetzt nur noch die andere hängt, wie er sich mit einem irren, rat- und hilflosen Blick überzeugt.

Als ob es hier noch etwas zu raten gäbe! hier noch zu helfen wäre!

Der Alte hat schon dem gnädigen Herrn weiland die Augen zugedrückt; jetzt muß er auch dem Sohne den letzten Liebesdienst thun. Dann faltet er die welken Hände und beginnt das Vaterunser zu murmeln.

Als er zu dem »Und vergieb uns unsere Schuld« gekommen ist, kann er nicht weiter. Es ist, als wolle er den Herrn anklagen. Dazu hat er kein Recht – er nicht, der alte Diener nicht – einen so lieben, so gütigen Herrn, der immer ein Herz gehabt hat für die Unglücklichen und selber nun zuletzt so grenzenlos unglücklich hat werden müssen.

Er sinkt in die Knie und drückt sein Gesicht auf die bleiche kalte Hand, die im Schoß des Toten liegt.

Dann erhebt er sich mühsam und tritt an den Tisch, auf dem er schon gestern abend einen großen weißen Bogen Papier hat liegen sehen. Gewiß hat der Herr, ehe er's that, einen letzten Befehl darauf geschrieben.

Er nimmt das Blatt auf; aber, ob er es gleich in Armeslänge von sich hält, er kann von den durcheinander gewirrten Worten keins entziffern.

Und das eine, mit großen lateinischen Buchstaben an den Kopf des Bogens geschriebene, das er endlich mühsam zusammenbuchstabiert hat, versteht er nicht.



 << zurück weiter >>