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A ber Ihr wollt doch unmöglich schon fort, Ihr Herren? sagte Gottlieb.

Es ist hohe Zeit, sagte der Assessor Stricker, sich erhebend und die Spitzen seiner schlanken Finger mehrmals aufeinander drückend.

Die gnädige Frau hat ganz zweifellos schon einige Male leise gegähnt, sagte der Lieutenant von Berkenfeld, mit einem Blick zärtlichen Vorwurfes nach der jungen Dame in der Sophaecke.

Nonsens, sagte Gottlieb; Emma ist munter wie eine Lerche. Sehen Sie doch nur die Augen! Geh', Emmy, hol' uns noch ein wenig Zucker, Kind!

Die junge Frau erhob sich aus ihrer Ecke und ging nach dem Büffet, das im Hintergrunde des großen und stattlichen Gemaches stand.

Thut den Frauen gut, so eine kleine Motion, sagte Gottlieb mit leiserer Stimme; schlafen sonst gar zu leicht ein. Merkwürdig, wie man bei gutem Grog und guten Cigarren einschlafen kann! Aber die Weiber, die Weiber! es ist ein Jammer mit den Weibern! Es fehlt ihnen Allen so der rechte Sinn für die tiefe Poesie, die aus einem beinahe leeren Glase heraufblinkt; sie haben kein Herz dafür, keine Seele, keine Eingew–

Was schwätzest Du da wieder einmal, Du alter, schlechter – breitschultriger Mann, sagte Emmy, indem sie die Zuckerschaale auf den Tisch stellte und ihrem Gatten dabei einen leisen Schlag auf die vornübergebeugten, in der That ungewöhnlich breiten Schultern gab.

Schilt nur nicht auf meine Schultern, Emmy, sagte Gottlieb; Du weißt, daß Du es einzig und allein meinem breiten Rücken verdankst, wenn Du in diesem Augenblick nicht mehr Fräulein Emmy Jäger, von der Firma Jäger, Breitkopf u. Co., sondern Frau Gas-Direktorin Roland bist.

Ah bah! sagte Emmy.

Aber, Emmy, Tu kannst doch nicht leugnen, daß ohne meine Schultern –

Gottlieb, Du bist unausstehlich, sagte Emmy, indem sie einen schwachen Versuch machte, beleidigt auszusehen.

Sie machen uns in der That neugierig, sagte der Assessor Stricker, der sich längst wieder gesetzt hatte.

Was ist's mit Ihren Schultern, Roland? sagte der Lieutenant von Berkenfeld.

Nichts ist, gar nichts; sagte die junge Frau eifrig; Gottlieb ist ein Schwätzer, ein Fanfaron Aufschneider, Maulheld. – Anm.d.Hrsg., ein Renommist –

Nein, das geht zu weit! Ihr Herren, jetzt sollt Ihr selber hören und urtheilen, ob diese kleine, ein halbes Jahr alte Frau hier berechtigt ist, mich, ihren lebenslänglichen Gatten, mit solchen Ehrentiteln zu schmücken; und ob ich die Bescheidenheit verletze, wenn ich behaupte, daß ich nicht meinem Witz, nicht meinen Kenntnissen, nicht meiner Liebenswürdigkeit, sondern einzig und allein diesen meinen breiten Schultern und den Armen, die daran hängen, mein einträgliches Amt und meine unverträgliche Frau verdanke.

Lassen Sie uns hören! sagte der Assessor.

Die gnädige Frau giebt Ihnen die Erlaubniß, sagte der Lieutenant.

Meinetwegen, sagte Emmy.

Sie hatte sich wieder in die Sophaecke gesetzt und that, als ob sie schmollte; aber der Lieutenant sah nicht ohne einige Wehmut, daß die sanften Augen der jungen Frau mit sehr freundlichem Ausdruck auf der mächtigen Gestalt ihres Gatten ruhten, der den dampfenden Inhalt seines Glases noch einmal umrührte, ein paar blaue Ringe aus seiner Cigarre blies, sich behaglich in seinen Stuhl zurücklehnte und also anhub:

Sie müssen nämlich wissen, lieben Freunde, daß ich eigentlich ein Taugenichts bin, oder, wenn das zuviel sein sollte, ein Thunichtgut. Es muß das wol wahr sein, denn sie haben es mir oft genug gesagt. Als ich kaum laufen konnte, hat meine Wärterin mich gleichsam zum zweiten Male mit diesem Namen getauft; ich war noch keine halbe Stunde in der Klippschule, so hatte mich der Lehrer allen andern Kindern als einen Taugenichts denuncirt; meine liebe selige Mutter hat mich oft mit Thränen an ihren Busen gedrückt und mich schluchzend gefragt: ob ich denn gar nicht gut thun wolle? und mein Vater hat mich mehr als einmal in seine Stube kommen lassen und mir lange Reden gehalten, von denen ich meistens nur das Eine verstand: daß ich ein heilloser Taugenichts sei, dessen späteres Schicksal sein (meines braven alten Vaters) Herz mit bangster Sorge erfülle.

Sie glauben nicht, wie viel heiße Thränen mich diese düsteren Prophezeiungen gekostet haben. Ich hatte nämlich dabei stets das innigste Mitleiden mit mir selber. Ich sah mich selbst in gelb- und schwarzgestreiftem Anzuge, eine Eisenstange zwischen den Beinen, einen Besen auf der Schulter in der Gesellschaft anderer Herren in demselben Kostüm durch die Straßen meiner Vaterstadt geführt, zum Entsetzen aller Nachbarsleute und besonders aller Nachbarskinder, die sämmtlich klein und unschuldig geblieben waren, während ich zu solcher Größe des Leibes und des Lasters heranwuchs; ich sah mich am Galgen hängen, des Nachts im Mondenscheine, umkrächzt von gefräßigen Raben und Dohlen; ich sah mich auf das Rad geflochten, dies Bild aber weniger deutlich, weil ich mir keine rechte Vorstellung von der interessanten Situation machen konnte. Enfin: ich war innig überzeugt, daß ich dies Alles und noch viel mehr durch meine abgrundtiefe Schlechtigkeit vielfach verdient hätte, und daß, wenn der Himmel mit seinen Strafgerichten noch immer zögerte, er dies nur meines Kanarienvogels wegen thue, der ohne mich verhungern würde. Du lieber Himmel: der Kanarienvogel – es war ein hübsches goldgelbes Thierchen mit einer grün-braunen glänzenden Tolle und besaß meine ganze Liebe – er verhungerte wirklich, aber nicht ohne mich, sondern durch mich, und ich denke noch jetzt mit Entsetzen an die Nacht, die dem Tage folgte, an welchem mein Hänschen zum letzten Male mit seinen verhungerten Beinchen zum Himmel gezuckt hatte. Ich war darauf gefaßt, daß der Teufel mich holen würde, und hatte mir ein Gebet zurecht gemacht, womit ich seine Barmherzigkeit anrufen wollte, und das, glaube ich: »lieber, lieber Teufel« anfing.

Wenn die Herren mich nun fragen, worin denn eigentlich jene meine absonderliche Schlechtigkeit bestand, so weiß ich wirklich selbst noch in diesem Augenblicke keine rechte Antwort darauf zu geben. Daß ich in der Schule stets da, wo der Bänke letzten sind, mich aufhielt, daß ich – und wenn es mein Leben gegolten hätte – kein lateinisches Exercitium unter einem Dutzend Fehler machen konnte – ich muß es einräumen; aber es gab dümmere und faulere Jungen, die nicht halb so viel Schläge bekamen und denen kein Mensch prophezeite, daß sie in ihren Schuhen sterben würden. Von Herzen war ich auch nicht schlecht, ja, ich darf wol sagen, ich hatte ein gutes Herz, vielleicht, wie die Welt einmal geht und steht, ein zu gutes Herz; und mindestens die Hälfte der unzähligen dummen Streiche, deren ich mich schuldig machte, hatte mir mein Herz gespielt. Ich kam ohne Jacke nach Hause, weil ich sie einem zerlumpten Betteljungen, der mich neidisch darauf ansah, geschenkt hatte; einmal bin ich von einer Droschke übergefahren, damit ein Kind, das auf der Straße spielte, nicht unter die Räder geriet; ein anderes Mal wäre ich fast ertrunken, um einen räudigen Hund zu retten, den sie in den Kanal geworfen hatten; nie habe ich einen Kameraden in der Klemme stecken lassen, dafür aber oft genug die Schuld Anderer – und nicht minder die Schläge, um die es sich in letzter Instanz handelte – auf meinen breiten Rücken genommen. Das klingt nun allerdings fast wie Prahlerei, Ihr Herren; aber, was kann ich dafür, daß meine Schädelweite und meine Schulterbreite in keinem proportionalen Verhältniß standen? »Etwas muß der Mensch sein eigen nennen«, sagt Schiller, und wenn Jemand von der Natur verdammt ist, in einem Extemporale stets die meisten Fehler zu machen und von jedem Knirps, den er, so zu sagen, in die Tasche stecken kann, übersehen zu werden, fällt er ganz naturgemäß darauf, sich mit seinem Ueberfluß an Körperkraft über den Mangel seiner geistigen Capacität zu trösten. Und ich war in jener Beziehung so ausgestattet, daß man mich ebenso oft den dicken, oder den starken Gottlieb, auch wol Goliath, Mammuth-Gottlieb und dergleichen, als den dummen oder den faulen Gottlieb nannte. Diese meine Stärke wurde neben meiner Gutmütigkeit die zweite Quelle, aus der für mich viel Unheil, aber auch, wie Sie bald sehen werden, das Heil meines Lebens geflossen ist. Es war, als ob mich die Natur selbst als die geeignetste Person zur Ausführung dummer und dümmster Streiche gezeichnet hätte. Es war, wie in dem Volksliede: »Geh' Du voran, Du hast hohe Stiefel an, daß Dich der Has' nicht beißen kann.« Und was habe ich im späteren Leben nicht Alles wegen meiner breiten Schultern leiden müssen! Wie oft bin ich aus den Nähten geplatzt in Zeiten, wo ich nur einen Gott und einen Rock hatte; wie oft haben sich in Post- und Eisenbahnwagen meine Nachbarn bitter beklagt, daß ich gut zwei Drittel des für zwei berechneten Platzes occupire; noch vorgestern hat eine kleine Dame, die im Parquet hinter mir saß, angefangen von der chinesischen Mauer zu sprechen, weil sie weder rechts noch links an mir vorbeisehen konnte; ja, sie haben mich seiner Zeit meiner breiten Schultern wegen von der Schule gewiesen. Die Geschichte ist charakteristisch für den Unstern, der in früheren Jahren über meinem Haupte stand.

Es war an einem Tage vor den großen Sommerferien, und wir in der Tertia waren guter Dinge, und weil die Zeit, wo wir noch Alle beisammen waren, nur noch so sehr kurz, so benutzten wir die Zwischenviertelstunde zum Ausfechten eines alten Haders, wobei es geschah, daß die Partei, zu der ich gehörte, die andere Partei schließlich zur Thür hinauswarf. »Gottlieb, Du mußt die Thür zuhalten!« hieß es nun von allen Seiten. Ich stemmte also meine Schultern gegen die Thür und hielt wacker aus, so stark auch die von außen drängten, und zuletzt, wie in Verzweiflung, mit den Fäusten gegen die Thür schlugen, während meine Kameraden vor Freuden über meine Widerstandsfähigkeit wie die Besessenen tobten. Endlich wurde mir – schier zu meinem Erstaunen – der Druck gegen meine Schultern zu stark; ich mußte nachgeben, und herein fielen durch die aufspringende Thür der Schuldiener, der Direktor und mindestens ein halbes Dutzend Lehrer, mit denen ich es während dieser ganzen Zeit zu thun gehabt hatte. Das Ende können Sie sich denken: ich sollte meine Dränger recht gut gekannt haben; ich sollte nur dem frechen Uebermut, dem Frevelmut meines bösen, verstockten Herzens gefolgt sein. Es war der schändlichste Streich, der seit Menschengedenken auf der Schule vorgekommen war, und ich wurde cum infamia Mit Schimpf und Schande. – Anm.d.Hrsg. religirt.

Mein guter alter Vater war außer sich. In seinen Augen war religirt und auf offenem Markte gestäupt und gebrandmarkt werden, so ziemlich dasselbe. Er nannte mich mit Thränen im Auge seinen verlorenen Sohn, und ich dankte Gott, daß meine Mutter, wenn sie mir doch einmal so früh entrissen werden sollte, nun schon lange in der schwarzen Erde lag, und sich über die Schande ihres Sohnes nicht mehr die lieben Augen auszuweinen brauchte.

Von diesem Augenblick ging es schneller und immer schneller mit mir bergab, und weniger und immer weniger konnte ich begreifen, weshalb gerade ich Gottlieb heißen mußte, der ich weder Gott noch den Menschen lieb zu sein und etwas recht machen zu können schien.

Mein Vater hatte mich zu einem Gutsbesitzer in die Lehre gethan, der ihm als ein exemplarischer Oekonom gerühmt worden war. Ich hätte in keine schlimmeren Hände fallen können. Herr Bartel war ein gänzlich unwissender, brutaler Mensch, ein Vieh- und Leuteschinder, ein kleinlicher Tyrann, der Jeden, der es sich gefallen ließ, mit der Reitpeitsche traktirte. Ich sah das eine Zeitlang, meines Vaters wegen, geduldig mit an, bis eines schönen Sommermorgens, zur Zeit der Roggenernte, auf offenem Felde, angesichts des Himmels und sämmtlicher Gutsleute beiderlei Geschlechts, zwischen mir und Herrn Bartel eine Scene erfolgte, die der genannte Herr schwerlich provocirt haben würde, wenn er den Ausgang vorhergesehen hätte. Ich höre immer noch das dreimalige Hurrah, das aus den Kehlen der armen weißen Sklaven erschallte, als der Elende am Boden lag, und ich nach einigen letzten kräftigsten Hieben die Reitpeitsche weit hinein in das blinkende Wasser des benachbarten Sees schleuderte. Ja, Ihr Herren, das Hurrah thut mir wohl, so oft ich daran denke, und ich habe mich schon in trüben Stunden damit getröstet, daß es in dem Hauptbuche meines Lebens auf der Kredit-Seite verzeichnet steht, und so eine oder die andere meiner Dummheiten straflos bleiben wird.

Nach dieser Katastrophe wagte ich, wie Sie sich denken können, nicht, in das väterliche Haus zurückzukehren. Ich drückte mich eine Zeitlang bei Verwandten herum, bis der Termin kam, wo ich des Königs Rock anziehen konnte. Ich wurde mit den Kanonen viel besser fertig, als mit den lateinischen Exercitien, und da mein Hauptmann mich gern hatte und mein Vater es wünschte, meldete ich mich, als mein Jahr zu Ende ging, zum Weiterdienen, und brachte es auch wirklich in verhältnißmäßig kurzer Zeit zum Vice-Feuerwerker. Schon sah ich die Epauletten auf meinen Schultern blinken, als – nun, Berkenfeld, Ihren Stand in allen Ehren, aber mit der militärischen Subordination ist es doch manchmal ein wunderlich Ding, das einen ehrlichen Kerl zur Verzweiflung bringen kann. Gerade zu der Zeit wurde ein Bürschchen, mit dem ich zusammen auf der Schule gewesen war, und das ich oft und oft, ich glaube noch heute verdientermaßen, durchgeprügelt hatte, aus der Kadettenschule entlassen, und natürlich – um das Maß meiner Sünden voll zu machen – in meine Batterie eingestellt. Wieviel der neugebackene Lieutenant auf der Kadettenschule gelernt hatte, lasse ich dahingestellt, daß er aber nichts vergessen hatte, zum wenigsten nichts, was sich auf unser früheres Verhältniß bezog, wurde mir nur zu bald klar. Der Name thut nichts zur Sache, Ihr Herren; auch habe ich dem Manne längst vergeben, und wenn er in diesem Augenblick zur Thür hereinträte, sollte er mir willkommen sein; aber damals war ich zehn Jahre jünger und dümmer, vielleicht trieb er es auch gar zu toll; zum wenigsten kam ich nur fünf Jahre auf Festung, was, wie man mir sagte, unter diesen Umständen ein ganz unerhörtes Glück zu nennen sei.

Nun: es hat jedes Ding seine zwei Seiten, selbst eine Festungshaft. Die schlimme und schlimmste Seite war für mich die, daß mein armer Vater sich über meine Schande gar nicht zu trösten vermochte, und bald darauf, ich fürchte, an gebrochenem Herzen starb. Ich war sein einziges Kind gewesen, und, der Himmel weiß, welche glänzende Zukunft er für mich erträumt hatte. Er hatte es nie über die Stellung eines viel gehudelten Subalternbeamten hinausbringen können; ich sollte nun wenigstens Regierungsrat werden. Er hatte mich sehr geliebt, mein guter alter Vater, und der größte Kummer meines Lebens ist, daß ich ihm – der Himmel weiß, wie sehr gegen meinen Willen! – so viel Kummer habe machen müssen. Er war vielleicht kein Genie, mein guter alter Vater, aber ein braver Mann – Friede seiner Asche!

Ja! und die gute Seite von meiner fünfjährigen Einsperrung? Vielleicht war ich zu vollblütig, oder mein Blut hatte nicht die rechte Mischung, oder mußte sich erst zurecht arbeiten, wie ein Wein, den man ein paar Monate im Keller liegen läßt, bevor man ihn auf Flaschen zieht. So viel weiß ich, daß in der ersten Zeit mein Blut gar fürchterlich in mir tobte, so daß ich schier glaubte: ich überlebte es nicht, oder würde zum wenigsten verrückt werden; aber nach und nach wurde es stiller und immer stiller und ruhiger in mir, ordentlich sonntäglich still und ruhig, und ich konnte mich gar nicht so unglücklich fühlen, wie ich es für meine Pflicht hielt. Wenn ich auch nicht recht begreifen konnte, weshalb ein Mensch, der sich keines Verbrechens bewußt war, wie ein Verbrecher behandelt werden müsse, so dachte ich: der liebe Gott werde es wol wissen; und, wenn der sich nicht um einen armen Schelm bekümmere, so sei es eben mein Schicksal, und gegen sein Schicksal könne der Mensch nichts. Und dann war ich ja doch ohne Zweifel sehr leichtsinnig gewesen, und es fiel mir schwer auf die Seele, wie schlecht ich immer meine lateinischen Vokabeln gelernt hatte. Zuletzt kam ich auf den Gedanken: ich müsse, meiner Faulheit, meines Leichtsinns und meiner dummen Streiche wegen fünf Jahre lang nachsitzen. Das tröstete mich ungemein.

Dazu kam, daß man mich auf der Festung sehr, ja, ich kann wol sagen, unverdienterweise gut behandelte. Im Anfang hatte ich allerdings meine Karre schieben müssen, wie die Anderen; aber in der wilden Stimmung, in welcher ich mich damals befand, war das eigentlich ein rechter Segen für mich, und da ich Kräfte für Drei hatte, so arbeitete ich auch für Drei. In dieser Station bin ich aber nur wenige Wochen gewesen. Der Festungs-Gouverneur, Hauptmann von Eisenfresser, der trotz seines grimmigen Namens ein gar gütiger, lieber Herr war, mußte wol recht warm für mich gesprochen haben. Die Ketten wurden mir abgenommen, und ich durfte in dem Festungsbureau als Schreiber arbeiten. Da bin ich denn die ganze übrige Zeit gewesen, und weil ich mich, schon aus purer Dankbarkeit gegen den edlen Mann, der ein wirklicher Edelmann war, wacker hielt und eine recht gute Hand schrieb – das Einzige, was ich auf der Schule ohne Anstrengung gelernt hatte – wurde ich bald Privatsekretär, so zu sagen, meines Gönners und so freundlich von ihm und seiner ganzen Familie behandelt, daß ich eigentlich nur noch dem Namen nach ein Sträfling war. Herr von Eisenfresser nahm sich meiner noch weiter an. Er machte die merkwürdige Entdeckung, daß ich nicht blos schreiben, sondern auch rechnen konnte, ja, daß ich, wie er sagte, ein entschiedenes Talent für die Mathematik habe. Ich lachte darüber zuerst ganz despektirlich; aber, da er selbst ein ausgezeichneter Mathematiker und sehr stark im Beweisen war, so bewies er mir, daß er recht hatte. Mir war dabei ganz wunderlich zu Mute. Ich bekam zum ersten Male eine Art Respekt vor mir selber, aber einen noch viel größeren Respekt vor meinem Wohlthäter, und als ich bald darauf eine leidlich schwere Aufgabe, die er mir gestellt hatte, ganz richtig löste, und er mir auf die Schulter klopfte und sagte: Sehen Sie, Roland, daß Sie das ganz gut begreifen können; da habe ich helle Freudenthränen geweint und dem guten Manne aus tiefinnerster Dankbarkeit die Hände geküßt.

Er that noch mehr für mich.

Gerade in dieser Zeit wurde in der Citadelle ein kleiner Gasometer aufgestellt. Herr von Eisenfresser leitete die Arbeiten selbst und ließ mich in seinem Bureau nicht allein sämmtliche Anschläge und Zeichnungen anfertigen, sondern stellte mich auch als Aufseher bei dem Bau an, so daß ich das Theoretische und Praktische der Sache mit seiner Hülfe gründlich kennen lernte. Das kann Ihnen für Ihre Zukunft sehr nützlich werden, lieber Roland, sagte er oft, wenn er auf den Bau kam und mir, um mir seine Zufriedenheit zu erkennen zu geben, auf die Schultern klopfte.

Er liebte meine Schultern, der brave Herr. Sie waren so sehr breit, und die seinen so sehr schmal. Es thut Einem wohl, Sie anzusehen; man athmet ordentlich leichter, meinte er manchmal, und dabei lächelte er stets so freundlich und so traurig zugleich. Ich glaube, ich hätte mein Herzblut für ihn hingeben können, aber es würde ihm doch nichts geholfen haben. Er starb an der Schwindsucht – in meinen Armen, ein paar Wochen, bevor ich meine fünf Jahre nachgesessen und aus dem Carcer entlassen wurde.

Da war ich nun wieder auf freien Füßen, und, weiß es Gott, ich sehnte mich oft genug noch nach meinem Gefängniß und meinem gütigen Kerkermeister zurück. Die Welt kam mir sehr weit und, trotz all' der unzähligen Menschen, sehr öde vor. Es kümmerte sich keiner um mich. Mein Vater war todt, und, so arm gestorben, wie er gelebt hatte. Meine Verwandten wollten von dem entlassenen Sträfling nichts wissen und verleugneten mich, wenn ich ihnen in den Weg kam, was ich natürlich so selten wie möglich that. Ich kann wol sagen, daß es mir eine Zeitlang recht herzlich schlecht ging, und daß ich es für ein großes Glück hielt, als es mir endlich gelang, in der Gasanstalt hier eine Unteraufseherstelle zu erhalten. Ich hatte den Monat fünfzehn Thaler, Sie können sich denken, wie weit ich damit bei meinem Appetite reichte! Oder vielmehr: Sie können es sich nicht denken. Ihr Herren seid in der Fülle des Glückes groß geworden und habt keine Ahnung davon, wie Jemandem zu Mute ist, wenn ihm der Genuß in so spärlichen Rationen zugemessen wird. Und dann, war mein Vater auch nur Rechnungsrevisor gewesen, so war er doch ein Gentleman und hatte mich als Gentleman erzogen, ja, im Anfang vielleicht ein wenig verzogen. Meine Mutter war eine gebildete, feine Frau, und meine Eltern hatten sich stets in Kreisen bewegt, die eigentlich schon über die Sphäre ihrer gesellschaftlichen Stellung lagen. Ich hatte, bei allem meinem Leichtsinn und wildem Wesen, dennoch den Geschmack meiner Eltern für gute Formen und vielleicht auch etwas von dem Ehrgeize meines Vaters geerbt; und wenn Jemand bei solchen Ansprüchen in einer Dachkammer wohnt, in einer Garküche vorletzten Ranges unter Bedienten, Zettelträgern, Wagenschiebern und ähnlicher ganz ehrenwerter, aber nicht immer ganz feiner Gesellschaft seine Diners und Soupers einnimmt und gezwungen ist, in einer beschmutzten Blouse, oder, noch schlimmer, in einem schäbigen Rock, den er beim Trödler kaufte, über die Straße zu gehen – so hat das seine Unbequemlichkeiten, wie ich Sie aus jahrelanger intimster Erfahrung versichern kann.

Indessen war auch diese Zeit für mich nicht verloren. Ich lernte mein Fach von allen Seiten und auch von denen kennen, welche nur der eigentliche Arbeiter zu sehen bekommt; dabei trieb ich, schon aus Pietät für das Andenken meines lieben verstorbenen Wohlthäters, meine mathematischen Studien eifrig fort, und mit Hülfe derselben und meiner täglichen praktischen Uebung kam ich auf gewisse Entdeckungen in der Konstruktion der Oefen und der Behandlung des Coaks, die ich für Verbesserungen hielt, und die sich in der Folge wirklich als solche bewährt haben. Das Alles machte mich nun natürlich ein wenig übermütig, und ich fing an, mich mit Plänen zu tragen, wie ich aus dieser meiner abhängigen untergeordneten Stellung in eine Position gelangen möchte, in der ich meine Entdeckungen verwerten könnte, und die überhaupt des Sohnes meines Vaters würdiger wäre. Sie müssen nämlich wissen, daß mich das Andenken an meinen guten alten Vater, der in Herzeleid über mich zur Grube gefahren war, fortwährend verfolgte, und daß ich die Empfindung nicht los werden konnte: er werde sich noch im Grabe freuen, wenn ich es trotz alledem in der Welt zu etwas Ordentlichem brächte.

So vergingen fünf Jahre, und ich fing nachgerade an, darüber ungeduldig zu werden, daß ich noch immer in meiner Dachkammer wohnte. Da wurde die Gasdirektorstelle hier vakant, und die Gesellschaft forderte befähigte Bewerber auf, sich zu melden. Es war am 21. Januar, also gerade heute vor einem Jahr, als ich die Anzeige las, und weil just mein dreißigster Geburtstag war, so hielt ich das für ein gutes Zeichen und sagte zu mir: »Courage, Gottlieb, jetzt oder nie!« Und es that Not, daß bei der ganzen Sache so ein günstiges Omen war, sonst hätte ich doch am Ende den Mut nicht gehabt. Sie wissen, daß mit dieser Stelle zugleich die eines technischen Ober-Direktors für die sämmtlichen vierzig Gasanstalten, welche die Gesellschaft bereits gegründet hat, verbunden ist. – Ich mußte also Vorgesetzter meines eigenen bisherigen Direktors werden, und das Alles aus der Position eines Unteraufsehers, die ich nach wie vor einnahm. Ihr Herren müßt zugeben, daß die Sache einen etwas tollen Anstrich hatte. Aber es war im Januar des vorigen Jahres sehr kalt; durch die Ritzen meiner Dachstube pfiff der eisige Wind; mich fror und hungerte wechselweise gar erbärmlich, und wenn der Teufel damals auf mich geboten hätte, ich glaube, er hätte mich billig haben können.

Ebenso gut aber wie zum Teufel, dachte ich, könne ich auch auf das Comtoir der Firma Jäger, Breitkopf u. Co. gehen und mich als Kandidaten für die erledigte Stelle präsentiren.

Die Sache war aber nicht ganz so leicht, wie sie aussah. Zuerst war Gefahr im Verzuge, denn ich wußte, daß sich bereits binnen der drei ersten Tage zweiundzwanzig Bewerber gemeldet hatten; und doch konnte ich vor dem nächsten Sonnabend, wo ich nach der Morgenwache einen freien Nachmittag hatte, meinen Posten nicht verlassen. Sodann fehlte es mir gänzlich an einer Garderobe, die für den feierlichen Akt berechnet gewesen wäre. Mit den Stiefeln und der Wäsche ging es ungefähr, auch ein paar schwarze Beinkleider fanden sich, die ihren Zweck zu erfüllen versprachen, wenn ich die Nähte mit Tinte nachschwärzte. Eine weiße Weste kaufte ich mir merkwürdig billig bei meinem Antipoden, einem Trödler, der fünf Stock unter mir im Keller desselben Hauses wohnte. Es fehlte jetzt nur noch an einem Frack, und den lieh mir mein damaliger Kollege und jetziger Ober-Aufseher und hoffentlich lebenslänglicher Freund, Hans Ohnesorge, der vor vierzehn Tagen Hochzeit gemacht hatte und im Vollbesitze eines neuen, vor Neuheit, wie mir schien, geradezu strahlenden Fracks war.

Hans Ohnesorge, sagte ich, als er mich am Sonnabend Mittag ablöste, und ich den Frack, den er mir in ein Tuch geschlagen, mitgebracht hatte, im Gasometergebäude anprobirte, Hans Ohnesorge, ich kann nicht dafür stehen, daß ich Ihnen nicht die Nähte an den Aermeln oder gar den ganzen Rücken herausplatze. –

Immer d'rauf, Herr Roland, sagte Hans Ohnesorge; wenn Sie die Stelle bekommen, können Sie mir ja einen andern schenken, und wenn Sie die Stelle nicht bekommen – aber das ist ja gar nicht möglich! Ein Mann wie Sie braucht ja nur merken zu lassen, daß es ihm Ernst ist, da geht es ja von selbst.

Hans Ohnesorge, müssen Sie wissen, hielt mich so ziemlich für den größten Mann meines Jahrhunderts. Ich war ihm sein Held, sein Ideal; und wenn ich gesagt hätte: Hans Ohnesorge, ich bin entschlossen, Kaiser von Fez und Marokko zu werden, er würde gesagt haben: Immer d'rauf, Herr Roland; das ist Ihnen ja eine Kleinigkeit.

Nun, Ihr Herren, ich lachte freilich über die treuherzige Einfalt des guten Gesellen, aber so ganz geheuer war mir denn doch nicht, als ich in dem engen Frack vor dem Comtoir von Jäger, Breitkopf u. Co. stand und erst leise, dann lauter und zuletzt sehr laut anklopfte.

Herein, sagte endlich eine scharfe Stimme. Ich glaubte anfänglich, es habe irgendwo in der Nähe eine Thür geknarrt, aber es war wirklich eine Menschenstimme gewesen, und so trat ich denn ein.

In dem großen Zimmer befand sich in diesem Augenblick – es war nämlich schon etwas spät geworden und die Comtoiristen waren zum Essen gegangen – Niemand Geringeres, als – na, Ihr Herren, meine Frau ist glücklich in ihrer Ecke eingeschlafen, und so kann ich Ihnen sans gêne In aller Zwanglosigkeit. – Anm.d.Hrsg. sagen, wie mein würdiger Schwiegervater ausschaut, wenn man ihn zum ersten Male – besonders in der Stunde vor Tisch, wo er hungrig und beißig ist, sieht: wie das Titelkupfer auf dem Englischen Punch Seit 1841 führende englische Satire-Zeitschrift. ohne den Mops und den Höcker, aber noch ein wenig grimmiger – ja, wie er mir an dem Mittag vorkam, ganz außergewöhnlich, und so zu sagen: polizeiwidrig grimmig und menschenbeißig.

Was wollen Sie, schnarrte der kleine alte Herr, indem er sich auf seinem Comtoirstuhl halb zu mir umdrehte.

Mich ge – ich wollte sagen gehorsamst; aber weil mir das eine verächtliche Kriecherei dünkte, so hustete ich blos und sagte dann sehr kecklich: zu der vakanten Gasdirektorstelle melden.

Sie sind der dreißigste, schnarrte Herr Jäger.

Das schadet nichts, sagte ich.

Wie so?

Einer kann sie doch nur bekommen.

Der alte Herr drehte sich noch einen Zoll weiter auf seinem Stuhle herum und sah mich noch viel grimmiger an, als vorher. Die Augen unter den buschigen Brauen stachen mich ordentlich, wie Julisonnenschein vor einem Gewitter; aber ich sagte mir: wenn Du jetzt mit der Wimper zuckst, bist Du verloren, und so hielt ich wacker aus und dachte: Blick Du nur, Alter; der Frack ist freilich geliehen, aber es steckt ein ehrlicher Kerl darin.

In diesem Augenblick wurde abermals an die Thüre geklopft und herein trat, ohne Herrn Jäger's Antwort abzuwarten, ein Mensch, der mir doppelt mißfiel, erstens, weil er mich in dem tête-à-tête mit Herrn Jäger, das eben interessant zu werden anfing, störte, und zweitens, weil er eine abscheuliche Physiognomie hatte – eine rechte brutale Galgenphysiognomie, die vortrefflich zu seinem untersetzten, starkknochigen Körper paßte.

Was wollen Sie? schnarrte Herr Jäger.

Das wissen Sie eben so gut wie ich, erwiderte der Eingetretene im gröbsten Ton, Ich will mein Geld und damit basta.

Ich habe Ihnen bereits geschrieben, weshalb ich Ihnen das nicht geben kann, sagte Herr Jäger ganz höflich.

Dann soll das Wetter drein schlagen, sagte der Andere.

Das würde Ihnen wenig helfen, erwiderte Herr Jäger. – Bitte, Herr –? – Roland, sagte ich. – Herr Roland, setzen Sie sich gefälligst etwas, bis ich diesen Herrn abgefertigt habe.

Ich setzte mich in einiger Entfernung auf einen Stuhl, und das Gespräch zwischen den beiden Widersachern nahm seinen Fortgang. Der vierschrötige Kerl war ein Schiffskapitän so und so, der für das Geschäft Kohlen nach Hamburg gebracht, und, wie es schien, über seinen Kontrakt hinaus Forderungen an die Firma machte. Es war ein wunderliches Concert, die Beiden sich streiten zu hören, als wenn in das Quinquiliren einer schrillen Pfeife die dumpfen und zugleich harten Töne einer allzustraff gespannten Pauke hereinplatzten. Die Pauke hielt es aber viel länger aus, wie die Pfeife und brüllte zuletzt so, daß die Fensterscheiben klirrten.

Nun bin ich von Natur kein Freund von Zank und Streit, und gar das unvernünftige Schreien war mir von jeher verhaßt. Dazu kam, daß der Kapitän ganz unzweifelhaft im Unrecht war und gegen die klaren, sachgemäßen Auseinandersetzungen Herrn Jäger's nur Drohungen und Schimpfreden vorzubringen wußte. Je länger ich den Kerl toben hörte, desto fataler wurde er mir, und als er dem Herrn Jäger, der doch am Ende ein alter und ganz offenbar kränklicher schwacher Mann war, seine plumpe Faust unter der Habichtsnase schüttelte, die in dem Augenblick sichtbar vor Furcht erbleichte – riß mir endlich vollends die Geduld. Ich stand auf, ging zur Thür, indem ich ihm pantomimisch zu verstehen gab: er würde mich sehr verbinden, wenn er uns des Vergnügens seiner Gegenwart nun enthöbe. Der Kapitän wurde vor Wut ganz dunkelrotbraun und begann, sich so wahnsinnig zu geberden, daß ich wirklich um den alten Mann, der bleich und zitternd auf seinem Stuhl saß, besorgt wurde. Ich faßte also meinen Kapitän um die Schultern, drückte ihm die Arme fest gegen den Leib, hob ihn in die Höhe und trug ihn, trotzdem er sich wie ein wildes Thier geberdete, zur Thür hinaus über den Vorsaal bis an die Treppe. Dort setzte ich ihn wieder hin und beschleunigte noch in etwas seinen Rückzug die Treppe hinab. Nachdem ich mich sodann überzeugt hatte, daß er, am Fuße derselben angelangt, sehr schleunig wieder auf die Beine kommen und unter Flüchen und Drohungen das Haus verlassen konnte, kehrte ich in das Comtoir zurück, machte die Thüre wieder zu und sagte: Ich glaube, wir können jetzt ungestört in unserer Unterhaltung fortfahren.

Und wenn ich hundert Jahre alt würde, ich werde die Miene, mit welcher der alte Herr mich jetzt anblickte, nicht vergessen. Der Aerger und der Schrecken von vorhin mischten sich auf eine so seltsame Weise mit dem Erstaunen und, ich glaube, der Freude über meine Handlungsweise in dem schon an sich grotesken Gesicht, daß ich etwas Wunderlicheres in meinem Leben nicht gesehen habe, und wirklich einen Augenblick glaubte, der alte Herr sei toll geworden. Und plötzlich fing er gar, die kleinen funkelnden Augen immer fest auf mich gerichtet, an zu lachen, oder ich müßte eigentlich sagen: zu krähen, denn es war wirklich viel mehr das Krähen irgend eines ausländischen Vogels, als das Lachen eines christlichen Europäers. Leider sah ich, oder fühlte ich gar bald, was ihm an meiner Erscheinung so lächerlich erschien. Der neue Frack des armen Ohnesorge, dessen Stoff trotz seines Glanzes nicht der allerbeste sein mochte, war bei der Anstrengung, die es mich denn doch gekostet hatte, den starken Kerl zu bewältigen, aus allen Nähten geplatzt, und hing, so zu sagen, eigentlich nur noch in Fetzen auf meinem Leibe. Ich fühlte, daß ich sehr rot wurde, aber ich war entschlossen, die Sache nicht ernster zu nehmen, als sie es verdiente.

Entschuldigen Sie, Herr Jäger, sagte ich, meine derangirte Toilette; aber da ich Ihnen mich selber und nicht meinen Rock anbieten wollte, so kommt es schließlich auf Eines heraus. Kleider machen wol Leute, aber keinen tüchtigen Gastechniker.

Sie sind mein Mann; bei Gott, Sie sind mein Mann! rief der Alte, kam von seinem Stuhl herabgehüpft, gab mir seine kleine magere Hand und blickte mit einem beinahe zärtlichen Ausdruck zu mir hinauf. – Wenn Sie Ihre Sache verstehen, sollen Sie die Stelle haben, so wahr ich Johann August Jäger heiße.

Ich verstehe meine Sache, Herr Jäger, sagte ich, und ich weiß noch bis auf den heutigen Tag nicht, woher ich in dem Augenblick den Mut zu dem zuversichtlichen, großsprecherischen Ton nahm; aus- und inwendig verstehe ich sie.

Ich glaub's, glaub's, glaube Ihnen aufs Wort; Sie sind ein Prachtmensch. Setzen Sie sich hier an den Tisch, und nun sagen Sie mir einmal, wo, wie und was Sie gelernt haben. Was denken Sie z. B. von der neuen Gasometer-Konstruktion des Mr. Hotwater in Liverpool?

Ich sah aus dieser Frage, daß mein alter Herr selber das Ding sehr gut verstand. Ich nahm mich also zusammen und setzte ihm auseinander, weshalb mir die sogenannte neue Erfindung des Mr. Hotwater keineswegs gefalle, und weshalb ich derselben meine Methode bei weitem vorziehe. Dabei holte ich ein paar Zeichnungen, in denen ich meine Erfindung erläutert hatte, aus der Tasche, breitete sie vor Herrn Jäger aus, und, weil mich ja das Ding selbst so sehr interessirte, und ich außer meinem ehrlichen Ohnesorge noch Niemanden gefunden hatte, dem ich mich hätte mittheilen können, so wurde ich ganz warm in meinem Vortrag und sprach wol eine halbe Stunde, während der Alte unaufhörlich nickte und »Hm, hm, ja, ja; sehr gut; ausgezeichnet« dazwischen murmelte. Dann, weil ich nun gerade im Zuge war, erzählte ich noch: wer meine Eltern waren, und so in aller Kürze meine ganzen Schicksale, wobei ich meine Sträflingsperiode zu erwähnen nicht vergaß. Als ich am Ende war, streckte mir der Alte das magere Händchen entgegen und sagte: Hier, meine Hand, Herr Roland; Sie sollen unser Direktor werden; zweitausend Thaler jährlich fix, Dienstwohnung, freie Heizung und selbstverständlich Beleuchtung und fünf Prozent vom Nettogewinn, Sind Sie zufrieden?

Mir schlug das Herz bis in die Kehle, als ich den alten Herrn so sprechen hörte. Ich ergriff seine Hand und stammelte, ich wußte selber nicht was. Ich wußte nur, daß nun die Noth zu Ende sei, und daß Hans Ohnesorge den schönsten Frack haben sollte, den Schneiderhände machen könnten.

Und nun gehen Sie nach Hause, Herr Roland, sagte der Alte, ziehen Sie sich einen andern Rock an und kommen Sie heute um fünf wieder her, und speisen Sie mit uns. Ich will Sie meiner Familie vorstellen, und hernach können wir den Kontrakt unterzeichnen. Aus Ihrer bisherigen Stellung treten Sie von diesem Augenblick aus. Ich werde sofort an Ihren Direktor schreiben und ihm die Veränderung, die in unserm Personale eingetreten ist, notificiren. Vielleicht brauchen Sie Geld, junge Leute brauchen immer Geld. Hier sind hundert Thaler Avance. Machen Sie keine Umstände. Hier unten Ihren Namen. Danke! Leben Sie wohl; auf Wiedersehen; fünf Uhr pünktlich!

Damit entließ mich der Alte; ich verbeugte mich, und dann weiß ich nicht mehr, wie ich zum Hause hinaus und in Ohnesorge's Wohnung gekommen bin. Ich weiß nur, daß ich mich in den Armen der treuen Seele wiederfand, der in einem fort weinte und lachte und dazwischen rief: Ich hab' es immer gesagt: Sie brauchen ja nur merken zu lassen, daß es Ihnen Ernst ist – da geht es ja von selbst.

Nun, Ihr Herren, die Fortsetzung und das Ende von der Geschichte, wie ich um fünf Uhr zu Herrn Jäger kam und Frau Jäger und Fräulein Emmy Jäger und Herrn Breitkopf und Frau Breitkopf u. Co. vorgestellt wurde, wie ich bei Tisch neben Fräulein Emmy Jäger saß und nicht wußte, ob es der Champagner oder Emmy's schöne Augen – Herr des Himmels, die Frauen! man braucht blos von ihren Augen zu sprechen, so sperren sie sie auf. Hast gut geschlafen, Emmy?

Ich habe gar nicht geschlafen, Du schlechter Mann, sagte die junge Frau, die mit ihren schlummerroten Wangen und in ihrer Verlegenheit so reizend aussah, daß Herr von Berkenfeld sich einen Knopf über der Brust aufmachen mußte.

Aber Ihr wollt doch unmöglich schon fort, Ihr Herren, sagte Gottlieb.

Der Assessor lachte. Schon? es ist ein viertel auf zwei.

Ach was, sagte Gottlieb; was thut denn das? die Uhr schlägt keinem Glücklichen,

Herr von Berkenfeld seufzte.

Kommen Sie, Berkenfeld, sagte der Assessor, der schon den Hut in der Hand hatte; wir können es ja nicht verantworten.


Die beiden Herren standen auf der Straße, Der Mond glitzerte auf den schneebedeckten Dächern. Eine Nachtdroschke kam langsam dahergeknarrt.

Ich werde die Droschke nehmen, sagte der Assessor. Adieu, Berkenfeld. Und was ich sagen wollte, Berkenfeld: geben Sie die kleine Roland auf; Sie blamiren sich, Mann, und Roland ist nicht der gutmütige, einfältige Tropf, für den wir ihn anfänglich in unserm blasirten Hochmut hielten. Ich sage Ihnen, Berkenfeld: ich habe heute Abend alle Achtung vor dem Roland bekommen.

Denken Sie etwa, ich nicht? rief der Lieutenant; Emmy ist entzückend, rosa bella senza spine Schöne Rose ohne Dornen. – Anm.d.Hrsg., göttlich; aber Sie haben Recht: lasciate ogni speranza voi ch'entrate Die ihr hier eintretet: lasst alle Hoffnung fahren. (Dante, Die Göttliche Komödie, Inferno III, 9).

Und er deutete auf die Thür des Hauses, das sie soeben verlassen.

Es wird das auch wol das Gescheidteste sein, sagte der Assessor, indem er in die Droschke stieg.

Der Lieutenant blickte noch einmal wehmütig nach den Fenstern hinauf und murmelte, während er die Straße hinabging:

Beneidenswerter Mensch: Zweitausend jährlich, fünf Prozent vom Netto-Gewinn, Schwiegervater Millionär, das reizende Weib – und welch' horribel breite Schultern der Mann hat; aber ich will ihn nicht unglücklich machen.



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