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Engländer und Preußen

10.

Drei Völker des Abendlandes haben den Sozialismus in einem großen Sinne verkörpert: Spanier, Engländer, Preußen. Von Florenz und Paris aus formte sich der anarchische Gegensinn in zwei andern: Italienern und Franzosen. Der Kampf beider Weltgefühle ist das Grundgerüst dessen, was wir als neuere Weltgeschichte bezeichnen.

Gegen den gotischen Geist, der mit seinem ungeheuren Hang zum Grenzenlosen sich in den Gestalten der großen Kaiser und Päpste, den Kreuzzügen, den Dombauten, dem Rittertum und den Mönchsorden entlud, lehnte sich im 15. Jahrhundert die Seele von Florenz auf. Was wir Renaissance nennen, ist der antigotische Wille zur begrenzten Kunst und zierlichen Gedankenbildung, ist mit dem Haufen von Räuberstaaten all jener Republiken und Kondottieri, der Augenblickspolitik, wie sie in Macchiavellis klassischem Buche fortlebt, dem engen Horizont aller Machtpläne selbst des Vatikans zu dieser Zeit ein Protest gegen die Tiefe und Weite des faustischen Weltbewußtseins. In Florenz ist der Typus des italienischen Volkes entstanden.

Zum zweitenmal erhebt sich der Widerspruch im großen Jahrhundert Frankreichs. Racine stellt sich da neben Rafael, der esprit der Pariser Salons neben den des mediceischen Kreises. In den Raubkriegen Ludwigs XIV. wiederholt sich die Politik der Borgia und Sforza, in dem »l'etat c'est moi« das Renaissanceideal des freien Herrenmenschen. Franzosen und Italiener sind Nächstverwandte.

Zwischen der Geburt dieser Völker aber liegt das spanische Jahrhundert, vom Sturm auf Rom (1527), wo spanischer Geist den Renaissancegeist brach, bis zum Pyrenäenfrieden (1659), wo er dem französischen wich. Hier lebt die Gotik zum letztenmal in großartigen Formen auf. Im kastilianischen Granden geht das Rittertum zu Ende – Don Quijote, der spanische Faust! –, die Jesuiten sind die einzige und letzte große Gründung seit jenen Ritterorden, die im Kampf gegen die Ungläubigen entstanden waren. Das Reich der spanischen Habsburger verwirklichte die Hohenstaufenidee, das Konzil von Trient die Idee des Papsttums.

Mit dem spanisch-gotischen Geist des Barock breitet sich ein starker und strenger Lebensstil über die westeuropäische Welt. Der Spanier fühlt eine große Mission in sich, kein »Ich«, sondern ein »Es«. Er ist Soldat oder Priester. Er dient Gott oder dem König. Erst der preußische Stil hat ein Ideal von solcher Strenge und Entsagung wieder ins Dasein gerufen. Im Herzog Alba, dem Mann der großen Pflichterfüllung, hätten wir verwandte Züge finden sollen. Das spanische und preußische Volk allein sind gegen Napoleon aufgestanden. Und hier, im Escorial, ist der moderne Staat geschaffen worden. Die große Interessenpolitik der Dynastien und Nationen, die Kabinettsdiplomatie, der Krieg als planmäßig herbeigeführter und berechneter Schachzug inmitten weitreichender politischer Kombinationen – das alles stammt von Madrid. Bismarck war der letzte Staatsmann spanischen Stils.

Das politische Machtgefühl von Florenz und Paris wird im Grenzhader befriedigt. Leibniz hat Ludwig XIV. vergebens die Eroberung Ägyptens vorgeschlagen, Kolumbus an beiden Orten vergebens angeklopft. Pisa unterwerfen, die Rheingrenze gewinnen, den Nachbar verkleinern, den Feind demütigen – in dieser Bahn läuft seitdem das politische Denken. Der spanische Geist will sich den Planeten erobern, ein Reich, in dem die Sonne nicht untergeht. Kolumbus trat in seinen Dienst; man vergleiche die spanischen Konquistadoren mit den italienischen Kondottieri. Die Spanier waren es, welche die ganze Erdoberfläche zum Objekt westeuropäischer Politik gemacht haben. Italien selbst wurde eine spanische Provinz. Und man verstehe den mächtigen Gegensatz wohl, der den Sturm auf Rom herbeiführte: der Renaissancekirche wurde da ein Ende gemacht. Ihr und den wesensverwandten Reformationskirchen trat der spanisch-gotische Stil entgegen, der bis heute den Vatikan beherrscht: die Idee der Weltherrschaft ist seitdem nicht wieder erloschen. Von diesem Augenblick an steht der italienische und französische Volksgeist der Kirche feindselig gegenüber, nicht insoweit sie die Religion, sondern soweit sie den spanischen Gedanken der Universalherrschaft darstellt. Die gallikanische Kirchenpolitik der französischen Könige, der Revolution, Napoleons, die antiklerikale Haltung des Königreichs Italien sind so zu erklären. Die Kirche aber stützte sich auf Madrid und Wien.

Denn auch Wien ist eine Schöpfung spanischen Geistes. Nicht die Sprache allein schafft ein Volk. Hier wurde ein Volk, das österreichische, durch den Geist eines Hofes, dann der Geistlichkeit, dann des Adels geschaffen. Es ist den übrigen Deutschen innerlich fremd geworden, unwiderruflich, denn ein Volk von alter Züchtung kann sich nicht ändern, auch wenn es sich vorübergehend einmal darüber täuschen sollte. Dies Volk ist habsburgisch und spanisch, auch wenn niemand vom Hause Habsburg mehr leben sollte; möge sein Verstand nein sagen, sein Instinkt bejaht es. Das spanische Deutschland, in Gestalt des Kaiserhauses, erlag 1648 dem französischen in Gestalt der Einzelfürsten, deren Höfe von nun an im Stil von Versailles, nämlich partikularistisch und territorial, auf Grenzerweiterungen versessen und Universalplänen abhold dachten, handelten, lebten. Wallensteins mächtige Entwürfe des Marsches auf Konstantinopel und der Verwandlung der Ostsee in eine spanische Flottenbasis bezeichnen den Gipfel, sein Abfall und Tod die große Wendung. Das spanisch-französische Deutschland wurde bei Königgrätz besiegt. Aber noch 1914 war die Kriegserklärung Österreichs an Serbien ein diplomatischer Akt im spanischen Kabinettstil des 16. Jahrhunderts, während England mit den taktisch überlegenen diplomatischen Mitteln des 19. den Weltkrieg in dieser Form nicht erklärte, sondern erzwang.

Der englische Friede zu Fontainebleau, der preußische zu Hubertusburg, beide 1763, schließen das französische Jahrhundert ab. Mit dem Rücktritt der Romanen beginnt die Leitung der westeuropäischen Schicksale durch die germanischen Völker. Die Geburt des modernen englischen Volkes liegt im 17., die des preußischen im 18. Jahrhundert. Es ist das jüngste und letzte. Was hier an der Themse und Spree aus unverbrauchtem Menschentum gestaltet wurde, verkörpert die Züge faustischen Machtwillens und Hanges zur Unendlichkeit in der reinsten und energischsten Form. Italienisches und französisches Dasein wirken daneben klein, die Zeiten ihrer politischen Höhe sind Zwischenakte in einem großen Drama. Nur spanischer, englischer, preußischer Geist haben der europäischen Zivilisation Universalideen gegeben: Ultramontanismus, Kapitalismus, Sozialismus in einem bedeutsameren Sinne, als er heute mit diesen Worten verbunden ist.

Und doch – mit Frankreich ist im Abendlande auch die Kultur zu Ende. Paris hat alle Schöpfungen der gotischen Frühzeit, der italienischen Renaissance, des spanischen Barock in die letzte, reifste, süßeste Form gegossen: Rokoko. Es gibt nur französische Kultur. Mit England beginnt die Zivilisation. Frankreich beherrscht den Geist, die Geselligkeit, den Geschmack, England den Stil des praktischen Lebens, den Stil des Geldes.

11.

Ich möchte über den Begriff Preußentum nicht mißverstanden werden. Obwohl der Name auf die Landschaft hinweist, in der es eine mächtige Form gefunden und eine große Entwicklung begonnen hat, so gilt doch dies: Preußentum ist ein Lebensgefühl, ein Instinkt, ein Nichtanderskönnen; es ist ein Inbegriff von seelischen, geistigen und deshalb zuletzt doch auch leiblichen Eigenschaften, die längst Merkmale einer Rasse geworden sind, und zwar der besten und bezeichnendsten Exemplare dieser Rasse. Es ist längst nicht jeder Engländer von Geburt ein »Engländer« im Sinne einer Rasse, nicht jeder Preuße ein »Preuße«. In diesem Worte liegt alles, was wir Deutschen nicht an vagen Ideen, Wünschen, Einfällen, sondern an schicksalhaftem Wollen, Müssen, Können besitzen. Es gibt echt preußische Naturen überall in Deutschland – ich denke da an Friedrich List, an Hegel, an manchen großen Ingenieur, Organisator, Erfinder, Gelehrten, vor allem auch an einen Typus des deutschen Arbeiters – und es gibt seit Roßbach und Leuthen unzählige Deutsche, die tief in ihrer Seele ein Stückchen Preußentum besitzen, eine stets bereite Möglichkeit, die sich in großen Augenblicken der Geschichte plötzlich meldet. Aber echt preußische Wirklichkeiten sind bis jetzt nur die Schöpfungen Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs des Großen: der preußische Staat und das preußische Volk. Indessen jede überlegene Wirklichkeit ist fruchtbar. Im heutigen Begriff des Deutschen, im heutigen Typus des Deutschen ist das preußische Element verjährten Ideologien gegenüber bereits stark investiert. Die wertvollsten Deutschen wissen es gar nicht. Es ist mit seiner Summe von Tatsachensinn, Disziplin, Korpsgeist, Energie ein Versprechen der Zukunft, noch immer aber nicht nur im Volke, sondern in jedem einzelnen von jenem Wirrwarr absterbender, der abendländischen Zivilisation gegenüber nichtssagender und gefährlicher, obwohl oft sympathischer Züge bedroht, für die das Wort »Deutscher Michel« längst bezeichnend geworden ist.

Denn der »Deutsche« in diesem idealischen Sinne von Professoren und Schwärmern ist eine Unform, durch die gemeinsame Sprache notdürftig als Einheit festgestellt. Er ist unpolitisch und unpraktisch, keine »Rasse« im Sinne einheitlich auf das Wirkliche gerichteter Instinkte. Ein Rest erstarrter innerer Gotik ist da noch übrig mit dem Rankenwerk und Wirrsal einer ewig-kindlichen Seele. Die deutsche Romantik und ihre verträumte Politik von 1848 haben sie wieder zum Vorschein gebracht. Ein gotischer Rest ist aber auch, mit englischen Fetzen und Begriffen verbrämt, jenes triviale Kosmopolitentum und Schwärmen für Völkerfreundschaften und Menschheitsziele, das in ernsten Fällen bis zum Verrat aus Einfalt oder Ideologie sich steigernd das singt oder schreibt oder redet, was das spanische Schwert und das englische Geld taten. Das sind die ewigen Provinzler, die einfältigen Helden deutscher Ichromane mit innerer Entwicklung und erstaunlichem Mangel an Fähigkeiten der Welt gegenüber, die Biedermänner aller Vereine, Biertische und Parlamente, die diesen Mangel an eignen Fähigkeiten für den Fehler der staatlichen Einrichtungen halten, mit denen sie nicht fertig werden können. Schläfriger Hang zu englischem Liberalismus mit seiner Feindseligkeit gegen den Staat, die man gern nachfühlt, während man über die straffe Initiative des englischen Privatmannes auch im Politischen hinwegsieht, spießbürgerlicher Hang zu italienisch-französischer Kleinstaaterei, der längst um französisch frisierte Höfe herum ein partikularistisches Bürgertum hat wachsen lassen, das nicht über den Grenznachbarn hinausdenkt und Ordnung als kulturfeindlich empfindet, ohne daß man den Geist dieser Kultur sich einzuimpfen vermöchte, Eifer für spanisch-kirchliche Autorität, die sich in Konfessionsgezänk verläuft – alles das unpraktisch, subaltern, dumm aber ehrlich, formlos ohne Hoffnung auf künftige Formen, verjährt, auch seelisch unfruchtbar, ertötend, verkleinernd, herabziehend, der innere Feind jedes Deutschen für sich und aller Deutschen als Nation – das ist das Micheltum, das neben den Typen der fünf schöpferischen Völker als der einzige Typus einer Verneinung steht, Zeugnis für eine Art gotischen Menschentums, aus der die reifende Kultur jenseits von Renaissance und Reformation keine Rasse im neuen Sinne entwickelt hat.

12.

Die organisierte Besiedlung der slavischen Ostmark erfolgte durch Deutsche aller Stämme. Beherrscht aber wurde sie durch Niedersachsen und so ist der Kern des preußischen Volkes am nächsten dem englischen verwandt. Es sind dieselben Sachsen, Friesen, Angeln, die in freien Wikingerscharen, oft unter normannischem und dänischem Namen, die keltischen Briten unterwarfen. Was längs der Themse und in jener Sandwüste um Havel und Spree, die an Öde, Großheit und Schwere des Schicksals nur in Latium, der römischen Campagna, ihresgleichen findet, in jener frühen Zeit aufwuchs, läßt die Urahnen seines Wollens heute noch in den starren Gestalten Widukinds, des Markgrafen Gero und Heinrichs des Löwen erkennen.

Aber es waren zwei sittliche Imperative gegensätzlichster Art, die sich aus dem Wikingergeist und dem Ordensgeist der Deutschritter langsam entwickelten. Die einen trugen die germanische Idee in sich, die andern fühlten sie über sich: persönliche Unabhängigkeit und überpersönliche Gemeinschaft. Heute nennt man sie Individualismus und Sozialismus. Es sind Tugenden ersten Ranges, die hinter diesen Worten stehen: Selbstverantwortung, Selbstbestimmung, Entschlossenheit, Initiative dort, Treue, Disziplin, selbstlose Entsagung, Selbstzucht hier. Frei sein – und dienen: es gibt nichts Schwereres als dieses beide, und Völker, deren Geist, deren Sein auf solche Fähigkeiten gestellt ist, die wirklich frei sein oder dienen können, dürfen sich wohl an ein großes Schicksal wagen. Dienen – das ist altpreußischer Stil, dem altspanischen verwandt, der auch ein Volk im ritterlichen Kampfe gegen die Heiden geschmiedet hatte. Kein »Ich«, sondern ein »Wir«, ein Gemeingefühl, in dem jeder mit seinem gesamten Dasein aufgeht. Auf den einzelnen kommt es nicht an, er hat sich dem Ganzen zu opfern. Hier steht nicht jeder für sich, sondern alle für alle mit jener inneren Freiheit in einem großen Sinne, der libertas oboedientiae, der Freiheit im Gehorsam, welche die besten Exemplare preußischer Zucht immer ausgezeichnet hat. Die preußische Armee, das preußische Beamtentum, die Arbeiterschaft Bebels – das sind Produkte jenes züchtenden Gedankens. Der andre aber hat noch spät einmal alles, was Wikingerblut im Leibe hatte, in die amerikanischen Prärien hinausgetrieben, Engländer, Deutsche, Skandinavier, eine späte Fortsetzung jener Grönlandfahrten zur Eddazeit, welche um 900 schon die kanadische Küste berührt hatten, eine ungeheure Wanderung von Germanen mit der vollen Sehnsucht nach Ferne und grenzenloser Weite, abenteuernde Scharen, aus denen noch ein Volk sächsischen Schlages entstand, aber getrennt vom Mutterboden der faustischen Kultur und deshalb ohne die »innern Basalte« nach dem Ausdruck Goethes, mit Zügen der alten Tüchtigkeit und des alten edlen Blutes, aber ohne Wurzeln und deshalb ohne Zukunft.

So entstehen der englische und der preußische Typus. Es ist der Unterschied zwischen einem Volk, dessen Seele sich aus dem Bewußtsein eines Inseldaseins herausgebildet hat, und einem andern, das eine Mark hütete, die ohne natürliche Grenzen auf allen Seiten dem Feinde preisgegeben war. In England ersetzte die Insel den organisierten Staat. Ein Land ohne Staat war nur unter dieser Bedingung möglich; sie ist die Voraussetzung der modernen englischen Seele, die im 17. Jahrhundert zum Selbstbewußtsein erwachte, als der Engländer auf der britischen Insel unbestritten Herr wurde. In diesem Sinne ist die Landschaft schöpferisch: das englische Volk bildete sich selbst, das preußische wurde im 18. Jahrhundert durch die Hohenzollern herangebildet, die, aus dem Süden stammend, selbst den Geist der märkischen Landschaft empfangen hatten, selbst Diener der Ordensidee des Staates geworden waren.

Maximum und Minimum des überpersönlichen sozialistischen Staatsgedankens, Staat und Nichtstaat, das sind England und Preußen als politische Wirklichkeiten. Denn der englische »Staat« liberalen Stils ist der, welcher gar nicht bemerkt wird, der das Einzeldasein überhaupt nicht in Anspruch nimmt, ihm keinen Gehalt verleiht, ihm nur als Mittel dient. Keine Schulpflicht, keine Wehrpflicht, keine Versicherungspflicht, so ging England durch das Jahrhundert zwischen Waterloo und dem Weltkrieg, um jedes dieser negativen Rechte zu verlieren. Diese Staatsfeindschaft fand ihren Ausdruck in dem Worte society, das state im idealen Sinne verdrängt. Als société geht es in die französische Aufklärung ein; Montesquieu fand: Des sociétés de vingt à trente millions d'hommes – ce sont des monstres dans la nature. Das war ein französisch-anarchischer Gedanke in englischer Fassung. Es ist bekannt, wie Rousseau seinen Haß gegen befehlende Ordnungen hinter dies Wort versteckte, und Marx mit seiner ebenso englisch orientierten Begriffswelt tat es ihm nach. Die deutsche Aufklärung sagte »Gesellschaft« im Sinne von human society, was vor Goethe, Schiller, Herder nicht geschah. Lessing sprach noch vom Menschengeschlecht. Es wurde dann ein Lieblingswort des deutschen Liberalismus, mit dem man den Großes fordernden »Staat« aus seinem Denken streichen konnte.

Aber England setzte an Stelle des Staats den Begriff des freien Privatmannes, der, staatsfremd und ordnungsfeindlich, den rücksichtslosen Kampf ums Dasein verlangt, weil er nur in ihm seine besten, seine alten Wikingerinstinkte zur Geltung bringen kann. Wenn Buckle, Malthus, Darwin später im Kampf ums Dasein die Grundform der society sahen, so hatten sie für ihr Land und Volk vollkommen recht. Aber England hatte diese Form in ihrer hohen Vollendung, deren Keime man in den isländischen Sagas findet, nicht vorgefunden, sondern geschaffen. Schon die Schar Wilhelms des Eroberers, der 1066 England nahm, war eine society von ritterlichen Abenteurern; die englischen Handelskompanien waren es, die ganze Länder eroberten und ausbeuteten, zuletzt noch seit 1890 das innere Südafrika; endlich wurde es die ganze Nation, die allen Wirklichkeiten, dem Eigentum, der Arbeit, den fremden Völkern, den schwächeren Exemplaren und Klassen des eignen Volkes gegenüber den altnordischen Räuber- oder Händlerinstinkt entfaltete, der zuletzt auch die englische Politik zu einer meisterhaften, äußerst wirksamen Waffe im Kampf um den Planeten gestaltete. Der Privatmann ist der ergänzende Begriff zu society; er bezeichnet eine Summe von ethischen, sehr positiven Eigenschaften, die man, wie alles ethisch Wertvollste, nicht lernt, sondern im Blute trägt und in Ketten von Geschlechtern langsam zur Vollkommenheit ausbildet. Schließlich ist die englische Politik eine Politik von Privatleuten und Gruppen von solchen. Das und nichts andres bedeutet parlamentarische Regierung. Cecil Rhodes war ein Privatmann, der Länder eroberte; die amerikanischen Milliardäre sind Privatleute, die Länder durch eine untergeordnete Klasse von Berufspolitikern beherrschen. Der deutsche Liberalismus in seiner sittlichen Wertlosigkeit aber sagt lediglich zum Staate Nein, ohne die Fähigkeit, das durch ein ebenso großgedachtes und energisches Ja zu rechtfertigen.

Von innerm Range kann in Deutschland nur der Sozialismus in irgendeiner Fassung sein. Der Liberalismus ist eine Sache für Tröpfe. Er beschwatzt, was er nicht besitzt. Wir sind einmal so; wir können nicht Engländer, nur Karikaturen von Engländern sein – und das sind wir hinreichend oft gewesen. Jeder für sich: das ist englisch; alle für alle: das ist preußisch. Liberalismus aber heißt: Der Staat für sich, jeder für sich. Das ist eine Formel, nach der sich nicht leben läßt, sofern man nicht in liberaler Weise das eine sagt und das andre zwar nicht will und tut, aber schließlich geschehen läßt.

Es gibt in Deutschland verhaßte und verrufene Grundsätze, verächtlich aber ist auf deutschem Boden allein der Liberalismus, der stets die Unfruchtbarkeit repräsentierte, das Nichtverstehen dessen, was gerade notwendig war und was man nach zwanzig Jahren, wenn man es nicht hatte verderben können, in den Himmel hob, die Unfähigkeit, mitzuarbeiten oder zu entsagen, die gänzlich negative Kritik als Ausdruck nicht eines mächtigen Anderswollens – wie sie die Sozialisten der Bebelzeit übten –, sondern lediglich eines Nichtmögens. Nicht lebenstüchtig, sondern nur gesinnungstüchtig, ohne innere Zucht, ohne Tiefe des lebendigen Seins, ohne eine Ahnung von der straffen Aktivität und Zielsicherheit des englischen Liberalismus, war er immer nur der Stein auf unsrem Wege.

Seit Napoleon hat er sich die Köpfe der Gebildeten Deutschlands erobert; der gebildete Spießbürger, der Bildungsphilister, der unpraktische Gelehrte, dem abstraktes Wissen die Welt verbaut hat, waren immer seine dankbarsten Verteidiger. Mommsen, der sein ungeheures Gebiet mit preußischer Energie beherrschte, der die preußischen Züge im Römertum verstand und bewunderte, hat es im Parlament Bismarck gegenüber doch nur zu verständnisloser Opposition gebracht. Mit ihm vergleiche man den englischen Bearbeiter der History of Greece, Grote, einen Kaufmann und Liberalen. Unsre Schriftsteller und Professoren haben mit der Fruchtbarkeit von Feldmäusen Deutschland mit Büchern und Systemen bevölkert, in denen die englischen Schlagworte des freien Staates, des freien Bürgers, der freien Persönlichkeit, des souveränen Volkes, der allgemeinen, freien und beständig fortschreitenden Menschlichkeit aus der Wirklichkeit englischer Kontore in die deutschen Wolken erhoben wurden. Man muß Bismarck, den Bruno Bauer schon 1880 als sozialistischen Imperialisten bezeichnet hatte, über diese Gebildeten hören, welche die Welt mit ihrer Lektüre verwechselten. Aber auch Bebel verriet seinen stets sicheren Instinkt, als er einmal gegen die Akademiker in seiner Partei lospolterte. Er fühlte den antipreußischen Instinkt des deutschen Gebildeten heraus, der in seinem Staate heimlich an der Disziplin fraß – und er hat recht behalten: nach seinem Tode hat der »gebildete« Sozialist die Kraft der Partei gebrochen, sich mit dem gebildeten liberalen Bürgertum verbündet und mit ihm im Hoftheater zu Weimar die ideologische Szene der Paulskirche noch einmal aufgeführt, wo man nach Professorenweise gelehrte Gespräche über das Problem der Verfassung führte, während Engländer mit oder ohne ein Stück beschriebenen Papiers zu handeln gewußt hätten.

13.

Als Ergebnis dieser Ethik hat der Engländer, abgeschlossen auf seiner Insel, eine Einheit der äußern und innern Haltung erlangt wie kein andres modernes Volk Westeuropas: es entstand die vornehme Gesellschaft, ladies and gentlemen, verbunden durch ein starkes Gemeingefühl, ein durchaus gleichartiges Denken, Fühlen, Sichverhalten. Seit 1750 ist diese prachtvolle gesellschaftliche Haltung für die moderne Zivilisation tonangebend geworden, zuerst in Frankreich. Man denke an den Empirestil, der in London als Hintergrund dieser Lebensart die gesamte Umgebung einem vornehm gepflegten, vom Rokoko her praktisch gezügelten und gemessenen Geschmack unterwarf, vor allem an die Meister des zivilisierten Porträts, Gainsborough und Reynolds. Es war ein Gemeingefühl des Erfolges, des Glücks, nicht der Aufgabe wie das preußische. Es waren Olympier des Geschäfts, heimgekehrte Wikinger beim Mahle, nicht Ritter im Felde: Reichtum war neben altem Adel die Bedingung der Zugehörigkeit und der Stellung innerhalb dieser, Kennzeichen, Ziel, Ideal und Tugend. Nur England besitzt heute, was man gesellschaftliche Kultur nennen könnte – eine andre, philosophischere hat es allerdings nicht – eine tiefe Oberflächlichkeit; das Volk der Denker und Dichter hat so oft nur eine oberflächliche Tiefe.

Eine deutsche, eine preußische Gesellschaft dieser Art gibt es nicht und kann es nicht geben. Eine Gesellschaft von »Ichs« ohne das Pathos eines starken, Gleichförmigkeit schaffenden Lebensgefühls ist immer etwas lächerlich. Der deutsche Individualist und Liberale hat für den Klub den Verein und für die Abendgesellschaft das Festessen erfunden. Dort entwickelt er das Gemeingefühl der Gebildeten.

Statt dessen hat der preußische Stil das ebenso starke und tiefe Standesbewußtsein gezüchtet, ein Gemeingefühl nicht des Ruhens, sondern, der Arbeit, die Klasse als Berufsgemeinschaft und zwar des Berufs mit dem Bewußtsein, für alle, für das Ganze, für den Staat wirksam zu sein: den Offizier, den Beamten, nicht zuletzt die Schöpfung Bebels, den klassenbewußten Arbeiter. Wir haben eine Symbolik in Worten dafür: oben heißt es Kamerad, in der Mitte Kollege, unten in genau demselben Sinn Genosse. Es liegt eine hohe Ethik darin nicht des Erfolges, sondern der Aufgabe. Die Zugehörigkeit gibt nicht der Reichtum, sondern der Rang. Der Hauptmann steht über dem Leutnant, mag der auch Prinz oder Millionär sein. Das französische bourgeois der Revolution sollte die Gleichheit unterstreichen, was weder dem englischen noch dem deutschen Sinn für Distanzen entspricht. Wir Germanen unterscheiden uns nur durch die Herkunft dieser Distanzen, das Distanzgefühl selbst ist uns gemeinsam. Das Schimpfwort bourgeois im Munde des deutschen Arbeiters bezeichnet den, der seiner Meinung nach keine echte Berufsarbeit, der einen sozialen Rang ohne Arbeit hat – es ist das englische Ideal aus der Perspektive des deutschen gesehen. – Dem englischen Snobismus entspricht die deutsche Titelsucht.

Dies Gemeingefühl von Jahrhunderten hat in beiden Fällen eine großartige Einheit der Haltung von Körper und Geist, eine Rasse hier von Erfolgreichen und dort von Arbeitenden herausgebildet. Als äußerer und doch nicht nebensächlicher Ausdruck ist die englische Herrentracht entstanden – Zivilkleidung im eigentlichsten Sinne, die Uniform des Privatmannes – die ohne Einwand den Bereich der westeuropäischen Zivilisation beherrscht, in der England der Welt seine Uniform, den Ausdruck der Freihandelslehre, der Ethik des Habens, des cant angelegt hat. Das Gegenstück ist die preußische Uniform, Ausdruck nicht des privaten Daseins, sondern des öffentlichen Dienstes, nicht des Erfolges der Lebenstätigkeit, sondern der Tätigkeit selbst. »Ich bin der erste Diener meines Staates« sagte der preußische König, dessen Vater das Tragen der Uniform unter Fürsten üblich gemacht hat. Hat man wohl verstanden, was alles in der Bezeichnung »des Königs Rock« liegt? Die englische Gesellschaftskleidung ist ein Zwang, strenger noch als der preußische Uniformzwang. Wer zur Gesellschaft gehört, wird dieser Tracht seines Standes gegenüber nie »in Zivil«, das heißt unter Verletzung von Sitte und Mode unvorschriftsmäßig gekleidet gehen. Aus der englischen Tracht des gentleman aber, in der sich nur ein Engländer vollkommen zu bewegen weiß, wird der »Bratenrock« des deutschen Provinzlers und Biedermannes, unter dem das Herz für Freiheit und Menschenwürde unentwegt schlägt; der Bratenrock als Symbol der Ideale von 1848, den die liberal gewordenen Sozialisten heute mit Stolz einhertragen. Der Franzose endlich, dem faustische Triebe peinlich sind, erfand neben der Tracht des Erfolges und der des Berufs die Damenmode. An die Stelle von business und Dienst tritt – l'amour.

Zur preußischen Art gehört es, daß der Einzelwille im Gesamtwillen aufgeht. Das Offizierkorps, das Beamtentum, die Arbeiterschaft Bebels endlich »das« Volk von 1813, 1870, 1914 fühlen, wollen, handeln als überpersönliche Einheit. Das ist nicht Herdengefühl; es ist etwas unendlich Starkes und Freies darin, das kein nicht Zugehöriger versteht. Das Preußentum ist exklusiv. Es weist selbst in seiner proletarischen Fassung die Arbeiter andrer Länder samt ihrem egoistischen Scheinsozialismus ab. Bedientenseele, Untertanenverstand, Kastengeist – das sind Worte für etwas, das man nur in seiner Ausartung versteht und dann verachtet. Das echte Preußentum verachtet niemand; man fürchtet es.

Nie wird ein Engländer begreifen – die ganze Welt begreift es nicht –, daß mit dem preußischen Stil eine tiefe innere Unabhängigkeit verbunden ist. Ein System sozialer Pflichten verbürgt dem großdenkenden Menschen eine Souveränität der inneren Welt, die mit einem System sozialer Rechte, und das ist das individualistische Ideal, unvereinbar ist. Eine Gemütsverfassung wie die Moltkes ist in England nicht denkbar. Die englische praktische Freiheit bezahlt sich mit der andern: der Engländer ist innerlich Sklave, als Puritaner, als Rationalist und Sensualist, als Materialist. Er ist seit zweihundert Jahren der Schöpfer aller Lehren, die mit der innern Unabhängigkeit aufräumen, zuletzt des Darwinismus, der den gesamten seelischen Zustand von der Einwirkung materieller Faktoren kausal abhängig macht und der in der ganz besonders platten Fassung Büchners und Haeckels die Weltanschauung des deutschen Spießbürgers geworden ist. Der Engländer gehört auch geistig zur »society«. Seine Zivilkleidung drückt auch eine Uniformierung der Gewissen aus. Es gibt für ihn ein privates Handeln, aber kein privates Denken. Eine gleichförmige theologisch gefärbte Weltanschauung von geringem Gehalt verteilt sich über alle. Sie gehört zum guten Ton wie Gehrock und Handschuh. Wenn irgendwo, so ist der Ausdruck Herdengefühl hier am Platze.

14.

Die deutsche Reformation hat keine innerlichen Folgen gehabt. Das Luthertum war ein Ende, kein Anfang. Das gotische Deutschtum lag im Sterben und reckte sich hier zum letzten Mal in einer großen Tat von ganz persönlichem Gehalt auf. Luther ist nur aus der Renaissancestimmung zu erklären, welche damals die sichtbare Kirche durchdrang: daß ihr öffentlicher Geist der des mediceischen Hofes, daß Päpste und Kardinäle Kondottieri, ihre Verwaltung eine systematische Plünderung der Gläubigen, daß der Glaube selbst ein Formproblem, das Verhältnis von Sünde und Buße eine Frage des Geschmacks wie etwa die nach dem Verhältnis von Säule und Architrav geworden war, dagegen empörte sich die mächtige gotische Innerlichkeit des Nordens. Die Kirche ohne dieses Papsttum, gotischer Glaube ohne die geistreiche Betonung der bloßen Form – es war nur eine treuherzig-bauernmäßige Revolte, die das innerste Wesen kirchlicher Gebundenheit gar nicht in Frage stellte; sie trug den Geist der Verneinung an der Stirn, deren fruchtbare Leidenschaft nicht lange dauern konnte. Schöpferisch und bejahend wurde erst der blühende Geist des Barock, in dem auch der Katholizismus einen Höhepunkt von Lebenskraft und Lebenslust erreichte, als der spanische Mensch die Gegenreformation und den streitbaren Jesuitismus schuf. Im 17. Jahrhundert setzen dann die neuen Völker des Nordens zur Bildung einer eignen Religiosität aus den unerschöpflichen Möglichkeiten des Christentums an. Gemeinsam ist ihnen die strenge Tatgesinnung, sehr im Gegensatz zu der müßigen Kultur von Florenz und der unfruchtbaren selbstquälerischen Dialektik der französischen Jansenisten und Pascals. Es entstanden der revolutionäre Independentismus in England und unter seinem Eindruck in Schwaben und Preußen jener Pietismus, dessen stille Wirkung gerade in dem aufsteigenden preußischen Menschen gewaltig war. Nach außen dienend, gehorsam, entsagend, in der Seele von den Einschränkungen des Weltlebens frei, von jener zarten, tiefen Fülle des Gefühls und echten Herzenseinfalt, wie wir sie an der Königin Luise, Wilhelm I., Bismarck, Moltke, Hindenburg, dem Typus des altpreußischen Offiziers überhaupt kennen, so besaß der einzelne eine fast dogmenlose, vor andern schamhaft verhüllte Frömmigkeit, die sich nach außen im pflichtgemäßen Tun, nicht im Bekennen bewähren mußte.

Der englische Independent aber ist nach außen frei, normannenhaft frei. Er prägte sich eine reine Laienreligion mit der Bibel als Grundlage, zu deren souveräner Deutung sich jeder einzelne das Recht nahm. Was er tat, war also stets das sittlich Richtige. Ein Zweifel daran liegt dem Engländer vollkommen fern. Der Erfolg war der Ausdruck göttlicher Gnade. Die Verantwortung für die Moralität der Handlungen stand Gott zu, während der Pietist sie sich selbst anrechnete. Dergleichen Überzeugungen zu ändern steht in keines Menschen Macht. Was man wollen muß, findet man überall bestätigt. Führt dieses Wollenmüssen zum Untergang, so ist das unabänderliches Schicksal.

Es ist bewunderungswürdig, mit welcher Sicherheit der englische Instinkt aus der französisch-förmlichen, ganz doktrinären und kahlen Lehre Kalvins sein eignes religiöses Bewußtsein formte. Das Volk als Gemeinschaft der Heiligen, das englische insbesondere als das auserwählte Volk, jede Tat schon dadurch gerechtfertigt, daß man sie überhaupt tun konnte, jede Schuld, jede Brutalität, selbst das Verbrechen auf dem Wege zum Erfolg ein von Gott verhängtes und von ihm zu verantwortendes Schicksal – so nahm sich die Prädestinationslehre im Geiste Cromwells und seiner Soldaten aus. Mit dieser unbedingten Selbstsicherheit und Gewissenlosigkeit des Handelns ist das englische Volk emporgestiegen.

Demgegenüber haftet dem Pietismus, der sich eher in einer deutschsprechenden Bevölkerung ausbreitete als Ausdruck einer deutschen Rasse war, etwas Unpraktisches und Provinziales an. In kleinen Zirkeln herrschte ein inniger Geist der Gemeinsamkeit; das ganze Leben war ein Dienst; dieses karge Stückchen Erdendasein inmitten von Jammer und Mühe hat seinen Sinn nur im Banne einer größern Aufgabe.

Aber diese Aufgabe mußte gestellt werden und hier liegt das Gewaltige im kaum bewußten Wirken der großen Hohenzollern, den Erben der ostmärkischen Ritteridee; unter allen Flecken eines hartstirnigen adligen und städtischen Egoismus und hinter allen königlichen Schwächen leuchtet der Gedanke des Altpreußentums auf, der einzige große Gedanke, der seitdem auf deutschem Boden gewachsen ist und der in den besten Deutschen, auch wenn sie ihm von Herzen feind waren, doch irgendeine Gegend der Seele erobert hat. Während der schwäbische Pietismus sich in Bürgerlichkeit und Sentimentalität verlor oder seine besten Köpfe – wie Hegel – an den Norden abgab, wuchs hier ein neuer Mensch als starkgeistiger Träger dieser Religiosität empor. Eine tiefe Verachtung des bloßen Reichseins, des Luxus, der Bequemlichkeit, des Genusses, des »Glücks« durchzieht das Preußentum dieser Jahrhunderte, ein Kern des Militär- und Beamtengeistes. All diese Dinge sind dem Imperativ der ritterlichen Pflicht gegenüber ohne Würde. Dem Engländer aber sind sie Geschenke Gottes; »comfort« ist ein ehrfürchtig hingenommener Beweis der himmlischen Gnade. Tiefere Gegensätze sind kaum denkbar. Arbeit gilt dem frommen Independenten als Folge des Sündenfalls, dem Preußen als Gebot Gottes. Geschäft und Beruf als die zwei Auffassungen der Arbeit stehen sich hier unvereinbar gegenüber. Man denke sich tief in Sinn und Klang dieser Worte hinein: Beruf, von Gott berufen sein – die Arbeit selbst ist da das sittlich Wertvolle. Dem Engländer und Amerikaner ist es der Zweck der Arbeit: der Erfolg, das Geld, der Reichtum. Die Arbeit ist nur der Weg, den man so bequem und sicher als möglich wählen darf. Es ist klar, daß ein Kampf um den Erfolg unvermeidlich ist, aber das puritanische Gewissen rechtfertigt jedes Mittel. Wer im Wege steht, wird beseitigt, einzelne, ganze Klassen und Völker. Gott hat es so gewollt. Man begreift, wie solche Ideen, wenn sie Leben, Blut geworden sind, ein Volk zu den höchsten Leistungen emporsteigern können. Um die angeborne menschliche Trägheit zu überwinden, sagt die preußische, die sozialistische Ethik: es handelt sich im Leben nicht um das Glück. Tu deine Pflicht, indem du arbeitest. Die englische, kapitalistische Ethik sagt: werde reich, dann brauchst du nicht mehr zu arbeiten. Ohne Zweifel liegt in dem letzten Spruch etwas Verführerisches. Er reizt, er wendet sich an sehr volkstümliche Instinkte. Er ist von den Arbeitermassen unternehmungslustiger Völker recht gern verstanden worden. Noch im 19. Jahrhundert hat er den Typus des Yankee mit seinem unwiderstehlichen praktischen Optimismus hervorgebracht. Der andre schreckt ab. Er ist für die wenigen, die ihn dem Gemeinwesen einimpfen und durch dies der Menge aufzwingen mögen. Der eine ist für ein Land ohne Staat, für Egoisten und Wikingernaturen mit dem Bedürfnis ständiger persönlicher Kampfbereitschaft, wie sie sich auch im englischen Sport ausspricht; er enthält das Prinzip der äußern Selbstbestimmung, das Recht, auf Kosten aller andren glücklich zu werden, sobald man die Kraft dazu hat, den wirtschaftlichen Darwinismus. Der andre ist gleichwohl die Idee des Sozialismus in seiner tiefsten Bedeutung: Wille zur Macht, Kampf um das Glück nicht des einzelnen, sondern des Ganzen. Friedrich Wilhelm I. und nicht Marx ist in diesem Sinne der erste bewußte Sozialist gewesen. Von ihm geht als von einer vorbildlichen Persönlichkeit diese Weltbewegung aus. Kant hat sie mit seinem kategorischen Imperativ in eine Formel gebracht.

Daher also sind am Ausgang der Kultur Westeuropas zwei große philosophische Schulen entstanden, die englische des Egoismus und Sensualismus um 1700, die preußische des Idealismus um 1800. Sie sprechen aus, was diese Völker sind, als ethische, als religiöse, politische, wirtschaftliche Einheiten.

An sich ist eine Philosophie nichts, ein Haufen Worte, eine Reihe von Büchern. Sie ist auch weder wahr noch falsch – an sich. Sie ist die Sprache des Lebens in einem großen Kopfe. Für den Engländer ist Hobbes wahr, wenn er das »selfish system« des Egoismus und die optimistische Whigphilosophie des gemeinen Nutzens – »das größte Glück der größten Zahl« – aufstellt, und andrerseits der vornehme Shaftesbury mit seiner Zeichnung des gentleman, des Tory der sich geschmackvoll auslebenden souveränen Persönlichkeit. Aber ebenso wahr ist für uns Kant mit seiner Verachtung des »Glückes« und Nutzens und seinem kategorischen Imperativ der Pflicht und Hegel mit seinem mächtigen Wirklichkeitssinn, der die harten Schicksale der Staaten und nicht das Wohlergehen »der menschlichen Gesellschaft« in die Mitte seines historischen Denkens stellt. Mandeville erklärt in seiner Bienenfabel, daß der Egoismus des einzelnen, und Fichte, daß die Pflicht zur Arbeit das Triebrad des Staates sei. Ist die Unabhängigkeit durch den Reichtum oder vom Reichtum das letzte Ziel? Soll man dem kategorischen Imperativ Kants: Handle so, als ob die Maxime deines Handelns ein allgemeines Gesetz werden sollte, den Benthams vorziehen: Handle so, daß du – Erfolg hast.

Es sind wieder der Wikinger und der Ordensritter, die im Unterschiede englischer und preußischer Moral weiterleben. Was aus beiden Welten des Gefühls an Systemen hervorgewachsen ist, die Familien der Philosophen beider Völker, unterscheidet sich immer in dieser einen Weise. Der Engländer ist Utilitarist; er ist sogar der einzige Westeuropas; es steht ihm nicht frei, anders zu sein, und wenn er vor sich selbst diesen stärksten Antrieb seines Wesens zu verleugnen sucht, so entsteht das, was seit langer Zeit als cant berühmt geworden ist und dessen hohe Schule man in den Briefen Lord Chesterfields findet. Die Engländer sind ein Volk von Theologen, eine Folge davon, daß ihre große Revolution sich in vorwiegend religiösen Formen vollzog und daß nach Beseitigung des Staates das Gemeingefühl keine andre als die religiöse Sprache zurückbehielt. Und die Theologie legte es nahe, schon mit Rücksicht auf den Erfolg im persönlichen Daseinskampfe und aus dem sehr richtigen Gefühl, daß ein durch die biblische Auslegung oft recht zweideutiger Handlungen beruhigtes Gewissen eine starke Vermehrung von Tatkraft und Zielsicherheit bedeutet, das eigentliche Ziel, nämlich den Reichtum, nicht unmittelbar bei Namen zu nennen. Wenn es innerhalb der preußischen Atmosphäre einen ähnlichen Kampf gibt, so gilt er der Stellung, dem Range; in vielen Fällen mag man es als Strebertum bezeichnen, der Idee nach liegt darin der Wille, eine höhere Verantwortlichkeit im Organismus des Ganzen auf sich zu nehmen, weil man sich ihr gewachsen fühlt.

15.

Unter allen Völkern Westeuropas zeichnen sich allein diese beiden durch eine straffe soziale Gliederung aus. Das ist der Ausdruck ihres Bedürfnisses nach höchster Aktivität, die jeden einzelnen Menschen an dem Platze sehen will, wo man ihn braucht. Eine solche Ordnung, der eine ganz unbewußte und unwillkürliche Ökonomie der Kräfte zugrunde liegt, ist durch eine noch so geniale Persönlichkeit oder den noch so starken Willen, fremde Formen nachzuahmen, nicht zu erreichen; sie ist einem Volke und diesem allein natürlich und selbstverständlich und von keinem andern wirklich nachzuahmen. Das ganze sittliche Grundgefühl tritt hier in Erscheinung; Jahrhunderte sind nötig, um den Sinn für Distanzen von einer bestimmten Art in dieser Klarheit auszubilden und zugleich zu verwirklichen. Wikingergeist und Ordensgeist treten wieder hervor: das Ethos des Erfolges und das der Pflicht. Das englische Volk ist nach dem Unterschiede von reich und arm, das preußische nach dem von Befehl und Gehorsam aufgebaut. Die Bedeutung des Klassenunterschiedes ist demnach in beiden Ländern eine ganz verschiedene. Die Unterklasse findet sich in der Gesellschaft unabhängiger Privatleute im Gemeingefühl derer zusammen, die nichts haben, im Staate als die Schicht derer, die nichts zu sagen haben. Demokratie bedeutet in England die Möglichkeit für jedermann, reich zu werden, in Preußen die Möglichkeit, jeden vorhandenen Rang zu erreichen: damit wird der einzelne in die ein für allemal gegebene Schichtung durch seine Fähigkeiten und nicht durch eine Tradition eingereiht. Frankreich (und also auch Florenz) hat niemals eine natürliche und dem nationalen Instinkt notwendige Klassenbildung dieser Art gekannt, auch nicht vor 1789. Die soziale Anarchie war die Regel: es gab willkürliche Gruppen von Bevorrechteten jeder Art und jedes Umfangs ohne irgendein sozial feststehendes Verhältnis untereinander. Man denke an den Gerichtsadel neben dem Hofadel, an den Typus des Abbé, an die Generalpächter, an die Unterschiede im städtischen Großbürgertum. Der echt französische Sinn für Gleichheit prägt sich in dieser Unfähigkeit zu abgestufter Ordnung von Urzeiten her deutlich aus. In England ist der Adel allmählich zum Adel auch aus Reichtum, in Preußen zum Militäradel geworden. Der französische Adel hat eine solche Einheit der sozialen Bedeutung nie erlangt. Die englische Revolution richtete sich gegen den Staat, also gegen die »preußische« Ordnung in Kirche und öffentlichem Dasein, die deutsche Revolution gegen die »englische« Ordnung nach reich und arm, die im 19. Jahrhundert mit Industrie und Handel eingedrungen und Mittelpunkt der antipreußischen, antisozialistischen Tendenzen geworden war. Die französische allein richtete sich nicht gegen eine fremde und darum unsittliche, sondern gegen eine Ordnung überhaupt: das ist Demokratie im französischen Sinne.

Hier endlich tritt der tiefethische Sinn der Schlagworte Kapitalismus und Sozialismus zutage. Es sind die menschlichen Ordnungen, die sich auf dem Reichtum und auf der Autorität aufbauen, die, welche durch den ungehemmten Kampf um Erfolge, und die, welche durch Gesetzgebung erzielt wird. Daß der echte Engländer sich Befehle von jemand erteilen lassen sollte, der nichts hat, ist ihm ebenso unerträglich wie dem echten Preußen die Verbeugung vor dem bloßen Reichtum. Aber selbst der klassenbewußte Arbeiter der ehemaligen Bebelpartei gehorchte dem Parteihaupte aus derselben Sicherheit des Instinkts wie ein englischer Arbeiter einen Millionär als glücklicheres und von Gott sichtbar ausgezeichnetes Wesen respektiert. So tief im Seelischen wurzelnde Unterschiede vermag der proletarische Klassenkampf gar nicht anzutasten. Die ganze englische Arbeiterbewegung ist auf den Unterschied von wohlhabend und bettelhaft innerhalb der Arbeiterschaft selbst aufgebaut. An die eiserne Disziplin einer Millionenpartei in preußischem Stil würde hier gar nicht zu denken sein.

»Ungleiche Verteilung des Reichtums« ist die echt englische Proletarierformel, die Shaw immer im Munde führt; so sinnlos sie uns klingt, so wahr ist sie für ein Lebensideal, das dem zivilisierten Wikinger allein lebenswert ist. Man sollte also, auch mit Rücksicht auf die großartige Ausbildung dieses Ideals im Typus des Yankee, von Milliardärsozialismus und Beamtensozialismus reden. Zum ersten gehört ein Mann wie Carnegie, der zuerst einen großen Teil des gesamten Volksvermögens in Privatvermögen verwandelt und ihn dann in glänzender Weise ganz souverän für öffentliche Zwecke ausgibt. Sein Ausspruch »Wer reich stirbt, stirbt ehrlos« enthält eine hohe Auffassung des Willens zur Macht über die Gesamtheit. Aber man verkenne ja nicht die tiefe Beziehung dieses Privatsozialismus, der in den äußersten Fällen nichts ist als die diktatorische Verwaltung von Volkseigentum, zum Sozialismus des Beamten und Organisators (der sehr arm sein kann), wie er in Bismarck und Bebel gleichmäßig zur Erscheinung kommt.

Shaw ist heute der Gipfel des »kapitalistischen« Sozialismus, für den reich und arm nach wie vor gestaltende Gegensätze des wirtschaftlichen Organismus sind. »Armut ist das größte der Übel und das schlimmste der Verbrechen« (Major Barbara). Er predigt gegen die »feige Masse, die an dem kümmerlichen Vorurteil festhält, daß man lieber gut sein soll als reich«. Der Arbeiter soll versuchen, reich zu werden, das war von Anfang an auch die Politik der englischen Gewerkschaften, der Trade Unions. Deshalb hat es scheinbar zwischen Owen und Shaw in England keinen Sozialismus im proletarischen Sinne gegeben – er war vom Kapitalismus der Unterklasse der Art nach nicht zu unterscheiden. Für uns ist der gestaltende Gegensatz aber immer wieder Befehlen und Gehorchen in einer streng disziplinierten Gemeinschaft, heiße sie nun Staat, Partei, Arbeiterschaft, Offizierkorps oder Beamtentum, deren Diener jeder Zugehörige ohne Ausnahme ist. Travailler pour le roi de Prusse – das heißt doch auch seine Pflicht tun ohne das schmutzige Schielen nach Profit. Die Bezahlung der Offiziere und Beamten seit Friedrich Wilhelm I. war lächerlich im Verhältnis zu den Summen, mit denen man in England auch nur zur Mittelklasse gehörte. Trotzdem wurde fleißiger, selbstloser, ehrlicher gearbeitet. Der Rang war zuletzt die Belohnung. Und so war es auch unter Bebel. Dieser Arbeiterstaat im Staate wollte nicht reich werden, sondern herrschen. Diese Arbeiter haben bei ihren anbefohlenen Streiks oft genug gedarbt nicht für eine Lohn-, sondern für eine Machtfrage, für eine Weltanschauung, die der ihrer Brotgeber vermeintlich oder tatsächlich entgegengesetzt war, für ein sittliches Prinzip, wobei die verlorne Schlacht im Grunde noch ein moralischer Sieg war. Englischen Arbeitern ist dergleichen ganz unverständlich. Sie waren nicht arm und nahmen bei ihren Streiks noch die Hunderttausende in Empfang, die der arme deutsche Arbeiter sich entzog in der Meinung, daß es sich drüben um die gleiche Sache handle. Die Novemberrevolution war demnach eine Gehorsamsverweigerung im Heere und zugleich in der Arbeiterpartei. Die plötzliche Verwandlung der disziplinierten Arbeiterbewegung in eine wilde Lohnpolitik einzelner Gruppen ohne gegenseitige Rücksicht war ein Sieg des englischen Prinzips. Das Mißlingen äußerte sich in der Tatsache, daß in der Reichswehr ein neuer Organismus von innerer Disziplin entstand. Der einzige fähige Mann, der erschien, war ein Soldat. In solchen militärisch-autoritativen Erfolgen und Mißerfolgen wird die deutsche Revolution fortgehen.

16.

Derselbe Gegensatz beherrscht aber auch die Wirtschaftsgesinnung beider Völker. Es ist ein verhängnisvoller Fehler der Nationalökonomie, daß sie ganz materialistisch und ohne den geringsten Blick für die Vielheit wirtschaftlicher Instinkte und ihre Ausdrucksgewalt von den Wirtschaftsstufen »der« Menschheit, »der« Neuzeit, »der« Gegenwart schlechthin redet. Sie trägt da alle Schwächen ihrer englischen Herkunft an sich, denn sie ist als Wissenschaft ein Produkt des modernen Engländers, mit seinem ganzen Selbstgefühl und Mangel an Psychologie, seine einzige »philosophy«, die seinem Sinn für Kampf, Erfolg und Besitz entspricht und mit der er seine rein englische Anschauung der wirtschaftlichen Praxis seit dem 18. Jahrhundert in alle Köpfe des Kontinents gepflanzt hat.

Aus dem Weltgefühl des echten Siedlers der Grenzmark, des kolonisierenden Ordens ergab sich als notwendiges Prinzip die Wirtschaftsautorität des Staates. Der einzelne erhält seine wirtschaftliche Aufgabe. Rechte und Pflichten der Gütererzeugung und -nutzung sind verteilt. Das Ziel ist nicht die Bereicherung von einzelnen oder jedes einzelnen, sondern die Blüte des Ganzen. So haben Friedrich Wilhelm I. und seine Nachfolger in den Sumpfgebieten des Ostens kolonisiert. Sie betrachteten das als eine Mission. Gott hatte ihnen eine Aufgabe erteilt. In diesen Bahnen bewegte sich der Wirklichkeitssinn des deutschen Arbeiters mit voller Entschiedenheit. Lediglich die Theorien von Marx hinderten ihn, die nahe Verwandtschaft zwischen seinem und dem altpreußischen Wollen zu erkennen.

Der Seeräuberinstinkt des Inselvolkes versteht das Wirtschaftsleben ganz anders. Es handelt sich da um Kampf und Beute und zwar um den Beuteanteil einzelner. Der Normannenstaat mit seiner raffinierten Technik des Geldeintreibens beruhte vollkommen auf dem Beuteprinzip. Das Feudalsystem wurde ihm in einer großartigen Weise als Mittel eingefügt. Die Barone hatten das ihnen zugeteilte Stück Land auszubeuten, der Herzog forderte seinen Anteil von ihnen. Der Endzweck war Reichtum. Gott hatte ihn den Wagemutigen gespendet. Von der Praxis dieser seßhaft gewordenen Piraten geht das moderne Rechnungswesen aus. Aus der Rechnungskammer Roberts des Teufels von der Normandie (gest. 1035) stammen die Worte Scheck, Von dem schachbrettartig ausgelegten Zahltisch. Konto, Kontrolle, Quittung, Rekord und der heutige Name des englischen Schatzamts (Exchequer). Als England 1066 von hier aus erobert wurde, wurden die stammverwandten Sachsen genau so von den normannischen Baronen ausgebeutet. Niemals haben ihre Nachkommen die Welt anders zu betrachten gelernt. Diesen Stil trägt heute noch jede englische Handelskompanie und jeder amerikanische Trust. Erzeugung von Einzelvermögen, von privatem Reichtum, Niederkämpfen der privaten Konkurrenz, Ausbeutung des Publikums durch Reklame, durch Preispolitik, durch Bedürfniserregung, durch Beherrschung des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage ist das Ziel, nicht die planmäßige Hebung des Volkswohlstandes als einer Einheit. Wenn ein Engländer von Nationalreichtum spricht, so meint er die Zahl der Millionäre. »Nichts ist dem englischen Empfinden fremder als Solidarität« (Fr. Engels). Selbst in der Erholung sieht der Engländer noch eine Betätigung ganz persönlicher, vor allem körperlicher Überlegenheit. Er treibt Sport um des Rekords willen und hat einen Sinn für den seinen wirtschaftlichen Gewohnheiten verwandten Boxkampf, der deutschen Turnern innerlich ganz fremd ist.

Daraus ergibt sich, daß englisches Wirtschaftsdasein mit Handel tatsächlich identisch ist, Handel insofern er die kultivierte Form des Raubens darstellt. Diesem Instinkt gegenüber wird alles zur Beute, zur Ware, an der man sich bereichert. Die ganze englische Maschinenindustrie ist im Handelsinteresse geschaffen worden. Sie diente der Beschaffung von billiger Ware. Als die englische Landwirtschaft durch ihre Preise den Lohnkürzungen eine Grenze setzte, wurde sie dem Handel geopfert. Der ganze Kampf zwischen Unternehmer und Arbeiter in der englischen Industrie von 1850 geht um die Ware »Arbeit«, die der eine billig erbeuten, der andre teuer verhandeln will. Alles was Marx mit zorniger Bewunderung von den Leistungen der »kapitalistischen Gesellschaft« sagt, gilt vom englischen und nicht von einem allgemein menschlichen Wirtschaftsinstinkt.

Das souveräne Wort Freihandel gehört in eine Wikingerwirtschaft. Das preußische und also sozialistische Wort wäre staatliche Regelung des Güteraustausches. Damit ist der Handel im Ganzen der Volkswirtschaft aus der herrschenden in eine dienende Rolle verwiesen. Man begreift Adam Smith mit seinem Haß gegen den Staat und die »hinterlistigen Tiere, die man Staatsmänner nennt«. In der Tat, auf den echten Händler müssen sie wirken wie der Polizist auf den Einbrecher oder ein Kreuzer auf ein Korsarenschiff.

Bezeichnend ist aber auch die Überschätzung der Kapitalsmenge für das wirtschaftliche Gedeihen, die sich bei ihm findet. Daß psychologisch und ebendeshalb auch praktisch – denn das praktische Leben ist Ausdruck seelischer Bedingungen – der englische Kapitalsbegriff vom Händlerstandpunkt aus etwas ganz andres ist als der französische Rentner- und der preußische Verwaltungsbegriff, das sieht ein Materialist nicht. Psychologen sind die Engländer nie gewesen. Was sie dachten, hielten sie für Denknotwendigkeiten der Menschheit. Die ganze moderne Nationalökonomie beruht auf dem Grundfehler, den Sinn des Wirtschaftslebens überall in der Welt mit dem Händlerinteresse nach englischen Begriffen gleichzusetzen, auch wo man dem Wortlaut nach die Manchesterlehre verwirft; der Marxismus hat sich als reine Verneinung dieser Lehre ihr Schema vollständig zu eigen gemacht. Dies erklärt das ungeheure Fiasko aller Voraussagen für den Ausbruch des Weltkrieges, dem einstimmig der Zusammenbruch der Weltwirtschaft während weniger Monate prophezeit worden war.

Nur der Kapitalismus englischen Stils ist das Gegenstück zum Sozialismus marxistischen Stils. Der preußische Gedanke der Verwaltung des Wirtschaftslebens aus einem überpersönlichen Gesichtspunkt hatte den deutschen Kapitalismus seit der Schutzzollgesetzgebung von 1879 unwillkürlich in sozialistische Formen im Sinne einer Staatsordnung übergeführt. Die großen Syndikate waren wirtschaftliche Staaten im Staatsganzen, »der erste systematische und großzügig durchgeführte und dabei ganz unbewußt entstandene praktische Versuch der kapitalistischen Gesellschaft, hinter die Geheimnisse ihrer eignen Produktion zu kommen und die gesellschaftlichen Gesetze, deren unbekannter naturhafter Gewalt man sich bis dahin blind hatte fügen müssen, zu meistern« (Lensch, Drei Jahre Weltrevolution).

Der deutsche Liberalismus, das deutsche Engländertum aber huldigt außer der freien Menschenwürde auch noch dem Freihandel. Hier erreicht die Komik seiner Erscheinung den Gipfel. Solange er zugunsten unverstandener Wikingertriebe den autoritativen Staat, das überpersönliche Wollen, die Stellung des Einzel-Ich unter das Gesamt-Ich »unentwegt« ablehnte, war er metaphysisch. Das war die Haltung des deutschen »Gebildeten« ohne praktische Begabung, des Professors, des Denkers und Dichters, aller, die schreiben statt zu handeln. Den andern Liberalismus hätten sie weder verstanden noch als sittlich anerkannt: das Räuberprinzip des freien Handels, zu dem eine Philosophie des Kampfes aller gegen alle gehört. Der Zusammenhang zwischen dem autonomen Ich in ihren abstrakten Systemen und dem in den Kontoren der großen Handelshäuser lag außerhalb ihres Gesichtskreises. Und so hat der deutsche Börsenliberalismus in aller Stille den deutschen Professor vor seinen Wagen gespannt. Er schickt ihn in die Versammlungen zum Reden und Hören, er setzt ihn in die Redaktionen, wo er mit philosophischem Geist die gründlichsten Artikel schreibt, um dem Volk der Leser, das seine unbegrenzte Gläubigkeit von der Bibel längst auf die Zeitung übertragen hat, die geschäftlich wünschenswerten politischen Überzeugungen einzuflößen, er schickt ihn ins Parlament und läßt ihn dort Nein und Ja sagen, um dem wirtschaftlichen Leben allen Theorien und Verfassungen zum Trotz immer neue Möglichkeiten des Schiebertums abzulocken. Er hat die heute überhaupt in Betracht kommende Presse Deutschlands fast ohne Ausnahme, die ganze Masse der Gebildeten, die ganze liberale Partei zu seinen Geschäftsorganen gemacht. Der Professor merkt es nicht. In England ist der Liberale aus einem Guß, ethisch und deshalb geschäftlich frei und sich des Zusammenhanges wohl bewußt. In Deutschland sind es immer zwei, die sittlich liberale und die geschäftlich liberale Persönlichkeit, von denen die eine denkt und die andre lenkt und nur die zweite sich des beiderseitigen Verhältnisses lächelnd bewußt ist.

So stehen sich heute zwei große Wirtschaftsprinzipien gegenüber. Aus dem Wiking ist der Freihändler, aus dem Ritter der Verwaltungsbeamte geworden. Eine Versöhnung zwischen beiden gibt es nicht und da sie beide, als Germanen und faustische Menschen höchsten Ranges, für ihr Wollen keine Grenze anerkennen und sich erst dann am Ziele glauben werden, wenn die ganze Welt ihrer Idee unterworfen ist, so wird es Krieg geben, bis eine von ihnen endgültig gesiegt hat. Soll die Weltwirtschaft eine Weltausbeutung oder eine Weltorganisation sein? Sollen die Cäsaren dieses künftigen Imperiums Milliardäre oder Weltbeamte, soll die Bevölkerung der Erde, solange dies Imperium der faustischen Zivilisation zusammenhält, Objekt der Politik von Trusts oder von Menschen sein, wie sie am Ende des zweiten Faust angedeutet werden? Denn es handelt sich um das Schicksal der Welt. Die Wirtschaftsgedanken der Franzosen waren ebenso territorial beschränkt wie die des Renaissancemenschen. Darin unterscheiden sich das Merkantilsystem unter Ludwig XIV. und die Physiokratenschule Turgots zur Aufklärungszeit in keiner Weise von den sozialistischen Plänen Fouriers, der die »Gesellschaft« in die kleinen Wirtschaftskörper seiner Phalansterien zerlegen wollte, wie man sie noch in Zolas letzten Romanen wiederfindet. Eine Weltwirtschaft gehört zu den innersten Notwendigkeiten nur der drei echt faustischen Völker. Die ritterlichen Spanier strebten sie an, indem sie die neue Welt ihrem Reiche einverleibten. Sie haben als echte Soldaten über die Theorie ihrer wirtschaftlichen Expansion nicht nachgedacht, aber sie haben durch die geographische und politische Erweiterung des Gesichtskreises auch dem wirtschaftlichen Horizont des abendländischen Menschen die Abmessungen gegeben, die solche Gedanken überhaupt ermöglichten. Die Engländer haben als erste unter dem Namen Nationalökonomie die Theorie ihrer, der ausbeutenden Weltwirtschaft geschrieben. Als Händler waren sie klug genug, um die Macht der Feder über die Menschen der büchergläubigsten aller Kulturen zu kennen. Sie redeten ihnen ein, daß die Interessen ihres Piratenvolkes die der Menschheit seien. Sie wickelten die Idee des Freihandels in die der Freiheit ein. Diese praktische Klugheit fehlte dem dritten und letzten, wieder einem echt soldatischen Volke. Was Preußen in seinem Kreise verwirklichte, wurde durch Vermittlung der weltfremden deutschen Philosophie zum Sozialismus erhoben. Aber die wahren Schöpfer erkannten ihr Geschöpf in dieser Form nicht wieder und es entstand ein erbitterter Kampf zwischen zwei vermeinten Gegnern, von denen der eine die Praxis, der andre die Theorie besaß. Heute endlich ist es Zeit, sich und die gemeinsame Aufgabe zu erkennen. Soll die Welt sozialistisch oder kapitalistisch regiert werden? Diese Frage kann nicht zwischen zwei Völkern entschieden werden. Sie ist heute in das Innere jedes einzelnen Volkes gedrungen. Wenn die Waffen zwischen den Staaten ruhen, wird man sie im Bürgerkrieg erheben. Heute gibt es in jedem Lande eine englische und eine preußische Wirtschaftspartei. Und wenn die Klassen und Schichten des Krieges müde geworden sind, werden einzelne Herrenmenschen ihn im Namen der Idee weiter führen. In den großen Entscheidungen der antiken Welt zwischen der apollinischen und der dionysischen Idee ging der peloponnesische Krieg aus dem Kriege zwischen Sparta und Athen in das Ringen zwischen Oligarchie und Demos aller einzelnen Städte über. Was bei Philippi und Aktium ausgetragen wurde, hat in der Gracchenzeit das Forum von Rom mit Blut überschwemmt. In der chinesischen Welt dauerte der entsprechende Krieg zwischen den Reichen Tsin und Tsu, zwischen den Weltanschauungen des Tao und des Li ein Jahrhundert lang. In der ägyptischen Welt verbergen sich ungeheure Ereignisse derselben Art hinter dem Rätsel der Hyksoszeit, der Herrschaft östlicher Barbaren. Hatte man sie gerufen oder kamen sie, weil die Ägypter sich in innern Kriegen bis zur Ohnmacht erschöpft hatten? Wird das Abendland den Russen die gleiche Rolle übertragen? Mögen unsre trivialen Friedensschwärmer von Völkerversöhnung reden: die Ideen werden sie nicht versöhnen; der Wikingergeist und der Ordensgeist werden ihren Kampf zu Ende führen, mag auch die Welt müde und gebrochen aus den Blutströmen dieses Jahrhunderts hervorgehen.

17.

Damit aber tritt der englisch-preußische Gegensatz in den Bereich der politischen Formen ein. Es sind die höchsten und mächtigsten des historischen Daseins überhaupt. Weltgeschichte ist Staatengeschichte. Staatengeschichte ist die Geschichte von Kriegen. Ideen, wenn sie zur Entscheidung drängen, verkleiden sich in politische Einheiten, in Staaten, in Völker, in Parteien. Sie wollen mit Waffen, nicht mit Worten ausgefochten werden. Wirtschaftskämpfe werden zu Kämpfen zwischen Staaten oder innerhalb von Staaten. Religionen konstituieren sich als Staaten, wie Judentum und Islam, Hugenotten und Mormonen, wenn es sich um ihr Dasein oder ihren Sieg handelt. Alles was aus innerstem Seelentum Mensch und menschliche Schöpfung geworden ist, opfert den Menschen. Ideen, die Blut geworden sind, fordern Blut. Krieg ist die ewige Form höhern menschlichen Daseins, und Staaten sind um des Krieges willen da; sie sind Ausdruck der Bereitschaft zum Kriege. Und selbst wenn eine müde und entseelte Menschheit auf Kriege und Staaten verzichten wollte, wie der antike Mensch der spätesten Jahrhunderte, der Inder und Chinese von heute, so würde er nur aus dem Führer von Kriegen der Gegenstand werden, um den und mit dem von andern Kriege geführt werden. Wäre selbst der faustische Weltfriede erreicht, so würden Herrenmenschen vom Schlage spätrömischer, spätchinesischer, spätägyptischer Cäsaren sich um dies Imperium schlagen als Beute, wenn seine endgültige Form eine kapitalistische, und um den ersten Rang in ihm, wenn sie eine sozialistische geworden sein sollte.

Zu einer politischen Form aber gehört das Volk, das sie geschaffen hat, das sie im Blute trägt, das sie allein zu verwirklichen vermag. Politische Formen an sich sind leere Begriffe. Nachsprechen kann sie jeder. Nachleben, mit echter Wirklichkeit erfüllen kann sie niemand. Auch im Politischen gibt es keine Wahl; jede Kultur und jedes einzelne Volk einer Kultur führt seine Geschäfte und erfüllt sein Schicksal in Formen, die mit ihm geboren und die dem Wesen nach unveränderlich sind. Ein philosophischer Streit um »Monarchie« oder »Republik« ist ein Gezänk um Worte. Die monarchische Regierungsform an sich – das gibt es so wenig wie die Wolkenform an sich. Eine antike und eine westeuropäische »Republik« sind unvergleichbare Dinge. Wenn in einer großen Krise, deren letzter Sinn immer ein ganz andrer ist als die Änderung der Regierungsform, die Republik oder Monarchie ausgerufen wird, so ist das eben ein Ruf, ein Name, das Stichwort einer melodramatischen Szene, das einzige allerdings, was die meisten von einer Epoche verstehen und woran sie sich zu begeistern vermögen. In Wirklichkeit kehrt ein Volk nach solchen Ekstasen doch wieder zu der Form zurück, nämlich zu der eignen, für deren Wesentliches es beinahe nie eine volkstümliche Bezeichnung gibt. Der Instinkt einer unverbrauchten Rasse ist so stark, daß er mit jeder Regierungsform, die ihm der historische Zufall in den Weg wirft, sehr bald in seiner ureignen Weise arbeitet, ohne daß es irgend jemand zum Bewußtsein kommt, daß von der Form nur der Name übrig geblieben ist. Es sind nie die Verfassungen in ihrem Wortlaut, sondern die ungeschriebenen und unbewußten Regeln, nach denen sie verwendet werden, die man als die eigentliche Regierungsform bezeichnen darf. Ohne die Beziehung auf ein ganz bestimmtes Volk sind »Republik«, »Parlamentarismus«, »Demokratie« bloße Redensarten.

So ist die »parlamentarische Regierungsform« ein spezifisch englisches Gewächs und ohne die gesamten Voraussetzungen des englischen Wikingercharakters, ohne die Insellage und eine mehrhundertjährige Entwicklung, die den ethischen Stil dieses Volkes mit diesem Stil der Geschäftsführung vollkommen verschweißt hat, weder nachzuleben noch mit irgendwelcher Aussicht auf auch nur annähernd gleiche Erfolge in ihren Methoden nachzuahmen. Parlamentarismus in Deutschland ist Unsinn oder Verrat. England hat alle Staaten ohnmächtig gemacht, denen es das Gift seiner eignen Form als Arznei reichte. Umgekehrt würde England die Fähigkeit zu einer erfolgreichen Politik verlieren, sobald die Endentwicklung der abendländischen, heute also den Erdball beherrschenden Zivilisation dahin führen sollte, daß diese Regierungsform überhaupt unmöglich wird. Der englische Sozialismus würde Verrat an England üben, wenn er sie abschaffte. Es handelt sich um eine freie Gesellschaft von Privatleuten, denen, wie gesagt, die Insellage die Möglichkeit gegeben hat, den eigentlichen Staat abzuschaffen und diese formale Voraussetzung ihres politischen Daseins durch eine Flotte mit gemieteter Mannschaft und eine endlose Reihe von Kriegen, die man gegen Bezahlung durch fremde Staaten und Völker führen ließ, bis 1916 aufrechtzuerhalten. Dieser staatlose Parlamentarismus setzt ein festes System von zwei Parteien voraus, deren Verhältnis zueinander, deren Organisation, Praxis, Interessen, deren Stimmung, Sitte, Geist genau diese und keine andern sind. Was wir englische Parteien nennen – das Wort bedeutet in jedem Lande etwas andres –, sind ursprünglich Gruppen des altenglischen Adels, die sich in den Revolutionen von 1642 und besonders 1688 durch das anglikanische und puritanische Bekenntnis, in der Tiefe also durch eine gewisse Verschiedenheit ihrer ethischen Imperative absonderten. Von den Eigenschaften jener altnordischen Seefahrerrasse, von denen die isländischen Sagas Zeugnis geben, herrschten unter den Tories der Stolz auf das edle Blut, der vornehme Sinn für alles Ererbte und Legitime, für Landbesitz, für kriegerische Wagnisse und blutige Entscheidungen vor, unter den Whigs die Freude an Raub und Plünderung, an leichtem Erfolg und reicher beweglicher Beute, an List und Kühnheit mehr als an körperlicher Kraft. Die Typen des englischen Imperialisten und Freihändlers sind durch immer schärfere Ausprägung dieser Lebensgefühle, durch immer reinere Züchtung der tatsächlich herrschenden Klasse bis zu ihrer heutigen Form emporgeführt worden. Daß die Demokratisierung Englands im 19. Jahrhundert nur eine scheinbare war und das Volk tatsächlich wie in Preußen von einer hochwertigen, durch die Ganzheit und Ungebrochenheit ihrer praktischen Eigenschaften ausgezeichneten Minderheit geführt wurde, hat die Höhe nicht nur des Wollens, sondern des Könnens bis zum Ausgang des letzten Krieges aufrechterhalten.

Denn zum innersten Wesen dieser Politik gehört es, daß sie eine reine Geschäftspolitik im Piratensinne ist, ob nun die Tories oder die Whigs gerade die Führung haben. Daß beide in erster Linie Gentlemen sind, Mitglieder derselben vornehmen Gesellschaft mit ihrer bewunderungswürdigen Einheit der Lebenshaltung, macht es erst möglich, daß trotz der zeitweise erbitterten Gegnerschaft die großen Angelegenheiten im Privatgespräch und privaten Briefwechsel erledigt werden, so daß vieles geschieht, was erst zugestanden werden darf, wenn der Erfolg die Mittel rechtfertigte, und was in jedem andern Lande der Welt im Lärm verständnisloser und prinzipienfester Volksvertretungen verdorben werden würde. Der englische Parteiführer betreibt auch die Geschäfte des Landes als Privatmann. Wenn seine politischen Unternehmungen glücken, so war es »England«, das diese Politik einschlug. Führen sie, obwohl erfolgreich, zu praktisch oder moralisch peinlichen Folgen, so tritt er zurück und das Land tadelt ihn mit puritanischer Strenge seiner privaten Handlungsweise wegen, deren Folgen man durch den Rücktritt ablehnt; aber man dankt Gott für die Gnade, die er England durch die erfolgreiche Handlung selbst erwiesen hat. Das ist nur möglich, wenn beide Parteien in wesentlichen Interessen ohne Meinungsverschiedenheit sind. Wohl haben die Tories Napoleon gestürzt und nach St. Helena gebracht, nachdem er die Ideen der Whigs über den Kontinent verbreitet hatte, aber Fox war doch durchaus kein unbedingter Gegner des Krieges mit ihm. Und als Robert Peel 1851 das Freihandelssystem von Cobden endgültig zum Siege führte und damit die wirtschaftliche Unterwerfung der Welt ihrer Verwandlung in ein militärisches Protektorat vorzog, haben die Tories einen Teil ihrer Grundsätze in dem System der Whigs durchaus wiedergefunden und anerkannt. Die torystische Politik unter Eduard VII. hat den Weltkrieg veranlaßt, aber die Whigs, Gegner des Krieges, haben durch die Aufnahme »liberaler Imperialisten« sich stillschweigend auf diese Möglichkeit vorbereitet. Dies alles ist »Parlamentarismus« und nicht jene wert- und wirkungslosen Äußerlichkeiten, die man heute in Deutschland dafür hält, wie die Verteilung von Ministerportefeuilles unter Parteiführer oder die Bloßlegung der parlamentarischen Technik vor der breitesten Öffentlichkeit. Die letzten Entschließungen der Parteiführer sind selbst der Mehrheit der Parlamentsmitglieder Geheimnis. Die sichtbaren Vorgänge sind fable convenue und der mustergültige Takt beider Parteien sorgt dafür, daß der Schein einer Selbstregierung des Volkes um so peinlicher aufrechterhalten wird, je weniger dieser Begriff tatsächlich bedeutet. Daß Parteien, vor allem englische Parteien, Teile des Volkes sind, ist dilettantischer Unsinn. In Wirklichkeit kann es, außer in Staaten vom Umfang weniger Dörfer, etwas wie Volksregierung, Regierung durch das Volk, gar nicht geben. Nur hoffnungslos liberale Deutsche glauben daran. Die Regierung liegt überall, wohin englische Regierungsformen gedrungen sind, in den Händen sehr weniger Männer, die innerhalb einer Partei durch ihre Erfahrung, ihren überlegenen Willen und ihre taktische Gewandtheit herrschen, und zwar mit diktatorischer Machtvollkommenheit. Damit erhebt sich die Frage, welches das Verhältnis zwischen Volk und Partei ist oder was Wahlen in der heutigen Staatenwelt des Abendlandes eigentlich bedeuten. Wer wählt und was wählt er? Der Sinn des englischen Systems besteht darin, daß das Volk die Partei und nicht einen Beauftragten seines mehr oder weniger von der Parteileitung selbst suggerierten Willens wählt. Die Parteien sind festgefügte, sehr alte Gesellschaften, welche sich damit beschäftigen, die politischen Angelegenheiten der Gesellschaft des englischen Volkes überhaupt zu führen. Der einzelne Engländer, der das Zweckmäßige dieser Einrichtung wohl empfindet, unterstützt von Wahl zu Wahl diejenige, deren Absichten für die nächsten Jahre seinen eignen Meinungen und Interessen am meisten entsprechen. Wie gleichgültig dabei die Person des Abgeordneten ist, den die Partei ganz souverän ernennt, weiß er genau. Das Wort Stimmvieh paßt auf den Durchschnitt der Abgeordneten sicherlich besser als auf deren Wähler. Es ist bezeichnend, daß die Arbeiter sehr oft statt für den Arbeiterkandidaten für einen Unternehmer gestimmt haben, den eine der alten Parteien aufgestellt hatte. Das war nach ihrer nüchternen Beurteilung der Lage eben für den Augenblick vorteilhafter. In Amerika, wo bereits nicht mehr der echte Engländer hinter dem System steht, hat sich der Brauch ausgebildet, daß die Parteien den Wählern ein Programm und den Trusts, die sie bezahlen, ein andres vorlegen, von denen das eine bestimmt ist, veröffentlicht, und das andre, gehalten zu werden. Damit ist endlich die entscheidende Frage berührt, in welcher Form in parlamentarisch regierten Ländern die politische Arbeit bezahlt wird. Daß davon heute, wo alle Völker mit oder ohne Wissen und Willen durch eine Interessenpolitik geleitet werden, nicht der Geist der Verfassungen, sondern der viel wichtigere Geist ihrer tatsächlichen Anwendung abhängt, das bemerken die naiven Schwärmer für demokratische Zustände nicht. Sie denken in ihrer Harmlosigkeit womöglich an die Höhe der Abgeordnetendiäten. Aber die Frage liegt anders. Die Monarchen der Barockzeit verfügten nach Gutdünken über die Staatseinnahmen. Die modernen Parteien verwalten sie nur. Und da ist es lediglich eine Frage der Zweckmäßigkeit, ob die Vertreter der großen wirtschaftlichen Interessen die Wähler, die Abgeordneten oder die Parteileitungen selbst sich sichern. Das erste entspricht den Formen des englischen Parlamentarismus und wurde im 18. Jahrhundert im großen Stile als Stimmenkauf betrieben. Heute, wo Tories und Whigs aus vornehmen Klassen mit scharf ausgeprägter Weltanschauung rein geschäftliche Vertretungen geworden sind, die sich von Fall zu Fall eigentlich nur noch durch ihre Ansicht über die vorteilhafteste Form und die moralische Begründung eines Unternehmens unterscheiden, ist dies Mittel überflüssig geworden: die Interessen haben sich mit den demokratisierten Parteien vereinigt. Im anarchischen Frankreich, wo unter dem Namen von Parteien Klubs und persönliche Gruppen von rasch wechselnder Zahl und Stärke auftreten, ist die Bezahlung der Abgeordneten in feinerer oder unmittelbarer Form die Regel. Das sozialistische Abgeordnetenmaterial steht der Plutokratie ebenso zur Verfügung wie das übrige, und die Laufbahn eines französischen Parlamentariers wird oft genug in der Gewißheit eingeschlagen, daß man sich nach ein paar Jahren ein Schloß kaufen kann. In Deutschland, wo die Parteien mit ideologischen Programmen sich dem Volke präsentieren, hat die Börse den Liberalismus und die Schwerindustrie den Nationalliberalismus in ihren Dienst gestellt. Sie bezahlen die Agitation und – teilweise in der Form der Versorgung mit Geschäftsanzeigen – die Presse. Wenn die Verfassung von Weimar auch nur wenige Jahre in Kraft bleiben sollte, würden Abgeordnetensitze im Interesse bestimmter Parteien zu einem festen Preise zu haben sein. Die Ansätze dazu waren schon bei den ersten Wahlen deutlich vorhanden.

Daß Demokratie und allgemeines Stimmrecht erprobte Methoden des Kapitalismus sind, haben alle Länder bewiesen, die diese Formen von England übernommen haben. Wenn der liberale Professor die Verfassung von Weimar als Erfüllung seiner Träume begrüßt, so begrüßt sie der Geschäftsliberalismus als die bequemste und vielleicht billigste Methode, die Politik dem Kontor, den Staat dem Schiebertum zu unterstellen.

Dies alles kennzeichnet die Herrschaft des Wikingergeistes über die abendländische Zivilisation, die bis jetzt durchaus englische Zivilisation gewesen ist. Die Form, in welcher der unübertragbare englische Parlamentarismus sich dem Festlande und schließlich der ganzen Welt aufdrängte, ist die »Konstitution«, durch welche die Kritik an den bestehenden Regierungen zu einem organischen Bestandteil der Regierung selbst gemacht wird. Aber der staatlose Charakter der Regierung, welche die englische Gesellschaft aus sich selbst entwickelte, ging hier in den staatsfeindlichen Charakter aller Verfassungen über, in denen ein fremdes, das englische Prinzip, enthalten war. Damit wurden überall Parteisurrogate notwendig, welche den englischen Stil, der die ausführende Gewalt zu einem Bestandteil der Parteihoheit gemacht hatte, ohne seinen Gehalt nachahmten, und eine Opposition, die bei fortwährender Reibung zwischen der höchsten Gewalt und dem Parteiprinzip oder zwischen den Parteien wegen ihrer sehr verschiedenen Auffassung der Parteihoheit nicht organisch fördernd, sondern zerstörend wirkte. Mirabeau, der klügste Kopf Frankreichs in dem Augenblick, wo es den Wikingerideen erlag, wäre bei längerem Leben sicherlich zum Absolutismus zurückgekehrt, um sein Land vor dem Pseudoparlamentarismus der souveränen Klubs zu retten. Das Wort Intrigue gibt erschöpfend den Geist wieder, den der anarchische Franzose an Stelle der planmäßigen Taktik des Engländers in jede Art von Regierung einführt, um sie seinem Lebensstil anzugleichen. Infolgedessen ist es immer wieder ein zufälliger Despotismus als die praktisch brauchbarste Form dieser Anarchie, in welcher die französische Geschichte von Zeit zu Zeit überraschende, aber flüchtige Höhepunkte des Erfolges erreicht hat. Das gilt bereits von Mazarin und Richelieu, das ist seit 1789 das geheime Endziel jedes noch so kleinen politischen Klubs, das hat endlich seinen klassischen Ausdruck in der Diktatur eines landfremden Soldaten, Napoleons, gefunden. Etwas ganz Ähnliches hatte Macchiavelli für den Wirrwar der Renaissancepolitik von Cesare Borgia erhofft. Frankreich und Italien allein haben keine politische Idee hervorgebracht. Der Staat Ludwigs XIV. ist ein Einzelfall wie das Reich Napoleons, kein System der Dauer, und die absolute Monarchie des Barock als organische und entwicklungsfähige Form ist habsburgischen, nicht bourbonischen Ursprungs. Habsburg ist von Philipp II. bis Metternich für die Regierungsweise fast aller Höfe und Kabinette vorbildlich gewesen; der Hof des Sonnenkönigs wirkte nur auf Zeremoniell und Kostüm. Gerade die renaissancemäßige Erscheinung Napoleons ist beweisend. Nur in Florenz und Paris konnte ein erfolgreicher Truppenführer eine so untraditionelle Rolle spielen und einen Staat von so phantastischen und vergänglichen Formen aufrichten. Es gab hier keine typische Staatsform. Rousseau, der Theoretiker der politischen Anarchie, hat aus der Tatsache der fest in sich begründeten und politisch mit voller Instinktsicherheit arbeitenden englischen society den Begriff seines Gesellschaftsvertrages gezogen, der zuletzt doch die Diktatur als gelegentliche und zufällige Kettung aus dem Kunterbunt aller Einzelwillen forderte. In England hätte Napoleon im Falle einer Revolution Premierminister, in Preußen Feldmarschall, in Spanien beides werden können und zwar mit unbeschränkter Vollmacht. Im Kostüm Karls des Großen ist er nur in Frankreich und Italien denkbar.

In Preußen war nun ein wirklicher Staat in der anspruchsvollsten Bedeutung des Wortes vorhanden. Hier gab es streng genommen keinen Privatmann. Jeder, der innerhalb des mit der Exaktheit einer guten Maschine arbeitenden Systems lebte, gehörte ihm irgendwie als Glied an. Die Geschäftsführung konnte demnach auch nicht in der Hand von Privatleuten liegen, wie es der Parlamentarismus voraussetzt. Sie war ein Amt und der verantwortliche Politiker war Beamter, Diener des Ganzen. In England fielen Politik und Geschäftsinteresse zusammen; in Frankreich wurde der Schwarm von Berufspolitikern, der sich mit der Konstitution alsbald einstellte, von den Interessengruppen angeworben. In Preußen ist der reine Berufspolitiker immer eine anrüchige Erscheinung gewesen. Wenn also mit dem 19. Jahrhundert eine Demokratisierung des Staates unerläßlich wurde, so durfte sie nicht in englischen Formen erfolgen, die dem genau entgegengesetzten System entsprachen. Demokratie konnte hier nicht private Freiheit bedeuten, die mit geschäftlicher Ungebundenheit zusammenfiel und notwendig zu einer Privatpolitik führen mußte, welcher der Staat als Werkzeug diente. Wenn der Ordensgedanke »Alle für alle« eine moderne Fassung erhielt, so war es nicht die Bildung von Parteien, die nach unten auf dem Wege der Wahlen alle paar Jahre einmal dem Volk das Recht gaben, für den von der Partei ernannten Kandidaten oder überhaupt nicht zu stimmen, während sie nach oben als Opposition in die Regierungsarbeit eingriffen, sondern es war das Prinzip, jedem einzelnen nach Maßgabe seiner praktischen, sittlichen, geistigen Fähigkeiten ein bestimmtes Maß von Befehl und Gehorsam anzuweisen, einen ganz persönlichen Grad und Rang von Verantwortung also, der jederzeit, wie ein Amt, widerruflich war. Dies ist das »Rätesystem«, wie es vor hundert Jahren der Freiherr vom Stein geplant hatte, ein echt preußischer Gedanke, der auf den Grundsätzen der Auslese, der Mitverantwortung, der Kollegialität beruhte. Heute ist es, ganz marxistisch, in den Schmutz des Klassenegoismus gezogen worden, eine bloße Umkehr des Bildes, das Marx von der Räuberklasse der Kapitalisten englischen Stils, der Wikinger ohne Staatskontrolle gezeichnet hatte, ein Freihandelssystem von unten mit der Arbeiterschaft als society und also englisch durch und durch. Das ist Bentham, nicht Kant.

Stein und seine von Kant geschulten Berater dachten an eine Organisation der Berufsstände. In einem Lande, wo Arbeit die allgemeine Pflicht und der Inhalt des Lebens sein sollte, unterscheiden sich die Menschen nach ihrer Leistung, nicht nach ihrem Besitz. Also örtliche berufsständische Körperschaften nach Maßgabe der Bedeutung dieser Berufe im Volksganzen; höhere Vertretungen bis hinauf zu einem obersten Staatsrat; jederzeit widerrufliche Mandate; also keine organisierten Parteien, keine Berufspolitiker, keine periodischen Wahlen. Diese Gedanken hat Stein zwar nicht ausgesprochen, er würde sie in dieser Fassung vielleicht bestritten haben, aber sie lagen als Keim in den Reformen, die er vorschlug, und sie wären geeignet gewesen, eine planmäßige Demokratisierung des preußischen Systems durchzuführen, wie sie den eignen, nicht den englischen und französischen Instinkten entsprach und wie sie eine Auslese der gerade für dies System begabten Persönlichkeiten verbürgt hätte. Zu einem Staat gehört ein Staatsrat. Es ist das Verhältnis der Maschine zum gelernten Ingenieur. Zu einem Nichtstaat gehört der genau ebenso konstituierte geheime Rat der Einzelparteien, von denen jede jederzeit in der Lage sein muß, ihren Apparat als Regierung des Landes arbeiten zu lassen. England besitzt in der Tat zwei »Arbeiterräte« oder Kronräte statt eines und das ist der Sinn des Parlamentarismus. Die Wähler haben auf die Zusammensetzung der beiden Räte nicht den geringsten Einfluß. Sie entscheiden nur, welcher von ihnen regieren soll. Das preußische System hätte eines einzigen von stabiler Zusammensetzung bedurft.

Statt dessen ist nun unter dem Eindruck der napoleonischen Ereignisse die Bewunderung englischer Einrichtungen herrschend geworden. Hardenberg, Humboldt und die andern waren »Engländer«. Statt Kant kamen Shaftesbury und Hume zu Worte. Wo eine Neuordnung von innen heraus notwendig und möglich gewesen wäre, wurde sie von außen her vollzogen. Die ganze politische Verbitterung des 19. Jahrhunderts, die grenzenlose Unfruchtbarkeit unsres Parlamentarismus an Männern, Gedanken und Leistungen, das beständige Ringen zwischen grundsätzlich feindseliger Opposition und gewaltsamem Durchdrücken rühren daher, daß eine strenge und menschlich tiefe Ordnung einem Volke auferlegt wurde, das für eine ganz andre, ebenso strenge und tiefe Ordnung begabt war. Überall, wo die altpreußische Gestaltungskraft sich an großen Gegenständen frei erproben konnte, wie in der Organisation der Syndikate und Kartelle, der Gewerkschaften, in der Sozialpolitik, hat sie gezeigt, was sie zu leisten imstande war.

Wie fremd der Parlamentarismus dem preußischen und seit 1870 dem deutschen Volke geblieben ist, beweist die Gleichgültigkeit, mit welcher trotz aller Bemühungen der Presse und Parteien die Wahlen und die Fragen des Wahlrechts aufgenommen worden sind. Es war sehr oft nur der Ausdruck eines unbestimmten Ärgers, wenn man von seinem Wahlrecht Gebrauch machte, und in keinem andern Lande geben diese Wahltage englischen Stils ein so falsches Bild der wirklichen Gesinnung. Das Volk hat sich an diese ihm fremde Art des »Mitarbeitens« nie gewöhnt und wird es niemals tun. Wenn ein Engländer den Verhandlungen des Parlaments nicht folgt, so tut er das in dem Bewußtsein, daß seine Interessen dort gut aufgehoben sind. Wenn es ein Deutscher tut, so geschieht es in dem Gefühl vollkommenster Gleichgültigkeit. Für ihn ist nur »die Regierung« etwas Wesenhaftes. Der Parlamentarismus wird bei uns immer ein System von Äußerlichkeiten bleiben.

In England waren die beiden Parteien absolute Leiter der Politik gewesen. Hier aber war ein Staat vorhanden, und die Parteien, die nun der parlamentarischen Methode wegen gegründet wurden, während sich in England die Methode aus der tatsächlichen Konstitution des handeltreibenden Volkes herausgebildet hatte, traten ihm lediglich kritisch gegenüber. Es ergab sich von vornherein ein Mißverhältnis zwischen dem System, das man einführen wollte, und dem, welches vorhanden war, zwischen Absicht und Wirkung der Methode, zwischen dem Begriff und dem Wesen der Parteien. Die englische Opposition ist ein notwendiger Bestandteil der Regierung; sie arbeitet ergänzend mit. Unsre Opposition ist wirkliche Verneinung nicht nur der Gegenparteien, sondern der Regierung selbst. Das ist mit der Beseitigung der Monarchie durchaus nicht anders geworden.

Es ist bezeichnend und verrät die Stärke des nationalen Instinkts, daß die beiden Parteien, welche man als spezifisch preußische bezeichnen darf, die konservative und die sozialistische, eine illiberale und antiparlamentarische Tendenz nie verloren haben. Sie sind beide in einem höheren Sinne sozialistisch und entsprechen damit durchaus den beiden kapitalistischen Parteien Englands. Sie erkennen eine private und parteigeschäftliche Leitung der Regierung nicht an, sondern weisen dem Ganzen die unbedingte Autorität zu, die Lebensführung des einzelnen im allgemeinen Interesse zu regeln. Daß dabei die einen vom monarchischen Staat, die andern vom arbeitenden Volk sprechen, ist ein Unterschied in Worten angesichts der Tatsache, daß hier jeder arbeitet und daß der Einzelwille jedesmal dem Gesamtwillen unterworfen ist. Diese beiden Parteien waren, unter dem Druck des englischen Systems, Staaten im Staate; sie waren ihrer Überzeugung nach der Staat und erkannten deshalb die Existenzberechtigung andrer Parteien als der eignen überhaupt nicht an. Schon das schließt parlamentarisches Regieren aus. Sie verleugneten den soldatischen Geist nicht; sie organisierten geschlossene, gut disziplinierte Wählerbataillone, in denen die Konservativen bessere Offiziere, die Sozialisten bessere Mannschaften waren. Sie waren auf Befehl und Gehorsam aufgebaut und faßten ihren Staat, den Hohenzollernstaat und den Zukunftsstaat ebenso auf. Freiheit war in dem einen so wenig wie in dem andern englische Freiheit. Eine tiefe Verachtung des englisch-parlamentarischen Wesens, der Rangbestimmung durch Reichtum und Armut, durchzieht ihre nichts weniger als parlamentarische Wirksamkeit. Sie haben beide das preußische Wahlrecht mit seiner erbitternden Abstufung nach reich und arm verachtet, die Konservativen, indem sie es als Mittel gerade für gut genug hielten; aber sie verachteten im Grunde jedes Wahlsystem nach englischem Muster, weil sie wußten, daß es mit Notwendigkeit zu einer Plutokratie führt. Wer solche Systeme bezahlen kann, erntet ihre Früchte.

Daneben stellte sich die Partei spanischen Stils, die ultramontane, deren geistige Tradition bis zu den Zeiten habsburgischer Weltherrschaft und dem Territorialgeist des Westfälischen Friedens zurückreicht. In Napoleon verehrte sie heimlich den Gründer des Rheinbunds. In ihrer Taktik ist noch ein Rest der meisterhaften Kabinettsdiplomatie von Madrid und Wien lebendig; sie hat es verstanden, mit der reifen Klugheit der Gegenreformation demokratische Tendenzen und parlamentarische Gebräuche sich dienstbar zu machen. Sie verachtet nichts; sie weiß allem eine erfolgreiche Seite abzugewinnen. Und man vergesse doch auch nicht die sozialistische Zucht und Disziplin des spanischen Geistes, der wie der preußische aus den Ritterorden der gotischen Zeit hervorging und vor ihm einen Weltgedanken in der Formel »Thron und Altar« zusammengefaßt hatte.

Und endlich konstituierte sich das geistige Engländertum Deutschlands als Partei, um den echten Parlamentarismus mit der Inbrunst einer Weltanschauung, als Prinzip, als Idee, als Ding an sich zu verfechten. Napoleon war ihnen der Bringer freiheitlicher Ideen. Sie betätigten ihre »Gesinnung« überall dort, wo der Engländer seine Talente und Erfahrungen betätigt hätte. Der »Standpunkt« ist ihr Symbol. Wenn drei Liberale zusammenkommen, so gründen sie eine neue Partei. Das ist ihr Begriff von Individualismus. Sie treten in keinen Kegelklub ein, ohne eine Änderung der Statuten »auf die Tagesordnung zu setzen«. Weil in England eine staatlose Ordnung der öffentlichen Dinge herrscht, so ist jeder Autoritätsakt des Staates ihrer Entrüstung gewiß. Auch im Sozialismus hassen sie noch die autoritativen Endziele. Dies Bürgertum ist eine spezifisch deutsche Erscheinung. Man hätte es nicht mit der französischen Bourgeoisie und noch weniger mit der englischen Mittelklasse verwechseln sollen. Der große Stil des englischen Liberalismus steht ihm schlecht. Quod licet Jovi, non licet bovi. Unter dem Bratenrock des freigesinnten Mannes ist noch etwas von der Seele alter Reichsstädte lebendig, die einen ständigen schmerzlichen Protest gegen die Realitäten der modernen Zivilisation erhebt und die eine unermeßliche Literatur um sich aufhäuft, in der irgendetwas Transzendentes und Ideales – in jedem Buche etwas andres – in die wirklichkeitsharten englischen Ideen hineingedeutet wird, ohne die man sich der ebenso unromantischen Härte preußischer Ideen nicht erwehren könnte. Und diesen politisch harmlosen, jeder Organisation unfähigen Freisinn hat jener andre Liberalismus, der aus der Ganzheit des englischen Wesens nur die rein wirtschaftliche Diktatur des privaten Reichtums ohne ihren sittlichen Gehalt als Ziel entlehnte, nun wirklich zu einer Kampfpartei zusammengefaßt, die er überall dort zu einer langsam aushöhlenden, ermattenden, mordenden Opposition ansetzte, wo der sozialistische Gedanke des preußischen Staates der Souveränität des Geschäfts im Wege stand. Sein Geist war es letzten Endes, der das »innere England« der Mehrheitsparteien zu jener parlamentarischen Revolution von 1917 zusammenfaßte, die dem äußeren England der Ententemächte durch den Sturz des Staates den Endsieg gesichert hat. Er fordert den reinen Parlamentarismus, nicht weil er einen freien Staat, sondern weil er keinen Staat haben will und weil er ebensogut wie England weiß, daß ein sozialistisch veranlagtes Volk mit diesem fremden Rock am Leibe handlungsunfähig wird. Das »überstaatliche« Weltbürgertum des deutschen Michel sagt ihm durchaus zu. Lacht er auch darüber als Ziel, so schätzt er es doch als Mittel. Er übergibt dem weltbürgernden Professor Katheder und Feuilleton, dem parlamentarischen Dilettanten die Politik »über dem Strich« und im Sitzungssaale. Mit diesem Zweigespann fährt er dem Ziele des vollendeten Engländertums zu. Der Sozialismus hat in der deutschen Revolution seine schwerste Niederlage erlitten, der Gegner hat ihn dahin gebracht, seine Waffe gegen sich selbst zu kehren.

Trotz alledem stehen die beiden großen Weltgedanken sich weiterhin gegenüber: Diktatur des Geldes oder der Organisation, die Welt als Beute oder als Staat, Reichtum oder Autorität, Erfolg oder Beruf. Die beiden sozialistischen Parteien Deutschlands müssen sich zusammenfinden gegen den Feind der gemeinsamen Idee, gegen das innere England, den kapitalistisch-parlamentarischen Liberalismus. Eine sozialistische Monarchie Lassalle war es, der 1862 in seiner Schrift »Was nun?« die Verbindung des preußischen Königtums mit der Arbeiterschaft zum Kampfe gegen den Liberalismus und die englische »Nachtwächtertheorie« des; schwachen Staates verlangt hat. – denn der autoritative Sozialismus ist monarchisch; die verantwortungsreichste Stelle in dem ungeheuren Organismus, der Platz des ersten Dieners dieses Staates nach dem Worte Friedrichs des Großen darf dem privaten Strebertum nicht ausgeliefert werden – eine Einheit, in der jeder nach seinem sozialistischen Range, seinem Talent zur freiwilligen Disziplin aus innerer Überlegenheit, seinem organisatorischen Können, seiner Arbeitskraft, Gewissenhaftigkeit und Energie, seinem intelligenten Gemeingefühl den ihm zukommenden Platz erhält; die allgemeine Arbeitspflicht und daraufhin eine berufsständische Gliederung, die zugleich Verwaltung ist und einen obersten Verwaltungsrat statt des Parlaments besitzt – wo alle arbeiten, Offiziere, Beamte, Bauern, Bergleute, möge man ihn Arbeiterrat nennen – das ist ein Gedanke, der in der faustischen Menschenwelt langsam gereift ist und sich seinen Menschentypus längst gezüchtet hat.

Auf der andern Seite steht die kapitalistische Weltrepublik – denn England ist Republik; Republik bedeutet heute die Regierung durch den erfolgreichen Privatmann, der seine Wahl und damit seinen Einfluß bezahlen kann – und die Erdoberfläche als Jagdgrund derer, die reich werden wollen und die Möglichkeit zum freien Einzelkampf für sich fordern. Und da werden sich Tories und Whigs, die beiden kapitalistischen Parteien, endlich gegen das »innere Preußen« des Sozialismus zusammenschließen, der drüben die Arbeiterschaft für sich hat – und man bedenke, daß Arbeit dort ein Unglück ist. Das bedeutet eine Umlagerung des parlamentarischen Systems, das mit drei Parteien nicht arbeiten kann. In Altengland stand reich gegen reich, eine Weltanschauung gegen die andre innerhalb der Oberklasse. Jetzt ist es reich gegen arm, England – gegen etwas andres. Damit aber ist die Form des Parlamentarismus verbraucht, es ist kein Zweifel möglich. Er war in England schon im Niedergehen, als deutsche Narrheit ihn herüberholte.

Er hat seine beste Zeit vor Bismarck gehabt. Es war eine alte, reife, vornehme, unendlich verfeinerte Form, die den ganzen Takt des englischen Gentleman von guter Herkunft erforderte, um in Vollendung beherrscht zu werden. Die Voraussetzung war eine selbstverständliche Übereinstimmung in so vielen Fragen, daß Differenzen die Höflichkeit nicht in Gefahr brachten. Der parlamentarische Kampf hatte etwas von den guten Formen eines Duells unter Aristokraten an sich. Es ist wie mit der alten Musik von Bach bis Beethoven: sie beruhte auf einer vollkommenen musikalischen Kultur bis in die Fingerspitzen. Sobald die Strenge dieser Kultur nachließ, wurde die Musik barbarisch. Niemand kann heute mehr eine Fuge alten Stils mit der alten Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit der Beherrschung aller Regeln in einem Zuge hinschreiben. Und so ist es mit dem fugierten Stil der parlamentarischen Taktik. Gröbere Menschen, gröbere Fragen – und alles ist zu Ende. Aus dem Duell wird eine Schlägerei. Mit den Menschen alter Zucht gehen auch die Institutionen, die gefühlten Formen, der Takt zu Ende. Der neue Parlamentarismus wird den Kampf ums Dasein in sehr wenig gezügelten Formen und mit sehr viel schlechterem Erfolge darstellen. Das Verhältnis der Parteihäupter zur Partei, der Partei zu den Massen wird roher, durchsichtiger, ungeschminkter sein. Das ist der Anfang des Cäsarismus. In den englischen Wahlen von 1918 ist er bereits angedeutet. Wir werden ihm ebensowenig entgehen. Er ist unser Schicksal so gut wie das römische, das chinesische, das aller reifgewordnen Zivilisationen. Aber Milliardäre oder Generale, Bankiers oder Beamte von größtem Format – das ist die ewige Frage.


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