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Marx

19.

Dieser gewaltige Endkampf der beiden germanischen Ideen wird nun von einem ganz andren Faktor durchkreuzt: der Arbeiterfrage. Dort ist es ein innerlichster Gegensatz von Weltanschauungen, der zur Entscheidung drängt, um dem Sein des faustischen Menschen eine endgültige Einheitsform aufzuprägen; hier ist es ein materieller Notstand, der einen Wechsel der äußeren Lebensbedingungen fordert. Das eine ist gewissermaßen Metaphysik, das andre Nationalökonomie. Damit ist der Rangunterschied beider Erscheinungen festgestellt.

Das Problem des »vierten Standes« taucht in jeder Kultur bei ihrem Übergang zur Zivilisation auf. Für uns beginnt es mit dem 19. Jahrhundert; Rousseau ist plötzlich veraltet. Der dritte Stand gehört zur Stadt, die sich ebenbürtig neben das Land stellt, der vierte zur Weltstadt, das Land vernichtet. Er ist das seelisch entwurzelte Volk sehr später Zustände, das nomadenhaft als formlose und formfeindliche Masse durch diese steinernen Labyrinthe wogt, den Rest lebendigen Menschentums ringsum aufsaugt, heimatlos, erbittert und elend, voller Haß gegen die starken Stufungen alter Kultur, für die es abgestorben ist, eine Befreiung aus seinem unmöglichen Dasein ersehnend.

Die Zivilisation Westeuropas wird durch die Maschinenindustrie in allen Äußerungen und Formen ihres gesamten Daseins beherrscht. Der Industriearbeiter ist durchaus nicht der vierte Stand, aber er fühlt sich mit Recht als Repräsentant dieses Standes. Er ist ein Symbol. Er ist als Typus mit dieser Zivilisation entstanden und er fühlt den Mißstand seines Daseins am tiefsten. Wenn andre Sklaven des technischen Zeitalters sind, der Ingenieur so gut wie der Unternehmer, so ist er der Sklave.

Aber eine Lösung der Arbeiterfrage für den Arbeiter allein und durch ihn allein gibt es nicht. Der vierte Stand an sich ist eine bloße Tatsache, keine Idee. Einer Tatsache gegenüber gibt es nur materielle Kompromisse, nicht als Wirkung und Verwirklichung irgendwelcher Ideale, sondern als strategische Resultate eines langen Ringens um den Vorteil auf Kosten andrer, das endlich zu einer Art Stillstand führt, in dem man die Lage, wie sie sich nach allen Zufälligkeiten des Kampfes endlich eingestellt hat, resigniert hinnimmt, um in ihr ein kleines Glück der Gewöhnung zu finden, ein Chinesenglück, das Glück der römischen Kaiserzeit: panem et circenses. Heute ist das schwer begreiflich, weil wir auf dem Höhepunkt der großstädtischen Massenerregung stehen und der nahe Beobachter infolge des Lärms der Schlagworte die einseitigen Aussichten des Klassenegoismus überschätzt, aber in ein, zwei Jahrhunderten wird alles vorüber sein, wenn nicht die Arbeiterbewegung in den Dienst einer allgemeinen Idee tritt. Was war von den Leidenschaften der Gracchenzeit unter Augustus noch übrig? Das Problem war nicht gelöst worden; es war zerfallen.

Hier setzt nun Marx ein. Er hat durch eine glänzende Konstruktion versucht, die Tatsache zum Rang einer Idee zu erheben. Über den mächtigen Gegensatz von Wikingertum und Ordensgeist spannt er eine dünne, aber festgefügte Theorie und schafft damit ein volkstümliches Bild der Geschichte, das in der Tat die Anschauungen der Gegenwart in weitgehendem Maße beherrscht. Er stammte aus der preußischen Atmosphäre und siedelte sich in der englischen an, der Seele beider Völker aber ist er gleichmäßig fremd geblieben. Als Mensch des naturwissenschaftlichen 19. Jahrhunderts war er ein guter Materialist und ein schlechter Psychologe. Und so hat er schließlich nicht die großen Realitäten mit dem Gehalt einer Idee erfüllt, sondern die Ideen zu Begriffen, zu Interessen herabgedrückt. Statt des englischen Blutes, das er nicht in sich fühlte, erblickte er nur englische Dinge und Begriffe, und von Hegel, der ein gutes Stück preußischen Staatsdenkens repräsentierte, war ihm nur die Methode zugänglich gewesen. Und so übertrug er durch eine wahrhaft groteske Kombination den Instinktgegensatz der beiden germanischen Rassen auf den materiellen Gegensatz zweier Schichten. Er schrieb dem »Proletariat«, dem vierten Stande, den preußischen Gedanken des Sozialismus und der »Bourgeoisie«, dem dritten Stande, den englischen des Kapitalismus zu. Aus diesem System erst ergab sich die feste Bedeutung der vier Begriffe, wie sie heute jedermann geläufig ist. Durch diese in ihrer Einfachheit unwiderstehlichen Schlagworte ist es ihm gelungen, die Arbeiterschaft fast aller Länder zu einer Klasse mit ausgeprägtem Klassenbewußtsein zu konsolidieren. In seiner Sprache redet, in seinen Begriffen denkt heute der vierte Stand. Proletariat war nicht mehr ein Name, sondern eine Aufgabe. Die Zukunft wurde von nun an durch ein Stück Literatur betrachtet. In der Oberflächlichkeit des Systems liegt seine Stärke. Obwohl es nach wie vor einen spanisch-kirchlichen, einen englisch-kapitalistischen und einen preußisch-autoritativen Sozialismus und proletarische Bewegungen von anarchischem, kapitalistischem und echt sozialistischem Charakter gibt, so weiß man es doch nicht. Der Glaube an die Einheit des Ziels ist stärker als die Wirklichkeit und er haftet wie immer im Abendlande an einem Buche, an dessen absoluter Wahrheit zu zweifeln ein Verbrechen ist. Das gedruckte Wort erst verbürgt dem faustischen Geiste die Wirkung in alle Fernen von Raum und Zeit. In der englischen Revolution war es die Bibel, in der französischen Rousseaus Contrat social, in der deutschen das kommunistische Manifest. Aus der Umdeutung des Gegensatzes von Rassen in den von Klassen und alter germanischer Instinkte in sehr junge Bedürfnisse großstädtischer Bevölkerungen ergibt sich nun der entscheidende Begriff des Klassenkampfes. Die horizontale Richtung der historischen Kräfte wird zur vertikalen: das ist der Sinn der materialistischen Geschichtsauffassung. Das naturwissenschaftliche Denken dieser Zeit fordert den Gegensatz von Kraft und Stoff: die Stoffe politischer Kräfte heißen Völker, die Stoffe wirtschaftlicher Kräfte heißen Klassen. Der Marxismus vertauscht den Rang der beiden Kräfte und damit auch den der beiden Stoffe. Damit erhält das Wort Klasse aber eine durchaus neue Bedeutung.

Mit der ganzen psychologischen Verständnislosigkeit eines naturwissenschaftlich geschulten Kopfes von 1850 weiß Marx mit dem Unterschied von Stand und Klasse nichts anzufangen. Ein Stand ist ein ethischer Begriff, Ausdruck einer Idee. Die Privilegierten von 1789 standen dem Bürgertum als Stand gegenüber, der ein Formideal, die grandeur, die courtoisie, die innere und äußere Vornehmheit verkörperte, gleichviel was der Verfall davon übrig gelassen hatte. Das Bürgertum bestritt die ethische Überlegenheit der alten vornehmen Sitte, und erst daraus folgte die Ablehnung der sozialen Vorrechte. Der englisch geschulte Verstand der Pariser setzte ihr ein andres Ideal entgegen und der französische Instinkt schuf daraus das Prinzip der Gleichheit im ethischen Sinne. Das war die neue Bedeutung des Ausdrucks »menschliche Gesellschaft«, nämlich Gleichheit und allgemeine Verbindlichkeit des sittlichen Ideals, das auf Vernunft und Natur und nicht auf Blut und Tradition beruhte.

Klasse ist demgegenüber aber ein rein wirtschaftlicher Begriff und von ihm aus wird der ethisch-politische Begriff des Bürgertums von 1789 in den wirtschaftlichen von 1850 umgekehrt. Das Standesideal ist zum Klasseninteresse geworden. Nur in England waren die Klassen schon längst nach dem Reichtum abgestuft. Die Mittelklasse umfaßte die, welche von ihrer Arbeit lebten, ohne arm zu sein. Die Oberklasse war reich, ohne zu arbeiten. Die Unterklasse arbeitete und war arm. In Preußen aber war es die Stellung, ein Mehr oder Weniger von Befehl und Gehorsam, das die Klassen schied. Hier gab es neben dem Bauernstand eine Beamtenklasse, also überhaupt keine wirtschaftliche, sondern eine Einheit der Funktion. Zum Wesen des modernen Frankreich dagegen gehört das Nichtvorhandensein wirklicher Klassen. Die Nation ist eine ungeordnete Masse, aus der sich Reiche und Arme abheben, aber ohne eine Klasse zu bilden. Die ganze Nation ist eine Klasse, nicht von der Strenge germanischer Schichtungen, aber doch eine einzige.

Marx denkt also rein englisch. Sein Zweiklassensystem ist aus der Lage eines Händlervolkes gezogen, das seine Landwirtschaft eben dem Handel aufopferte und das nie eine staatliche Beamtenschaft mit ausgeprägtem – preußischen – Standesbewußtsein besessen hatte. Es gibt hier nur noch »Bourgeois« und »Proletarier«, Subjekte und Objekte des Geschäfts, Räuber und Beraubte, ganz wikingermäßig. Auf den Bereich des preußischen Staatsgedankens angewendet, sind diese Begriffe Unsinn. Marx wäre nicht fähig gewesen, den aus dem Prinzip »Alle für alle« folgenden Gedanken, daß jeder einzelne ohne Unterschied der Stellung Diener des Ganzen, des Staates ist, von der Tatsache der englischen Industriesklaverei zu unterscheiden. Er nahm das bloße Außenbild des Preußentums: Organisation, Disziplin, Gemeinsamkeit, etwas, das von einer Einzelklasse ganz unabhängig ist, eine technische Form, den Sozialismus, um ihn als Ziel und Waffe der Arbeiterschaft in einer englisch geordneten society zu überreichen, damit sie, wiederum ganz wikingermäßig, die Rollen der Räuber und Beraubten umtauschen könne – Expropriation der Expropriateure –, noch dazu mit einem sehr egoistischen Programm der Beuteteilung nach dem Siege.

Eine Verlegenheit ist immer noch die genaue Definition der beiden Klassen. Bürgertum bedeutet innerhalb des marxistischen Gedankenkreises etwas ganz andres als in dem Rousseaus. Es ist ein großer Unterschied, ob man es im Gegensatz zu den Privilegierten der Feudalzeit oder vom Standpunkt der städtischen Arbeitermassen aus gebraucht. Zu den drei Ständen von 1789 gibt es dem Sinne nach keinen vierten mehr, zu dem vierten von heute keinen ersten und zweiten. Sieyès hatte die Geistlichkeit auf 80 000, den Adel auf 120 000, den dritten Stand auf 25 Millionen Köpfe berechnet. Demnach sei der letzte das Volk. Bourgeoisie bedeutet »alle«. Auch der französische Bauer ist Bourgeois.

Der vierte Stand aber ist eine Minderheit und nicht einmal scharf abtrennbar, denn je nach der Bezeichnung – Handarbeiter, Industriearbeiter, Proletarier, Masse – liegen die Grenzen anders. Er wird manchmal so definiert und noch öfter so empfunden, daß er sich von Bourgeoisie recht wenig unterscheidet – es sind wieder »alle« mit Ausnahme der Unternehmer.

Der dritte Stand war ganz eigentlich eine Negation. Er will sagen, daß es keine Stände mehr geben soll. Der vierte Stand aber hebt diese Gleichheit wieder auf. Er stellt eine einzelne Berufsklasse als maßgebend in das soziale Leben; er greift über 1789 zurück und präsentiert sich wieder als ein privilegierter Stand. Das liegt in dem Begriff Diktatur des Proletariats, Herrschaft einer Klasse, die ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit durchaus nicht gewiß ist. Damit ist das Klassenziel in eine Karikatur des alten Standesideals zurückverwandelt. Es ist nur Literatur, nicht Blut und Erziehung, was aus diesen Konstruktionen spricht, aber die Lächerlichkeiten der deutschen Revolution, die Arbeiterräte als neues Oberhaus, die Erhebung des Arbeiters zum englischen Gentleman durch den Streik bei fortlaufender Lohnzahlung haben, wie zur Zeit Cromwells und Robespierres, gezeigt, daß aus Literatur vorübergehend groteske Wirklichkeit werden kann.

20.

Aber auch die Moral von Marx ist englischen Ursprungs. Der Marxismus verrät in jedem Satze, daß er aus einer theologischen und nicht aus einer politischen Denkweise stammt. Seine ökonomische Theorie ist erst die Folge eines ethischen Grundgefühls und die materialistische Geschichtsauffassung bildet nur das Schlußkapitel einer Philosophie, deren Wurzeln bis zur englischen Revolution mit ihrer seitdem für das englische Denken verbindlich gebliebenen Bibelstimmung zurückreichen.

So kommt es, daß seine Grundbegriffe als moralische Gegensätze gefühlt sind. Die Worte Sozialismus und Kapitalismus bezeichnen das Gute und Böse dieser irreligiösen Religion. Der Bourgeois ist der Teufel, der Lohnarbeiter der Engel einer neuen Mythologie, und man braucht sich nur ein wenig in das vulgäre Pathos des kommunistischen Manifests zu vertiefen, um das independentische Christentum hinter der Maske zu erkennen. Die soziale Evolution ist der »Wille Gottes«. Das »Endziel« hieß früher die ewige Seligkeit, der »Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft« das jüngste Gericht.

Damit lehrt Marx die Verachtung der Arbeit. Vielleicht hat er das nicht einmal gefühlt. Arbeit, harte, lange, ermüdende Arbeit ist ein Unglück, müheloser Erwerb ist ein Glück. Hinter der echt englischen Geringschätzung des Mannes, der nur seine Hände hat, um leben zu können, steht der Instinkt des Wikingers, dessen Beruf es ist, Beute zu machen und nicht – seine Segel zu flicken. Deshalb ist in England der Handarbeiter mehr Sklave als irgendwo. Er ist es moralisch; er fühlt, daß sein Erwerb ihn vom Namen eines Gentleman ausschließt. In den Begriffen Bourgeoisie und Proletariat stehen die rein englischen Wertungen von Händlergewinn und Handarbeit Und nicht von Handarbeit und Kopfarbeit. Wie zu Tories und Whigs, hat der »Kopfarbeiter« auch zu diesen Wirtschaftsparteien Stellung zu nehmen, und im damaligen England optierte er – als Gentleman – für das Händlertum. sich gegenüber. Das eine ist Glück, das andre Unglück, das eine vornehm, das andre gemein. Der Haß des Unglücklichen aber sagt: das erste ist der Beruf des Bösen, das zweite der des Guten.

Und so erklärt sich die Geistesverfassung von Marx, aus der seine Gesellschaftskritik hervorgegangen ist und die ihn für den echten Sozialismus so verhängnisvoll gemacht hat. Er kannte das Wesen der Arbeit nur in englischer Auffassung, als das Mittel reich zu werden, als ein Mittel ohne sittliche Tiefe, denn nur der Erfolg, das Geld, die sichtbar gewordene Gnade Gottes war von ethischer Bedeutung. Dem Engländer fehlt der Sinn für die Würde der strengen Arbeit. Sie entadelt, sie ist eine häßliche Notwendigkeit – wehe dem, der nichts hat als sie, der nichts besitzt ohne immer neue Arbeit und vor allem, der nie etwas besitzen wird. Hätte Marx den Sinn der preußischen Arbeit verstanden, der Tätigkeit um ihrer selbst willen, als Dienst im Namen der Gesamtheit, für »alle« und nicht für sich, als Pflicht, die adelt ohne Rücksicht auf die Art der Arbeit, so wäre sein Manifest vermutlich nie geschrieben worden.

Aber hier unterstützte ihn sein jüdischer Instinkt, den er selbst in seiner Schrift über die Judenfrage gekennzeichnet hat. Der Fluch der körperlichen Arbeit am Anfang der Genesis, das Verbot, den Sonntag durch Arbeit zu schänden, das machte ihm das alttestamentliche Pathos des englischen Empfindens zugänglich. Und deshalb sein Haß gegen die, welche nicht zu arbeiten brauchen. Der Sozialismus Fichtes würde sie als Faulenzer verachten, als Überflüssige, Pflichtvergessene, Schmarotzer des Lebens, der Instinkt von Marx aber beneidet sie. Sie haben es zu gut und deshalb soll man sich gegen sie auflehnen. Er hat dem Proletariat die Mißachtung der Arbeit eingeimpft. Seine fanatischsten Jünger wollen die Vernichtung der ganzen Kultur, um die Menge der unentbehrlichen Arbeit möglichst herabzusetzen. Luther hatte die schlichteste Werktätigkeit als gottgefällig gerühmt, Goethe die »Forderung des Tages«; vor den Augen von Marx aber schwebt das Ideal des proletarischen Phäaken, der alles mühelos besitzt – das ist der Endsinn jener Expropriation der Glückseligen. Und er hat Recht dem englischen Instinkt gegenüber. Was der Engländer Glück nennt, der geschäftliche Erfolg, der körperliche Arbeit erspart, der den Menschen damit zum Gentleman macht, sollte allen – Engländern zukommen. Für uns ist das gemein, der Geschmack von Mob und Snob.

Diese Ethik beherrscht seine ökonomischen Vorstellungen. Sein Denken ist durchaus manchesterlich; es gleicht vollkommen dem Cobdens, der gerade damals die Freihandelslehre der Whigs zum Siege führte. Marx bekämpft den Kapitalismus, der seine Rechtfertigung aus Bentham und Shaftesbury holt und sie von Adam Smith formulieren läßt; da er aber nur Kritiker ist, verneinend und unschöpferisch, so empfängt er sein Prinzip von eben der Sache, die er verneint.

Arbeit ist ihm eine Ware, keine »Pflicht«: das ist der Kern seiner Nationalökonomie. Seine Moral wird zur Geschäftsmoral. Nicht daß das Geschäft unsittlich ist, sondern daß der Arbeiter ein Narr war, es nicht zu machen, liest man zwischen den Zeilen. Und der Arbeiter hat es verstanden. Der Lohnkampf wird Spekulation, der Arbeiter wird Händler mit seiner Ware »Arbeit«. Das Geheimnis der berühmten Phrase vom Mehrwert ist es, daß man ihn als Beute empfindet, die der Händler der Gegenpartei davonträgt. Man gönnt sie ihm nicht. Der Klassenegoismus ist zum Prinzip erhoben. Der Handarbeiter will nicht nur handeln, sondern er will den Markt beherrschen. Der echte Marxist ist dem Staat aus genau demselben Grunde feindlich gesinnt wie der Whig: er hindert ihn in der rücksichtslosen Verfechtung seiner privaten Geschäftsinteressen. Marxismus ist der Kapitalismus der Arbeiterschaft. Man denke an Darwin, der Marx geistig ebenso nahe steht wie Malthus und Cobden. Der Handel ist stets als Kampf ums Dasein gedacht. In der Industrie handelt der Unternehmer mit der Ware »Geld«, der Handarbeiter mit der Ware »Arbeit«. Marx möchte dem Kapital das Recht auf Privatinteressen entziehen, aber er weiß es nur durch das Recht der Arbeiter auf Privatinteressen zu ersetzen. Das ist unsozialistisch, aber echt englisch.

Denn Marx ist auch darin Engländer geworden: In seinem Denken kommt der Staat nicht vor. Er denkt im Bilde der society, staatlos. Es gibt wie im politisch-parlamentarischen Dasein Englands, so im wirtschaftlichen Leben seiner Welt nur ein System zweier souveräner Parteien, nichts was über den Parteien steht. Es ist also nur Kampf, kein Schiedsgericht, nur Sieg oder Niederlage, nur die Diktatur einer der beiden Parteien denkbar. Die Diktatur der kapitalistischen, der bösen Partei will das Manifest durch die der proletarischen, der guten, ersetzen. Andre Möglichkeiten sieht Marx nicht.

Aber der preußisch-sozialistische Staat steht jenseits von diesem gut und böse. Er ist das ganze Volk, und seiner unbedingten Souveränität gegenüber sind beide Parteien nur – Parteien, Minderheiten, die beide der Allgemeinheit dienen. Sozialismus ist, rein technisch gesprochen, das Beamtenprinzip. Jeder Arbeiter erhält letzten Endes den Charakter eines Beamten statt eines Händlers, jeder Unternehmer ebenso. Es gibt Industriebeamte und Handelsbeamte so gut wie militärische und Verkehrsbeamte. Das ist im größten Stile in der ägyptischen Kultur und wieder ganz anders in der chinesischen durchgeführt worden. Es ist die innere Form der politischen Zivilisation des Abendlandes und schon in den gotischen Städten mit ihren Zünften und Gilden, schon im System gotischer Dome symbolisch ausgedrückt, wo jedes kleine Glied notwendiger Teil eines dynamischen Ganzen ist. Das hat Marx nicht verstanden. Sein Horizont und seine geistige Gestaltungskraft reichten nur so weit, um eine private Händler gesellschaft in eine private Arbeiter gesellschaft umzustülpen. Als Kritiker von erstem Range, ist er als Schöpfer ohnmächtig. Sein beständiges Ausweichen vor der Frage, wie er sich denn die Regierungsform dieses riesenhaften Weltmechanismus denke, sein dilettantisches Lob des aus den besonderen Verhältnissen einer belagerten Großstadt entstandenen und auch so nicht lebensfähigen »Rätesystems« der Pariser Kommune von 1871 beweisen es. Das Schöpferische lernt man nicht. Man hat es oder hat es nicht. Die gesamte Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts hat nur einen Schöpfer großen Stils hervorgebracht, einen Politiker, der nicht zu schreiben, sondern zu regieren wußte: Bebel, sicher nicht die erste Intelligenz seiner Partei, aber ihr erster und einziger Organisator. Für einen Herrscher kommen ganz andre Talente in Betracht als Intelligenz im Literatensinne. Napoleon duldete keine »Bücherschreiber« um sich.

Aus dem wirtschaftlichen Darwinismus des Engländers und dem Zweiklassensystem von Marx ergibt sich nun die natürliche Waffe im Kampf zwischen Händlertum und handelnder Arbeiterschaft: der Streik. Durch den Streik wird dem Käufer die Ware »Arbeit« verweigert. Durch den Streik der Gegenpartei, die Aussperrung, wird dem Käufer die Ware »Geld« verweigert. Eine Reservearmee von Arbeitern sichert den Käufern von Geld, eine Reservearmee von Unternehmern (Arbeitermangel) den Käufern von Arbeit ihren Absatz. Der Streik ist das unsozialistische Kennzeichen des Marxismus, das klassische Merkmal seiner Herkunft aus einer Händlerphilosophie, der Marx aus Instinkt und Gewöhnung angehörte.

Im Staate ist dagegen Arbeit keine Ware, sondern eine Pflicht der Allgemeinheit gegenüber, und es gibt – das ist preußische Demokratisierung – keinen Unterschied in der sittlichen Würde der Arbeit: der Richter und Gelehrte »arbeiten« so gut wie der Bergmann und Eisendreher. Es war deswegen englisch gedacht, daß in der deutschen Revolution der Handarbeiter das übrige Volk ausbeutete, indem er für möglichst wenig Arbeit möglichst viel Geld erpreßte und seine »Ware« an Bedeutung über jede andre erheben wollte. Im Kampfmittel des Streiks liegt die Voraussetzung, daß es kein Volk als Staat, sondern nur Parteien gibt. Marxistisch, also englisch ist der Gedanke des freien Lohnkampfes und nach dem Siege der proletarischen Partei die einseitig souveräne Festsetzung der Löhne.

Der preußische Gedanke ist die unparteiische staatliche Festsetzung des Lohnes für jede Art von Arbeit, nach Maßgabe der wirtschaftlichen Gesamtlage planmäßig abgestuft, im Interesse des Gesamtvolkes und nicht einer einzelnen Berufsklasse. Das ist das Prinzip der Beamtengehaltsordnung, auf alle Arbeitenden angewandt. Es schließt das Verbot des Streiks als eines antistaatlichen und händlerischen Privatmittels ein. Die Festsetzung der Löhne muß Arbeitgebern und Arbeitern entzogen und einem allgemeinen Wirtschaftsrat übertragen werden, so daß beide mit einer festen Größe zu rechnen haben, wie das bei andern Größen der Betriebsführung und Lebenshaltung längst der Fall ist. Dabei wäre an ein System zu denken, wonach jeder Arbeitende, der Offizier und Verwaltungsbeamte so gut wie der »Handarbeiter«, ein Konto bei einer Art Staats- und Sparbank hat, welcher die Einheitsbeträge von den zur Zahlung Verpflichteten im Ganzen zu überweisen sind. Dem einzelnen wird dann nach einem bestimmten Verteilungsmodus ein nach Dienstalter und Zahl der Familienglieder abgestufter Betrag gutgeschrieben.

Der Marxismus ist gegenüber den angebornen Formen des preußisch-sozialistischen Menschen sinnlos. Er kann sie verneinen und abschwächen, aber sie werden sich endlich wie alles Lebendige und Natürliche dem Theoretischen gegenüber als stärker erweisen. Im Bereich des englischen Wesens aber ist er zu Hause; hier wird er besser verstanden als der echte Sozialismus und hier ist mit der ernsthaften Eröffnung des Zweikampfs der wirtschaftlichen Parteien der Parlamentarismus alten Stils zu Ende. Die beiden von der Oberklasse gebildeten Parteien des Reichtums waren politisch konstituiert und in wirtschaftlichen Fragen im letzten Grunde einig. Selbst der Kampf um das Freihandelssystem, in welchem um 1850, der letzten Zeit des klassischen Parlamentarismus, die Whigs siegten, wurde in vollendeten Formen ausgetragen. Tories und Whigs unterschieden sich nur, indem sie Krieg und Unterwerfung oder kaufmännische Durchdringung, den Mut oder die List des Piraten vorzogen. Jetzt aber bildet ein wirtschaftlicher Gegensatz zwei neue Parteien – des Geldes und der Arbeit – und dieser Kampf läßt sich nicht mehr mit parlamentarischen Mitteln führen. Hier ist nicht mehr die Form, sondern die Sache bestritten und da gibt es, wenn man sich nicht einem fremden Prinzip, dem des Staates als einer parteilosen Autorität unterwerfen will, nur die endgültige Unterdrückung der einen Wirtschaftspartei durch die andre.

21.

Marx hat nun das ohnehin stark schematische und von einem sehr fragwürdigen Blickpunkt aus aufgenommene Bild des industriellen England durch einfache Verlängerung der Perspektive über die gesamte Geschichte ausgedehnt. Er behauptet die Gültigkeit seiner wirtschaftlichen Konstruktionen für die ganze »menschliche Gesellschaft« und zwar mit dem Zusatz, daß sie das einzig Wesenhafte im Lauf der Geschichte seien. Er gleicht darin Darwin, der ebenfalls von Malthus ausging und sein System für »alle Organismen« als gültig behauptete, während es in der Tat nur auf die menschenähnlicheren höhern Tiere paßt und absurd wird, wenn man Einzelheiten wie Zuchtwahl, Mimicry und Vererbung auf Spaltpilze und Korallentiere ernstlich anwendet.

Die materialistische Geschichtsauffassung, welche die ökonomische Lage als Ursache (in der physikalischen Bedeutung des Wortes) und Religion, Recht, Sitte, Kunst, Wissenschaft als Wirkungen ansetzt, hat in diesem späten Stadium ohne Zweifel etwas Überzeugendes, weil sie sich an das Denken irreligiöser und traditionsloser Großstadtmenschen wendet: Nicht etwa, daß die wirtschaftliche Situation wirklich »Ursache«, sondern daß Kunst und Religion kraftlos, leer, äußerlich geworden sind und nun in der Tat als Schatten der einzigen kräftig entwickelten Ausdrucksform der Zeit wirken. Gerade das aber ist vor allem englisch; die Religion als »cant«, die Kunst als »comfort« der Oberklasse und als Almosen der Unterklasse (»die Kunst dem Volke«) sind mit dem englischen Lebensstil in die andern Länder gedrungen.

Aber Hegel steht über, sein Schüler Marx unter der Ebene historischer Tatsächlichkeit. Wenn man Hegels Metaphysik beseitigt, so erscheint ein Staatsdenker von so starkem Wirklichkeitssinn, wie die neuere Philosophie keinen zweiten aufweist. Er stellt als Preuße aus geistiger Wahlverwandtschaft den Staat mit derselben Sicherheit in den Mittelpunkt seiner sehr tief, beinahe goethisch gefaßten Entwicklung, wie Marx als Wahlengländer die Wirtschaft in den Mittelpunkt seiner mechanisch-darwinistischen »Evolution« (zu deutsch »Fortschritt«). Der Staat ist bei Hegel der Geschichtsbildner; Politik ist Geschichte. »Menschliche Gesellschaft« ist nicht sein Wort. Die hohen Beamten der Generation Bismarcks waren zum großen Teil strenge Hegelianer. Marx aber denkt die Geschichte ohne Staat, Geschichte als Arena von Parteien, Geschichte als Widerstreit wirtschaftlicher Privatinteressen. Materialistische Geschichtsauffassung ist englische Geschichtsauffassung, der Aspekt eines ungebundnen Wikinger- und Händlervolkes.

Aber die geistigen Voraussetzungen dieser Denkweise sind heute nicht mehr vorhanden. Das 19. Jahrhundert war das der Naturwissenschaft; das 20. gehört der Psychologie. Wir glauben nicht mehr an die Macht der Vernunft über das Leben. Wir fühlen, daß das Leben die Vernunft beherrscht. Menschenkenntnis ist uns wichtiger als abstrakte und allgemeine Ideale; aus Optimisten sind wir Skeptiker geworden: nicht was kommen sollte, sondern was kommen wird, geht uns an; und Herr der Tatsachen bleiben ist uns wichtiger als Sklave von Idealen werden. Die Logik des Naturbildes, die Verkettung von Ursache und Wirkung scheint uns oberflächlich; nur die Logik des Organischen, das Schicksal, der Instinkt, den man fühlt, dessen Allmacht man im Wechsel der Dinge schaut, zeugt von der Tiefe des Werdens. Der Marxismus ist eine Ideologie. Er trägt die Zeichen davon auch in seiner Geschichtsteilung, die der Materialist vom Christentum übrig behielt, nachdem die Macht des Glaubens erloschen war. Vom Altertum über das Mittelalter zur Neuzeit führt der Weg der Evolution, an dessen Ende der verwirklichte Marxismus, das irdische Paradies steht. Es ist wertlos, dies Bild zu widerlegen. Dem modernen Menschen einen neuen Blick zu geben, aus dem von selbst, mit Notwendigkeit ein neues Bild folgt, darauf kommt es an. Das Leben hat kein »Ziel«. Die Menschheit hat kein »Ziel«. Das Dasein der Welt, in welcher wir auf unserm kleinen Gestirn eine kleine Episode abspinnen, ist etwas viel zu Erhabenes, als daß Erbärmlichkeiten wie »das Glück der Meisten« Ziel und Zweck sein könnten. In der Zwecklosigkeit liegt die Größe des Schauspiels. So empfand es Goethe. Aber dieses Leben, das uns geschenkt ist, diese Wirklichkeit um uns, in die wir vom Schicksal gestellt sind, mit dem höchstmöglichen Gehalt erfüllen, so leben, daß wir vor uns selbst stolz sein dürfen, so handeln, daß von uns irgendetwas in dieser sich vollendenden Wirklichkeit fortlebt, das ist die Aufgabe. Wir sind nicht »Menschen an sich«. Das gehört zur vergangnen Ideologie. Weltbürgertum ist eine elende Phrase. Wir sind Menschen eines Jahrhunderts, einer Nation, eines Kreises, eines Typus. Das sind die notwendigen Bedingungen, unter denen wir dem Dasein Sinn und Tiefe verleihen können, Täter, auch durch das Wort Täter sein können. Je mehr wir diese gegebenen Grenzen füllen, desto weiter ist unsre Wirkung. Plato war Athener, Cäsar war Römer, Goethe war Deutscher: daß sie das ganz und zuerst waren, war die Voraussetzung ihrer welthistorischen Wirkung.

Von diesem Standpunkt aus stellen wir heute, mitten in der deutschen Revolution, Marxismus und Sozialismus gegenüber. Der Sozialismus, das noch immer unverstandene Preußentum ist ein Stück Wirklichkeit höchsten Ranges, Marx ist – Literatur. Eine Literatur veraltet, eine Wirklichkeit siegt oder stirbt. Man vergleiche die sozialistische Kritik auf den internationalen Kongressen mit einer sozialistischen Tatsache, der Bebelpartei. Die Redensart, daß Ideen die Weltgeschichte machen, ist so, wie sie verstanden sein sollte, interessiertes Literatengeschwätz. Ideen spricht man nicht aus. Der Künstler schaut, der Denker fühlt, der Staatsmann und Soldat verwirklichen sie. Ideen werden nur durch das Blut, triebhaft, nicht durch abstraktes Nachdenken bewußt. Sie bezeugen ihr Dasein durch den Stil von Völkern, den Typus von Menschen, die Symbolik von Taten und Werken, und ob diese Menschen überhaupt von ihnen wissen, ob sie darüber sprechen und schreiben oder nicht, richtig oder falsch, das ist wenig wichtig. Das Leben ist das erste und letzte und das Leben hat kein System, kein Programm, keine Vernunft; es ist für sich selbst und durch sich selbst da und die tiefe Ordnung, in der es sich verwirklicht, läßt sich nur schauen und fühlen – und dann vielleicht beschreiben, aber nicht nach gut und böse, richtig oder falsch, nützlich und wünschenswert zerlegen.

Deshalb ist der Marxismus keine Idee. In ihm sind sichtbare Zeichen und Formen zweier Ideen verstandesmäßig und also willkürlich zusammengestellt. Diese Denkweise ist vorübergehend. Sie war wirksam, weil jedes Volk diese Begriffe als Waffe benutzt hat. Wiederum ist es gleichgültig, ob man sie verstanden hat oder nicht. Sie wirkten, weil man bei dem Klang der Worte und der Wucht der Sätze an irgendetwas glaubte. An was – das war wiederum die unveränderliche Idee des eignen Lebens, das eigne Blut.

Der Marxismus bricht mit der schallenden Orgie seines Versuchs zur Wirklichkeit heute zusammen. Das kommunistische Manifest tritt mit dem Jahre 1918 genau so in das Dasein einer bloßen literarischen Merkwürdigkeit wie der Contrat social mit dem Jahre 1793. Der wirkliche, instinktive Sozialismus als Ausdruck altpreußischen Wesens, literarisch nach England verirrt und zu einer antienglischen Theorie ausgedörrt, kehrt heute zum Bewußtsein seines Ursprungs und seiner Bedeutung zurück.


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